exit!-Seminar 2025: Postkolonialismus – Dekolonialismus – neuer Krisenimperialismus

Postkolonialismus – Dekolonialismus – neuer Krisenimperialismus
Datum: 17.-19.10.2025

Postkolonialismus und Dekolonialismus sind derzeit große Themen. War ab den 1980er Jahren die Rede vom Postkolonialismus hegemonial, so wird seit den 2010er Jahren vermehrt von Dekolonialismus gesprochen. Dabei sind die Unterschiede zwischen beiden Begriffen nicht immer so klar. Grob gesagt geht es beim Postkolonialismus um die Problematisierung von kolonialen Machtstrukturen und die (Dekonstruktion) kultureller Identitäten in einem universitären Kontext. Demgegenüber gibt sich der Dekolonialismus antiakademisch und soziale Bewegungen jenseits der Universität rücken in den Vordergrund, freilich selbst mit akademische Begründungen. Dabei bleibt eine Kritik der Subalternen meist ausgespart. Neil Larsen schreibt dementsprechend: „Das Postkoloniale eignet sich offensichtlich nicht annähernd so gut für … Sloganbildung“. Er übertitelt seinen Text „Der reaktionäre Jargon der Dekolonialität“ vor dem Hintergrund von Adornos Kritik des „Jargons der Eigentlichkeit“ (The Jargon of Decoloniality, Jacobin (englisch) v. 29.12. 2023).
Im diesjährigen Exit-Seminar geht es vor allem um die inhaltliche Auseinandersetzung mit postkolonialen und dekolonialen Theorien vor dem Hintergrund der heutigen weltgesellschaftlichen Krise. Dabei soll am Ende des Seminars vor dem Hintergrund der objektiven Krisenentwicklung der Unterschied eines neues Krisenimperialismus heute zum vergangenen „klassischen“ Imperialismus deutlich gemacht werden – den postkoloniale und dekoloniale Perspektiven noch gar nicht richtig auf dem Schirm haben. Ihnen fehlt es an einem Begriff der (welt-)gesellschaftlichen Totalität, der auch einer ideologischen und lebensweltlichen Perspektive Raum zu geben hätte und nicht nur der politökonomischen, um die es ihnen ja insbesondere mit dekolonialen Ansätzen gerade geht. Aufzunehmen wären nicht zuletzt wert-abspaltungskritische Ansätze, jenseits von Essentialismen, allerdings im Zusammenhang einer nun eben fragmentierten Totalitätsperspektive in ihrer Inhaltlichkeit und nicht in ihrem scheinbaren unmittelbaren Dasein.

 


Freitag 19.00 – 21.30

Die Aufhebung des weißen Mannes (Robert Kurz)

Robert Kurz hat sich in seinem Essay von 1993 „Die Aufhebung des weißen Mannes“ schon dem Thema Kolonialismus und Antikolonialismus gewidmet. Die Minderheit der weißen Männer sah er als Vollstrecker der warenförmigen Logik und Rationalität – so seine These. Vor dem Hintergrund der Wert-Abspaltungs-Kritik kommt er zu folgendem Resultat: „Die vom Marktsystem selbst hervorgetriebenen Produktivkräfte greifen so tief in die innere Bedürfnisstruktur des Menschen und in die äußere Natur von Boden, Luft, Wasser, Tier- und Pflanzenwelt ein, dass diese sinnlichen Inhalte nicht länger verdrängt und vergewaltigt werden können. Damit aber stößt auch die bisherige Emanzipationsbewegung der Lohnarbeiter und der ehemaligen Kolonialvölker an ihre Grenzen. Auch sie kommen nicht weiter, sobald sie die gesellschaftliche Form des weißen Mannes angenommen haben … Dieselben Produktivkräfte, die in der Form des Marktsystems die ökologische Krise und die Krise des Geschlechterverhältnisses hervorgebracht haben, erzeugen eine globale Massenarbeitslosigkeit … Und wieder dieselben Produktivkräfte haben den totalen Weltmarkt vorangetrieben und die Menschheit global vernetzt. Der alte Befreiungsnationalismus der alten antikolonialen Bewegungen läuft ins Leere … Geschlechterkrieg, soziale und ökologische Katastrophen, pseudoreligiöser Fundamentalismus und ethnische Bürgerkriege zeigen an, dass die westliche Welt aus den Fugen gerät … Die westlichen Gesellschaftsformen, wie sie sich seit dem Zeitalter der Entdeckungen herausgebildet hatten, sind nicht weit genug, um die Eine Welt in sich aufnehmen zu können, die ihr eigenes Produkt ist … Das wirkliche Ende der äußeren und inneren Kolonialisierung liegt insofern noch vor uns, und es läßt sich als Zielsetzung für das 21. Jahrhundert auf die Formel bringen: Die Aufhebung des weißen Mannes“. Der Essay wird von Roswitha Scholz in gekürzter Fassung vorgetragen.

