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Robert Kurz

Das große Fressen
Mega-Fusionen und Übernahmeschlachten im Weltkrieg der Märkte



Die großen Fische fressen die kleinen. In dieser einfachen Formel scheint sich die Logik kapitalistischer Konkurrenz zu erschöpfen. Sowohl der Marxismus als auch der Liberalismus sahen die Konzentration des Kapitals als einen unausweichlichen immanenten Prozeß in der Entwicklung der Märkte. Der Marxismus behauptete, zuletzt würden aus den Schlachten der Konkurrenz einige wenige Mammut-Konzerne hervorgehen, die fast das gesamte Wirtschaftsleben kontrollieren und Preise wie Löhne nach Belieben diktieren könnten. Der nächste quasi "natürliche" Schritt der ökonomischen Entwicklung müsse deshalb darin bestehen, dieses hochgradig konzentrierte und organisatorisch verschmolzene Kapital unter öffentliche, staatliche Verwaltung zu stellen. Der Liberalismus zog auf der Basis derselben Analyse die entgegengesetzte Konsequenz: Der Staat müsse durch rechtliche Eingriffe und Kontrollbehörden den ungehemmten Prozeß der Konzentration stoppen, um den angeblich heilsamen und die Wohlfahrt steigernden Mechanismus der Konkurrenz zu erhalten und eine allzu große Zusammenballung ökonomischer Macht zu verhindern. Heute zeigt sich, daß sowohl der Marxismus als auch der Liberalismus mit ihren Versuchen gescheitert sind, die Konzentration des Kapitals zu bändigen. Die Überführung der Produktionsmittel in staatliches Eigentum und die bürokratische Regulation des warenproduzierenden Systems haben sich als historisches Desaster erwiesen. Aber die liberale Vorstellung von einem staatlichen Wächter zur Garantie der freien Konkurrenz, der die Bildung von marktbeherrschenden Superkonzernen verhindern soll, hat sich nicht weniger blamiert als das staatssozialistische Experiment.
Andererseits scheinen auch die ökonomischen Fürsten und Könige der großen, inzwischen weltweiten Agglomerationen von Kapital nicht die glücklichen Sieger zu sein, die das System der politischen Regulation degradiert haben, um die Welt unter sich aufzuteilen wie früher nur die Repräsentanten der imperialen Staatsmächte. Die "global players" des großen transnationalen Kapitals sind nicht die Subjekte, sondern selber Getriebene im Verlauf der immer schnelleren Konzentration von Kapital in immer größeren Dimensionen. Die Globalisierung der Märkte, die Verselbständigung des abgehobenen Finanzsystems und die Konzentration des Kapitals zu neuen Superstrukturen erweisen sich als miteinander verbundene und ineinander übergehende Momente eines einzigen Gesamtprozesses, der längst unbeherrschbar geworden ist.
Die Konzentration des Kapitals verläuft dabei nicht linear, sondern in einer auf paradoxe Weise doppelten und gegenläufigen Bewegung. Unternehmen fusionieren und trotzdem ist auch ein Prozeß der Dezentralisierung zu beobachten. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts schlucken nicht nur die großen Fische die kleinen, sondern umgekehrt werden durch dieselbe Entwicklung auch wieder andere kleine Fische hervorgebracht. Denn in demselben Maße, wie sich große Konzerne herausbilden, entsteht gleichzeitig ein neuer Typus des Klein- und Mittelbetriebs in Form von Zulieferungs- und Reparaturfirmen, industriellen Dienstleistungen usw. Aber dieses Moment der Entwicklung kann trotzdem die Logik einer säkularen Konzentration des Kapitals nicht aufheben. Denn erstens handelt es sich bei dieser Art von Unternehmen nicht mehr um autonome kleine Produzenten für lokale oder regionale Märkte, sondern um eine auf die Superstrukturen der Konzerne zugeschnittene sekundäre und nachgeordnete Warenproduktion, die völlig von den Bedingungen des großen Kapitals abhängig ist. Zweitens findet unter den Zuliefer- und Dienstleistungsbetrieben ebenfalls wieder ein Prozeß der Konzentration statt, aus dem neue Großunternehmen hervorgehen.
