Du bist billig, Deutschland
erschienen im Neuen Deutschland
am 30.09.2005
Der Sozialstaat wird zerschlagen, die Löhne sinken, die Armut steigt, die Angst grassiert, die Wut im Bauch wächst. Und die Antwort? Eine mediale Seifenoper-Crew tritt die Mutter aller PR-Kampagnen los: „Du bist Deutschland“. Höre, zwangsverpflichteter 1-Euro-Jobber, demnächst zum Schuhputzer Degradierter: „Egal, welche Position du hast. Du hältst den Laden zusammen. Du bist der Laden. Du bist 82 Millionen“. Und noch eins drauf: „Du bist Thyssen“. Auf den ersten Blick könnte man an ein Fake des Satire-Magazins „Titanic“ glauben. Aber es ist eine gemeinsame Realsatire von Springer, Burda, Bertelsmann, Spiegel, ARD, FAZ, Premiere, Focus und weiteren Medienkonzernen, unterstützt vom Großbäcker Kamps.
Die Primitivität der Botschaft verblüfft. Sie hört sich an wie von intellektuellen Bildungsproletariern für sekundäre Analphabeten verfasst: „Dein Wille ist wie Feuer unterm Hintern. Er lässt deinen Lieblingsstürmer schneller laufen und Schumi schneller fahren…Gib nicht nur auf der Autobahn Gas. Geh runter von der Bremse. Es gibt keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Deutschlandbahn“. Die Adressaten sind offenbar jüngere männliche Identitätsbüffel und Krisenverlierer im fortgeschrittenen Zustand der Unzurechnungsfähigkeit, gemeingefährliche Raser und bierselige Fans mit einem Schuß von postmodernem Willen zur Autosuggestion.
Nicht nur die Primitivität verblüfft, sondern auch die Schamlosigkeit. Der Sprachgestus erinnert an faschistische Durchhalteparolen. Da ist sowohl Kalkül am Werk als auch die Panik einer Flucht nach vorn. Während die Deutschland-AG real ökonomisch abgewickelt wird, soll mitten im Hurrikan des globalen Krisenkapitalismus die deutsche Volksgemeinschaft als ideologische Not- und Zwangsgemeinschaft auferstehen.
Zwar hätte es genauso gut heißen können: „Du bist blöd“. Aber die professionellen Trendscouts kennen ihre Pappenheimer. Sie haben mitgeschnitten, dass bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein die Reaktion auf die Globalisierung deutschnational statt sozial-emanzipatorisch ist. Sie haben von den Erfolgen der NPD-Kampagne „Laß dich nicht einmachen“, der „Heuschrecken“-Brandrede von Müntefering und der „Fremdarbeiter“-Hetze von Lafontaine gelernt. Jetzt wollen die Konzerne selber mitzündeln und rechts überholen. „Du bist Thyssen“, das soll auch heißen: „Thyssen ist du“. Was die Philosophin Hannah Arendt als Reaktion „von oben“ auf die Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit beschrieben hatte, wird noch einmal ins Auge gefasst: Das Bündnis der Elite mit dem Mob. Wenn es ans Eingemachte geht, regredieren auch der Ingenieur und der Studienrat auf das Niveau eines grölenden Fans.
Im Stil einer Sekte wollen die kapitalistischen Macher aus den enterbten individualisierten Billiglöhnern die letzten Reserven herausleiern: „Du bist wichtig. Bring die beste Leistung, zu der du fähig bist“. Dafür kriegst du zwar kein Geld mehr, aber du darfst jetzt wieder die Flagge grüssen wie der beschränkteste Pfadfinder. Im Unterschied zu den Nazi-Propagandisten können die „Du-bist-Deutschland“-Werbetexter allerdings nicht mit Kriegsbeute und Weltherrschaft winken. Die Globalisierung ist irreversibel, die transnationale Betriebswirtschaft nicht „heim ins Reich“ zu holen. Trotzdem wird das nationale Ventil geöffnet – nach innen, nicht nach außen. Es ist nicht bloß die Aufforderung zur Leistung ohne Lohn: „Machen wir uns die Hände schmutzig. Du bist die Hand“. Wenn die Zeit der Verzweiflung kommt, dann geh nicht uns an die Kehle, sondern den Migranten, Asylbewerbern, hier lebenden Ausländern. Und schuld sind sowieso die Juden. Das ist der Subtext dieser Botschaft.