 


Samstag 10.00 – 12.30

Nach dem Postkolonialismus ist vor der Dekolonisierung (Justin Monday)

Neuerdings wird wieder dekolonisiert. Das heißt noch nicht ganz, aber demnächst, sobald das akademische Prekariat Walter Mignolos »Grammatik der Dekolonialität« aus dem literaturwissenschaftlichen Proseminar in die Lehrbücher verfrachtet hat. Das mit dem Postkolonialismus, den man im Feuilleton noch für den neuesten Schrei hält, scheint eher so ein Missverständnis gewesen zu sein. Es sei »einer der machtvollsten Mythen des Zwanzigsten Jahrhunderts« gewesen, »dass die Abschaffung der Kolonialverwaltungen einer Entkolonialisierung der Welt« gleichgekommen sei. Vielmehr habe dies »zu dem Mythos einer ‚postkolonialen‘ Welt« geführt. So zumindest Ramón Grosfoguel, neben Mignolo ein weiterer der großen Geister des Genres.
Der Schrei der postkolonialen Szene, die derart ahistorischen Unsinn leicht als identitätsstiftenden Angriff deuten könnte, ist allerdings ausgeblieben. Vielmehr hält man ihn für eine gute Ergänzung dessen, was man selbst in den letzten Jahren so verfasst hat. Immerhin hat man selbst auch keine wirklich zündende Idee, warum die Hackordnung und die Institutionen des deutlich kriselnden Weltkapitals noch immer postkolonial genannt werden sollten. Schließlich liegen die Meilensteine dieses welthistorischen Umbruchs, also etwa die Unabhängigkeit Indiens und Pakistans von England, bereits mehr als 75 nicht wirklich ereignislose Jahre zurück. Einer neuer Begriff, der die politische Verfassung des Weltkapitals so fasst, dass der Zustand der ehemaligen Kolonien auf gegenwärtige gesellschaftliche Formen zurückgeführt wird, könnte also an der Zeit sein.
Es sieht aber bei weitem nicht so aus, als ob das postkoloniale Spektrum dies leisten könnte. Daher wird es im Vortrag um eine ideologiekritische Behandlung der Frage gehen, wie die postkoloniale Theorie, die im Vergleich zum dekolonialen Neusprech deutlich ernster zu nehmen ist, beschaffen war und warum sie sich nun gerade deshalb in der Bredouille befindet.

 


Samstag: 15.30 – 18.00

Ohne Begriff einer (welt-)gesellschaftlichen Totalität in der Krise keine Befreiung. Zu Enrique Dussels „Gegendiskurs der Moderne“ als Philosophie und Ethik der Befreiung (Herbert Böttcher)

Der 1934 in Argentinien geborene argentinisch-mexikanische Historiker, Philosoph und Theologe Enrique Dussel ist ein im lateinamerikanischen Kontext einflussreicher Theoretiker. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sein Denken multidisziplinär ausgerichtet und dabei geprägt ist vom Blick auf Lateinamerika als einem Ort an der wirtschaftlichen politischen und kulturellen Peripherie, einem Ort, der außerhalb des Blickfelds der Zentren liegt, sehr wohl aber von ihnen dominiert ist. Aus der Perspektive eines solch originären Ortes hat Dussel seine „Philosophie der Befreiung“ entworfen.
Aktuell wird im Rahmen der Diskussion um eine postkolonial-dekoloniale Sicht des Kapitalismus und der europäisch geprägten Moderne immer wieder auf Dussels „Philosophie der Befreiung“ Bezug genommen. Anziehend scheint seine praktische und auf Ethik bezogene Perspektive zu sein. Im Referat geht es um Dussels Rückgriff auf indigene Kulturen in Lateinamerika wie auf in europäischer Philosophie (von Descartes zu Levinás, vom Selbst zum Anderen und seiner Exteriorität) verwurzelten Denktraditionen. Aus deren Reflexion in ihren politisch-ökonomischen wie kulturellen Kontexten entwickelt er seinen „Gegendiskurs der Moderne“. Er gewinnt Gestalt in einer „Philosophie der Befreiung“, die Dussel wiederum an Levinás anknüpfend als „Ethik der Befreiung“ konturiert.
Im Referat soll deutlich werden, dass Dussel trotz des Gewichts, das er der politisch-ökonomischen Kontextualisierung seiner Reflexion gibt, diese in traditionsmarxistischen Kategorien (Arbeit vs. Kapital, Herrschende vs. Unterdrückte etc.) stecken bleibt. Mit diesen gebrochen zu haben, wirft er der frühen Kritischen Theorie vor, während er ihren Begriff einer gesellschaftlichen Totalität ignoriert. Entsprechend kann Dussel auch keinen Begriff einer (welt-)gesellschaftlichen Totalität entwickeln und schon gar nicht deren Krisencharakter reflektieren. Statt dessen sucht er Zuflucht in einer ethisch am Anderen statt am Selbst orientierten Ethik der Exteriorität und landet in einer gesellschaftlichen Transformation, die als Demokratisierung angepriesen wird. Das mag aktivistischen wie räsonierenden Akademikern entgegenkommen, kann aber nicht die in der Krise einbrechenden und dennoch chaotisch ‚herrschenden‘ Verhältnisse emanzipatorisch sprengen.

