Im Dschungel
erscheint in exit!-Heft #10
Eine Kritik der theoretischen Grundlagen linker Biopolitik1
„Unsere Untersuchung muss in den Dschungel gehen (…)“ (Hardt/Negri 2003: 45)
Biopolitik scheint im politischen Diskurs allgegenwärtig zu sein, auch wenn die hitzige Diskussion um Sarrazin und die Seinen nur ein Abglanz des Tumults um Sloterdijks „Menschenpark“ und die daran anschließende „bioethische“ Diskussion vor knapp 10 Jahren ist. Damals ging es manchen immerhin noch um eine neue „Gattungsethik“ (Habermas), die wegen der Durch- und Dammbrüche von Biologie und Genetik notwendig erschien. Und in der Tat: Die letzten Jahrzehnte haben mit dem Aufkommen von Gentechnologie und Reproduktionsmedizin neue und zuvor undenkbare Möglichkeiten in der Zurichtung des „Menschenmaterials“ mit sich gebracht, mit der sogenannten „Präimplantationsdiagnostik“ (PID) am Schnittpunkt von Genmanipulation und Eingriff in die unmittelbare Reproduktion der Spezies Mensch. Darum kann es auch kaum verwundern, dass die bürgerliche Diskussion sich ganz besonders auf diesen Punkt fokussiert hat (siehe dazu überblicksmäßig Geyer 2001), auf den Zugriff auf und die Forschung an ungeborenem menschlichem „Leben“. Was an dieser Debatte jedoch ideologiekritisch auffällt, ist, dass es so scheint, als önne das Problem überhaupt nur im Rahmen des Rechts begriffen werden und an Relevanz gewinnen, dass sich die (Un-)Verfügbarkeit menschlichen Lebens also quasi von selbst als juristisches Problem und schließlich als Angelegenheit des Staates darstellt. Dabei steht in der Debatte nicht weniger, aber eben auch nicht mehr als „unser Typus der Zivilisation“ (Geyer 2001: 19) auf dem Spiel. Eine Analyse der herrschaftlichen Unterwerfung des menschlichen Körpers bis in sein Innerstes und der damit in der Geschichte des Kapitalismus seit der berühmt-berüchtigten Hobbeschen „body politic“ einhergehenden Formierung eines abstrakten „Gesellschaftskörpers“ lässt sich auf diesem Terrain der „Zivilisation“ und im Paradigma der Staatsräson natürlich nicht bewerkstelligen. Ein Unbehagen an „der Verwandlung der Biologie zu einer Ingenieurskunst“ (Lemke 2007: 40) lässt sich natürlich feststellen, konzeptuelle Werkzeuge zur Analyse von Genese und Entwicklung moderner Biopolitik finden sich hingegen kaum. Es reicht gerade einmal zum einfachen Registrieren eines in den letzten Jahren besonders hervorstechenden Moments dieser Entwicklung: der Verwandlung der Biologie in die sog. „life sciences“ und der allgemeinen massiven Inwertsetzung der Grundlagen biologischen Lebens im Zuge neoliberaler Umstrukturierungen.
Aufs Terrain einer kritischen Konzeptualisierung moderner Biopolitik kann die bürgerliche Diskussion jedoch nicht vordringen. Eine rein ideologische Debatte zwischen scheinbar gegensätzlichen Positionen gedeiht auf dem ihr eigenen juristischem Boden, dem es wie gesagt um nichts weniger geht als unsere „Zivilisation“ und von Zeit zu Zeit auch „unsere“ Wettbewerbsnachteile, die sich aus einer zu starken Regulierung der Forschung an menschlichen Embryonen angeblich ergäben, dafür umso besser. So hieß es etwa von wissenschaftlicher Seite in besagtem Disput, der „biopolitisch gleichgeschaltete Gesamtbioethikrat deutscher Tageszeitungen“ (Markl 2001: 178) sei forschungsfeindlich und würde verhindern wollen, was andere im globalen (Forschungs-)Wettbewerb sowieso bereits täten, außerdem würden die bürgerlichen ZaudererInnen einer „willenlose[n] Hinnahme jedes Zufallsunglücks“ (Markl 2001: 189) das Wort reden. Bei einer solchen Steilvorlage bedurfte es auf der Gegenseite gar keiner Gottesebenbildlichkeit von Mensch und „Leibesfrucht“ mehr, um vor positivistischen Allmachts- und Frankensteinphantasien der Wissenschaft zu warnen, Ermahnungen rund um sog. „Designerbabys“ und individualisierte Formen der Eugenik inklusive. Und so ging es in der Diskussion, die um die rechtliche Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens zirkelte, doch ganz eigentlich um ein kaum definierbares Dazwischen, um eine negative Einheit von Biologie und Herrschaft im Rahmen der modernen Biopolitik, auch wenn diese von den Kontrahenten der Debatte nicht erfasst werden konnte.
In der bürgerlichen Debatte stellt sich die Biopolitik nämlich als ein einfaches „entweder – oder“ dar: Sie ist entweder eine schier biologische Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens oder eine rechtlich-politische mit moralischen Obertönen nach der Steuerbarkeit biologischer Prozesse im Namen von Grundgesetz und natürlich auch Staatsräson. Naturalistisch-wissenschaftliche Positionen oder gar schlichtweg biologistische haben kein Gespür für das Eingespanntsein des „Lebens“ in die Reproduktion der Gesellschaft, für dessen herrschaftliche Verwaltung, Zurichtung und Umformung im Rahmen einer distinkt kapitalistischen Biopolitik, ihre politisch-moralischen WidersacherInnen sehen politische Entscheidungen und deren Subjekte als völlig unabhängig von der menschlichen Naturbasis, ja in einer langen Tradition politischer Theorie beginnt das eigentlich Politische erst jenseits des unmittelbaren, sei es nun nackten, heiligen oder schaffenden Lebens. Die reale von der Herrschaft des Kapitals gestiftete Dialektik geht in dieser schroffen Gegenüberstellung verloren und Biologie und Gesellschaft, Leben und Politik werden zu einfachen sich ausschließenden Gegensätzen.
Einen fruchtbareren Ansatz zur Analyse moderner Biopolitik bietet hingegen Michel Foucault in Teilen seines Werks. Selbiger hat in einer Reihe von Büchern und Vorlesungen in den 1970er-Jahren einen historischen und relationalen Begriff von Biopolitik entwickelt, der die moderne Verwobenheit von biologischem Leben und Herrschaft viel besser zu erfassen scheint. Biopolitik ist nicht einfach die Spiegelung biologischer Tatsachen auf die Politik und ein dementsprechendes Handeln oder die politische Handhabung bis Ausschließung eines abstrakt und unspezifisch gedachten Biologischen; das Biologische, Leben schlechthin, bildet, so Foucault, in der Moderne vielmehr eine Art Grenze oder Schwelle, „die zugleich respektiert und überwunden werden soll, die gleichermaßen als natürlich und vorgegeben wie als künstlich und revidierbar erscheint“ (Lemke 2006: 13). Allein in einer solchen Perspektive, würde ich meinen, lässt sich die Widersprüchlichkeit moderner Biopolitik ergründen, die alles tut, um menschliches Leben zu hegen und zu pflegen und gerade auch heranzuzüchten, gleichermaßen aber wie nie zuvor die Potenziale des Tötens entfesselt hat. Mit anderen Worten, es gibt für Foucault nicht nur den „schöpferischen“ Aspekt der modernen Biopolitik, sondern auch einen negativen, inneren Zusammenhang zwischen Biopolitik und Rassismus – ja Biopolitik kann nur als das reale Ineinander beider Momente gedacht werden.
Um zu diesem Zusammenhang vordringen zu können, gilt es aber zuerst einmal, die „Bevölkerung als politisches Problem“ (Foucault 2001: 289), als genuin moderne Kategorie zu erkennen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts kommt es durch verschiedene Praxen und Technologien zur Emergenz einer neuen politischen, aber eben nicht mehr nur rein politischen Kategorie: der Bevölkerung. Es kommt, in Foucaults Worten, zu einer neuen „Politik der Wahrheit“ (Foucault 2006a: 15), die, etwas theoretischer gesprochen, durch „die Kopplung einer Reihe von Praktiken mit der Herrschaft der Wahrheit ein Dispositiv des Wissens und der Macht bildet“ (Foucault 2006b: 39). Für Foucault ist die Bevölkerung nicht einfach ein biologisches Datum, auch wenn sie in einem biologisch relativ statischem Substrat fußen mag (was, wie wir noch sehen werden, bei Foucault unklar bleibt), sondern sie ist nicht minder, ja eigentlich viel entscheidender: eine soziale Realität, die durch verschiedenste Praktiken und Herrschaftsbeziehungen geschaffen wurde und sodann ein Eigenleben zu führen scheint. Die Bevölkerung ist, gleichsam in einem Zangengriff, Objekt von Herrschaftswissen und Staat wie von beiden vorausgesetzte, existierende Realität, welche als solche respektiert und optimiert werden soll. In diesem Sinne zeichnet sich die moderne Biopolitik durch die Einheit von „Gärtner-Züchter-Chirurgen-Ambitionen“ (Zygmunt Bauman, zit. nach Lemke 2007: 25) des Staates und seiner Büttel zum „Wohle“ der Bevölkerung bzw. des Volkes aus. Vom 18. Jahrhundert an bis heute zieht sich eine Art gesellschaftssanitärer Diskurs durch die Geschichte, der um die Bevölkerung bzw. das Volk zentriert ist. Von der sogenannten hygnienischen Revolution im späten 18. Jahrhundert zu Bevölkerungspolitik und Kolonialismus im 19. bis hin zu Eugenik, „Erb- und Rassenpflege“ und modernen Initiativen zur allgemeinen „Wellness“, eigentlich der Volksgesundheit, spannt sich dieses diskursive Band der Zurichtung von Körpern und Bevölkerungen (vgl. Naumann 2001: 268-270, sowie generell Dörner/Ebbinghaus 2001).
Foucault hat wie kaum ein anderer das Aufkommen dieser neuen Realität untersucht und sie in eine Art Zusammenhang mit der Entstehung des modernen Kapitalismus gesetzt. Er sieht nicht nur eine Wechselbeziehung zwischen dem Zugriff auf die Körper der Einzelnen und auf die Bevölkerung als ganzer, zwischen Disziplinar- und Biomacht, in einigen seiner Vorlesungen zeigt er darüberhinaus, dass diese neuen Formen der Herrschaft und Überwachung einhergehen mit einem ebenso neuen Verständnis von Sicherheit und Territorialstaatlichkeit (vgl. Foucault 2006a) und einer spezifisch modernen ökonomisch-liberalen Rationalität (vgl. Foucault 2006b), von Foucault „gouvermentale Vernunft“ genannt. All diese Konzepte und die gesamte Theorie Focaults sind sehr innovativ auf diesem Gebiet und müssen für eine jede kritische Diskussion moderner Biopolitik als Ausgangspunkt dienen (der folgende Abschnitt wird sich deshalb eingehender mit Foucaults Theorie der Biopolitik befassen). Gleichzeitig ist Foucaults Analyse, was die philosophisch-theoretischen Grundlagen und Voraussetzungen seiner Theorie betrifft, in ganz bestimmter Art und Weise defizitär, sodass es ihm nicht wirklich gelingt, die moderne Biopolitik im Rahmen einer kritischen Theorie der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus zu situieren. Dies hat viel mit Foucaults erkenntnistheoretischen Grundannahmen, seinem prononcierten Poststrukturalismus undPostmarxismus zu tun (siehe dazu auch Gangl 2012, insbesondere 115-118), die sich in einer gewissen theoretischen Spannung und dann auch Neigung äußern, Wahrheit, Wissen und Macht ineinanderfallen zu lassen, anstelle sie dialektisch in Bewegung zu bringen. Unsere Analyse wird sich mit allen beiden Ebenen der Foucaultschen Theorie beschäftigen müssen und zwar insbesondere in deren Interaktion, denn Foucaults empirische Forschungen sind nicht frei von theoretischen Annahmen grundsätzlicher Art und die Theorie bezieht zumindest teilweise ihre Stärke aus Foucaults historiographischer „Maulwurfstätigkeit“.
Linke Theoretisierung von Biopolitik beginnt wie gesagt mit Foucault, sie endet aber sicherlich nicht mit ihm, das haben die Diskussionen der letzten 10 Jahre gezeigt. Dabei ist es allerdings oft nicht ganz klar, ob, bei aller Verklausulierung seiner normativen Prämissen, im Sinne von Foucault eine linke Kritik moderner Biopolitik in Angriff genommen werden oder ob es darum gehen soll, selbst links-lackierte affirmative Biopolitik zu betreiben. Drei (bzw. vier) Gestalten, die in diesem Zusammenhang in der letzten Dekade die Diskussion entfacht haben, sind Giorgio Agamben, Roberto Esposito und Michael Hardt und Antonio Negri (als Autorenduo Hardt/Negri). Agambens Theorie über die Figur des Homo Sacer als verstecktem Leitbild der Moderne fokussiert auf den „Nexus Nativität-Nationalität“ (Agamben 2002: 143), der die moderne staatlich orchestrierte Biopolitik ebenso auszeichnet und der somit eine konstitutive Differenz zwischen Mensch und Bürger bezeichnet, die immer wieder sog. homines sacri, eingeschlossene Ausgeschlossene, produziert. Roberto Esposito ist in deutschsprachigen Gefilden weniger bekannt, hat in den letzten Jahren aber mit seinen Veröffentlichungen zu moderner Biopolitik im angloamerikanischen und lateinamerikanischen Raum für Diskussionen gesorgt (vgl. etwa Esposito 2008 und Esposito 2009). Er meint, die Moderne zeichne sich durch ein biopolitisches Immunitätsparadigma aus, das die Leben erschaffende, „sich immunisierende“ Biopolitik immer wieder in vernichtende „Thanatopolitik“ umkippen lässt. Beiden, Agamben und Esposito, ist gemein, dass sie stärker als Foucault auf den negativen „Höhepunkt“ bisheriger Biopolitik reflektieren: den Nationalsozialismus und sein doppeltes Programm von Vernichtung und „Aufartung“ – exemplifiziert im als absolut imaginierten Gegensatz zwischen „Ariern“ und „jüdischer Gegenrasse“. Selbiges gilt explizit nicht für Hardt/Negri in ihrer Empire-Trilogie, die mit dem Konzept einer positiven Biopolitik am weitesten gehen. Die dargestellte Ignoranz gegenüber dem Nationalsozialismus und die absolute Positivierung von Biopolitik mag bei marxistischen Autoren verwundern, ist aber nur folgerichtig, schaut eins sich die postmarxistisch-poststrukturalistischen theoretischen Grundannahmen des Autorenduos an. Dies gilt schließlich auch für die anderen beiden soeben genannten Theoretiker der modernen Biopolitik: So interessant ihre einzelnen phänomenologischen Analysen auch sind, so defizitär ist ihr allgemein-theoretisches Gepräge, was tendenziell zu einer Positivierung des negativen Zusammenhangs moderner Biopolitik führt. Auch wenn sich die Sache von Theoretiker zu Theoretiker etwas anders darstellt, so ist es doch dieselbe theoretische Problematik, die auf kategorialer Ebene in Foucault, Agamben, Esposito und Hardt/Negri am Werk ist. Das soll in weiteren Abschnitten zu Agamben und Esposito, sowie Hardt/Negri und die rezente Diskussion um sog. „Gemeingüter“ („commons“ oder „the common“ in der größtenteils englischsprachigen Diskussion) genauer dargelegt werden.
Bereits bei Marx heißt es in der bekannten, von ihm unterdrückten Einleitung zu „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (vgl. Marx 1964) in einem Unterteil, der mit „Die Methode der politischen Ökonomie“ betitelt ist:
„Es scheint das Richtige zu sein mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen, also z.B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsakts ist“ (Marx 1974: 21)
Nun wäre es vermessen, anzunehmen, Marx hätte mit diesen Zeilen bereits alles Essentielle zur modernen Biopolitik gesagt oder selbige bei der Niederschrift dieser Zeilen überhaupt vor Augen gehabt oder haben können. Dieses Zitat hilft trotzdem dabei, die Intention des vorliegenden Textes vorab nochmals etwas genauer zu umreißen. Marx moniert hier in einer der wenigen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Reflexionen seines (späteren) Werkes, dass die politische Ökonomie nicht dazu imstande sei, zu den wirklichen Mechanismen kapitaler Vergesellschaftung durchzudringen und deshalb ihre Analyse bei einer Oberflächenerscheinung beginnen lässt, ohne die tieferliegenden Mechanismen verstanden zu haben, die das Konkrete bedingen – was, so Marx, nur zu einer „chaotische[n] Vorstellung des Ganzen“ (Marx 1974: 21) führen kann. Gleiches gilt erkenntnistheoretisch auch für heutige Theoretisierungen von Biopolitik: Ausgehend von Foucault hat sich ein Verständnis von Gesellschaft breit gemacht, das nach dem Ganzen gar nicht fragen kann und so bei aller Brillianz einzelner Analysen Foucaultscher Provenienz die negative Dialektik von Biopolitik und Kapitalismus verfehlen muss. Das ist eine Entwicklung, die gerade auch auf abstrakt-theoretischer Ebene nach Erklärungen verlangt.
Foucaultsche Ambivalenzen
Foucaults Schaffen lässt sich bekanntermaßen in zwei distinkte Schaffensphasen unterteilen, Archäologie des Wissens und Genealogie der Macht genannt. In der Archäologie geht es um die (konzeptuellen) Voraussetzungen gewisser Wissensstrukturen, Foucaults berühmte Epistemen, die sich im Rahmen der neu aufkommenden modernen Wissenschaften entwickeln. Foucault geht es, mit anderen Worten, um das spezifische System des Denk- und Sagbaren innerhalb dieser neuen Wissensformationen, um die „diskursiven Formationen“ (Foucault 1981: 48), die Wissensobjekten einen bestimmten Objektstatus verleihen, sie „also erscheinen (…) lassen“ und „messbar und beschreibbar (…) machen“ (Foucault 1973: 63). Nun ist es eine andere Frage, inwieweit Foucault hier einem fundamental strukturalistischen Denkansatz folgt und diesen auf ein ungewöhnliches Objekt überträgt (die Konstitution bestimmter Wissensgebiete und Wissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert), ein Vorwurf, der oft gegen ihn erhoben wurde und den er im zitierten Werk, der Archäologie des Wissens (vgl. Foucault 1981), vehement bestreitet, oder ob er mit diesem Zugang die Philosophie erneut zur prima philosophia adelt, nicht des (wissenschaftlichen) Wissens, aber als „Archäologie“ der Voraussetzungen desselben (vgl. Agamben 2003: 121); beide Anwürfe haben paradoxerweise etwas für sich, worauf noch zurückzukommen sein wird. Zentral hier ist der Zusammenhang zwischen den beiden Perioden in Foucaults Werk, der paradigmatisch durch den essenziellen Begriff des „Willens zum Wissen“ dargestellt werden kann. In einem 1971 verfassten und mit dem vielsagenden Titel Nietzsche, die Genealogie, die Historie versehenen Text spricht Foucault vom „großen Wissenwollen der Menschheit“ und dessen „historischer Analyse“ (Foucault 1974a: 107), die Nietzsche zuerst angestrengt hat und die Foucault in gewisser Weise, unglaublich raffinierter, fortsetzt. Beschäftigt sich Foucault in seinen früheren Schriften, ungefähr vom Ende der 1950er bis zum Anfang der 1970er Jahre, mit dem Entstehen und der „Möglichkeit“ (im obigen Sinne) von neuen Wissensformationen, seien es nun der Wahnsinn, die Krankheit, die Biologie oder die Linguistik – mit ersteren beiden jeweils in eigenen Büchern, mit der Entstehung bestimmter Wissenschaften in Die Ordnung der Dinge (vgl. Foucault 1974b) – untersucht er diese Phänomene später, in der genealogischen Phase, weniger vom Aspekt der Wissensformation als von demjenigen, den er schlicht „die Herrschaft der Wahrheit“ (Foucault 2006b: 38) nennt, aus. Dies ist quasi die andere – machtvolle und herrschaftliche – Seite des „Willens zum Wissen“, der sich durch einen spezifischen Wahrheitsdiskurs, etwa was den Wahnsinn, die Krankheit oder die Sexualität anbelangt, auszeichnet und zu Machteffekten gegenüber den einzelnen unterworfenen Subjekten führt.