So wird heute die globale ebenso wie die nationale und regionale Ökonomie des warenproduzierenden Systems tatsächlich von relativ wenigen Superkonzernen beherrscht, während die Firmen unterhalb dieser Ebene immer erbärmlicher aussehen. Denn die Krise der realökonomischen Rentabilität hat die doppelte, gegenläufige Entwicklung im Prozeß der kapitalistischen Konzentration auf eine geradezu absurde Weise beschleunigt. Auf der einen Seite verschlanken sich die Konzerne durch "outsourcing", wie das neue Zauberwort heißt: Von der Reinigung der Gebäude über die Lohnabrechnung bis zum Fuhrpark und ganzen Produktionsstraßen wird eine wachsende Anzahl von bisher intern betriebenen Unternehmensbereichen "ausgelagert", also an formal selbständige Subunternehmen delegiert. Man muß sich wundern, daß nicht auch noch die Chefetagen selber dem "outsourcing" zum Opfer fallen. Aber diese neueste Art von "kleinen Fischen" hat mit reellen Unternehmensgründungen nichts mehr zu tun. Vielmehr bildet das Großkapital selber gewissermaßen externe Organe aus, um Kosten zu senken und "sozialen Ballast" abzuschmelzen. Es entsteht überhaupt kein neues Produktionsunternehmen, sondern dieselben Aufgaben wie vorher werden mit weniger Betriebsmitteln und wesentlich geringerer Bezahlung außerhalb der gewerkschaftlichen Tarife erledigt; außerdem können die Konzerne die gesetzliche Verpflichtung unterlaufen, sich an der Sozialversicherung für ihre Beschäftigten zu beteiligen. Die früheren Angestellten eines Konzerns verdienen als zwangsweise abgenabelte "kleine Selbständige" oft nur noch die Hälfte ihres früheren Lohnes, während sie gleichzeitig unter schlechteren Bedingungen länger arbeiten und obendrein das soziale Risiko alleine tragen müssen. Diese bösartige Form einer prekären Scheinselbständigkeit, wie das Phänomen des "outsourcing" in Europa genannt wird, ist nur noch ein Hohn auf die vom Neoliberalismus beschworene "neue Kultur der Selbstverantwortung und der unternehmerischen Innovation".
Auf der anderen Seite geht diese betriebswirtschaftliche Ausdünnung der Konzerne mit ihrer Aufblähung zu globalen Mega-Agglomerationen bisher unbekannten Ausmaßes einher. Auch dieser Prozeß ist von der Krise der realökonomischen Rentabilität getrieben. Je mehr sich der Spielraum der realen Akkumulation einengt und die soziale Reproduktion zerstört wird, desto dringender wird für das ökonomische Überleben die Notwendigkeit, global präsent zu sein und die eigene Kapitalkraft zu steigern. Die Krise nährt die Globalisierung, und die Globalisierung nährt die Konzentration des Kapitals. Selbst große und international renommierte Konzerne machen schlapp. Jetzt fressen nicht mehr bloß die großen Fische die kleinen, sondern ein großer Fisch frißt den anderen. In einer historisch beispiellosen Serie von nationalen und transnationalen Großfusionen und "unfreundlichen Übernahmen" feiert das Kapital eine Orgie des Autokannibalismus.
Die Konzerne werden also gleichzeitig immer dünner und immer größer. Das einzelne "siegreiche" Mega-Unternehmen kann durch die Fusionen und Übernahmen seinen weltweiten Umsatz und seine Kapitalkraft steigern, während es sich gleichzeitig auf allen Ebenen seiner Tätigkeit betriebswirtschaftlich schlanker macht. Aber für das gesellschaftliche Gesamtkapital laufen beide Prozesse auf eine galoppierende Selbstzerstörung hinaus. Denn per Saldo werden dabei mehr Arbeitsplätze und mehr Kapital vernichtet als neu geschaffen. Ein großer Teil der Zukäufe dient (parallel zum "outsourcing") nur dem Zweck, das regionale und globale Kostengefälle auszunutzen, also relativ teure Betriebsteile zu schließen, um sie an anderen Orten mit geringerer Steuerlast, weniger ökologischen Auflagen oder billigeren Löhnen neu zu positionieren. Nicht selten werden andere Unternehmen im In- und Ausland sogar bloß mit der hinterlistigen Absicht aufgekauft, sie baldmöglichst stillzulegen, um einen lästigen Konkurrenten loszuwerden. Manchmal gehen solche verzweifelten Kraftakte auch schief und am Ende sind beide Parteien einträchtig ruiniert. Selbst dort, wo die einverleibten Unternehmen weiterproduzieren, ist die Übernahme in der Regel mit einem Schub der Rationalisierung im vergrößerten betriebswirtschaftlichen Zusammenhang verbunden: Arbeitsplätze werden abgebaut, ganze Ebenen der Hierarchie eliminiert und Filialen geschlossen.
