Fundstück: Bedenkenswerte Einsichten eines Häretikers im Traditionsmarxismus

Der fatale Grundzug in der Geschichte der bürgerlichen Emanzipation (inklusive der proletarischen) besteht darin, dass jeder „Erfolg“ im Kampf um die Befreiung von überkommenen Mächten, Autoritäten und Zwängen die Menschen stets wieder unter neue Zwänge geraten lässt, die immer abstrakter und unpersönlicher werden und die allgemeine warenförmige Zurichtung der „Menschen- und der Sachenwelt“ (Marx) vorantreiben.

Am Beispiel der Arbeiterbewegung zeigt dies eindrucksvoll Paul Mattick, einer ihrer heute nahezu vollständig vergessenen Theoretiker und Praktiker in seiner Essaysammlung „Spontaneität und Organisation“*.

Radikale Systemopposition, so eine der Hauptthesen Matticks, war schon immer das „Privileg von Einzelnen und Sekten“. Mit dem Bestreben, sich zu organisieren und für das Wachstum der Organisation zu sorgen, nimmt die Radikalität notwendig ab. Das Bewusstsein des radikalen Einzelnen bleibt immer ein „unglückliches Bewusstsein“, und die Organisation, die etwas erreicht, wird „Opfer ihrer eigenen erfolgreichen Aktivität“, indem sie erfolgreich eben nur sein kann um den Preis ihrer Integration in das System, gegen das anzukämpfen sie ursprünglich angetreten war. Die „systemischen Zwänge“ setzen sich in letzter Instanz durch. Entsprechend zeigt Mattick, dass „auch der proletarische Kampf letztlich der Beschleunigung der Kapitalakkumulation“ diente.

Die großen Organisationen der Arbeiterbewegung wollten denn auch, wie wir heute wissen, niemals über die bürgerliche Gesellschaft hinaus, sondern gemäß der Definition der eigenen Interessen in sie hinein: Gleiche Rechte, größere Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum und vor allem die Befreiung der Arbeit von der „faulen Existenz“ der Kapitalisten – alle diesbezüglich zu verzeichnenden Fortschritte und Erfolge waren Mattick zufolge nie etwas anderes als „Entwicklungsstufen in den Grenzen des Status quo“, oder besser gesagt: Etappen in der Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus.

Dies bedeutet aber, und exakt hier liegt die Aktualität der Überlegungen Matticks, dass auch alle neueren Versuche, ein revolutionäres Subjekt auszumachen, von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen sind.

Die postmodernen Sozialwissenschaften suchen deshalb auch konsequenterweise nicht mehr nach dem revolutionären Subjekt, sondern nach dem Subjekt schlechthin, denn dieses, so versuchen sie uns zu belehren, verschwindet auf der nun erreichten Entwicklungsstufe zunehmend im Labyrinth der „funktionalen Differenzierungen“ (Luhmann) der Gesellschaft. Allenthalben breitet sich nur Ratlosigkeit aus angesichts der dschungelhaften Verstrickung, in welche die „Subjekte sans phrase“ nun „postmodern“ und „globalisiert“ hineingeschlittert zu sein scheinen. Und jede politisch organisierte Opposition muss bei Strafe des Untergangs „an der Reorganisation der Weltwirtschaft mit den sich verändernden Machtverhältnissen teilnehmen.“ (Mattick)

Für radikale Positionen ergibt sich daraus ganz offensichtlich die Notwendigkeit einer bisher nur im Zusammenhang mit der Wert-Abspaltungskritik formulierten Subjektkritik, die tatsächlich an die Wurzel geht und sich aus der Immanenz der identitätslogischen Konstitution des Subjekts in der Tradition der Aufklärung befreit, sowie einer ebenso radikalen Kritik an den traditionellen Organisationsformen und an der herrschenden Bedeutung dessen, was heute immer noch „Politik“ genannt wird. Dies in immer wieder neuen Anläufen durchzuhalten, ohne in der von Mattick beschriebenen Form als unglückliche Einzelne hinter dem Vorhang des alltäglichen großen Theaters zu verschwinden oder sektenhaft zu erstarren, ist die große Aufgabe, an der in der radikalen theoretischen Praxis niemand notwendigerweise scheitern muss, sofern sie oder er sich nicht von der Übermacht der herrschenden Wahnverhältnisse dumm machen lässt.

(Marx, Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, MEW 1, 344)

Manchmal ist es kaum zu glauben, wie wenig Marxisten, oder solche, die sich dafür halten, ihren Marx kennen.