Grundlegender gesprochen unterliegt beiden Schaffensperioden dieselbe philosophische Grundposition, dasselbe philosophische Weltbild bzw. Gegenstandsverständnis, das sich ebenso im Begriff des „Willens zum Wissen“ kondensiert. Selbiger ist natürlich eine Abwandlung von Nietzsches „Willen zur Macht“, sozusagen des Grundprinzips der gesamten Philosophie Nietzsches2. Das wird nicht nur aus dem zitierten Text zu Nietzsche und der Genealogie klar, sondern auch aus dem letzten Interview, das Foucault 1984 kurz vor seinem unerwarteten Tod gegeben hat. Dort heißt es philosophisch so lapidar wie erhellend:
„ I am simply a Nietzschean, and try as far as possible, on a certain number of issues, to see with the help of Nietzsche’s texts […] what can be done in this or that domain. I attempt nothing else, but that I try to do well” (Foucault 1989a: 327)
Es ist dieser Nietzscheanismus, der uns philosophisch interessiert und den ich als die philosophische Grundlage des ganzen Schaffens von Foucault bezeichnen würde. Doch um zu verstehen, wie sich dieser – positiv wie negativ – in Foucaults Werk auswirkt, gilt es zuallererst, seine Theoretisierung der Biopolitik genauer unter die Lupe zu nehmen. In dieser zeigen sich, wie in kaum einem anderen Untersuchungsgegenstand Foucaults, die “Vor- und Nachteile” einer solchen Herangehensweise, um es einmal simplistisch auszudrücken (und wir werden späterhin noch sehen, dass es sich nicht einfach um Vor- und Nachteile dieser Ontologie handelt, die von einem anderen, adäquateren Standpunkt aus einfach appropriiert oder verworfen werden könnten).
Foucaults Verwendung der Begriffe Biopolitik und Biomacht (in der deutschen Übersetzung seiner Texte zumeist Bio-Politik und Bio-Macht) ist nicht vollends konsistent und auch einer gewissen Entwicklung unterworfen. Das mag bei einem historisch beweglichen Denker wie Foucault kaum verwundern, noch dazu wo viele seiner Gedanken aus Vorlesungsmanuskripten und Mitschnitten stammen, die eigentlich nicht zur Veröffentlichung gedacht waren. Grundsätzlich lassen sich im Foucaultschen Werk aber drei verschiedene Verwendungsweisen dieser beiden Begriffe herausarbeiten (siehe auch Lemke 2007: 48): Biopolitik bezeichnet eine Veränderung der Macht hin zu einer Herrschaft über den “Gattungsmenschen”, sie spielt für Foucault eine zentrale Rolle in der Entwicklung des modernen Rassismus, und schließlich ist Biopolitik in Foucaults späteren Texten Teil einer bestimmte Form der Führung der Menschen, Teil einer “liberalen Gouvermentalität”, die qua Biopolitik und politischer Ökonomie zuvor nicht gekannte Formen der “Sicherheit” implementiert und so Bevölkerung und Territorium regiert. Der Zusammenhang zwischen diesen drei Verwendungsweisen des Begriffes Biopolitik ist in Foucault oft nicht vollends klar, auch wenn sie im Rahmen einer kritischen Theorie des Kapitalismus, die eine Theorie der historischen Durchdringung und Umarbeitung der Gesellschaften durch die Imperative von Kapital und Staat beinhalten muss, als mehr oder minder unabhängige Momente eines Prozesses angesehen werden müssen.
In den zu Foucaults Lebzeiten veröffentlichten Schriften ist das erste Moment, der Zugriff der Macht auf das biologische Leben, am besten entwickelt. Im bekannten letzten Kapitel von Der Wille zum Wissen (vgl. Foucault 1983), das den Titel “Recht über den Tod und Macht zum Leben” (Foucault 1983: 159) trägt, kontrastiert Foucault die moderne Biomacht mit der souveränen Macht feudaler und frühabsolutistischer Herrschaftsgebilde. Die souveräne Macht konnte ihr Recht über das Leben der UntertanInnen nur durch die Herbeiführung des Todes ausüben, es handelt sich dabei um ein souveränes “Recht des Schwertes” (Foucault 2001: 283). Die moderne Biopolitik wandelt dieses “alte Recht sterben zu machen oder leben zu lassen” um zu einer produktiven Macht, der daran gelegen ist, “leben zu machen oder in den Tod zu stoßen” (Foucault 1983: 165, Hervorhebung i. O.). Dass es deshalb noch lange nicht zu einem Ende der Gewalt und des Tötens kommt, betont Foucault hier durchaus, siehe den letzten Teil des Zitats. So geschieht es, dass in der Moderne das biologische (Gattungs-)Leben zum ersten Mal zur Gänze Teil der politischen und herrschaftlichen Regierungskunst wird, es kommt zum “Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewussten Kalküle” (Foucault 1983: 170). Foucault zeigt präzise, wie sich die Biomacht und mit ihr die herrschaftliche Biopolitik mehr und mehr über die Gesellschaft ausdehnen, sich zuerst der Menschen, deren Körper bereits von den sog. Disziplinen zugerichtet worden sind (vgl.Foucault 1994), als Lebenwesen bemächtigen, um sich schließlich um den “Gattungs-Menschen” (Foucault 2001: 286) als eigentliches Wissens- und Herrschaftsobjekt zu gruppieren. Um letzteres zu erreichen, um das biologische Leben der Herrschaft zu unterwerfen und es zu “regieren”, galt es, die (biologischen) Zufälligkeiten und Unzulänglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens zum Wissensobjekt zu machen, es breitestmöglich zu erkennen, zu registrieren und zu katalogisieren. Das biologische Leben selbst wird so, Foucault würde sagen durch eine “Politik der Wahrheit”, zu einer eigenständigen, messbaren Größe, zu einer “kollektiven Realität” (Lemke 2007: 14), die auf vielfältige Weise Zwänge auf die Individuen ausübt. Dies geschieht natürlich durch verschiedenste Praktiken und Technologien, Foucault nennt hier z.B. Geburts- und Sterberaten, Statistiken über Geburtszuwachs oder die sog. Fruchtbarkeit der Bevölkerung (vgl. Foucault 2001: 286). Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kommt es in diesem Rahmen jedenfalls auch zur Herausbildung einer Art öffentlichen Hygiene und Medizin, die sich “den Tod” als Bevölkerungsphänomen zum Feind erklärt hat, also nicht mehr als Tod, der sich brutal über das Leben legt und es – in Epidemien und dergleichen gar massenhaft – zerreißt, sondern als schleichender bzw. permanenter Tod, der sich unentwegt der Gattung bemächtigt und gegen den es Maßnahmen zu ergreifen gilt.
Aus dieser Gemengelage heraus entsteht für Foucault, wie er in seiner Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft (vgl. Foucault 2001) darlegt, auch der moderne Rassismus. Der moderne Rassismus ist, so seine Analyse, zuerst ein Mittel um eine Zäsur einzuführen in das “biologische Kontinuum der menschlichen Gattung” (Foucault 2001: 301, Hervorhebung i.O.), er dient anders gesagt dazu, einzelne Gruppen, im Inneren der Gesellschaft wie außerhalb, mehr oder minder willkürlich voneinander abzutrennen und in Frontstellung zueinander zu bringen. Zu Beginn eher eine diffuse Diskursformation, wird der Rassismus aber mehr und mehr an den Staat gebunden; ja Foucault spricht vom Beginn des 19. Jahrhunderts an von einem genuinen “Staatsrassismus”, der mit der “Verstaatlichung des Biologischen” (Foucault 2001: 282) in der Biopolitik einsetzt, wodurch der Staat sich “zum Zweck der Ausübung seiner souveränen Macht der Rasse, der Eliminierung der Rassen und der Reinigung der Rasse zu bedienen gezwungen sieht” (Foucault 2001: 305). Der Rassismus etabliert demnach so etwas wie eine dynamische Beziehung zwischen dem (Über-)Leben des eigenen Volkes und dem Sterben der Anderen, mögen diese nun innere oder äußere Feinde sein. Die Gesundheit des eigenen “Volkes” ist sodann direkt proportional zum Verschwinden (Machen), später dann Ausmerzen des biologisch zerstörerischen bis minderwertigen Anderen.
Was Foucault hier umreißt, ohne es wirklich auf den Punkt bringen zu können, ist ein genuiner Zusammenhang zwischen dem Entstehen der Biomacht und (staatlichen) Formen des Rassismus, zwischen Biopolitik und der Herausbildung des modernen kapitalistischen Nationalstaates. Damit aber nicht genug, verbindet Foucault diese Analyse mit seinen früheren Theoretisierungen der sog. Disziplinarmacht, die den herrschaftlichen Zugriff auf den Körper der Einzelnen unmittelbar sichern und ein arbeitsames Subjekt schaffen soll. Der Körper als Maschine, dessen Fähigkeiten gesteigert und dessen Kräfte ausgenutzt werden sollen in Schule, Internat, Kaserne, Fabrik und den berüchtigten Arbeitshäusern, ist das Credo der Disziplinarmacht (vgl. Foucault 1983: 167)3. Die Disziplinen orientieren sich darüberhinaus an einer Norm, nicht am souveränen Recht; sie produzieren um diese Norm herum Formen der Normalisierung, die laut Foucault auf “klinische[m] Wissen” (Foucault 2001: 54) beruhen. Die Biopolitik, wenn auch auf einer anderen Größenordnung und mit einem “aggregierten” Objekt, funktioniert nicht anders und normiert bzw. “normalisiert” vom 18. Jahrhundert an mit Hilfe des Rassenbegriffs. Disziplinar- und Biomacht gehen folglich Hand in Hand, ja kreuzen sich und finden zueinander, so Foucault, in der Sexualität. Die Sexualität gehört zur Disziplin, da undisziplinierte Körper, gar als real sexuelle, im Produktionsprozess nicht die ihnen zugeteilte Rolle übernehmen können, jedoch genauso zur Biopolitik, da es einer “Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse” (Foucault 1983: 168) bedarf und schließlich eines kontinuierlichen Zuflusses von “Menschenmaterial”, zuerst als UntertanInnen dann als BürgerInnen. Disziplinar- und Biomacht halten, mit anderen Worten, den Menschen in seiner Körperlichkeit und als Gattungsmensch unter Einsatz von Überwachung, Normalisierung und Rassismus in der Sexualität und anderswo immer fester im Griff.
Foucaults hochinnovative Analysen zeigen detailliert, liest eins etwas zwischen den Zeilen und missachtet explizit Foucaults eigene philosophischen Caveats, die allen seinen Vorlesungen vorangestellt sind und die auch in seinen Büchern immer wieder auftauchen, Momente einer bestimmten historischen Entwicklung. Der moderne “Wille zum Wissen” ist eben auch das: kategorialer und idealer Ausdruck der Durchdringung der Gesellschaft durch die negative Dialektik des Kapitalverhältnisses, durch Staat und Kapital. In diesem Prozess wird das “Gattungsleben” des Menschen Wissens- und Herrschaftsobjekt, es wird zum Objekt von Pflege und Obsession, gleichzeitig durch den Rassismus aber auch in sein eigenes Gegenteil verkehrt, in die beinah ebenso notwendige Herbeiführung des Todes zur Erhaltung des Lebens – dies ist die negative Dialektik der modernen Biopolitik, die im Nationalsozialismus ihren abscheulichen “Höhepunkt” gefunden hat und von der bürgerliche Debatten über Biopolitik nichts wissen können oder wollen (diese negative Dialektik, mithin ihr bisheriger Apex im Nationalsozialismus, ist, wie wir noch sehen werden, auch der Ausgangspunkt der biopolitischen Reflexionen von Giorgio Agamben und Roberto Esposito). Foucault skizziert diesen Prozess in Grundzügen: Er zeigt Schritt für Schritt wie durch Disziplinar- und Biomacht, durch “regulatorische Technologie des Lebens und (…) disziplinäre Technologie des Körpers” (Foucault 2001: 293) immer größere Teilbereiche des menschlichen (Zusammen-)Lebens der kapitalistischen Herrschaft unterworfen werden, und wie das “Kontinuum der Menschengattung” im sich bildenden Nationalstaat gleichzeitig durch den Rassismus aufgetrennt und in ein homogenisiertes Staatsvolk verwandelt wird. Letzteres sagt Foucault nicht explizit, der innere Zusammenhang zwischen Ökonomie und Politik und zwischen Nation, BürgerInnenschaft und Rassismus bleibt bei ihm zum Großteil im Dunkeln (vgl. auch Lemke 2007: 59), was ein Anzeichen für eine maßgebliche theoretisch-philosophische Schwäche seines kleinteiligen und an Kontingenzen orientierten, kurz: nietzscheanischen Zugangs ist. Zugleich spürt Foucault der negativen Dialektik des Kapitalismus auch noch in anderen Kategorien, Praktiken und Technologien nach, wie seine Diskussion des modernen Zusammenhangs von Sicherheit, Territorium und Bevölkerung, so der Titel einer seiner Vorlesungen (vgl. Foucault 2006a), im Rahmen einer kritischen Theorie des modernen Liberalismus zeigt (dazu gleich noch mehr).
Gleichsam kondensiert sich in Foucaults “Willen zum Wissen”, nicht aber im “realen” Phänomen der teilweise “herrschaftlichen Objektkonstitution”, dem er diesen Namen gibt, eben auch ein erkenntnistheoretisches Problem. Obwohl Foucault an manchen Stellen davon spricht, dass Disziplinar- und Biomacht “ein unerlässliches Moment bei der Entwicklung des Kapitalismus” darstellen, da sie dabei hülfen, “die Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation” (Foucault 1983: 168) zu bewerkstelligen, kann er diese Perspektive doch nicht richtig in sein eigentliches theoretisches Gepräge integrieren; zu eng sind im “Willen zum Wissen”, und in der “Politik der Wahrheit”, Wissen, Macht und Wahrheit miteinander verknüpft, ja eigentlich durch den jeweils anderen Begriff ersetzbar. Diese auf Brüche und neue Emergenzen ausgerichtete Perspektive hilft Foucault fraglos dabei, die Entstehung neuer gesellschaftlicher Realitäten in den Blick zu bekommen, sie verschließt tendenziell aber auch den Blick für größere Zusammenhänge und negiert sich erkenntnistheoretisch schlussendlich selbst (auch dazu ist gegen Ende dieses Abschnitt noch mehr zu sagen).
Ende der 1970er-Jahre verändert Foucault in zwei aufeinanderfolgenden Vorlesungen (Sicherheit, Bevölkerung, Territorium gehalten 1978 und Die Geburt der Biopolitik von 1979) das Analyseraster bezüglich der Biopolitik und anderer neuer Wissens- und Machtformen. Nicht mehr so sehr der Zusammenhang Biopolitik, Sexualität und Rassismus steht nun im Vordergrund, sondern die Wechselbeziehung der Biopolitik mit anderen neuen Formen der Lenkung von Bevölkerung und Territorium, die sog. Staatsräson und die Dispositive der Sicherheit. Dieser Fokus sollte Foucault schließlich in der Vorlesung von 1979 zu einer umfassenden Analyse des modernen Liberalismus und seiner (ökonomischen) Doktrin, der politischen Ökonomie, führen.
Das moderne Sicherheitsdispositiv entwickelt sich um die “neue” Realität der Bevölkerung, da, wo es darum geht, die Bevölkerung in ihrem Milieu, in ihrer Interaktion mit ihrem quasi-natürlichen Umfeld zu steuern. In diesem Sinne sagt Foucault, dass die Sicherheit alles daran setzt, “ein Milieu im Zusammenhang mit Ereignissen oder Serien von Ereignissen oder möglichen Elementen zu gestalten, Serien, die in einem multivalenten und transformierbaren Rahmen reguliert werden müssen” (Foucault 2006a: 40). Das Sicherheitsdispositiv arbeitet zu diesem Zweck mit Wahrscheinlichkeiten und “rechnet” gemäß einer fundamental modernen “Kostenkalkulation” (Foucault 2006a: 19). Es geht ihm um eine Art Mittelwert des Unvermeidlichen und um die verschiebbaren Grenzen der Inkaufnahme von “Unsicherheiten” im Rahmen des aufgezeichneten und gemessenen, jedoch dennoch volatilen gesellschaftlichen Lebens der Menschen. Foucault beschreibt dieses neue Dispositiv in aller Kürze anhand des Beispiels der Planung von (französischen) Städten im 18. Jahrhundert (vgl. Foucault 2006a: 35-39). Städte mussten sich in dieser Zeit, nach der Schleifung ihrer Stadtmauern und dem stärkeren Umsichgreifen von überregionalem Handel, auf Dinge und Ereignisse vorbereiten, die zwar als möglich oder auch wahrscheinlich erschienen, dem Charakter des Gegenstands, der komplexen Interaktion der Bevölkerung mit ihrem Milieu entsprechend, aber nicht genau gekannt werden konnten. Diese “Neukonfigurierung” der Stadt, die sich etwa in öffentlicher Hygiene, in der Sicherstellung des Binnenhandels, dem Errichten eines ausgreifenden Straßennetzes und schließlich der eigentlichen Sicherheit ohne die physische Abgrenzung der Stadtmauern ausdrückte, und insbesondere auch die Formierung von (Herrschafts-)Wissen über diese komplexen Gegebenheiten findet laut Foucault im Kontext des Sicherheitsdispositivs statt. Es richtet sich an der Gesamtheit der Bevölkerung aus und begreift sie als Wissensobjekt unter dem Aspekt ihrer Kontrolle und “Einordnung” in ein am Laufen zu haltendes gesellschaftliches Leben.
Als solches ist das Sicherheitsdispositiv ebenso eng mit der Entstehung des modernen Nationalstaats verknüpft, der allein die Mittel zur Sicherung des gesellschaftlichen Zustands zur Verfügung stellen kann. Foucault argumentiert, dass eine moderne Staatsräson, der umfassende Sicherheit eines der wichtigsten Anliegen ist, im 17. Jahrhundert beginnt Platz zu greifen. Zum ersten Mal wird in diesem Prozess der Staat selbst zum Wissensobjekt, das mittels bestimmter Praxen, etwa der politischen Statistik (vgl. Foucault 2005a: 209), untersucht werden kann und dessen Führung deshalb bis zu einem gewissen Grad Moment “rationaler” Regierungspraxis sein muss (vgl. Foucault 2005a: 207). Der Staat soll nicht mehr vom König mittels traditioneller (christlicher) Tugenden geführt werden, es geht nicht mehr um die Frage nach der legitimen Herrschaft im Staate, sondern um die Bündelung von dessen Kräften im Rahmen der aufkommenden Staatenkonkurrenz (vgl. Foucault 2006a: 522), die ihren ökonomischen Ausdruck in den Doktrinen des Merkantilismus findet. Vernünftiges, der Staatsräson verpflichtetes Regieren der Herrschaft kümmert sich um die vielschichtige Beziehung zwischen Bevölkerung, Territorium und Reichtum, die auch im Zentrum merkantilistischen Denkens steht.
Das Mittel, in Foucaults Worten die Praxis und Technologie, in dieser Durchorganisierung der Gesellschaft ist die Polizei im damaligen Wortsinn als Form der “inneren Verwaltung”, d.h. als “die unbegrenzte Reglementierung des Landes nach dem Modell einer straffen städtischen Organisation” (Foucault 2006a: 18). All dies spielt zusammen in der frühmodernen Konstitution des Nationalstaates, der sich auf Sicherheit, Bevölkerung, Staatsräson, umfassende Verwaltung (“Polizei”) und das Resultat dieser Gleichung: Reichtum auf einem souveränes Territorium gründet. Der Souverän eines Territoriums ist nun nicht mehr eine göttlich oder anders transzendental legitimierte juridische Gestalt, sondern ein modernes komplex-unförmiges Gebilde, ja ganz eigentlich ein Leviathan, der Objekt des Wissens sein kann und dessen erste Aufgabe darin besteht, über ein nationales Territorium anstelle von Personenverbänden zu herrschen; über ein Territorium, das durch die “fortwährende Verflechtung eines geographischen, klimatischen, physikalischen und usw. Milieus mit der menschlichen Art” (Foucault 2006a: 43) gekennzeichnet ist und, kurzum, regiert werden will. Der moderne Souverän ist also derjenige, der seine großteils durch neuartige Wissenspraxen gewonnene Macht
“auf den Artikulationspunkt zu richten hat, an dem die Natur in dem Sinne der physikalischen Elemente mit der Natur im Sinne der Natur der menschlichen Art interferiert” (Foucault 2006a: 43).
Disziplinarmacht, Biopolitik, Sicherheitsdispositiv und Staatsräson und moderne Souveränität sind Aspekte in der Bewältigung dieser umfassenden Aufgabe der Führung und Lenkung eines Staates. Über die Untersuchung des Zusammenhangs von Biopolitik und modernen Sicherheitstechnologien gelangt Foucault so zu nichts weniger als einer “Genealogie des modernen Staates” (Sennelart 2006: 551), zu einer Analyse, die er in den darauffolgenden Jahren mit seinen Studien zu Liberalismus und antiker wie moderner Gouvermentalität fortführt. In diesem Sinne rückt das Problem des Regierens und Führens der Einzelnen wie des “Ganzen”, das Problem der Gouvermentalität in der Foucault eigenen Ausdrucksweise, immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses, was zu dem Paradox führt, dass eine Vorlesung, die den Titel Die Geburt der Biopolitik trägt, sich in überwiegendem Ausmaße mit dem Liberalismus und der klassischen politischen Ökonomie beschäftigt. Foucault zeigt so in seiner letztendlichen Genealogie des modernen Staates den dichten Kausalnexus zwischen dem “politischen Problem der Bevölkerung”, der “Entstehung des ökonomischen Denkens” und der “Technologie der Polizei” (Foucault 2006a: 524) auf.
