Existenzkämpfe
Anmerkungen zur Mindestlohn-Debatte
erschienen in der Wochenzeitung „Freitag“
am 29.09.2006
Der Niedriglohnsektor ist in der BRD längst Realität. Fast fünf Millionen Menschen arbeiten zu Löhnen unter 7,50 Euro pro Stunde. Der dramatische Lohnverfall droht sich ins Bodenlose fortzusetzen. In bestimmten Branchen bekommt man schon Beschäftigte für 3 Euro pro Stunde; immer mehr Löhne liegen also weit unter dem Existenzminimum. Die Forderung nach Mindestlöhnen erscheint folgerichtig. In der politischen Bearbeitung wird das Problem jedoch verwässert, weil ein breiter Niedriglohnsektor auf möglichst tiefem Niveau gewollt ist. So hat der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler den Vorschlag eines zweistufigen Systems von Mindestlöhnen angekündigt, das auf branchenspezifischen tariflichen Einzelregelungen beruht, die dann für allgemein verbindlich erklärt werden sollen. Nur für bestimmte Segmente des Arbeitsmarkts, in denen es gar keine Flächentarifverträge mehr gibt, ist ein gesetzlicher Mindestlohn vorgesehen. Ein solches Stückwerk, das wohl nur als Beruhigungspille gedacht ist, verknüpft den Mindestlohn mit dem fortschreitenden Zerfall des Tarifsystems. Die Regelung würde darauf hinauslaufen, höchst unterschiedliche Mindestlöhne an der Grenze des Existenzminimums oder darunter zu schaffen, zumal die Höhe für den bloßen Ausnahmefall einer gesetzlichen Regelung nach dem Vorbild der britischen Low Pay Comission festgelegt werden soll.
Auf derselben Linie liegt die Absicht einer begrenzten Ausdehnung des Entsendegesetzes, das vor allem in der Bauwirtschaft tariflich ausgehandelte Mindestlöhne auch für nicht in der BRD ansässige Firmen (vor allem aus Osteuropa) verbindlich macht. Diese Regelung wird nun zusätzlich für die Branche der Gebäudereiniger erwogen. Sie richtet sich offiziell gegen die lohndrückenden Konsequenzen der EU-Dienstleistungsrichtlinie, die eine Arbeitsmarktliberalisierung im Rahmen der EU-Osterweiterung vorsieht. Aber auch dabei werden unterschiedliche Mindestlöhne an branchenspezifische Tarife gebunden, die schon Bestandteil des Lohnverfalls und dem Konkurrenzdruck ausgesetzt sind; überdies ist eine solche Regelung kaum zu kontrollieren. In Verbindung mit den Kombilohn-Modellen der Großen Koalition laufen die Vorschläge allesamt darauf hinaus, das allgemeine Lohnniveau weiter zu drücken. Bei den Kombilöhnen ist der „Drehtür“-Effekt absehbar, dass die Firmen bislang noch regulär Beschäftigte entlassen und durch Beschäftigte mit staatlich bezuschussten Elendslöhnen ersetzen.
Die Forderung des 18. DGB-Kongresses nach einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von zunächst 7,50 Euro ist demgegenüber zwar ein erster Schritt in die richtige Richtung. Diese Forderung bleibt aber unglaubwürdig, solange DGB-Gewerkschaften selber Tarife unter diesem Mindestsatz abschließen, so mit der Zeitarbeitsbranche (7 Euro) und mit der Agro-Industrie (6,35 Euro in Bayern und 4,52 Euro in Thüringen). Das ist eine Folge geschwächter Verhandlungspositionen. In einigen Branchen gibt es bereits gar keine Tarifverträge mehr, in anderen sind sie durch darunter liegende Betriebsvereinbarungen längst ausgehöhlt. In dieser defensiven Position droht die DGB-Forderung als bloßer Appell an die politische Klasse ins Leere zu gehen, weil ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn im Einvernehmen mit der staatlichen Krisenverwaltung nicht mehr zu machen ist; schon gar nicht in ausreichender Höhe.
Der gesetzliche Mindestlohn macht aber nur Sinn, wenn er auf das „historische und moralische Element“ (Marx) von unhintergehbaren Lebensansprüchen ausgerichtet ist. Existenzsicherung in diesem Sinne muss das einzige Kriterium sein, nicht „Beschäftigung“ um jeden Preis. Das geht nur, wenn der Kampf gegen die weitere Absenkung der ALG-II-Bezüge in die Forderung einbezogen wird. Diese Bezüge müssten über das jetzige Elendsniveau hinaus erhöht werden und insbesondere die uneingeschränkte Übernahme der Mietkosten beinhalten. In Verbindung mit einer weiteren Absenkung von ALG II dagegen wird der Mindestlohn ähnlich wie in anderen europäischen Ländern und in den USA das Kriterium der Existenzsicherung nicht halten können. Schließlich muss der gesetzliche Mindestlohn tatsächlichen Allgemeinheitscharakter haben, also ausnahmslos alle Beschäftigungsverhältnisse (einschließlich sogenannter Praktika) erfassen; nur so ist seine Einhaltung auch relativ leicht kontrollierbar.
Im Unterschied zu beschränkten Mindestlohn-Vorschlägen im Zusammenhang mit dem Entsendegesetz, die nur bestimmte Branchen vor osteuropäischer Billigkonkurrenz schützen sollen, läuft eine solche gesetzliche Allgemeinheit nicht auf Nationalismus und Staatshörigkeit hinaus (wie es Felix Klopothek in „Konkret“ behauptet hat). Eine Gültigkeit für alle Beschäftigungsverhältnisse schließt auch nichtdeutsche LohnarbeiterInnen ein, während der gesetzliche Charakter schon deshalb keine Staatshörigkeit bedeutet, weil er eben nur mit harten Bandagen gegen die staatliche Krisenverwaltung durchgesetzt werden könnte. Es geht um einen Existenzkampf gegen die kapitalistische Krisenlogik, der mit der Thematisierung von Lebensansprüchen auch in kultureller oder medizinischer Hinsicht über sich hinaustreibt. Die Frage der Allgemeinheit zielt auf eine branchen- und schichtenübergreifende Mobilisierung unter Einschluss der prekarisierten Intelligentsia; ähnlich wie etwa in Frankreich gegen die Aufweichung des Kündigungsschutzes. Der politische Dienstweg ist ausgeschlossen.