 


Samstag 19.00: Mitgliederversammlung


Sonntag 10.00 – 12.30

Was ist Krisenimperialismus? Und wodurch unterscheidet er sich vom klassischen Imperialismus früherer Epochen? (Tomasz Konicz)

Krisenimperialismus ist das staatliche Dominanzstreben – vollzogen mit ökonomischen, politischen oder militärischen Mitteln – in der Epoche der Kontraktion des Verwertungsprozesses des Kapitals. Die Staatsapparate der Zentren des Weltsystems streben hierbei nach Dominanz in einer durch permanente Produktivitätsfortschritte befeuerten Systemkrise, die einerseits, vornehmlich in der Peripherie, Regionen ökonomisch und ökologisch verbrannter Erde produziert und andererseits das Aufkommen eines neuen Akkumulationsregimes, bei dem massenhaft Lohnarbeit in der Warenproduktion verwertet würde, unmöglich macht. Dieser Krisenprozess geht mit einer schneller als die Weltwirtschaftsleistung steigenden Verschuldung einher und führt zur Herausbildung einer ökonomisch überflüssigen Menschheit, wie es etwa die Flüchtlingskrisen der vergangenen Jahre illustrierten.
Damit ist auch der grundlegende Unterschied zum Imperialismus früherer Epochen benannt, da dieser sich in einer historischen Phase der – von Europa im 16. Jahrhundert ausgehenden – Expansion des Kapitals vollzog , die gerade von der massenmörderischen Ausbeutung von Arbeitskräften und Ressourcen angetrieben wurde. Diese These soll in dem Referat näher ausgeführt werden.

 


Tagungsort
Jugendherberge Mainz, Otto-Brunfels-Schneise 4, 55130 Mainz

Anreise
Mit der Bahn: Vom Hauptbahnhof Buslinien 62 und 63 in Richtung Weisenau-Laubenheim, Haltestelle „Am Viktorstift/Jugendherberge“. Mit dem Pkw: Über Autobahnring A60 Mainz-Darmstadt, Abfahrt Weisenau/Großberg in Richtung Innenstadt/Volkspark.

Teilnahmekosten pro Person mit Übernachtung und Verpflegung
Freitag bis Sonntag: 2-Bettzimmer Du/WC: (12 Plätze) 90 € pro Person; 1-Bettzimmer Du/WC: (7 Plätze) 110 € pro Person.
Es stehen 19 Plätze zur Verfügung.
Teilnahme nur am Seminar, Tagungsbeitrag: 20 €. Teilnahme nur am Seminar, inkl. Vollpension: 40 €. Bitte entsprechend Bescheid geben!

Teilnahmebeiträge bitte nicht vorher überweisen, sondern bar mitbringen.

Wer nicht im Haus übernachtet, aber bestimmte Mahlzeiten dort einnehmen will, gebe bitte bei der Anmeldung an, welche (Frühstück, Mittagessen, Nachmittagskaffee, Abendessen).
Teilnehmer/-innen, die nicht in der Jugendherberge übernachten wollen, bitten wir, sich selbst um eine externe Übernachtungsmöglichkeit zu kümmern. Die Jugendherbergsleitung hat uns das Hotel Stiftswingert (Am Stiftswingert 4; Tel. 06131-982640) und das Ibis-Hotel (direkt am Südbahnhof; Holzhofstr. 2, Tel. 06131-2470) empfohlen; von beiden ist das Tagungshaus gut zu Fuß zu erreichen.

Ermäßigung
Wer sich den TN-Beitrag nicht leisten kann, muss deswegen nicht auf das Seminar verzichten: Bitte sprecht uns in diesem Fall bei eurer Anmeldung wegen einer Ermäßigung an!

Anmeldung
Bitte bei der Anmeldung angeben, falls vegetarisches Essen gewünscht wird. Ansonsten gehen wir von nicht-vegetarisch aus.
Anmeldung per E-Mail an: seminar@exit-online.org