Von Fragen der Biomacht über die Genese des modernen Staates kommt Foucault schließlich zum Projekt der historischen Situierung der modernen Rationalität selbst, die er in Liberalismus und politischer Ökonomie verkörpert sieht. Aus dieser Perspektive heraus entstehen die berühmten Studien zu moderner und antik-christlicher “Gouvermentalität”, mit welchen Foucault einen Großteil seiner letzten fünf Lebensjahre beschäftigt war4. In der Frühmoderne bildet sich, vermittelt durch Staatsräson und Polizeiwissenschaft, eine Form gouvermentaler Vernunft heraus, die für Foucault ihrer Form nach in der bisherigen Geschichte einzigartig ist, uns als Mantra der letzten Jahrzehnte aber umso bekannter vorkommen sollte. Das eherne Credo dieser Form der Gouvermentalität lautet: nicht zu viel regieren (vgl. Foucault 2006b: 29). Nicht mehr so sehr der Missbrauch der transzendental verbrieften, herrschaftlichen Macht steht im Mittelpunkt des Interesses der Wissenspraxen, sondern ein mögliches und immer drohendes Zuviel an Regieren, wobei dieses Zuviel auch als negative Folie für die eigentliche Rationalität der liberalen Regierungstätigkeit dient. Im Zusammenhang mit dieser aufgezwungenen “Selbstbegrenzung der gouvermentalen Vernunft” (Foucault 2006b: 30) entsteht wiederum ein neues (Herrschafts-)Wissen samt dazugehöriger Wissenspraxis: die politischen Ökonomie im weiteren Wortsinn. Ihr Ziel ist es, eine Regierungsform zu finden (oder zu definieren), der es gelingt, den Reichtum einer Gesellschaft zu sichern und auch zu vermehren. Die politische Ökonomie, wie könnte es anders sein, “schafft” sich dabei ebenso ihre eigenen Wissensobjekte und setzt eine bestimmte “Politik der Wahrheit” in Gang. Ihr geht es nicht mehr um die Ausübung souverän garantierter, natürlicher Rechte, die höchstens moralisch und theologisch beurteilt werden können, sondern um die “Natürlichkeit” und “Objektivierbarkeit” ihrer Objekte namens Staat und Ökonomie, welche in ihrem Zusammenfluss, auf verschlungenen Wegen, den „Wohlstand der Nationen“ produzieren sollen.
Im Rahmen dieser umfassenden Form der Gouvermentalität findet laut Foucault auch die moderne Biopolitik ihren Platz, da es ein Hauptanliegen der gouvermentalen Vernunft darstellt, auch die Population als solche zu kontrollieren, nicht nur, wie wir gesehen haben, mittels neuer Sicherheitstechnologien, sondern auch als Population durch verschiedenste biopolitische Technologien. Das gilt auch für die anderen Praxen und Wissensformen, die in der Foucaultschen Analyse teilhaben an der Entstehung des modernen Staates. Mit der “allgemeinen Funktionsweise der gouvermentalen Vernunft”, die Foucault auch liberale Vernunft nennt und “die man die Frage nach der Wahrheit nennen könnte” (Foucault 2006b: 43), also in nichts anderem als dem modernen “Willen zum Wissen”, meint Foucault nämlich ein allgemeines Prinzip gefunden zu haben, an welchem sich die verschiedenen besprochenen Momente bei ihrer Durchdringung der Gesellschaft ausrichten. Es kommt in der Moderne also für Foucault zu einer neuen und quantitativ weitaus ausgreifenderen “Führung von Individuen mittels ihrer eigenen Wahrhaftigkeit” (Foucault 2005a: 204). Diese verschiedenen Formen der Führung und Regierung, die ihnen eigene Ideologien produzieren und die vom Imperativ des “ja nicht zu viel regieren” durchdrungen sind, sind auch ein entscheidendes Moment in der Herausbildung des modernen homo oeconomicus (vgl. Foucault 2006b: 399-404), dem seinen eigenen (wahrhaftigen) Vorteil, und nichts als diesen, verfolgenden kapitalistischen Interessenssubjekt.
Foucault gewahrt auch in dieser Entwicklung – zumindest substantiell, jedoch ohne es aussprechen zu können – die negative Dialektik, die allen Kategorien und Momenten der kapitalistischen Gesellschaft anhaftet. Denn die liberalen Gloriengesänge der Freiheit gehen einher mit einem in der Geschichte der Menschheit nie gekannten Führungs-, Regierungs- und Überwachungssystem, einer völligen Durchdringung von Gesellschaft und gesellschaftlicher Natur und Umgebung durch neue Formen der Herrschaft. Das Paradox des Liberalismus – Foucault ist sicherlich nicht der erste, der es beschreibt, aber einer von wenigen, der es historisch lozieren und einigermaßen umfassend darstellen kann – lautet eben Freiheit und Sicherheit – oder anders gesagt: erweiterte Handlungsmöglichkeiten nur unter dem Vorzeichen der noch vollständigeren Unterwerfung unter den kapitalistischen Formzwang. Der moderne Staat bzw. umfassender der Kapitalismus bringt beides “Individualisierung wie Totalisierung” (Foucault 2005a: 219) hervor und das von Beginn an, wie Foucault nicht müde wird zu betonen:
“ Bezeichnenderweise hat die politische Kritik dem Staat vorgeworfen zugleich Individualisierungsfaktor und totalitäres Prinzip zu sein. Ein Blick auf die sich herausbildende Staatsrationalität und darauf, was ihr erstes Polizei-Projekt war, macht klar, dass der Staat schon von Anfang an sowohl individualisierend als auch totalitär war” (Foucault 2005a: 219)
Dieser Prozess von Individualisierung und Totalisierung lässt sich auch „die Wissen“ betreffend formulieren. Foucault zeigt wie neue gesellschaftliche Realitäten geschaffen bzw. “individualisiert” werden, z.B. die Bevölkerung, und wie diese gnadenlos an einem äußeren herrschaftlichen Zweck ausgerichtet werden. In der beschriebenen negativen Dialektik wird die Aufmerksamkeit auf die Körper zur Disziplinmacht und Unterwerfung, Biomacht und Biopolitik bereiten dem Rassismus den Weg, “Verwaltung” von Menschen und Sachen wird zum Sicherheitsdispositiv und der Staatsräson. Es kommt zu einer Durchdringung und Produktivierung des gesamten Gesellschaftskörpers, der auf die Produktion von Reichtum und “Wohlstand” in der und für die Nation ausgerichtet wird. Der theoretische Ausdruck all dessen ist für Foucault der Liberalismus und die politische Ökonomie und die eigentliche Triebfeder hinter diesen zusammenhängenden Prozessen ist eine “gouvermentale Vernunft” – Foucaults späterer Begriff für den genuin modernen und herrschaftlichen “Willen zum Wissen”.
Mit diesem theoretischen Rüstzeug gelingt es Foucault, vor allem in seinen Vorlesungen, die “Genealogie des modernen Staates” sichtbar werden zu lassen und er selbst statuiert, mit der “gouvernmentalen Vernunft” einen fundamentalen Begründungszusammenhang aufgespürt zu haben, der die einzelnen Prozesse synthetisieren kann. Über den theoretisch wie inhaltlich nicht vollends klaren Begriff der “gouvermentalen Vernunft” hinaus unterlässt es Foucault aber, seine ziselierten Analysen in eine noch breitere gesellschaftstheoretische Perspektive zu stellen. Der moderne Staat hat sich bekanntlich zusammen mit der Ökonomie entwickelt; mit der Verbreitung von herausgelösten Ware-Geld Beziehungen in der Gesellschaft, der großflächigen Entstehung von Geldkapital und dann Lohnarbeit kam es auch immer mehr und mehr zur Herauslösung des Staatsapparates, der schließlich zum modernen Nationalstaat werden sollte. Genau diesen Zusammenhang kann Foucault aber nicht wirklich erkennen, auch wenn ein Begriff wie “gouvermentale Vernunft” bereits auf größere Zusammenhänge zielt. Nun, nach der Darlegung der Grundzüge der Foucaultschen Analyse der modernen Biopolitik, scheint die Zeit gekommen, diese theoretisch-philosophische Spannung genauer zu bestimmen und damit auch aufzuzeigen, was Foucault philosophisch daran hindert, in größeren Zusammenhängen zu denken, gleichwohl er sich in seinen Theoretisierungen immer wieder dazu gezwungen sieht, solche Zusammenhänge zu postulieren. Es wird, kurz gesagt, zum Ende dieses Kapitels um Foucaults selbstbezeugten Nietzscheanismus und seinen damit einhergehenden Postmarxismus und Poststrukturalismus gehen.
Ein guter Beginn in diesem Unterfangen ist der bereits zitierte Text Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in welchem Foucault über seine genealogische Herangehensweise im Anschluss an Nietzsche, quasi dem “Erfinder” der Genealogie zumindest in ihrer philosophischen Form, reflektiert. Schon ganz zu Anfang des Textes heißt es, die Aufgabe der Genealogie sei es der “Einmaligkeit der Ereignisse” nachzuspüren und zwar “unter Verzicht auf eine monotone Finalität” und ebensowenig “um die langsame Kurve einer Entwicklung nachzuzeichnen” (Foucault 1974a: 83). Nicht Entwicklung oder Kontinuität stehen also im Mittelpunkt von Foucaults Philosophie, sondern das Abrupte wie Neuartige, das entsteht, der “Einbruch des Ereignisses”, welches sich “in seiner einschneidenden Einzigartigkeit” (Foucault 1974a: 98) allen Kategorien und Theoretisierungen entzieht. Bei hochabstrakten, metaphysischen Stellungnahmen wie denjenigen Foucaults in diesem Text über “das Ereignis” kann es ebenso aufschlussreich sein, zu ermitteln, wogegen sie sich richten. Foucault will, wie wir soeben gesehen haben, keine “Entwicklung nachzeichnen” und auch keine Finalität in seine Analysen einführen, was, etwas reformuliert, nichts Anderes heißt, als dass er sich gegen eine bestimmte Form der traditionellen Metaphysik wendet, die rundweg teleologisch ist. Ob jedoch die einfache Verkehrung ins Gegenteil, in die unerklärliche Kontingenz des Ereignisses, eine adäquate Lösung darstellt, ist mehr als fraglich.
Eine auf das Aufblitzen von Ereignissen gerichtete Genealogie interessiert sich, so Foucault, darüberhinaus für “das Hasardspiel der Überwältigungen” (Foucault 1974a: 92), das die Ereignisse in ihrer Einzigartigkeit entstehen lässt. Diesen Zufall (“Hasard”) bestimmt allein eine Kategorie: das Kräfteverhältnis, einer der zentralsten Begriffe einer jeden nietzscheanisch inspirierten Ontologie (neben dem “Willen zur Macht”, dem “notwendigen” Ausdruck von konfligierenden Kräfteverhältnissen):
“Die Entstehung [von Ereignissen, Anm G. G.] vollzieht sich immer innerhalb eines bestimmten Kräfteverhältnisses. Die Analyse der Entstehung muss das Spiel dieser Kräfte aufzeigen, ihren Kampf gegeneinander, ihren Kampf gegen widrige Umstände und auch ihren Versuch, in der Teilung wider sich selbst der Degeneration zu entrinnen und aus ihrer Schwächung neue Kraft zu schöpfen” (Foucault 1974a: 92)
Das ist, wenn man so will, die bottom line der Ontologie von Foucault und Nietzsche: ein plurales, kaum zu bestimmendes Mischmasch aus Kräfteverhältnissen im Kampf mit- bzw. gegeneinander (“Wille zur Macht bzw. zum Wissen”)5. Aus dieser Perspektive lässt sich auch erhellen, wieso Foucault einem erkenntnistheoretischen Nominalismus anhängt, der sich gegen jegliche Universalien sträubt (siehe als ein Beispiel unter vielen Foucault 2006b: 15) und der bisweilen auch die “einzelnen Einzelheiten” zu verschlingen droht (was eine durchgehende “Versuchung” des Poststrukturalismus bildet: die Auflösung der Erkenntnisobjekte in rein epistemologische “Konstruktionen”). Foucault kann “Universalien”, Essenzen if you like, in seinem theoretischen Gepräge, das die traditionelle Metaphysik einfach umdreht, nicht historisch-dynamisch denken, sondern nur als wahre, sich quasi-teleologisch entfaltende Essenz von Dingen, die es in einem wie auch immer theologisch oder transzendental verankerten Ursprung zu erkennen gilt (vgl. Foucault 1974a: 84-88). Gegen diese Denkfigur setzt Foucault das Ereignis in seiner Einzigartigkeit, das sich aus dem absoluten Durcheinander der im Kampf befindlichen Kräfteverhältnisse ergibt. Aus dieser Perspektive wird auch Foucaults theoretische Vorliebe für Brüche (vgl. auch Monday 2006: 147) und die daraus folgende Reserviertheit gegenüber allen Allgemeinbegriffen und theoretisch-umfassenderen Begründungszusammenhängen erklärlich. Foucaults eigene historische Maulwurfstätigkeit, die von diesem skeptischen Zugang wohl durchaus profitiert haben mag, kritisiert so alle weiteren Geschichtsbögen, “in dem sie das Diskontinuierliche in unser eigenes Sein” (Foucault 1974a: 97) einführt. Das Diskontinuierliche, Ereignishafte, theoretisch Kleinteilige, in Kräfteverhältnissen sich Bildende und im Kampf derselben wieder Untergehende ist das theoretisch-philosophische Terrain Foucaults, das ihn auch dazu veranlasst, gegen alle Großtheorien und deren Ambitionen, gegen “die Tyrannei der übergreifenden Diskurse” (Foucault 2001: 23) “den lokalen Charakter der Kritik” (Foucault 2001: 20) hochzuhalten.
Foucault stellt sich mit diesem an Nietzsche orientierten Denksystem aber nicht nur gegen die traditionelle Metaphysik, die für ihn nichts weiter ist als eine Suche nach “dem genau abgegrenzten Wesen”, nach dessen “reinster Möglichkeit” und “in sich gekehrten Identität” (Foucault 1974a: 85), sondern auch gegen kritische Theorien mit emanzipatorischem Anspruch, die ihren Objektbereich als Ganzen verstehen wollen und auf dessen umfassende Veränderung abzielen – zuvorderst zu nennen sind hier der Marxismus und die Psychoanalyse (vgl. Foucault 2001: 20). Wiederum ist es hier sehr erhellend, zu sehen, was Foucault an diesen theoretischen Systemen auszusetzen hat und wie er sich vom theoretischen Terrain, das sie definieren, gerade nicht befreien kann, da die grundlegende Operation seiner eigenen Philosophie das (klammheimliche) einfache Verkehren ins Gegenteil ist. So stellt sich Foucault etwa gegen eine bestimmte “Hyper-Marxisierung” (Foucault 2006a: 44, Fn.2), die er in den 1960er und 1970er-Jahren in der kritischen Intelligenz Frankreichs für hegemonial ansieht. Gegen diese “Hyper-Marxisierung”, gegen den Althusserianismus, mit dem Foucault noch stets viel gemein hat6, und andere Formen des marxistischen “Ökonomismus”, ein schlicht-deterministisches Ableitungs- oder auch ein hegelmarxistisches Entfaltungsdenken, richtet sich z.B. Foucaults bekannte Machttheorie (vgl. Foucault 2001: 29), die frei von jeder Determination durch die Ökonomie zu sein scheint.
Foucault entwickelt seine Genealogie also in Abgrenzung zu beidem: dem Traditionsmarxismus und der traditionelle Metaphysik. Letztere ist für ihn teleologisch und von einem (reinen) Ursprung besessen, einem Denken in unveränderlichen Essenzen und Universalien. Foucaults Genealogie hält dagegen die Kontingenz hoch, kennt keinen Ursprung und frönt einem ausgiebigen Nominalismus. Ähnliches gilt für die Abgrenzung dem Marxismus gegenüber: dieser gedenkt, in Foucaults Lesart, alles aus der Ökonomie “abzuleiten” oder aus der Warenform zu “entfalten”, Foucault besteht auf der Unabhängigkeit der verschiedenen Praxen und Technologien, bis hin zu dem Punkt, an dem die Ökonomie, breiter verstanden als die eigentliche Reproduktion von Gesellschaft und gesellschaftlicher Natur, für ihn eigentlich keine Rolle mehr spielt.
Zentral ist in diesem theoretischen Gepräge, das von Kontinuität und Entwicklung nichts wissen will, dann das Ereignis, das als solches gegen jede Form von (kausaler) Bedingtheit steht, die von Foucault nur als reiner Determinismus aufgefasst werden kann. Das Ereignis selbst findet seine philosophische Verankerung oder “Bedingung” im zentralen Begriff des Kräfteverhältnisses, das niemals in sich ruhend und immer schon im Konflikt mit anderen ist. Im Endeffekt steht Foucault so philosophisch für einen leeren Prozessualismus ein, für ominöse Kräfte ohne Objekte (oder einfach Dinge) und Relationen ohne Relata. Dabei nimmt es auch kaum Wunder, dass das Einzigartige, das als Produkt der Kämpfe an der Oberfläche erscheint, leicht ins Ephemere und schließlich ins Nicht-Existente abrutschen kann; dass die Analyse des Theoretikers/der Theoretikerin nichts weiter ist als ebenso Kampf, der der Realität übergestülpt wird. Hieraus erklärt sich die grundlegende philosophisch-theoretische Spannung im Werk Foucaults, allgemeiner das typische Changieren des Poststrukturalismus zwischen einem reinen, manchmal sogar heilsamen epistemologischen Nominalismus und einem in sich auf vielen Ebenen widersprüchlichen ontologischen Konstruktivismus. Auch verlässt Foucault dabei – bei aller Ingenuität seiner einzelnen Analysen – das Terrain der traditionellen Theorie nicht, seien es nun die traditionelle Metaphysik oder bestimmte Formen des Traditionsmarxismus. In einer mehr oder minder ideologischen Bewegung, die sich aus seinen nietzscheanischen Grundannahmen speist, kehrt er die alte Logik in einer einfachen Dichotomie um – gegen Determiniertheit, Kausalität, Ursprung und Identität stehen Nominalismus, Konstruktivismus, Kontingenz und reine Ereignishaftigkeit (diese basale Figur ließe sich auch noch an anderen dichotomen Gegensätzen im Foucaultschen Oeuvre durchdeklinieren). Diese theoretische Konfiguration verunmöglicht es nun bis zu einem gewissen Grad, das Problem einer umfassenden Gesellschaftstheorie sehen zu können, da sie kontinuierlichen Druck hin auf eine aufs Kleinteilige fixierte poststrukturalistische Theorie ausübt. Foucault verbaut sich somit die Perspektive auf eine – mögliche – Tiefenstruktur der modernen Gesellschaft, eine Struktur, die in unseren Gefilden fundamental durch Wert und Abspaltung definiert wird (vgl. überblicksmäßig Scholz 2009). Als Folge sind für ihn eine gewisse gesellschaftlich übergreifende “Substanz” des Kapitalismus (die abstrakte Arbeit) und eine gewisse basale Logik (die von Wert und Abspaltung), die historisch entstanden und damit auch bis zu einem gewissen Grad kontingent sind, eine historisch-dynamische Substanz und Logik quasi, buchstäblich undenkbar.