Keineswegs zufällig sind es die Banken und Versicherungen, die an der Spitze der Welle von Großfusionen stehen. Denn bekanntlich wird die schrumpfende Akkumulation des realen Kapitals überlagert von einer phantastischen Aufblähung der reinen Finanztitel. In demselben Maße, wie die Produktion von Investitions- und Konsumgütern nur noch als ein nebensächliches Hobby des verrückt gewordenen Geldkapitals erscheint, geht auch die strategische Orientierung auf dem globalen ökonomischen Schlachtfeld der Fusionen von den Waren- auf die Finanzmärkte über. Deshalb fusionieren die großen Banken nicht nur schneller und in größerem Umfang als andere Unternehmen, sondern sie übernehmen auch die Führung in der Konzentration des Kapitals insgesamt. Die strategische Verschmelzung des realen Kapitals wird der strategischen Verschmelzung des fiktiven Kapitals untergeordnet, weil die Rendite aus kurzfristigen Finanzanlagen wesentlich größer und leichter zu haben ist als die Rendite aus langfristigen Investitionen in reale Produktionsanlagen. Unter der Ägide der großen Anlagefonds steuern die neuen Riesenbanken den gesamten Prozeß der Fusionen nicht mehr nach den Erwartungen der Warenmärkte, sondern der Finanzmärkte. Das bedeutet, daß ganze Konzerne ohne Rücksicht auf die Perspektiven ihres realen Geschäfts fusioniert und dabei "ausgeschlachtet" werden, um die Kurse bestimmter Aktien in die Höhe zu treiben und die globale überschüssige Liquidität weiter in die Mühlen der auf sich selbst bezogenen Finanzmärkte zu lenken. Wer mit wem fusionieren muß, das bestimmt letzten Endes nicht das Management der Produktions-Konzerne nach seinen eigenen Zielsetzungen, sondern das Management der Banken und Anlagefonds.
Die Gewerkschaften stehen dieser Entwicklung hilflos gegenüber, weil sie kein eigenes strategisches Ziel mehr haben und ihre Gesellschaftskritik ausgelaugt ist. Während die Masse der Arbeitslosen fast ganz aus ihrem Blickfeld verschwindet, können sie mit der neuen Erscheinung der aus dem "outsourcing" hervorgegangenen Pseudo-Kleinunternehmer an der Peripherie der Mega-Konzerne nichts anfangen. In den meisten Ländern geht deshalb die Zahl ihrer Mitglieder drastisch zurück. Der gewerkschaftliche Aktionsradius beschränkt sich zunehmend auf die schrumpfenden Kernbelegschaften der hochkonzentrierten und globalisierten Großunternehmen. Und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als auf gespenstische Weise die doppelte Tendenz ihres gesellschaftlichen Gegenparts zur Selbstzerstörung spiegelbildlich nachzuäffen: Ebenso wie das Großkapital werden sie gleichzeitig immer dünner und immer größer. Auf der einen Seite reduzieren die Gewerkschaften die Beratung und Betreuung ihrer Mitglieder; die Aktivitäten werden ausgedünnt, Geschäftsstellen werden aufgelöst und Mitarbeiter entlassen. Auf der anderen Seite verschmelzen die derart zwangsweise "schlank" gewordenen Organisationen über die Branchen hinweg zu neuen und größeren Einheiten. Bis zur Lächerlichkeit wiederholt sich der Konzentrationsprozeß des Kapitals auf der Ebene der Gewerkschaften: Zuerst schlucken die Großen die Kleinen, dann fusionieren die Großen untereinander. Parallel zu den neuen Superkonzernen und Superbanken entstehen neue Supergewerkschaften. Aber da gibt es nichts zu feiern, denn diese Art der gewerkschaftlichen "Einheit" ist ein Produkt der sozialen Spaltung und ein Selbstmord auf Raten.
Wohin wird dieser destruktive Prozeß der ökonomischen und sozialen Konzentration führen? Jedenfalls kann er nicht auf einem bestimmten Niveau stabilisiert werden, denn die Dynamik der Krise ist irreversibel. Das "große Fressen" der unkontrollierbar gewordenen Mega-Fusionen zeigt, daß sich der Widerspruch zwischen der betriebswirtschaftlichen Rationalität einzelner Unternehmen oder Interessengruppen einerseits und der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion andererseits unerträglich zuspitzt. Das Resultat der Konzentration besteht nicht darin, daß sich eine Handvoll kapitalistischer Großorganisationen die Menschheit einverleibt, um sie im Interesse einer erweiterten Akkumulation des Kapitals zu verwalten. So unangenehm ein solcher Zustand wäre, er könnte doch vielleicht noch irgendwie als erträglich erscheinen. Aber die marxistischen ebenso wie die liberalen Ideologien sind nicht nur wirtschaftspolitisch an der Konzentration des Kapitals gescheitert, ihre theoretische Analyse dieser Entwicklung war auch nur halb richtig. Denn der Prozeß der Konzentration ist ja identisch mit dem Prozeß der Krise. Die Konzerne fusionieren nur deshalb zu immer größeren Einheiten, weil das Terrain des Gesamtkapitals immer kleiner wird. So riesenhaft die übrig bleibenden Super-Organisationen für sich genommen auch sein mögen, sie sind winzig im Vergleich zum Ozean der gesellschaftlichen Mehrheit, die sie nicht mehr integrieren können.