Elendsbeschäftigung
erschienen im Neuen Deutschland
am 13.01.2006
Ein Gespenst geht um in der Krisendebatte: der Mindestlohn. „Wirtschaft fürchtet Mindestlohn“, titelte das Handelsblatt. Thomas Straubhaar, der Direktor des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, spricht von einer drohenden „ökonomischen Katastrophe“. Und ein ungenannt bleibendes Mitglied der CDU-Führung erklärte zuckersüß: „Jemandem zu verbieten, zu einem bestimmten Einkommen zu arbeiten, zu dem er arbeiten möchte (!), entspricht nicht einer freiheitlichen Gesellschaft“. Unfreiwillig enthüllt sich damit der Kern des modernen Freiheitsbegriffs: Der nackte Zwang von Verhältnissen, in denen die Menschen von jeder Kontrolle über die eigenen Existenzbedingungen enteignet sind, wird in den „freien Willen“ umgedeutet. Diese Grundzumutung aller Lohnarbeit verschärft sich in der Krise der dritten industriellen Revolution bis zum antisozialen Exzeß: Der Billiglohn, in der fordistischen Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg ein Randphänomen, beginnt sich zu verallgemeinern bis in die industriellen Kernsektoren und in die höherqualifizierte Beschäftigung hinein. Flankiert wird diese Tendenz in Verbindung mit Zwangsmaßnahmen durch Mini- und Ein-Euro-Jobs, die zum Flächenbrand geworden sind.
Die an Grenzen gestoßene Verwertung kann damit nicht saniert werden, aber der Selbstlauf der Krise tendiert zur Massenverarmung. Dabei entwickelt sich ein Brutalisierungsdiskurs, in dem der Lohn der Noch-Beschäftigten immer weiter in Richtung Existenzminimum gedrückt und dieses umgekehrt auf das bloße physische Überleben herunterdefiniert wird. Das „historische und moralische Element in der Wertbestimmung der Arbeitskraft“ (Marx) zersetzt sich, der Standard der darin noch eingehenden Lebensmittel im weiteren Sinne droht bis zur „beschäftigten Obdachlosigkeit“ zu verfallen. Der Mindestlohn kann eine Haltelinie nach unten markieren; aber nur, wenn er ein ausreichendes Lebensniveau sichert. In den USA, in Großbritannien, Frankreich und Osteuropa liegen die Mindestlöhne so weit unter dem Existenzminimum, daß sie die Absenkung der sozialen Standards eher forcieren und zum Bestandteil sexistischer und rassistischer Diskriminierung geworden sind. Die teilweise Aufstockung durch staatliche Zuschüsse (Kombilohn) ist keine Garantie und kann jederzeit unter Verweis auf die Krise der Staatsfinanzen rückgängig gemacht werden. Das Lockangebot des Kombilohns ist eine Falle; bei nicht vorhandenen oder zu tief angesetzten Mindestlöhnen stellt dieses „Instrument“ nicht mehr als ein Übergangsphänomen zur Elendsbeschäftigung dar, ebenso wie die vorläufig noch subventionierte Ich-AG nur den Übergang zum Elendsunternehmertum signalisiert.
Wenn der Mindestlohn zur Sicherungslinie werden soll, muß er selber das Lebensniveau garantieren, statt von zweifelhaften staatlichen Zusatz-Almosen abhängig zu sein; und er muß allgemeine Verbindlichkeit erlangen, statt der Elendskonkurrenz in den einzelnen Branchen ausgeliefert zu werden. Deshalb greift in dieser Frage der Verweis auf die Tarifautonomie nicht. Ein dem Staat abverlangter, ausreichend hoher allgemeiner Mindestlohn ist etwas anderes als ein geschenkter Gaul. Ein solcher Mindestlohn kann nur erkämpft werden; er würde dann zum Widerstand gegen den Billiglohn überhaupt und könnte sich mit der Perspektive einer Kritik der Verwertungslogik anreichern. Für die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen ist es die Gretchenfrage, ob sie zum unbekümmerten sozialen Kampf um die Lebensinteressen und zu einer neuen Gesellschaftskritik finden, oder ob sie sich in der hoffnungslosen Kungelei mit der politischen Notstandsverwaltung das eigene Grab schaufeln.