Diese philosophische Problematik ist nun nicht unmittelbar gleichzusetzen mit Foucaults theoretischen Analysekategorien (Macht, Wissen, Biopolitik, Gouvermentalität und dergleichen) oder seinen historisch-empirischen Untersuchungen. Beide können etwas für sich haben oder sogar wegweisend sein, ungeachtet der philosophischen Unzulänglichkeiten. Bei Foucault im Speziellen zeigt sich, dass seine historischen Analysen tatsächlich hochinnovativ und wegweisend sind, dass aber seine theoretischen Kategorien, auch jenseits der Frage nach einer Grundlogik der Gesellschaft, bestimmte Defizite aufweisen – Defizite, die sich gerade aus seiner philosophischen Positionierung ergeben. Foucault ist z.B. sehr bestimmt darin, die Genealogie gegen jede Form der Wissenschaft abzugrenzen, “gegen den Zwang eines einheitlichen und formalen Wissenschaftsdiskurses” (Foucault 2001: 25), was mit seiner Aufdeckung des ”Willens zum Wissen”, des engen Zusammenhangs von Macht, Wissen und Wahrheit zusammenhängt. Für Foucault gibt es, wie wir schon mehrmals gesehen haben, keine Form der Macht ohne eine “Ökonomie der Wahrheitsdiskurse” – ja “[d]ank der Macht sind wir der Wahrheitsproduktion unterworfen, wir können Macht nur über die Produktion von Wahrheit ausüben” (Foucault 2001: 38). Machtvolle Diskurse produzieren ihre eigenen Wissensobjekte als ebensolche Objekte, die gleichzeitig auch Herrschaftsobjekte sind, das hat Foucault in seinen historischen Analysen wie sonst niemand herausgearbeitet. Daher auch der enge Zusammenhang von Wissen und Macht und Wissen und Herrschaft in der negativen Dialektik der Moderne. Foucault elaboriert diesen essentiellen Punkt anhand von Beispielen aus seiner eigenen Arbeit:
“Vielmehr handelt es sich darum, nachzuweisen, durch welche Interferenzen eine ganze Reihe von Praktiken – von dem Augenblick an, da sie mit einer Herrschaft der Wahrheit koordiniert werden –, durch welche Interferenzen diese Reihe von Praktiken es schaffen konnte, daß das Nichtexistierende (der Wahnsinn, die Krankheit, die Deliquenz, die Sexualität usw.) dennoch zu etwas wird, etwas, das jedoch weiterhin nicht existiert” (Foucault 2006b: 38)
Dieses kurze und komplexe Zitat kondensiert in sich die Luzidität und ganze Problematik des Foucaultschen Ansatzes, die gegen Ende hin in der widersprüchlichen Formulierung über “Existierendes, das nicht existiert”, offenbar wird. Hier fallen bei Foucault in der Tendenz Realobjekt und Gedankenobjekt endgültig zusammen und Wahrheit wird rein immanent gedacht als Vollzug der Herrschaft und „Schaffung“ von etwas Nicht-Existentem. Gingen viele AufklärerInnen und PositivistInnen von einem einfachen, wiederum nur umgekehrten Verhältnis von Real- und Gedankenobjekt aus, von der einfachen Determination unserer Theorien von dem, was unseren Sinnen oder der Vernunft „gegeben“ ist, so droht der um so viel komplexere Zugang Foucaults hier ins Gegenteil abzudriften und zwar weitgehend aufgrund des kontinuierlichen Druckes seiner philosophischen Grundlagen, die reale Objekte zwar doch irgendwie kennen, ihnen als “Ereignissen” und “Kräften” jedoch keine persistente Realität zusprechen können7.
Dieselbe Problematik kommt in Foucaults bekanntem Machtbegriff zum Vorschein. Auch bei diesem greift er zu dichotomen und hyperbolischen Formulierungen. Macht sei, so Foucault, “nur auf der Grundlage der Beziehung selbst, insofern sie die Elemente, auf die sie sich bezieht, selbst konstituiert” zu verstehen, nicht jedoch “auf Grundlage der ursprünglichen Begriffe der Beziehung” (Foucault 2001: 312) – wiederum eine Relation ohne Relata. Auch hier bleibt unklar, ob die Macht die Realobjekte vollends konstituiert, was das Zitat doch stark nahelegt, oder ob Foucault einfach die moderne negative Dialektik zwischen Wissens- und Herrschaftsobjekt beschreiben will. Dieses fundamentale Changieren, das sich aus Foucaults theoretischen Grundlagen speist oder von diesen zumindest begünstigt wird, findet sich in allen seinen theoretischen Analysekategorien und entspricht der kontinuierlichen Tendenz einer “Rücknahme des Objekts in die Methode” 8(Monday 2006: 163).
Foucault ist weiters unnachgiebig in seiner Betonung, keine allgemeine Theorie der Macht zu formulieren (siehe z.B., als eine Stelle unter vielen, Foucault 2006a: 13), auch wenn kaum ein anderer Begriff in seiner genealogischen Phase so prominent erscheint und theoretisch von Belang ist. Eine “allgemeine” Theorie ist für Foucault in seinem Nominalismus anscheinend gleichbedeutend mit einer irgendwie transhistorischen und metaphysisch-identitären Theorie der Macht, nicht unähnlich der frühbürgerlichen “rechtlich-politische[n] Theorie der Souveränität” (Foucault 2001: 50), welche Macht quasi-intentional einzelnen “Bürgern” als etwas, das sie delegieren konnten oder mussten, zuschrieb. Aus dieser Abgrenzung gegenüber Theorien der Souveränität und aus Foucaults allgemeiner Abneigung gegenüber umfassenderen Theorien, theoretischer gesprochen: aus seinem Nominalismus und der Ontologie des absolut Partikularen resultiert in Foucault die vielzitierte wie kritisierte Verwaschenheit des Machtbegriffs, seine “Definition” in gefühlten 50 verschiedenen Varianten. Und so kommt es auch, dass es im Foucaultschen Werk der 1970er-Jahre wohl kaum eine Seite gibt, auf der die Macht nicht in Erscheinung tritt, Foucault uns aber trotzdem dazu anhält, Macht als nichts weiter als einen “Namen” zu verstehen:
“Zweifellos muss man Nominalist sein: Die Macht ist nicht Institution, ist nicht Struktur, ist nicht die Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt” (Foucault 1983: 114)
Zweifellos kommt in diesen Worten eine Spannung im Foucaultschen Machtbegriff zu Tage. Macht ist hier wiederum, wenn eins großzügig interpretiert, nichts Anderes als eine komplexe, nicht weiter dechiffrierbare Relation, oder einfach ein Kräfteverhältnis, das Ereignisse oder “komplexe strategische Situationen” produziert.
Diese Definition von Macht als Kräfteverhältnis, nicht aber als Struktur oder Institution, geht in Foucault einher mit anderen charakteristischen Dichotomien, die immer nur die prozessuale Komponente allein – als “leeren Signifikanten” bin ich beinah versucht zu sagen – betonen. In einem anderen Text ist Macht etwa “keine Substanz” und “keine mysteriöse Eigenschaft, in deren Urgründe man sich vertiefen muss” (Foucault 2005a: 218), eine Abgrenzung, die wir bereits kennen (gegen die Metaphysik). Sie ist aber darüberhinaus auch nicht Zwang. „[E]in Mensch, der in Ketten gelegt und geschlagen wird, ist dem auf ihn ausgeübten Zwang ausgeliefert – nicht aber der Macht”, sie ist stattdessen ein “bestimmter Typ von Beziehungen zwischen Menschen” (Foucault 2005a: 218). Von gewissermaßen tieferliegenden Mechanismen und Strukturen, die den Zwang, der hier mit dem in Ketten Gelegten absolut gedacht wird, bedingen oder die auch die Beziehungen zwischen Menschen und Dingen beeinflussen, kann Foucault nicht sprechen. Macht ist entweder Struktur und Institution oder flüchtige Situation, sie ist entweder Substanz und mysteriöse Eigenschaft oder unergründliches Ereignis, sie ist entweder absoluter Zwang oder Führung und Regierung von Individuen, jedoch nicht die dialektische Vermittlung (einiger) dieser Aspekte.
Auf derselben philosophischen Grundlage beruht auch, um noch ein letztes Beispiel zu nennen, Foucaults prononcierter Anti-Naturalismus, der den Menschen nur als das Ergebnis einer Konstruktion der Humanwissenschaften, deren Macht-Wissenseffekten quasi, ansieht. Am Ende von Die Ordnung der Dinge heißt es bekanntermaßen, dass “der Mensch” in Zukunft, das ist zumindest die Hoffnung Foucaults, als Herrschafts- und Wissensobjekt “verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand” (Foucault 1974b: 462). Hier, wie im Foucaultschen Begriff der Sexualität (vgl. dazu genauer Gangl 2012: 116-117), verschwindet in der Dichotomie jedoch nicht der Mensch an sich, sondern der Mensch, der eben auch Naturwesen ist. Dem Sog des Nominalismus und dem ununterschiedenen Kräfteverhältnis fällt tendenziell auch der leibliche Mensch zum Opfer und wir stehen vor einem anderen einfachen entweder – oder: Dem Menschen als verkitschtes Subjekt des Humanismus, als das sinnstiftende Zentrum der Welt oder dem Menschen simpel als “eine junge Erfindung” (Foucault 1974b: 462) der Humanwissenschaften des 18. Jahrhunderts, die wir bedauerlicherweise immer noch nicht losgeworden sind.
Mit dem philosophischen Begriff des Kräfteverhältnisses, das immer auch gleichzeitig Kampf ist, wird Macht nicht nur unmittelbar mit Widerstand zusammengeschlossen – auch hierzu gibt es unzählige, nicht minder oft zitierte Stellen in einigen Texten von Foucault –, die Kämpfe kommen auch sonst immer mal wieder recht unverhofft ins Bild zurück. Foucault versteht sodann, wenn es politischer wird, seine gesamte Genealogie als das “historische Wissen der Kämpfe” (Foucault 2001: 22), als Offenlegung des “Aufstand[s] der ‚unterworfenen Wissen’” (Foucault 2001: 19) gegen die Macht und ihre „Politik der Wahrheit“9.
Foucaults Theoretisierungen der Biopolitik, eingebettet in eine Genealogie des modernen Staates, sind, um zum Ende dieses Abschnitts zu kommen, zweifelsohne kenntnisreich und äußerst luzide. Seine philosophisch-theoretischen Grundlagen hingegen sind ihrer Substanz nach, jenseits eines epistemologisch erfrischenden Skeptizismus, der insbesondere den Beginn einer Untersuchung leiten kann, ein echtes philosophisches Hindernis, was durch die vielen unbegründeten Dichotomien in seiner eigentlichen Theorie und die kontinuierlichen Spannungen, die im Verhältnis Philosophie – substanzielle Theorie erzeugt werden, offenbar wird. Das bedeutet umgekehrt natürlich nicht, dass eine andere philosophische Grundlage, etwa die an der mutmaßlichen negativen Dialektik des Kapitalismus ausgerichtete, die diesem Text als philosophischer Ausgangspunkt gilt, damit automatisch als richtig ausgewiesen wäre. Das ist eine Frage der erklärenden Kraft der einzelnen Theorien und der Möglichkeiten der ihnen unterliegenden philosophischen Grundpositionen, die alle beide immer wieder im Lichte des (historischen) Materials unter Beweis stellen müssen. Fakt ist jedenfalls, dass eine echte Spannung besteht zwischen Foucaults philosophischen commitments und den Resultaten seiner substanziellen Untersuchungen; und dass diese Untersuchungen die negative Dialektik moderner Biopolitik und Staatlichkeit, ja eigentlich die negative Dialektik aller moderner Kategorien (Macht-Wissen Komplex) offenlegen und damit einen Zusammenhang kenntlich machen, der in Foucaults kontingentem System nicht als solcher erscheinen kann.
Foucault hat aber trotzdem, implizit, ein “Wissen” formuliert (Zusammenhang Biopolitik-Rassismus-moderner Staat – ja die allgemeine negative Dialektik, die sich durch alle diese Begriffe zieht), das für alle folgenden Konzeptualisierungen der modernen Biopolitik essentiell sein sollte. Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, wie andere Theoretiker, mit Name Giorgio Agamben und Roberto Esposito, zu dieser “Messlatte” stehen, insbesondere, da beide philosophisch nicht minder fest als Foucault auf dem Boden des Poststrukturalismus stehen.
Affirmative Biopolitik bei Agamben …
Giorgio Agamben entwickelt seine Theorie der modernen Biopolitik, so wie die meisten TheoretikerInnen in diesem Feld, in enger Auseinandersetzung mit der Foucaultschen Theorie, durch welche das Untersuchungsfeld der Biopolitik in seiner spezifischen Konfiguration und “Dichte” ja gewissermaßen erst geschaffen wurde. Für Agamben, und das markiert eine essentielle Differenz zu zumindest manchen Formulierungen von Foucault, löst die Biomacht die souveräne Macht keineswegs ab, sie ist vielmehr ihr eigentlicher Ausdruck; zu Beginn von Homo Sacer heißt es deshalb auch, “daß die Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht ” (Agamben 2002: 16) sei. Erst vor dem Hintergrund dieser “Umkehrung” der Foucaultschen Perspektive lassen sich die zentralen Konzepte der Theorie Agambens, etwa der schillernde Begriff des homo sacer, seine weitläufige Konzeption des Lagers oder seine Analyse des Ausnahmezustands, genauer begreifen.
Für Agamben zeichnet sich die Moderne gerade durch Biopolitik, und nichts anderes, aus. Souveränität ist die entscheidende politische Ausformung der Moderne und Biomacht und Biopolitik sind ihre wesentlichen Betätigungsfelder. Agamben sieht innerhalb des modernen biopolitischen Paradigmas jedoch auch eine spezifische Entwicklung, die Foucault Ende der 1970er-Jahre nicht wahrgenommen hatte, eine Entwicklung, die im Nationalsozialismus ihren negativen Höhepunkt fand, Foucault aber gerade durch sein tendenzielles Ausblenden der Souveränität entgangen sei (vgl. Agamben 2002: 128). Nur ein Blick auf die Souveränität, auf die ihr eigentümliche Ein- und Ausschließung des “nackten Lebens” – eine Phrase Walter Benjamins, die Agamben übernimmt und ins Herz seiner Theorie inkorporiert -, kann den Umschlag von parlamentarischen Demokratien in Formen faschistischer Herrschaft erklären. Es geht also um die bewegliche Linie oder die “Schwelle”, an der “die Entscheidung über das Leben zur Entscheidung über den Tod und die Biopolitik somit zur Thanatopolitik wird” (Agamben 2002: 130). Agamben, hier Robert Esposito ganz ähnlich, entwickelt diese “negative Dialektik”, die er nicht als solche benennen, geschweige denn begründen kann, in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, einer gewissen “Leerstelle” in der Biopolitik-Konzeption von Foucault, welcher sich vornehmlich mit der Entstehung moderner Biopolitik am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat.
Theoretischer gesprochen geht es in Agambens Untersuchung, in seiner Homo-Sacer-Reihe, die aus 5 Bänden besteht, im weitesten Sinne um “das Verhältnis zwischen Leben und Recht”, was als Formulierung durchaus indikativ ist für den Gegenstandsbereich, der Agamben interessiert und die Art der Analyse, die er anzubieten hat. Agamben lässt uns darüber hinaus in einer seiner wenigen Reflexionen auf sein eigenes Werk und dessen philosophisch-theoretische Grundlagen wissen, dass seine Untersuchung, zumindest im Band Ausnahmezustand (vgl. Agamben 2004) aus der Homo-Sacer-Reihe, einen “philosophisch-politischen Standpunkt” (Agamben 2004: 52) einnehme.
Im Folgenden werden wir uns diese Bestimmungen genauer ansehen müssen – und zwar unserem Analyseraster entsprechend sowohl auf philosophisch-theoretischer Ebene, Agambens “philosophisch-politischer Standpunkt”, als auch auf derjenigen seiner substantiellen Theorie, wo es fundamental um “das Verhältnis zwischen Leben und Recht”, um den Homo Sacer, den Ausnahmezustand und das Lager als Grundformen der Moderne geht. Agamben ist, wie wir sehen werden, weniger historischer Maulwurf und Theoretiker von Macht und Wissen als ein politischer Philosoph mit Gespür für die Leerstellen, Zwischenräume und Auslassungen bürgerlich-ideologischer (Staats-)Theorie und Philosophie. Seine theoretischen Bezugsgrößen sind dementsprechend, neben Foucault, “postliberale” politische TheoretikerInnen wie Carl Schmitt und Hannah Arendt (vgl. Reuschling 2006: 60), aber auch Walter Benjamin, Martin Heidegger und Georges Bataille(letzteren finden wir in prominenter Position auch in der Theorie von Esposito wieder). Schmitt wie Arendt haben, z.B. in der Theoretisierung des Flüchtlings oder des Ausnahmezustands, bis zu einem gewissen Grad diese Lücken und Zwischenräume der Widersprüchlichkeit in der bürgerlichen Theorie ausgelotet und genau dieses Terrain der “Unentscheidbarkeit” – einer der zentralen theoretischen Begriffe von Agamben, der allein in Homo Sacer gefühlte 150 Mal vorkommt – ist es, auf dem für Agamben der Zusammenhang von Souveränität und positiver wie negativer Biopolitik gesucht werden muss.
Theoretisch gewinnbringend erscheint es mir hier, mit Agambens substantieller Darlegung des Zusammenhangs von Nationalität und Nativität zu beginnen, insbesondere, da sein philosophischer Essayismus, der Gedanken verschiedener Abstraktionsebenen in einem etwas seltsamen Aufzählungsschema eher frei assoziiert, als sie zu entwickeln, sich an manchen Stellen beinah undurchdringlich gibt. Für Agamben gründet sich die moderne Politikform jedenfalls auf einer Art ausschließenden Einschließung des nackten Lebens der Einzelnen. Auf eine Formel gebracht, heißt dies, dass das Prinzip moderner Biopolitik, in Anklang an eine bekannte Formulierung von Freud, lautet: “Wo nacktes Leben ist, soll ein Volk werden” (Agamben 2002: 189), wobei Agamben sofort hinzusetzt, dass überall dort, wo ein Volk ist, auch nacktes Leben sein wird, dass diese “Umwandlung” als solche niemals vollends gelingen kann. Das “Volk” ist eine zentrale Kategorie moderner politischer Theorie, es bezeichnete, und in gewissem Maße bezeichnet es immer noch, gleichzeitig das Staatsvolk wie die davon tendenziell ausgeschlossenen Massen, einen politisch stramm stehenden “Staatskörper” und eine “fragmentarische Vielfältigkeit von bedürftigen und ausgeschlossenen Körpern” (Agamben 2002: 188). Worauf Agamben in diesen Formulierungen hinaus will, ist die spezifische Struktur des Volkes, das sich nur durch bestimmte Formen der Ausschließung hindurch konstituieren kann: das Volk als Staatsvolk entsteht zusammen mit der Nation und es entsteht durch konstitutive Ausschließungen – zu Beginn der Armen, späterhin anderer innerer – speziell Juden und Roma – und äußerer “Feinde” – den Unterworfenen anderer Souveräne. Agamben betont mit anderen Worten, dass “die Konstituierung der menschlichen Gattung in einem politischen Körper sich mittels einer funktionalen Spaltung vollzieht” (Agamben 2002: 187). Mit etwas anderer Fokussierung als Foucault, der die Souveränität dem spätmittelalterlichen und frühmodernen Monarchen zugeschlagen hatte und dem Staat als “Großstruktur” (oder Ungetüm), seiner philosophischen Positionierung entsprechend, skeptisch gegenüberstand, beschreibt Agamben hier die Konstitution des “politischen Körpers”, durchaus auch wörtlich verstanden als Konstitution einer Nation mitsamt den dazugehörigen StaatsbürgerInnen (die, wie allgemein bekannt ist, zu Anfangs nur männliche Bürger waren). Dementsprechend kritisiert Agamben Foucault auch dafür, in seiner Konzeption der Biopolitik nicht ordentlich zwischen Volk und Bevölkerung unterschieden zu haben (vgl. Agamben 2003: 74). Die Bevölkerung ist das neue Wissens- und Herrschaftsobjekt, das Foucault so umfassend untersucht hat, sie wird in ihrer staatlichen Formierung aber sogleich auch zum “demographische[n] Volk” (Agamben 2003: 74, Hervorhebung i. O.), einer ausgrenzenden Kategorie, über die ein Souverän genauestens wacht und richtet.
Gleichsam ist diese Ausschließung nicht absolut, denn die Ausgeschlossenen sind gewissermaßen eingeschlossene Ausgeschlossene (oder ausgeschlossene Eingeschlossene), wie Agamben nicht müde wird zu betonen. Die moderne “Verbindung von Ortung und Ordnung” (Carl Schmitt), die Lokalisierung eines Nationalstaats und die Schaffung eines dazugehörigen Staatsvolkes ist Agambens Ansatzpunkt und er meint hier, einen tiefergehenden Zusammenhang zwischen Biomacht, Biopolitik und Souveränität gefunden zu haben, der nicht nur das Abgleiten derselben in Gewalt erklärlich werden lässt, sondern auch fundamentale Ausschließung und Gewalt, mithin Reduzierung auf “nacktes Leben”, zur Bedingung des eigentlichen Funktionierens des Staates und seiner Demokratie macht. Der Souverän scheint sich dem “nackten Leben” nur annehmen zu können, indem er es auf- und abspaltet; die Frage, was ein Bürger oder schließlich ein Deutscher oder Franzose sei, wird so von einer nebensächlichen Frage der philosophischen Anthropologie ins Zentrum des bürgerlichen Denkens katapultiert, bis sie, so Agamben, im Nazismus mit “der höchsten politischen Aufgabe” (Agamben 2002: 138) überhaupt zusammenfällt – Biopolitik hat sich völlig in Thanatopolitik verwandelt, leben machen wird gleichbedeutend mit sterben machen und um das Leben zu schützen muss großflächig gemordet werden.
Aspiration moderner Staatlichkeit, die Ein- wie Ausgeschlossene zu spüren bekommen, jedoch in unterschiedlichem Ausmaß, ist es, in Agambens Terminologie, aus Nativität unmittelbar Nationalität zu machen, allen Proklamationen der hehren universellen Menschenrechte zum Trotz. In den postmodernen Zeiten, in denen wir leben, gerät das Fundament, das beide Pole zusammenhält, ohne sie überein bringen zu können, jedoch immer mehr ins Wanken. Agamben meint, eine “zunehmende Entkoppelung von Geburt (nacktem Leben) und Nationalstaat” (Agamben 2002: 185) ausmachen zu können, sodass es, nicht nur in parastaatlichen Regionen des Staatszerfalls, zu verschiedensten Formen der “Ordnung ohne Ortung” und vor Allem der “Ortung ohne Ordnung” kommt. Agambens Beispiel für letzteres ist das Lager, auf das wir sogleich noch gesondert eingehen müssen.
In Anlehnung an Arendt sieht Agamben auf der individuellen Seite dieses multi-dimensionalen Verhältnisses die Figur des Flüchtlings als Ausdruck dieses Aufbrechens. Schon Arendt wusste unter den Eindrücken der (jüdischen) Zwangsemigration kurz vor und zu Beginn des 2. Weltkrieges, dass diejenigen, die es am nötigsten hatten, sich auf die “unveräußerlichen” Menschenrechte zu berufen, am wenigsten dazu imstande waren und auch am wenigsten Gehör fanden. Flüchtlinge, gerade wenn sie sich selbst in ein anderes Land durchschlagen, sind zuallererst unerwünschtes Menschenmaterial, sie stellen “den Abstand zwischen Geburt und Nation zur Schau” und bringen “auf der politischen Bühne für einen Augenblick jenes nackte Leben zum Vorschein, das deren geheime Voraussetzung ist” (Agamben 2002: 140). Es gibt also so etwas wie einen kaum überbrückbaren Abgrund zwischen Menschen- und Bürgerrechten, zwischen (Staats-)Bürgern und wie auch immer definierten Entrechteten (etwa sog. Sans Papiers). Und es gibt keinen fundamentalen Nexus zwischen Natalität und Nationalität und Mensch und Bürger, der die Pole ein für alle Mal auf gleich bringen könnte, was nicht nur die Ausgeschlossenen in Gestalt der Flüchtlinge tagtäglich beweisen.
Der “Ort” dieses Ausschlusses, der Raum einer “Ortung ohne Ordnung”, die aber nicht einfachem, anomischem Chaos gleichkommt, ist das Lager. Dort finden sich diejenigen wieder, die jedes politischen Status verlustig gegangen sind, es stellt somit für Agamben den “absoluteste[n] biopolitische[n] Raum” (Agamben 2002: 180) dar. Agamben denkt hier, seinem Verständnis von Bio- und Thanatopolitik entsprechend, natürlich an die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis, die er in all seinen Büchern der Serie mehr oder minder eingehend diskutiert, sein umgreifender Begriff des Lagers lässt sich aber nicht auf diese Referenz beschränken. Das Lager als Paradigma der Moderne ist vielmehr das Gegenteil des lokalisierten Raums des Volkes im “Container” Nationalstaat, es ist derjenige “volklose Raum” (Agamben 2003: 75), der beständig neu geschaffen wird. Eine Art des Dazwischen, ein kaum eingrenzbarer Bereich der Reduzierung der eingeschlossenen – durchaus im doppelten Wortsinn – Ausgeschlossenen auf nacktes Leben ohne politische Legitimation und oft auch Berechtigung. Diese Struktur tut sich für Agamben nicht nur in physischen Sammel-, Anhalte-, Konzentrations- und Vernichtungslagern auf, sondern entsteht etwa auch temporär an Grenzen und inmitten von Staaten, etwa in Abschiebezentren. Das Lager, wie auch immer es nun aussieht und ob ihm eine physische Struktur der Einsperrung entspricht oder nicht, realisiert im Kleinen und an den Bruchstellen von Ordnung und Ortung den Ausnahmezustand, den nur der Souverän dekretieren kann. Es ist für Agamben fundamental
“der Ort dieser absoluten Unmöglichkeit zwischen Faktum und Recht, zwischen Norm und Anwendung, zwischen Ausnahme und Regel zu entscheiden, und es ist der Ort, wo dennoch unablässig darüber entschieden wird” (Agamben 2002: 182f.)
Es ist damit in Agambens Konzeption der Ort, an dem die eigentliche Ununterscheidbarkeit der modernen politischen Kategorien, ihre negative Dialektik im inneren Zusammenhang von Regierung, Gewalt und Herrschaft offenbar wird.
In dieser stark metaphorischen und wohl auch übergeneralisierenden Sprechweise über das Lager als Paradigma der Moderne steckt natürlich ein theoretisches Problem, auf das viele KritikerInnen Agambens bereits hingewiesen haben, gerade auch, da Agamben durchaus anerkennt, dass die nationalsozialistischen Vernichtungslager eine andere Qualität besaßen als viele der anderen “Lager”, die er beschreibt – „[i]n Auschwitz starb man nicht, es wurden Leichen produziert” (Agamben 2003: 62), heißt es bei ihm an einer Stelle, die stark an ähnliche Formulierungen bei Adorno erinnert.10 Hier geht es zunächst aber um die – zugegebenermaßen schwierige – Rekonstruktion von Agambens eigentlicher Argumentation, etwas, das von seinen flinken KritikerInnen viel weniger oft geleistet wird.
Agamben gibt der (linken) biopolitischen Theorie mit seiner Insistenz auf die Souveränität durchaus eine neue Perspektive, er nimmt die neue Zentralität des (politischen) Körpers, die sich in frühbürgerlichen Theorien ankündigt, jenseits der einfachen Metaphorik ernst (vgl. Agamben 2002: 133). Es bildet sich in der Moderne wahrlich ein neuartiger, souveräner “Staatskörper”, ein Volk, dem der politische Körper der Einzelnen als Bürger(innen) und auch Soldaten(innen) gegenüber steht. Agamben ist sicherlich nicht der erste, der die moderne body politics in ihren konstitutiven Ausgrenzungen und Auslassungen analysiert hat, er hat aber, im Gegensatz zu anderen, ein gewisses grundsätzliches Gespür für die negative Logik, die Dialektik, die diese Kategorien auf Schritt und Tritt begleitet. Moderne Kategorien der politischen Partizipation haben ihr Gegenbild in der einschließenden Ausschließung (oder ausschließenden Einschließung) der Nichtdazugehörigen, welche Agamben unter dem noch genauer auszuleuchtenden Begriff der homines sacri zusammenfasst. Sein Einsatzpunkt ist gerade die “Unwahrheit” der bürgerlich-politischen Kategorien, ihre Lücken und Leerstellen, die einen Umschlag ins Gegenteil ermöglichen. An den Grenzen der Gültigkeit dieser Kategorien macht Agamben eine Unmöglichkeit der Entschiedenheit, ja der Entscheidbarkeit aus, die für sein ganzes Schaffen zentral ist, denn hier ist der “Ort”, wo die einfache Identität der Kategorien zuschanden geht und sich in ihr Gegenteil verkehrt: Zerstörung und Vernichtung. Für uns wird es noch von entscheidender Bedeutung sein, nachzuspüren, wie Agamben diese Unmöglichkeit topologisch “denkt” und erklärt und welches philosophisch-theoretische Gepräge, welcher grundlegende Begründungszusammenhang ihm ein solches “Faible” für die quasi-undefinierbaren Randregionen moderner Begriffe nahe bringt. Hier genügt es, darauf hinzuweisen, dass dieses Bezugsystem auf innovative Art und Weise eine Beziehung herstellen kann zwischen antithetischen Begriffen bürgerlicher Theorien und Philosophien. Homo Sacer, Flüchtling, Ausnahmezustand und Lager stehen dem Bürger, dem Volk und dem Recht(sstaat) schroff gegenüber, sind aber von diesen nicht zu trennen und folgen ihnen, schenkt eins Agamben Glauben, wie deren eigener Schatten. Jedoch gilt es, hier in Erinnerung zu rufen, dass Agamben laut Eigenbekundung auf “philosophisch-politischem” Boden steht, dass sein eigenes Metier – und zwar durchaus nicht rein negativ definiert – das der politischen Philosophie ist. Das scheint ein spezifisch theoretisches Hindernis für das umfassende Begreifen der negativen Dialektik moderner Biopolitik, das näher beleuchtet werden will.
In seiner Diskussion verschiedener Theorien des Ausnahmezustands (vgl. Agamben 2004) lässt Agamben kurz durchblitzen, wie er sich den Zusammenhang von Leben und Recht, ja von all den Grenzbegriffen, an denen er interessiert ist und der Wirklichkeit vorstellt. Dort heißt es, dass die “unmögliche Vereinigung von Norm und Wirklichkeit”, die durch den Ausnahmezustand immer wieder herbeigeführt werden soll, dem Verhältnis zwischen “Sprache und Welt” (Agamben 2004: 51) entspreche; denn im einen wie im anderen Fall gäbe es “zwischen Norm und Anwendung keinen inneren Zusammenhang, der es erlaubte, das eine aus dem anderen unmittelbar abzuleiten” (Agamben 2004: 51). Agamben folgt in seiner Analyse des Rechts Carl Schmitt insoweit, als er argumentiert, dass es innerhalb des Rechts unüberwindbare Widersprüche gibt, die nicht aufgelöst werden, sondern alleiniglich im Ausnahmezustand ihre Zuspitzung erfahren können. So unterscheidet Agamben etwa zwischen Rechtsnorm und Rechtsanwendungsnorm, also zwischen dem eigentlichen normsetzenden Gerüst des Rechts und dessen fragiler Anwendung auf konkrete Situationen, worin bereits der bekannte Schmittsche Gegensatz zwischen Norm und Dezision eingekapselt ist. Denn nur die “souveräne Dezision” kann die Anwendung der Norm in konkreten Situationen oder “Rechtssachen” bis zu einem gewissen Grad garantieren, ohne vollständig aus dieser ableitbar zu sein. Im Rahmen dieser Widersprüchlichkeit, die sich für Agamben aus der Unmöglichkeit der Identität von Recht und “Leben” speist, ist der Ausnahmezustand exakt derjenige “Ort”, “wo der Gegensatz zwischen Norm und ihrer Anwendung seine höchste Intensität erreicht” (Agamben 2004: 47). Er kann nicht eigentlicher Teil der Rechtsordnung sein und die Norm kann seine Anwendung auch nicht zur Gänze spezifizieren oder gar legitimieren, er ist es aber, der die Anwendung der Norm in letzter Instanz ermöglicht.
Agamben verknüpft nun die Souveränität so eng mit der Ausnahme, dass er von einer “souveränen Ausnahme” (Agamben 2002: 27) spricht, die Ausnahme und der Ausnahmezustand sind also nicht das einfache Chaos oder die “Anarchie”, vor der bürgerliche Theorien und IdeologInnen so gern warnen, sie ist für Agamben stattdessen Ausdruck der Souveränität, obwohl sie in seinen Worten, die sich wiederum an eine gewisse Theorietradition anlehnen (“Singularität”), “die Singularität als solche repräsentiert, (…) das heißt, insofern sie unrepräsentierbar ist” (Agamben 2002: 34). Die Ausnahme und mithin der Ausnahmezustand sind kurzum “die legale Form dessen, das keine legale Form annehmen kann” (Agamben 2004: 7). Es ist deshalb auch kein Wunder, dass die bürgerlich-positive bis positivistische Rechtsphilosophie bei der Konzeptualisierung des Ausnahmezustands und seinem Verhältnis zur Souveränität “souverän” gescheitert ist bzw. sich in nicht zu lösende Widersprüche und Aporien verstrickt hat (vgl. Agamben 2004: 32ff.). Es gelang vielen dieser Theorien – mit Ausnahme von Schmitt und einigen anderen und in Schmitt alleinig zum Preis der Einsetzung des “Führertums” als deus ex machina, der die Sache doch wieder ruhig stellt – nicht, den einfachen Gegensatz in eine komplexe Beziehung zu überführen, eine Beziehung der einschließenden Ausschließung schlussendlich, die nicht-dialektischem Denken wohl kaum verständlich sein kann.
Wir finden in Agamben also ganz allgemein so etwas wie die Suche nach der Logik der Ausnahme im umfassenden Wortsinn (nämlich auf die konstitutive Ausnahme des Rechts bezogen wie generell ein “philosophisch-theoretisches” Gepräge, das sich auf die Zentralität von Ausnahmen gründet), die in der Regel immer schon impliziert ist, ohne von ihr vollständig erfasst werden zu können (vgl. auch Lemke 2007: 72f.). Selbige scheint in Agamben auf ganz bestimmte Art und Weise mit einem sprachtheoretischen Grundverständnis der Wirklichkeit verknüpft zu sein, in welchem er die Unmöglichkeit des Bezugs des Rechts verankert sieht, und beide zusammen leiten ihn dazu an, die Randzonen und Grenzbegrifflichkeiten moderner politischer Theorie unter die Lupe zu nehmen. Agamben spürt dabei den verschiedenen Momenten nach, die im Recht enthalten sind, in seiner “wesensmäßigen Zweideutigkeit” (Agamben 2004: 87): Es ist notwendigerweise beides, ein Normensystem, das die gesamte Wirklichkeit unterwerfen will und so zu einem kafkaesk vollendetem Rechtszustand kommen will, und es ist, insbesondere heutzutage in Zeiten von “Terror” und Krisen allerorten, ein System der Anomie, das zum ausgedehnten, vielleicht sogar permanenten Ausnahmezustand tendiert und jenseits der eigentlichen Norm die Subjekte und das “Leben” der absoluten, also losgelösten Norm unterwirft. Dadurch erreichen wir eine “Schwelle der Unentscheidbarkeit” (Agamben 2004: 102), die selbst noch von einem Meer oder einer “Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit” (Agamben 2002: 19) umfasst wird, in der Norm und Ausnahmezustand, aber auch das nackte Leben der homines sacri und die politischen BürgerInnen nicht mehr zu unterscheiden sind. In diesem Sinne ist die “einschließende Ausschließung” des nackten Lebens, die im Ausnahmezustand ihre Klimax findet und im Lager sich materialisiert, für Agamben die grundlegende Differenz der Moderne, viel grundlegender als die bekannte Freund/Feind-Unterscheidung von Schmitt.
Nun ist es von größtem Belang, innerhalb dieses konzeptuellen Dickichts aufzudröseln, in welcher Form Leben und Recht in Agambens Theorie genau aufeinander verweisen. An einer Stelle im schwer durchdringbaren ersten Kapitel von Homo Sacer zur “Logik der Souveränität” heißt es dazu:
“Es gibt da eine Grenzfigur des Lebens, eine Schwelle, wo sich das Leben zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung befindet, und diese Schwelle ist der Ort der Souveränität. (…) Das Recht lebt von nichts anderem als dem Leben, das es durch die einschließende Ausschließung der exceptio in sich hineinzunehmen vermag: Es nährt sich davon und ist ohne es toter Buchstabe. In diesem Sinn hat das Recht ‚kein Dasein für sich, sein Wesen vielmehr ist das Leben der Menschen selbst‘ (Savigny)” (Agamben 2002: 37f.)
Was Agamben mir hier in seinem typisch verklausulierenden Stil, ohne die Bezüge der einzelnen Begriffe klar zu machen, sagen zu wollen scheint, ist zweierlei. Zum einen kann das Leben in seiner Theorie “ausschließlich” durch die souveräne Ausnahme in die Rechtsordnung aufgenommen werden, was uns zu den homines sacri und zum Ausnahmezustand bringt (und was eine sehr bestimmte “wilde” Konzeption von Leben impliziert), zum anderen macht Agamben noch einen weiteren Kausalzusammenhang auf, indem er das Recht vom “Leben der Menschen selbst” total abhängig macht, auch wenn es dieses Leben einfach nicht zu fassen kriegt. Dabei macht Agamben, hier in Einklang mit Foucaults “Willen zum Wissen”, auch klar, dass es um kein unbeflecktes Leben gehen kann, das von der Souveränität gebannt würde und das es als solches zu rekuperieren gälte. Er ist sich vielmehr bewusst, dass die Souveränität – wiederum, wie könnte es anders sein – eine Art “Schwelle der Ununterscheidbarkeit zwischen Natur und Kultur, zwischen Gewalt und Gesetz” (Agamben 2002: 46) darstellt, eine Ununterscheidbarkeit jedoch, die unmittelbar in die aporetische Entscheidung gezwungen wird.
Hier liegt nun ein weiterer Grund für Agambens andauerndes Sprechen von Ununterschiedenheiten und Ununterscheidbarkeiten; er denkt diese Begrifflichkeiten und ihre Verhältnisse nicht nur absolut von der Ausnahme her, er denkt – siehe den “Ort” des Ausnahmezustands und des Lagers – dieses Verhältnis auch fundamental als topologisches. Dementsprechend interessiert er sich für die “logische und topologische Struktur der Souveränität” (Agamben 2002: 77, Hervorhebung G.G.), wobei diese Logik auch eine dialektische (Un-)Logik sein kann, die “das Verhältnis zwischen Drinnen und Draußen” (Agamben 2002: 32), ja das unbegrenzbare Hin- und Herchangieren zwischen den Extremen politischer Theorie, das Agamben in seiner Theorie zu beschreiben versucht, bedingt.
Im Rahmen dieser Darstellung sind wir nun an den “Ort” gekommen, Agambens Theorie kritisch zusammenzufassen, bevor wir uns genauer anschauen können, wie die Definitionen von Agambens fundamental-theoretischen Begriffen und deren shortcomings mit seiner philosophisch-theoretischen Grundposition verzahnt sind. Was hier zuerst einmal auffällt, ist Agambens weit ausgreifender Begriff von Souveränität. Für ihn ist die Biomacht einfach Ausfluss von Souveränität, etwas, das mit Foucaults komplexer Perspektive auf die Praxen und Technologien der verschiedenen Machtformen kaum übereins zu bringen ist. Und in der Tat erscheint es als wenig glaubwürdig, alle biopolitischen Mechanismen aus der Souveränität ableiten zu wollen, denn es gibt ja durchwegs solche, die unterhalb von Staatsräson und Recht ansetzen. Das bedeutet umgekehrt natürlich nicht, dass sie in keinem Verhältnis zum Souverän stünden oder dass Souveränität, wie es bei Foucault an so mancher Stelle den Anschein hat, keine Rolle spielte, nur sind der Souverän und das Recht nicht die einzigen Momente, aus denen alles Andere einer gewissen Logik entsprechend zu folgen scheint. Zwar trifft es nicht ganz zu, dass Agamben alles aus Recht und Souveränität ableiten würde, da er so etwas wie eine widersprüchliche Bewegung, eine negative Dialektik beschreibt, die die bürgerlichen Kategorien mit Notwendigkeit in ihr Gegenteil übergehen lässt, letzter Ankerpunkt und quasi auch Punkt der Aufhebung dieser Bewegung sind aber dennoch Recht und Souveränität.
Diese Perspektive hilft Agamben zweifellos, den negativen Zusammenhang und die negative Logik dieser Kategorien, die im Nationalsozialismus kulminieren, in den Blick zu bekommen, etwa wenn er die Kategorie des Volks seziert – zwei Momente, die in Foucault fehlen –, sie ist in ihrer fehlenden Differenzierung und Eichung auf das Recht und den Souverän aber auch fundamental defizitär. Alles scheint irgendwie vom Souverän seinen Ausgang zu nehmen, der in einer Art souveränen Dezision das Terrain der Biopolitik erschafft, alles ist auf diesem unstabilen Boden aber gleichsam immer auch sein eigenes Gegenteil, da die Entscheidung willkürlich erscheint und die Momente nicht gänzlich trennen kann; der Souverän ist eigentlich der Ausnahmezustand und alle BürgerInnen sind irgendwie homines sacri, das Lager ist überall und doch an gewissen “Orten” situiert – diese fehlende Trennschärfe weist, bei aller Innovativität einzelner ihrer Momente, auf ein fundamentales Problem in Agamben hin: Er negiert nicht nur die Zäsur, die Foucault in der Entwicklung der Moderne festmacht und die zur Entstehung einer genuin modernen Biopolitik führt, und situiert die Biopolitik somit, der antiken Figur des Homo Sacer entsprechend, denn immerhin wurde schon damals “souverän” über das Leben der Ausgeschlossenen und Ausgestoßenen entschieden, in der Antike (vgl. Lemke 2007: 80ff.); er bläht damit auch den Begriff der Politik eigenartig auf und verengt ihn zugleich auf eine Dimension.
Wie wir gehört haben, operiert Agamben laut Eigendefinition von einem “philosophisch-politischen Standpunkt” aus, um so das “Verhältnis von Leben und Recht” auszuloten. Er ist mit anderen Worten eine Art politischer Philosoph, für den Politik in traditioneller Manier tendenziell gleichbedeutend mit Recht ist. Dies impliziert ein juridisch-staatszentriertes Verständnis von Politik und auch Biopolitik, das durch Agambens fehlende Möglichkeit der Differenzierung einen stark ontologischen Ruch bekommt. Politik kennt bei ihm eigentlich kein Außen mehr, außer die “souveräne Ausnahme” selbst, die sie immer schon im Begriff ist, (erfolglos) in sich einzuverleiben, gleichzeitig ist Politik aber nicht viel mehr als ebenjene souveräne Dezision, die das nackte Leben immer wieder und wieder erzeugt (vgl. Lemke 2007: 84). Zwar gewahrt Agamben etwas von der Krise der Politikform in unserer Zeit, die mit der ökonomischen Hand in Hand geht, an manchen Stellen lässt er sogar anklingen, dass beide auf gespenstische Art und Weise miteinander korrelierten (vgl. z.B. Agamben 2004: 23), aber er kann diesen Zusammenhang in seinem politizistischen Gepräge, das so auf die Souveränität erpicht ist, und nur die weiteren Koordinaten der theoretisch nicht allzu ergiebigen Begriffe Recht und Leben kennt, nicht konzeptualisieren. Denn so umfassend der Begriff des Rechts ist, so leer ist der des (nackten) Lebens, das ihm von der Souveränität beigestellt wird. In diesem im schlechten Sinne philosophischen Gepräge ist beinah nichts von der (historischen) Komplexität der Foucaultschen Analyse enthalten, diese weicht vielmehr über weite Strecken einer philosophisch-konzeptuellen Analyse, die bestimmte Momente moderner Staatlichkeit und ihrer ideologischen Widerspiegelung zwar zu erhellen weiß; dies geschieht aber um den Preis, Souveränität und Biopolitik in starre und ontologische Konzepte zu verwandeln.
Was Agamben hier fehlt, ist eine umfassende Gesellschaftstheorie, die seine eigene Theorie, die bisweilen, da sie die generativen Mechanismen für die negativen Wechselbeziehungen, die sie im Politischen aufzeigt, nicht benennen kann, an reine Begriffsdialektik erinnert, fundamental grundieren würde – und zwar “horiozontal” in einer Theorie der modernen kapitalistischen Gesellschaft und “vertikal” in einem historischen Fundament, das Biopolitik (und Souveränität) nicht übergeneralisierte. Was Agamben stattdessen anzubieten hat, ja was seiner fehlenden Differenzierung zugrunde liegt und was ihn daran hindert, zu einer ebensolchen umfassenderen Theorie vorzudringen, sind sein Ununterscheidbarkeitsparadigma und sein Denken ausgehend von einer Logik der Ausnahme. Agamben kennt nur einfache Identität, die er leicht als eine Art Illusion abtut, die Schwelle der Ununterscheidbarkeit, die, einmal errichtet, ein Terrain abteilt und das Metier der Philosophie zu sein scheint, und die reale Ununterscheidbarkeit, sodass etwa die BürgerInnen allzu leicht in jedem Moment eigentlich schon dabei sind, zu homines sacri zu werden (oder es immer schon sind). Eine negative Dialektik sieht aber anders aus; sie gesteht den Zusammenhang der Kategorien zu, weigert sich aber gleichzeitig, diese endgültig in Identität auf der einen oder eine statisch-topologische Beziehung oder einfache “Ununterscheidbarkeit” auf der anderen Seite aufzulösen. Zentral in diesem Paradigma, zentral für den Zusammenfall der verschiedenen Kategorien ist hier Agambens Logik der Ausnahme, die das Terrain der (Un)Entscheidbarkeit überhaupt erst hervorbringt. Nur diese erklärt Regel und “Normalbetrieb” und diese ist es auch, die alle Zonen der Ununterscheidbarkeit auf verschlungenen Pfaden mithilfe eines fundamental linguistisch-semiotischen Gegenstandverständnisses instituiert.
Agamben zitiert in dieser Hinsicht zustimmend Søren Kierkegaard, der meinte, die Ausnahme erkläre nicht nur sich selbst, sondern auch das Allgemeine; will man also das Allgemeine verstehen, müsste man nur die Ausnahme studieren (vgl. Agamben 2003: 42). Dieser Logik entsprechend meint Agamben auch, dass Auschwitz im emphatischen Sinne nur durch den „Muselmann“, der Figur des apathischen und agonischen Lagerinsassen, der allen Lebenswillen verloren zu haben scheint, zu verstehen sei (vgl. Agamben 2003: 45). Diese Denkfigur findet sich jedoch auch ganz allgemein in Agambens Beschreibung des Homo Sacer und des Lagers und sie ist es auch, die seiner Theorie ihren Fokus auf rein repressive Momente von Staatlichkeit und Souveränität gibt. Die souveräne Macht lässt sich nur durch das nackte Leben verstehen, ihre Ausnahme quasi, sie selbst scheint dann, der Ununterscheidbarkeit entsprechend, nichts Anderes zu sein als nacktes Leben, alle anderen „positiven“ Machteffekte der Souveränität, in der Ausdrucksweise Foucaults, auf die eigentlichen BürgerInnen werden dadurch eigentlich unbedeutend und scheinen in Agambens Diskussion nicht auf.
Diese Theorie mitsamt der ihr möglichen theoretischen Operationen fußt in einer sehr eigenwilligen sprachzentrierten Anthropologie und Ontologie. In seiner Diskussion des „Muselmanns“ kommt Agamben auch auf den tätsächlichen „Ort des Menschlichen“ – wiederum eine topologische Bestimmung – zu sprechen, der ihm zufolge konstitutiv „gespalten“ (Agamben 2003: 118) sein soll. Der Mensch hat keine Substanz, vielmehr soll er, wiederum, „die zentrale Schwelle“ sein, da er seinen „Ort im Bruch zwischen dem Lebenden und dem Sprechenden“ (Agamben 2003: 118) hat. Schlussendlich kommt Agamben dann doch zu einer Definition des Menschen, wohl nicht als substanziellem Wesen, aber als eines des fundamentalen Mangels:
„Der Mensch ist das Wesen, das sich selbst fehlt und einzig in diesem Sich-Fehlen und dem dadurch eröffneten Irren besteht“ (Agamben 2003: 118)
Hier können wir quasi-live miterleben, wie Agambens Topologie, seine Theoretisierung der Schwelle, im Rahmen einer allgemein sprachlich definierten Wirklichkeit zu einer Anthropologie des Mangels und des fehlenden Bezugs wird, ein Gedanke, der in poststrukturalistischer Theorie öfter auftaucht, auch wenn Agambens Begründungszusammenhang und sein Objekt des Interesses (Staat, Recht und Leben) Besonderheiten aufweist (PoststrukturalistInnen haben es, simpel ausgedrückt, normal nicht so mit dem Staat).
Wenn wir uns daran erinnern, wie Agamben das Verhältnis zwischen Recht und Wirklichkeit bestimmt hat, nämlich als unmögliche Vereinigung und daraus folgend als Umschlag in Ununterscheidbarkeit, dann unterliegt diesem Gedanken fundamental ein ähnliches, sich auf eine alleinig sprachlich definierte Wirklichkeit gründendes Realitätsverständnis. Im Kapitel zur „Logik der Souveränität“ von Homo Sacer heißt es dementsprechend, dass es eine „Wesensnähe“ (Agamben 2002: 30) zwischen der Sphäre des Rechts und derjenigen der Sprache gäbe. An anderer Stelle lässt Agamben in uns bereits bekanntem Vokabular verlauten, dass die menschliche Sprache durch eine „Lücke“ (Agamben 2003: 35) konstituiert sei und diese Lücke wird von Agamben in sprachtheoretischem Vokabular folgendermaßen bestimmt (es lohnt sich, Agamben bei diesem theoretisch entscheidenden Punkt etwas länger zu Wort kommen zu lassen):
„Wie nun die souveräne Entscheidung über den Ausnahmezustand den Raum gibt, in dem Grenzen zwischen dem Innen und dem Außen gezogen und bestimmte Normen bestimmten Gebieten zugewiesen werden können, so teilt nun die Sprache als reine Potenz der Bezeichnung, indem sie sich aus jedem konkreten Redevollzug zurückzieht, das Sprachliche vom Nicht-Sprachlichen und erlaubt, den bezeichnenden Reden Bereiche zu öffnen, in denen bestimmten Worten bestimmte Bedeutungen entsprechen. Die Sprache ist der Souverän, der in einem permanenten Ausnahmezustand erklärt, daß es kein Außerhalb der Sprache gibt, daß Sprache stets jenseits ihrer selbst ist. Die eigentümliche Struktur des Rechts hat ihr Fundament in dieser voraussetzenden Struktur der menschlichen Sprache (…). Sprache ist in diesem Sinne immer ius dicere.“ (Agamben 2002: 31, Hervorhebung i.O.)
Der Zusammenhang zwischen Sprache, Recht und Souveränität ist für Agamben offensichtlich mehr als eine Analogie. Letztere beiden lassen sich anscheinend nur von der Sprache her begreifen. Das Recht nämlich hat sein „Fundament“ in der Sprache, die Sprache grundiert das Recht, sie ist selbst ein „Souverän“ und immer auch „Rechtssprechung“ (ius dicere) im doppelten Wortsinn. In den letzten Bestimmungen sieht eins, bei all der vordergründigen Gestalt der Sprache, wieder sehr schön, wie alle Differenzen in Agamben verlorengehen und verschiedene Begrifflichkeiten, hier fundamental-theoretische Bestimmungen im Kern seiner Theorie, zu konvergieren scheinen (oder in eine „Zone der Ununterscheidbarkeit“ eintreten). Eine Art „Erklärung“ dieses Zusammenhangs, nicht jedoch der Vorrangigkeit der Sprache, die einfach so statuiert wird, denn die Sprache allein scheint das Agens, das sich aus der Realität zurückzieht, findet sich im Anfangsteil des Zitats: Sprache als System ist „reine Potenz der Bezeichnung“, die eine Art Terrain oder Zone schaffen und sich dort zusammenziehen muss, um in einem dezisionistischen Akt Innen und Außen trennen zu können und sprachliche Bezeichnung, nicht jedoch Referenz, so, wie willkürlich auch immer, möglich zu machen.11 Und die gleiche Figur „vollführt“ die Souveränität gleichermaßen in der Schaffung des Rechts und seines Außens, nun aber bereits in der Sprache und durch Sprache.
Auf Grundlage dieser sprachzentrierten Vorstellung von Realität gelangt Agamben jenseits des Rechts zu anderen Bestimmungen, die den Menschen „dezentrieren“ und ihn damit durch den vorherrschenden Charakter der Sprache auch als Wesen des Mangels ausweisen, denn auch sie kann sich ja nur durch eine Art der willkürlichen Dezision auf die Realität beziehen. In diesem Sinne äußert Agamben, dass jeder sprachliche Akt eine „Entsubjektivierung“ (Agamben 2003: 99) einbegreife, die er aber wiederum, den eingeschriebenen theoretischen Operationen seines Gepräges entsprechend, nur absolut denken kann. Denn diese „Entsubjektivierung“ findet für ihn nicht in einer Art Subjekt-Objekt-Dialektik ihren Platz, in der sich die Sprechenden mittels des Systems der Sprache auf die Realität zu beziehen versuchen, für Agamben gilt stattdessen: „Was spricht, ist nicht das Individuum, sondern die Sprache (…)“ (Agamben 2003: 102). In seiner Theorie des Zeugnisses, die von der Unmöglichkeit, (für andere) Zeugnis abzulegen, handelt, geht Agamben aber noch weiter. Die Rede, die er als einen „paradoxe[n], Subjektivierung und Entsubjektivierung zugleich einschließenden Akt“ bestimmt (was an sich eine interessante und ausbaufähige Formulierung wäre), wird für ihn augenblicklich zu einem Zeugnis der „Unmöglichkeit des Sprechens“ (Agamben 2003: 101). Subjektivität gerät Agamben damit zu einer „rein diskursiven Realität“ (Agamben 2003: 103) und Bewusstsein besteht einzig im Aussageakt und hat „konstitutiv die Form des Überantwortetseins an ein Unübernehmbares“ (Agamben 2003: 112). Und in diesem „Wirbelwind“ der theoretischen Neubestimmung aller (philosophischen) Kategorien durch ein bestimmtes, der strukturalistischen Linguistik entlehntes Sprachbild, das der gesamten Realität übergestülpt wird, kommt Agamben zur nachfolgenden Quasi-Conclusio, die uns in ihrer Abwicklung „metaphysischer“ Begriffe und der Zentralsetzung des Ereignisses bekannt vorkommen sollte:
„Eben weil das Bewusstsein keine andere Konsistenz besitzt als die der Sprache, ist all das, was Philosophie und Psychologie dort entdeckt haben wollten, nichts als ein Schatten der Sprache, eine geträumte ‚Substanz‘. Subjektivität und Bewusstsein, in denen unsere Kultur ihr festestes Fundament glaubte gefunden zu haben, beruhen auf dem Zerbrechlichsten und Prekärsten der Welt: dem sprachlichen Ereignis“ (Agamben 2003: 106)
Womit wir wiederum beim (unerklärlichen) Ereignis angelangt wären, diesmal aber, einem anderen Strang poststrukturalistischer Theorie entsprechend, rein sprachlich definiert, wenngleich dieses Ereignis in Agamben mehr einer Art Dezision der Sprache selbst gleichkommt.
Wir haben nun also gesehen, dass Agambens Logik der Ausnahme und sein Ununterscheidbarkeitsparadigma in seiner fundamental sprachlichen Definition der gesamten Realität verankert sind. Die Sprache selbst schafft sich eine Art topologischen Raum, der nur auf Ausschluss und Ausnahme gegründet sein kann, wobei beide nicht aufrecht zu erhalten sind und somit immerzu ins Terrain der Unentscheidbarkeit abzugleiten drohen. Wir haben es also mit einer Art philosophisch-hegelianischer Begriffsderivation zu tun, die die Sprache selbst in den Mittelpunkt stellt und die zwar nie vollends gelingen kann, aber dennoch in eine sprachzentrierte Ontologie und Anthropologie mündet. In dieser stellt der Mensch die „zentrale Schwelle“ dar, dasjenige Wesen, das sich durch die Sprache hindurch definiert, sich aber ihrer Charakteristiken wegen selbst „fehlt“, da Sprache eben nur unter dem Vorzeichen der willkürlichen Entscheidung signifizieren, wohl nicht aber referenzieren kann. Sie ist und „wir“ sind demnach fundamental „Lücke““>12.
„Unsere“ Aussichten auf Emanzipation, auf Aufbrechung der negativen Logik der Biopolitik, gestalten sich dementsprechend. Unser Schicksal als „Lebewesen-Sprachwesen“ ist die „ontologische Glossolalie“, also das unverständliche Brabbeln und das „absolut substanzlose Gerede“ (Agamben 2003: 113), die wohl beide zur von Agamben attestierten „konstitutive[n] Melancholie des menschlichen Daseins“ gehören, das „immer sich selbst gegenüber zu spät kommt, immer schon sein ‚Fest‘ versäumt hat“ (Agamben 2003: 110). Anstelle einer historischen Gesellschaftstheorie haben wir es hier also mit einer „melancholischen“ sprach- und anthropozentrischen Ontologie zu tun, die sich auf eine paradox konstruierte „Unmöglichkeit der Sprache und des Sprechens“ selbst gründet. Die Emanzipationsperspektive will Agamben dennoch nicht ganz aufgeben, sie muss unter dem Gewicht dieser theoretischen Bestimmungen aber völlig abstrakt und unbestimmt bleiben. So hofft er auf eine „völlig neue – das heißt, nicht mehr auf die exceptio des nackten Lebens gegründete – Politik“ (Agamben 2002: 21, Hervorhebung i.O.), die auf wundersame Weise neue „Lebensformen“ instituieren soll (vgl. auch Reuschling 2006: 72). Agamben wünscht sich Platz für ein Handeln, das, jenseits der abstrakten und knebelnden Rechtsform, „[i]m Recht seine Nicht-Beziehung zum Leben und im Leben seine Nicht-Beziehung zum Recht offenbar werden“ (Agamben 2004: 103) lässt, er verwehrt sich aber gleichzeitig vehement dagegen, beide in welcher Form auch immer „substanzialistisch“ zu definieren. In Agambens theoretischem Gepräge, so hoffe ich doch gezeigt zu haben, scheint es allerdings unmöglich, diese Abschaffung der Rechtsform (und mit ihr der Politikform) als umfassende Aufgabe jenseits von leeren Phrasen überhaupt als Aufgabe zu erfassen, geschweige denn sie auf dieser Basis angemessen in Angriff zu nehmen.
… und Esposito
Ein weiterer italienischer Philosoph, der in den letzten Jahren die moderne Biopolitik untersucht hat und dabei zu bestimmter Berühmtheit gelangt ist, ist Roberto Esposito. Er hat mit seiner Bios-Trilogie, deren einzelne Teile die Titel Bios (Esposito 2008), Communitas (Esposito 2009) und Immunitas (Esposito 2011) tragen, eine neue Interpretation moderner Biopolitik vorgelegt, die um die drei Begrifflichkeiten, die als Titel der Bücher fungieren, justiert ist. Esposito geht dabei, wie das gesamte Feld der linken Biopolitik, von Foucaults Werk aus, greift aber gleichzeitig über dieses hinaus, indem er insbesondere den Nationalsozialismus und die Formen der Biopolitik (Rassenbiologie etc.), die zu diesem hinführten, einer genaueren philosophischen Untersuchung unterzieht. Laut Espositos Theorie ist die Moderne insgesamt von einer „thanatopolitical dialectic“ (Esposito 2008: 9) durchzogen, welche vom bekannten Paradox moderner Biopolitik Ausgang nimmt, dass unter dem Banner des Schutzes des Lebens in der Moderne in ungekannten Ausmaß Leben zerstört, ja sogar gemordet wird. Diese fatale Dialektik moderner Biopolitik basiert, so Esposito mit dem zentralsten Term seiner Begriffstriade, den er durch alle drei Bücher hindurch entfaltet, auf dem sogenanntenImmunitätsparadigma, das am Beginn moderner politischer Theorie lokalisiert wird und dass die Politik seitdem fest im Griff haben soll – mit dem Nationalsozialismus als bisherigem „Kulminationspunkt“.
Mehr als andere TheoretikerInnen diskutiert Esposito in diesem Zusammenhang im Kern organizistische oder naturalistische biopolitische Theorien aus dem rechten Lager (vgl. Esposito 2008: 16-24), die speziell zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu florieren begannen. Aufgrund dieser Perspektive lässt sich Biopolitik für Esposito nicht einfach als Ablösung von bestimmten Formen souveräner Macht durch neue gouvermental-biopolitische Macht- und Herrschaftsformen verstehen, moderne Biopolitik ist für ihn vielmehr, anders als Foucault an so manchen Stellen nahelegt und in Gleichklang mit Agamben, immer beides: souveräne Macht über das Leben der Staatssubjekte und biopolitische, ja „positive“ Regulierung der Leben dieser Subjekte als Staatsvolk, schließlich als „Organismus“ des Staates selbst, wie ihn rechte TheoretikerInnen heraufbeschworen und noch immer anhimmeln. Wo Foucault tendenziell eine Disjunktion sieht und eine unaufgelöste Ambiguität in den Begriffen produziert, etwa im zentralen Begriff der Biopolitik selbst, die er nicht ergründen oder erden kann, meint Esposito, einen Zusammenhang entschlüsseln zu können, der sich durch das Immunitätsparadigma zusammenfassen lassen soll. In moderner politischer Theorie und seit dem 19. Jahrhundert immer auch in der politischen Praxis finden wir eine sich selbst verstärkende Tendenz „to flatten the political into the purely biological“ (Esposito 2008: 146), wobei das Biologische, wie wir noch sehen werden, für Esposito ebensowenig eine fixe und einfach gegebene Größe darstellt. Die sich einstellende Dialektik, die Esposito als thanatopolitisch bezeichnet, ist, wie schon Foucault in seiner Theoretisierung des „Willens zum Wissen“ zeigte, komplexer als der einfache Gegensatz von Natur und Gesellschaft; wovon vielmehr auszugehen ist, ist ein „system of reciprocal contaminations“ (Esposito 2008: 188) zwischen Politischem und Biologischem, zwischen Leben und Recht, wie Esposito selbst in einer positiv gewendeten biologischen Metapher meint, einer „Kontamination“ oder „Verunreinigung“ also, die doch immer auf Eindeutigkeit, in Espositos noch zu problematisierender Wortwahl: Immunität, aus ist.
Esposito folgt Foucault allgemein darin, das Leben der Macht nicht äußerlich gegenüberzustellen, denn nur eine Perspektive, die das Ineinander der beiden polaren Begriffe auszuleuchten versteht, kann sich dem eigentlichen Problem moderner Biopolitik, wie es etwa in der Rassenbiologie, aber nicht nur dieser, zum Vorschein kommt, stellen. Dementsprechend sagt er über den Platz des „Lebens“ innerhalb einer (philosophischen) Theorie moderner (Bio-)Politik:
„Life as such doesn’t belong either to the order of nature or to that of history. It cannot be simply ontologized, nor completely historicized, but is inscribed in the moving margin of their intersection and tension“ (Esposito 2008: 31)
Erst vor diesem Hintergrund lässt sich das thanatopolitische Paradox moderner Biopolitik, so der Standpunkt im Buch Immunitas, erfassen. Denn erst so ist die theoretisch nicht zu bändigende Nicht-Identität der Begriffe etabliert, Leben geht nicht einfach in Geschichte oder Politik auf und Politik spiegelt nicht einfach Leben oder Biologie. Und nur so lässt sich auch erklären, dass politische Programme, die sich auf die Fahnen geschrieben haben, dem Leben zu dienen – das sind bei Weitem nicht nur die Nazis – immer wieder riskieren, das Leben gewaltsam der Politik zu unterwerfen oder als solches schlichtweg zu verwerfen. Leben und Politik scheinen in der Moderne unauflöslich miteinander verbunden, und doch scheint ebenso zu gelten, dass beide „cannot be articulated except through a modality that simoultaneously juxtaposes them“ (Esposito 2008: 32).
Diesem Paradox, das Esposito auch das biopolitische Enigma nennt, das Foucault uns zurückgelassen hat, auf der Spur, geht er daran, der negativen Dialektik moderner politischer Kategorien im Einzelnen nachzuspüren. „The movement of self-refutation that grabs hold of all the biopolitical categories of modernity“ (Esposito 2006: 40) lässt sich für ihn exemplarisch an den Begriffen Souveränität, Eigentum und Freiheit aufzeigen, Kategorien, die frappant an Marxens „Eloge“ auf Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham im ersten Band des Kapitals erinnern (vgl. Marx 2005: 189f.). In moderner politischer Theorie, angefangen bei Thomas Hobbes, wird die Frage der „conservatio vitae“ (Hobbes), der Erhaltung des Lebens virulent. Absehend von der bürgerlichen Anthropologie, die all diesen frühbürgerlichen Theorien mit ihrem „acquisitive desire“ (Hobbes) und der „human propensity to truck, barter and exchange“ (Adam Smith) gleichermaßen zugrunde liegt, ist die Hobbesche Konstruktion von Souveränität der eigentliche Einsatzpunkt von Esposito. Denn der Souverän ist in Hobbes Theorie gleichsam identisch wie unterschieden von den ihm Unterworfenen (eins denke nur an den bekannten Kupferstich auf der Erstausgabe des Leviathans, auf dem ein König bzw. Souverän zu sehen ist, dessen „Körper“ aus all den einzelnen Subjekten zusammengesetzt ist, ohne diesen augenscheinlich die Möglichkeit zu geben, aus diesem auszubrechen). Der Souverän soll, so Hobbes, aus dem Willen der Einzelnen mit Notwendigkeit entstehen, einmal entstanden ist er aber für alle bindend, womit eine Verbindung zwischen der Erhaltung des Lebens und Maßnahmen zu seiner Beendigung bei Zuwiderhandeln etabliert wäre. Das ist natürlich keine erschöpfende oder auch nur gründliche Behandlung von Hobbes Theorie des Leviathans oder frühbürgerlicher politischer Theorie im Allgemeinen; was in dieser Kürze aber deutlich geworden sein sollte und worauf es Esposito ankommt, ist eine bestimmte Konstellation oder Figur der Argumentation, die er wie folgt beschreibt:
„The paradox that supports the entire logic lies in the circumstance that the sacrificial dynamic is unleashed not by the distance, but on the contrary, by the assumed identification of individuals with the souvereign who represents them with their explicit will“
Wobei die „sacrificial dynamic“ sich folgendermaßen, nämlich als immer mögliche und wiederkehrende Ausnahme darstellt:
„This exception (…) represents both a remainder that cannot be mediated, as well as the structural antinomy on which the machine of immunitary mediation rests. At the same time, it is the residue of transcendence that immanence cannot reabsorb – the prominence of the political with respect to the juridical with which it is also identified – and the aporetic motor of their dialectic“ (Esposito 2006: 35)
Die Unterwerfung des Lebens unter die Politik kommt in diesen Theorien also nicht durch die Äußerlichkeit dieses Lebens, sondern durch die Identifikation der Einzelnen mit dem Souverän und seiner Macht zustande – sie ist im Innersten der Staatsmaschine angesiedelt, nicht nur an dessen Rändern. Er soll der Unterworfenen Leben erhalten und schützen, zu diesem Zweck kann er es aber auch für nichtig erklären und opfern. Die Ausnahme von der Eingeschlossenheit, die Ausnahme von der Regel ist für Esposito, in einer Art und Weise, die nicht nur in der Phrasierung an Agamben erinnert, eine „strukturelle Antinomie“ („structural antinomy“), von welcher die „immunitäre Vermittlung“ („immunitary mediation“) ihren Ausgang nimmt. Diese Ausnahme begründet auch den immer drohenden Ausnahmezustand, aber sie ist mehr als nur dieser, sie ist der Motor einer Dialektik, die alle modernen (politischen) Kategorien durchdringt, zuvörderst, neben Souveränität, Freiheit und Eigentum, zwei weitere Grundpfeiler bürgerlicher Ideologie.
Die moderne Eigentumsidee und die ihr eigene Form von „proprietary immunization“ (Esposito 2006: 36) diskutiert Esposito anhand des grundlegenden Autors des modernen Besitzindividualismus, John Locke. In dessen Theorie sind die Einzelnen rechtmäßige BesitzerInnen ihrer eigenen Körper und aller Produkte, die sie mittels eigener Arbeitsanstrengung aus der Natur „herausgelöst“ haben. Für Locke geht diese Besitzrelation so weit, dass die einzelnen Besitzenden als eins mit dem Ding, das sie ihr rechtmäßiges Eigentum nennen können, gedacht werden. Es wird sozusagen Teil ihres Körpers (vgl. Esposito 2006: 38), von dem sie in anderer Form, aber nicht minder abhängig sind als von ihrem Herz oder ihren Lungen. Der Zusammenhang von Eigentum und eigener Arbeit wurde von späterer politischer Theorie, aber auch schon von Kant, geflissentlich fallen gelassen, denn bekanntlich tragen KapitalistInnen nicht allzu viel zur Produktion bei, was jedoch erhalten blieb, so Esposito, ist ein neues, durch den Begriff des Eigentums gestiftetes Verhältnis von Identität und Differenz, ein fundamentales „displacement of their prevailing relation“ (Esposito 2006: 38). Was wir in diesem Theorien auf verschiedenen Ebenen sehen, ist eine „Erweckung“ der Dinge, welche ein Eigenleben entwickeln; es kommt zu den bekannten „gesellschaftlichen Verhältnissen von Sachen“ (Marx 2005: 87), von denen Marx im Fetischkapitel des ersten Bandes des Kapitals schreibt. Esposito beschreibt diese Entwicklung in den Begrifflichkeiten seines eigenen Immunitätsparadigmas, das sich hier quasi als (imaginäre) Immunität von Sachen bzw. Waren darstellt, folgendermaßen:
„It is as if the metaphysical distance of modern representation were restored through the theorization of the incorporation of the subject, but now to the detriment of the subject who is isolated and absorbed by the autonomous power of the thing. Meant to add to the subject, the proprietary logic inaugurates a path of inevitable desubjectification. (…) Where before the individual was displaced by the souvereign power that he himself instituted, so now the individual proprietor appear expropriated by the same appropriative power“ (Esposito 2006: 40)
Eigentum scheint sich, einer perversen Logik folgend, gegen die EigentümerInnen selbst zu wenden und in der Rechtsform und anderen gesellschaftlichen Emanationen Eigenleben zu gewinnen. Es verschließt und verhärtet sich gegenüber dem „Leben“ („immunisiert“ sich in Espositos Wortwahl) und kann doch nur mit ihm und durch es existieren. Auch die das Eigentum betreffende Immunisierung („proprietary immunization“) bleibt auf das, was sie ausschließt, angewiesen.
Schließlich, die wohlbekannte bürgerliche Freiheit. Esposito bemerkt hier, dass der moderne Freiheitsbegriff, passend zu Eigentum und Souveränität, tendenziell negativ definiert ist, als Freiheit von etwas und kaum als Freiheit zu unterschiedlichen Formen des Handelns. In einem solchen Gepräge, das schlussendlich doch auf die souverän garantierte Freiheit der EigentümerInnen sich gründet, verwandelt sich Freiheit ganz eigentlich in die Frage nach Schutz und Protektion. Freiheit lässt sich folglich nur durch die freiwillige Unterwerfung der Einzelnen unter eine größere Macht, den Staat, denken, sodass sie sich in ihr Gegenteil verkehrt, in eine Freiheit „that is overcome by its purely self-preserving function“ (Esposito 2006: 42). Auch hinter dieser Konstellation, das sollte uns nicht mehr verwundern, meint Esposito nun eine „immunitäre Logik“ entdecken zu können: die Reduktion von Freiheit auf reine Selbsterhaltung, die dem liberalen Paradigma immer schon eingeschrieben ist, wird durch das atomisierte Individuum herbeigeführt, als „inalienable property that each one has in himself“ (Esposito 2006: 43). Der Liberalismus als Ideologie des vereinzelten Einzelnen führt in dieser Analyse immer schon zu seiner eigenen Negation, da auf falschen Prämissen und Vorstellungen beruhend. Um Freiheit herbeizuführen, bedarf es der immer stärkeren Kontrolle, dieser „substractive (or simply negative) sense“ (Esposito 2006: 43) von Freiheit ist dem modernen Paradigma, das auf identitären Ausschließungen und der an sie anschließenden negativen Dialektik basiert, ebenso eingeschrieben.13
Esposito skizziert in durchaus erhellender Art und Weise eine negative Dialektik moderner politischer Kategorien, deren Grundproblem er in der biopolitischen Durchdringung bzw. von Leben und Politik sieht. Diese Durchdringung kann jedoch nur als Abkapselung und schroffe Gegenüberstellung erscheinen, ein Phänomen beziehungsweise eine Wesen-Erscheinung-Dialektik, die Esposito mit dem grundlegenden Begriff der Immunität erfassen will. Aus dieser Perspektive ergibt sich auch Espositos Interesse für die beweglichen Ränder und Schnittpunkte der einzelnen Kategorien, die eine gewisse theoretische Spannung und Widersprüchlichkeit produzieren und trotz ihrer Beweglichkeit nicht völlig willkürlich sind (in Espositos an poststrukturalistische Theorien erinnernder Wortwahl: „the moving margin of their intersection and tension“). Zu fragen ist nun, wie Esposito sein Immunitätsparadigma samt der negativen Dialektik, die ihm innewohnt, substantiiert. Findet sich in ihm eine umfassende Gesellschaftstheorie, die diese phänomenologisch präzise erkannten Widersprüche in ein größeres Gesamtgepräge eingliedert? Die zu erwartende Antwort auf diese Frage ist nein; Esposito verheddert sich in eigenwillig sprachtheoretisch-metaphysischen Grundannahmen, die es ihm verunmöglichen, seine Erkenntnisse in eine (eingeschränkte) Totale zu setzen.
Die Zentralität des Begriffs der Immunität bzw. der Immunisierung lässt sich in Espositos Werk kaum überbetonen. Für ihn stellt der Begriff der Immunisierung das Scharnier zwischen der Dialektik der politischen Kategorien, die alle unter das Label der Biopolitik fallen, und weiteren Phänomenen der Moderne dar. Er macht dabei klar, dass das widersprüchliche Verhältnis zwischen Leben und Politik, das „biopolitische Enigma“, für ihn am zentralsten ist, gerade wenn es darum gehen soll, die modernen Verhältnisse auf den Begriff zu bringen (vgl. Esposito 2008: 9); die Immunisierung, die sich im Verhältnis von Politik und Leben zeigt, ist „the explicative key of the entire modern paradigm“ (Esposito 2009: 12). Mit dem Beginn der Moderne wurde das Leben nicht nur etwas, das es zu schützen galt, sondern ein richtiges Problem, das zu bearbeiten, optimieren und schließlich zu „lösen“ war, was schließlich auch den Tod einschließen konnte.
Das reale Ineinander von Leben und Recht, Biologie und Politik expliziert Esposito ausgiebig anhand des Verhältnisses von Norm und Leben in der Nazi-Ideologie und Praxis. In derselben vollzog sich etwas, das in der negativen Dialektik der politischen Kategorien nur angelegt war: das Ununterschiedenwerden der Kategorien unter dem Banner der Immunisierung des politischen „Körpers“ – kurz und bündig: „every division collapses between politics and biology“ (Esposito 2008: 112) im Nationalsozialismus. Auf den ersten Blick jedoch ist der nazistische Rassen- und Lebensbegriff eine simple Biologisierung des Rechts, und viele prominente Nazis haben in ihren Argumentationen und Rechtfertigungen immer wieder auf dieses scheinbar objektivistische und „materialistische“ Moment Bezug genommen. Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter, brachte diese Art der Beweisführung in einem bekannt gewordenen Satz auf den Punkt, als er sagte, der Nationalsozialismus sei nichts anderes als angewandte Biologie (vgl. auch Esposito 2008: 112). So einfach ist die Sache bei genauerer Betrachtung aber nicht, folgt eins Esposito. Denn ein biologischer Sachverhalt, noch dazu ein solch „konstruierter“ wie Rasse, lässt sich nicht unvermittelt auf rechtliche Unterscheidungen und Normen übertragen und diese rechtlichen Normen und Zäsuren übertragen sich nicht ohne Brüche, quasi von selbst, auf das biologische Kontinuum der menschlichen Gattung. Vielmehr liegt der Biologisierung des Rechts, die wir im Nationalsozialismus sehen, eine Verrechtlichung des Lebens zugrunde, wobei keinem der beiden Prozesse letztlich eine endgültige Vorgängigkeit zugesprochen werden kann. Was wir so vorfinden, ist eine doppelte Determinierung, die sich immer wieder auf eine Seite schlagen kann, ohne die andere auslöschen zu können. Es kommt zu einem „continual exchange“ (Esposito 2008: 183) zwischen beiden Seiten, in der das Leben gefangen zu sein scheint und einer mehr oder minder beliebigen Norm entsprechend ausgerichtet wird.
Juristen und Ärzte spielten sich im Nationalsozialismus bekanntlich gegenseitig den Ball zu (was Rangeleien und Abgrenzungs- bzw. Grabenkämpfe durchaus beinhalten kann). Rassische Zuschreibungen basierten auf reiner Willkür, wie Esposito darlegt. Die nazistischen Definitionen von Rasse spiegeln, wie heute alle Welt weiß, keine eigentlich biologischen Unterschiede wider, sondern sind durch einen juridischen „Willkürakt“, etwa die Nürnberger Rassengesetze, ins Leben gekommen. Ärzte legitimierten diese Entscheidung im medizinischen Metier und halfen dabei, in umgekehrter Richtung den Raum des Gesetzes erst recht zu biologisieren (vgl. Esposito 2008: 139). Es erscheint, als ob politische und medizinische (Definitions-)Macht total übereins gebracht worden wären, sodass die Erhaltung des Lebens zur oberster Maxime werden konnte und dies gleichsam die absolute Unterwerfung desselben unter die Politik und das Recht bzw. das Primat des Todes bedeutete. Diese „Wippbewegung“ lässt sich in Espositos Worten etwas theoretischer wie folgt fassen:
„[N]either the absoluteness of the norm nor the primacy of nature is to be considered external to a phenomenon like Nazism, which seems to be situated exactly at the point of intersection and tension of their opposing radicalizations. What else is the Nazi bio-law if not an explosive mixture between an excess of normativism and an excess of naturalism, if not a norm superimposed on nature and a nature that is presupposed to the norm? (…) We can say that in these circumstances the ’norm of life‘ was the tragically paradoxical formula in which life and norm are held together in a knot that can only be cut by annihilating both“ (Esposito 2008: 184)
Nur eine immanentere Position als die, die Esposito etwa Foucault zuschreibt, kann mit der Definition des Lebens im Nationalsozialismus und mit der modernen Biopolitik als ganzer zurande kommen, kann den schon bekannten „point of intersection and tension“ beider erfassen. Die moderne Biopolitik, so wie sie Esposito versteht und im Nationalsozialismus zu sich kommen sieht, ist als „absolute normativization of life“ zu verstehen, die parallel zwei oberflächlich gegenläufige Vektoren beinhaltet: die „biologization of nomos“ und die die juridicalization of bios“ (Esposito 2008: 138, Hervorhebung i. O.). Was somit am Horizont erscheint, ist eine „indistinction“ (Esposito 2008: 140) zwischen diesen Begriffen. Das Leben kann dem Recht nur unter dem Vorsatz einverleibt werden, es zu „immunisieren“, also zu absoluter Identität erstarren zu lassen, was selbst einer – potentiell tödlichen – willkürlichen Setzung, die sich irgendwo im Niemandsland von Politik und Leben wiederfindet, gleichkommt.
Ja, das ist die eigentliche Definition des Espositoschen Immunitätsparadigmas. Das eigentlich Untrennbare, das „single, indivisible whole“ (Esposito 2006: 24) wird doch aufgetrennt und dies kann nur auf antinomische Art und Weise geschehen, sodass die bekannten Polaritäten entstehen, die weiterhin aufeinander verwiesen bleiben. Es kommt zur Biologisierung des Rechts und zur Verrechtlichung der Biologie, ohne einen einfachen, clean-cut Ableitungszusammenhang angeben zu können. Esposito stellt diese negative Dialektik, die er beschreibt14, in keinen größeren Zusammenhang, dafür fehlt ihm das theoretische Rüstzeug einer (marxistischen) Gesellschaftstheorie, was er hingegen macht und was einen Schlüssel zu einem besseren Verständnis seiner gesamten Theorie eröffnet, ist, dieses unteilbare Ganze, das doch zumindest gewaltsam in Leben und Politik aufgeteilt ist, genauer zu bestimmen. Damit wären wir bei einem anderen Buch aus der Bios-Reihe angelangt, Communitas. Was immunisiert wird, ist nichts Anderes als die „Gemeinschaft“ selbst. Esposito lässt uns wissen, dass
„[t]o survive the community – every community – is forced to introject the negative modality of its opposite, even if the opposite remains precisely a lacking and contrastive mode of being of the community itself“ (Esposito 2006: 28)
Communitas produziert, kurz gesagt, Immunitas – wie und warum, und speziell warum das immer so sein soll, gilt es, nun zu ergründen.
Communitas ist ein schillernder Begriff in Esposito, zentral und gleichzeitig schwer fassbar. Der traditionellen Definition von Gemeinschaft als einer Gruppe von Personen, die sich um ein „Gemeinsames“ strukturiert, was dies auch sei, setzt Esposito eine Definition gegenüber, die Gemeinschaft als das genaue Gegenteil davon erscheinen lässt. Der „antibiological character of communitas“ (Esposito 2009: 17, Hervorhebung i. O.) ergibt sich für ihn daraus, dass sich Gemeinschaft nur als Mangel, genauer: als Mangel dessen, was gemeinsam ist oder sein soll, aber nie erreicht werden kann, verstehen lässt. Gemeinschaft ist nicht einfach Biologie, aber sie ist genausowenig Geschichte – sie ist „nothing other than what history has negated, the nonhistoric backdrop from which history originates in the form of a necessary betrayal“ (Esposito 2009: 16). Dementsprechend ist die Communitas, die durch immunitäre Mechanismen auseinandergerissen wird, eine Art Voraussetzung und doch nichts wirklich Existierendes, sie ist in Espositos an Georges Bataille erinnernder Sprache eine Art „no-thing“ (Esposito 2009: 139), das als Voraussetzung und Unerreichbares dennoch Einfluss ausübt auf sich formierende und teilende Gesellschaften. Die Gemeinschaft ist außerdem das, was die Einzelnen immer von sich selbst abtrennt, ohne an sich ein Positivum zu sein, sie ist, um die Begriffe von Esposito wieder zu gebrauchen, beweglicher Rand und Schnittpunkt. Diese „Nicht-Dinglichkeit“ oder „nicht positiv ausdrückbare Existenz“ der Gemeinschaft nochmals in Espositos Worten:
„This simply means that community isn’t an entity, nor is it a collective subject, nor a totality of subjects, but rather is the relation that makes them no longer individual subjects because it closes them off from their identity with a line, which traversing them, alters them (…)“ (Esposito 2009: 139)
In bekannt poststrukturalistischer Manier verwirft Esposito hier alle mehr oder minder traditionellen und metaphysischen Definitionen von Gemeinschaft, um sie eben schlicht als Mangel zu definieren, als das, was selbst nicht existiert, ja nicht existieren kann, die Einzelnen aber doch aus sich heraus zwingt und in Beziehung zu anderen setzt. In diesem Sinne kann Esposito, in Umdrehung jeglicher traditionellen Definition von Gemeinschaft, auch sagen, „common“ sei „only lack and not possession“, und was wir mit anderen teilen, sei ein „common non-belonging“ (Esposito 2009: 139).
Als solche ist die Gemeinschaft nach Esposito für die Einzelnen beides, gefährlich und ersehnlich. Sie macht uns unsere individuellen Grenzen vergessen, sie wirft uns gleichzeitig aber auch in einen unendlichen Strudel, in dem wir uns ebenso leicht verlieren können, denn die Gemeinschaft, die gesucht wird, existiert eben nur als „Nicht-Existierendes“, als Scheide- und Trennlinie, nicht jedoch als eigenes positives Feld – sie ist „the unreachable Object into which our objectivity risks falling and being lost“ (Esposito 2009: 8). Esposito belegt hier, wiederum mit Bataille, das Subjekt mit einer „irresistible nostalgia for his previous and subsequent state of not being individual“, ja er spricht von einer „perennial contradiction between desire and life“ (Esposito 2009; 121). Die Subjekte der Gemeinschaft – wir alle sozusagen, denn Esposito macht in dieser philosophischen Darlegung keine historischen Unterscheidungen – sind immer konstitutiv außer sich, sie sind „a chain of alterations that cannot ever be fixed in a new identity“ (Esposito 2009: 138). Die Gemeinschaft ist quasi ein Abzug von unserer Subjektivität, dem wir uns nicht entziehen können, eine erzwungene, aber auch gewollte „Öffnung“ unserer selbst gegenüber einem Außen, das wir als imaginäres niemals inkorporieren können (der Begriff der Öffnung wird noch zentral sein, wenn wir daran gehen, die philosophischen Grundlagen dieser sehr eigenwilligen Konstruktion zu bestimmen).
In Rahmen dieses Gepräges dürfte es nicht verwundern, dass Esposito, trotz oder gerade wegen seiner eigenen Theoretisierung von Gemeinschaftlichkeit, von einer „unthinkability of community“ (Esposito 2009: 2) spricht. In doppelter Hinsicht erhellend ist es nun, zu sehen, wie Esposito für seinen doch recht ungewöhnlichen Begriff von Gemeinschaft argumentiert. Um der „conceptual language of modern political philosophy“, die Gemeinschaft immer als etwas definiert hat, das den einzelnen Subjekten eigen oder eben „gemein“ ist, zu entkommen, meint Esposito, „the etymology of the Latin term communitas“ (Esposito 2009: 3, Hervorhebung i. O.) ins Feld führen zu können. In den Worten communitas und Immunitas steckt nämlich das lateinische Wort munus. Uns interessieren nun weniger Espositos Ausführungen zum Begriff munus, der in altertümlichem und rituellem Latein so etwas wie ein Geschenk oder eine Gabe meinte, die gegeben werden musste, wodurch die Gabe selbst zu einer Art des Opfers und einer Verpflichtung wurde15; sondern die Art der Argumentation und Kausalität, die Esposito mittels etymologischer Derivationen glaubt fundieren zu können. Nach der etymologischen Derivation von munus als zentralem Element von communitas und Immunitasdenkt Esposito, sich ein ausreichendes Argument gegen die moderne politische Philosophie und ihren „gemeinschaftlichen“ Begriff von Gemeinschaft gezimmert zu haben. Es heißt bei ihm sodann:
„From here it emerges that communitas is the totality of persons united not by a „property“ but precisely by an obligation or a debt; not by an „addition“ (…) but by a „subtraction“ (…) the munus that the communitas shares isn’t a property or a possession“ (Esposito 2009: 6, Hervorhebung i.O.)
So einfach kann es anscheinend sein: Man nehme eine philosophische Diskussion, die einem nicht schmeckt und führe sie auf die lateinische Etymologie eines ihrer zentralen Begriffe („community“) zurück. Ist diese Etymologie erst einmal richtig verstanden, ergibt sich quasi von selbst eine andere – als besser erachtete – Definition des Begriffes und wir sind die ganze alte Diskussion los und können philosophisch-spekulativ die unglaublichsten und undurchsichtigsten Dinge aus unserer Etymologie „ableiten“. Ich würde dies eine besonders dreiste Form von konzeptuellem Etymologismus nennen, der in dieser oder jener Schattierung in so manchen sprachzentrierten poststrukturalistischen Theorien auffindbar ist (Jacques Derrida ist etwa ein anderer Meister in diesem Metier der Begriffsjongliererei).
Nun sagt es an sich schon viel aus, dass diese etymologische Argumentation in Esposito als selbstständige Beweisführung für sich steht und nicht nur einen Teil, potentiell ein Indiz, eines größeren Begründungszusammenhangs ausmacht. In Esposito verbindet sie sich darüberhinaus aber noch mit einer ganz bestimmten philosophischen Position, die auf Georges Bataille zurückgeht und die die gesamte Konstruktion rund um das „Nicht-Ding“ namens Gemeinschaft erklärlich macht. Bataille ist ja – nebst dem „Verdienst“, Heidegger in Frankreich bekannt gemacht zu haben – dafür bekannt, der Philosoph der Überschreitung und des Exzesses und, so würde ich meinen, der absoluten Entleerung und damit wiederum, in seinem Gepräge, des Nicht-Existierens zu sein. Schaut eins sich Espositos Begriff der Gemeinschaft an, so ist er ganz klar „bataillianisch“ gefärbt und die Etymologie von munus kommt hier einfach zupass. So schreibt Bataille etwa in Bezug auf Kommunikation mit anderen:
„I only communicate outside of me by letting go or being pushed to this outside. Still outside of me, I don’t exist. (…) With temptation, if I can put it this way, we’re crushed by twin pincers of nothingness. By not communicating, we’re annihilated into the emptiness of an isolated life. By commmunicating we likewise risk being destroyed“ (Bataille, zit. nach Esposito 2009: 121)
Espositos Gemeinschaft „funktioniert“ nach demselben Grundmuster. Jede Form des Bezugs auf ein Außerhalb des einfachen Subjekts ist bereits eine komplette Entleerung und birgt die Gefahr der völligen Auslöschung der Einzelnen. In diesem Sinne kann Esposito auch von einem „negative energetic excess“ sprechen, einem Exzess „that pushes the individuale beyond its own limits while risking his life“ (Esposito 2009: 18). So wie das munus eigentlich eine Gabe oder ein Opfer war, das das Selbst einschloss oder auf ihm aufbaute, konkludiert Esposito, so ist das sich selbst Verlieren im Exzess, der auf das nie erreichbare Gemeinsame zielt, die einzige mögliche Existenzweise der Gemeinschaft, einer Gemeinschaft, die sich durch nichts Anderes auszeichnet als eine „central void“ (Esposito 2009: 18), ein „Nicht-Ding“ (in Batailles Worten aus dem obigen Zitat „nothingness“).
So interessant Espositos Einlassungen zur negativen Dialektik moderner politischer Kategorien sind, die er mit dem Begriff der Immunität fasst, so eigenartig, ja vollauf befremdlich ist seine Analyse der Gemeinschaft als Gegenbegriff zur Immunität. Gemeinschaft ist schlichtweg ein nicht zu kompensierender Mangel, der sich im Exzess der Einzelnen, die nach diesem Ziel streben, äußert. Was dieser Definition von Gemeinschaft zugrundeliegt, ist ein oberflächlicher Etymologismus – und jeder Etymologismus ist eine Form des Konzeptualismus –, der sich auf die Bedeutung von munus und ein „bataillianisches“, ebenso rein konzeptuelles Verständnis von Grenze, Exzess und Überschreitung stützt; beide Momente werden im Begriff der Communitas synthetisiert, um zu den gegebenen äußerst eigenwilligen Definitionen zu kommen. Zur Folge hat ein solches Gemisch kaum zu untermauernde anthropologische Annahmen, etwa über den „notwendigen Verrat“ („necessary betrayal“) einer jeden Gemeinschaft oder eines immerwährenden, gleichbleibenden Widerspruchs zwischen Begehren und Leben. Dabei lassen sich diese einfachen Gegenüberstellungen, die jede historische Konkretion vermissen lassen, ja historisch gar nicht konkretisiert werden können, dieses philosophischen System leicht als kapitalistische Ideologie ausweisen, ebenso wie die schroffe Gegenüberstellung zwischen Einzelnem oder Subjekt und Gesellschaft bzw. Gemeinschaft allein modernen Ursprungs ist. Espositos Theorie der Gemeinschaft erscheint so als rein philosophisch-spekulativ im schlechten Sinne, jeder Zusammenhang zur modernen Biopolitik, zu der von ihm geschickt aufgezeigten negativen Dialektik politischer Kategorien und zur heutigen Gesellschaft, bleibt völlig unklar.
Was dessen ungeachtet noch zu klären bleibt, ist Espositos Begriff des Menschen bzw. des Subjekts, der in seiner Theorie der Gemeinschaft ebenso prominent figuriert. Esposito lässt uns wissen, dass es ihm in seiner – man beachte die Reihung der Adjektive! – „etymological and philosophical analysis of the term communitas“ (Esposito 2009: 137) darum gehe, „the opening that we already are“ aufzuzeigen, was nichts Anderes meint als „displaying the wound in and of but existence“ (Esposito 2009: 119, Hervorhebung i. O.). Das klingt nicht nur nach Heideggers „Öffnung des Seins bzw. zum Sein“, beinah beiläufig lässt Esposito nämlich auch wissen, dass er Heidegger für den „most significant philosopher of the twentieth century“ (Esposito 2008: 154) hält. In diesem Universum zwischen Heidegger und Bataille ist aber natürlich auch etwas Platz für gesittete old-style Metaphysik und so verlautet Esposito, dass die Leere („the void“) nicht nur das Zentrum der nie kommenden Gemeinschaft bildet, sondern eben von allen Dingen, Menschlein inklusive – „[t]he void is the essence of these things as it is of all things“ (Esposito 2009: 144). Durch diesen Gedanken wird auch klarer, warum das Subjekt eine Öffnung sein soll, nur durch die „Öffnung zum Sein“, das gleichzeitig Nichts ist und uns bei versuchter „Berührung“ alle zu verschlingen droht, können wir mit der Leere, die wir sind, umgehen – so oder so ähnlich spielt es in der metaphysischen Rumpelkammer von Espositos Theorie. Am Ende von Communitas versucht Esposito, all diese Bestimmungen zusammenzudenken, was für ein Verständnis seiner theoretischen Grundlagen durchaus aufschlussreich ist. Dort heißt es:
„It is when every meaning that is already given, arranged in a meaningful frame of reference, goes missing that the meaning of the world as such is made visible, turned inside out, without enjoying reference to any transcendental meaning. The community isn’t anything else except the border and the point of transit between this immense devastation and the necessity that every singularity, every event, every fragment of existence makes sense in itself“ (Esposito 2009: 149)
Wir sind nun in den Niederungen von Sinn und Bedeutung angelangt und nur um diese scheint es Esposito in seinem fundamental konzeptualistischen Gepräge zu gehen. In diesem ist auch Espositos Vorliebe für Grenzen und Räume des Übergang (es sei auch an Agambens „Zonen der Ununterscheidbarkeit“ erinnert) zu verstehen, schließlich soll es um das philosophische Kunststück des „folding of the intellect on its unintelligible side“ (Esposito 2008: 117) gehen. Daneben stehen natürlich die Singularitäten als einzige „Dinge“ dieser Welt, die irgendwie anerkannt werden (ohne klar machen zu können, was eine Singularität in dieser Welt der „Leere“ überhaupt noch sein soll). Die Gemeinschaft ist demnach eine Chiffre dafür, dass jede Form der Signifizierung doch irgendwie unmöglich ist, dass wir immer auf ein Anderes verwiesen sind, welches sprachlich doch nicht weiter bestimmt, geschweige denn erfasst werden kann. Esposito, das ist ihm quasi zugute zu halten, gibt diesem bekannten poststrukturalistischen Theorem mit seinem Bezug auf Bataille einen ganz spezifischen Spin, der das Moment von Exzess, Opfer und Entleerung betont, es ist aber doch auch ganz eigentlich die alte Soße über die absolute Kontingenz einer „planetary world without direction, without any cardinal points“ (Esposito 2009: 149).
Espositos Emanzipationsperspektive von der immunitären Biopolitik und womöglich auch von der Problematik der Gemeinschaft ist von diesem affirmativen und ganz eigentlich mystischen philosophischen Grundgepräge vollends durchdrungen. Er grenzt sich explizit, in schon bekannter Manier, von jeder Form von marxistischer Analyse ab, die für ihn, dem italienischen Kontext mit seiner starken Tradition des (Post-)Operaismus entsprechend, nur entweder „economistic“ oder „productivistic or workerist, and therefore impolitical“ (Esposito 2008: 220, Fn. 42) sein kann. Dagegen stellt er seinen eigenen Politizismus einer anderen „affirmative biopolitics“ (Esposito 2008: 11), denn, wir erinnern uns, Politik ist sowieso Biopolitik und das, was gewöhnlich unter Ökonomie läuft, ist den politischen Philosophen meist keine Erwähnung wert. Esposito verbindet mit dieser neuen affirmativen Biopolitik die Hoffnung einer Politik „that is no longer over life but oflife“ (Esposito 2008: 11, Hervorhebung i. O.). Das eigentliche Leben, wenn eins so will, ist eines, so Esposito in Auseinandersetzung mit Georges Canguilhem, aber eigentlich in Anklang an Nietzsche, das darin besteht, sich immer selbst zu überschreiten (vgl. Esposito 2008: 189) und das deswegen in keiner starren Kategorie eingefangen werden kann. Jede Form des Lebens ist sich selbst ihr Maß und überhaupt gilt: „the living is the one who always exceeds the objective parameters of life“ (Esposito 2008: 189). Esposito nennt diese Position einen „Spinozian juridical naturalism“ (Esposito 2008: 186), dem es darum bestellt ist, die „reciprocal immanence“ von Leben und Politik als Teil einer „single dimension in continous becoming“ (Esposito 2008: 185) zu betonen, um so das Recht der „infinite unpredictability of life“ (Esposito 2008: 190) gegenüber zu öffnen. Das mag substanzieller klingen als bei Agamben, dennoch verdeckt dieser politizistische und überquellende Lebensbegriff, der sich so schon bei Nietzsche in seinem „aristokratischen Perfektionismus“ finden lässt16, das eigentliche Problem: Gesellschaft und Kapitalismus als übergreifendes Ganzes lassen sich so nicht denken. Die Theorien von Esposito und Agamben bleiben in der politischen Philosophie, und nur da, stecken, die biopolitische Problematik kann aber gerade nicht alleiniglich in dieser verortet werden (eine Einsicht von Foucault, die viele philosophisch gesinntere, postmoderne AutorInnen im Feld der Biopolitik gerne ausblenden).
Esposito wie Agamben sind beide Sprösslinge der italienischen Philosophie, der immer schon ein gewisser Hang zur Antike, und da insbesondere zur römischen, eigen war, was sich auch in den Theorien der beiden Philosophen wiederfinden lässt. Beide bewegen sich ebenso in einem eingeschränkten theoretischen Feld, das durch die Begriffe Politik und Leben (oder Synonyme bzw. Derivate derselben) begrenzt wird, was zu sozialwissenschaftlich unterkomplexen und rein philosophisch-spekulativen Theorien führt, verglichen mit Foucault und den Ansprüchen von Gesellschaftstheorie ganz allgemein. Beide ergehen sich auch in verschiedenen Formen des Politizismus, der schlussendlich in einem sprachtheoretisch-konzeptuellen Grundgepräge geerdet ist, das mit anderen ontologischen Grundannahmen aus dem Repertoire des poststrukturalistischen schrankenlosen Prozessdenkens amalgamiert erscheint. Daraus ergibt sich ein gewisses Faible für die Ränder von Begrifflichkeiten und die Schwellen, die sie in ihr Gegenteil übergehen lassen. Demgemäß interessieren sich Agamben und Esposito auch für das Nichtaufgehen, für die Gebrochenheit der Kategorien moderner politischer Philosophie und zuvörderst eben für den Begriff der Biopolitik. Dieser Hang zum Differenten ist aber mit einer Ontologie erkauft, die sich für die Analyse der einzelnen Momente der konkreten Totalität, und seien es nur Begrifflichkeiten, als völlig unbrauchbar erweist. In diesem Sinne sind die philosophischen Grundlagen von Agamben und Esposito, die im weitesten Sinne als postmodern und poststrukturalistisch bezeichnet werden können, auch wenn sie in diesen Kategorien nicht aufgehen, ein reales epistemologisches Hindernis bei der Erforschung moderner Biopolitik und der gesellschaftlichen Realität ganz generell.
Im nächsten Abschnitt dieses Textes werden wir sehen, dass eine Theorie, die sich als marxistisch begreift, ebensowenig davor gefeit ist, eine solche theoretisch völlig unzulängliche Philosophie zu reproduzieren, ja sie sogar offen gutheißen kann. Hardt und Negri landen dabei – paradoxerweise – bei einer überaffirmativen Biopolitik, die die Positivsetzung von Biopolitik bei Agamben und Esposito noch in den Schatten stellt. Das erscheint bei einem marxistischen Zugang als doppelt peinlich und schreit nach Erklärung.
Überaffirmative Biopolitik in der Empire-Trilogie
Die Feuilleton-Diskussion um Hardt/Negri hat sich etwas gelegt. Knappe zehn Jahre ist es her, dass Empire erschien und von FAZ wie TAZ als neues kommunistisches Manifest und Bibel der Globalisierungskritik bezeichnet bzw. gefeiert wurde. Zwar kamen in den darauffolgenden Jahren noch zwei Werke, Multitude (vgl. Hardt/Negri 2004) und Commonwealth (vgl. Hardt/Negri 2009), hinzu, sodass die Empire-Trilogie nun als abgeschlossen gelten kann, wirklich interessieren scheint es aber niemanden mehr, nicht im bürgerlichen Feuilleton und schon gar nicht links davon. Hatte Empire noch eine Vielzahl an (vernichtenden) Kritiken aus der Linken provoziert (vgl. exemplarisch aus sehr verschiedenen Ecken: Benl 2006 und Hartmann 2002), wurden Multitude und Commonwealthvielerorts schon nicht mehr der Beachtung wert erachtet.
Hardt/Negri hingegen gingen weiter daran, ihr Interpretationsraster von Empire, Multitude und dann eben auch dem Gemeinsamen („the common“ bzw. der „Commonwealth“) zu entfalten. Was Empire unter anderem zur Zeit seiner Publikation so interessant machte, jenseits von feuilletonistischer Begeisterung, war der Anspruch der beiden Autoren, eine umfassende Interpretation der tristen Sachlage unserer Zeit zu liefern, nämlich der für die Linke depressiven Zeit nach dem Kollaps des Realsozialismus, die oft mit den Namen Postmoderne assoziiert wird. Dass sie dabei theoretisch scheiterten, liegt am eigenwilligen Theoriepunsch namens Postoperaismus, den sie servieren, bestehend aus operaistischen und postmarxistisch-poststrukturalistischen Versatzstücken und der so wohl auch der eigentliche Grund für ihre feuilletonistischen Berühmtheit war (neben dem berühmten hymnischen Singsang so mancher Passagen).
Empire beginnt bekanntermaßen mit der Diagnose, nationalstaatliche Souveränität, so wie sie den Kapitalismus bisher gekennzeichnet hatte, insbesondere im Zeitalter des klassischen Imperialismus, sei an ihr Ende gekommen. Stattdessen sähen wir uns „modulierende[n] Netzwerke[n] des Kommandos gegenüber“ (Hardt/Negri 2003: 11), die ihre Zuschlagskraft eher in Polizeiaktionen denn imperialistischen Eroberungskriegen zur Schau stellten. Was nun allgemein vorherrsche, seien Dezentrierung, Deterritorialisierung und umfassende Kommunikation. Kommunikation ist für das Autorenduo „nicht nur ein Ausdruck der Globalisierung, sondern organisiert deren Lauf“ (Hardt/Negri 2003: 47). Mit diesem Begriff der Kommunikation, der sofort an das Internet und die damit einhergehende umfassende Virtualisierung aller Lebensbereiche erinnern lässt, schlagen Hardt/Negri den Bogen zu ökonomischen Aspekten. Denn nicht nur hat sich die Form der Herrschaft verändert bzw. „deterritorialisiert“, die Produktion selbst soll sich fundamental neu konfiguriert haben – weg vom Fließband und der fordistischen Fabriksarbeit hin zu flexibleren Arbeitsformen, die Hardt/Negri „kommunikative, kooperative und affektive Arbeit“ oder kurzum „biopolitische Produktion“ nennen und die nichts Weniger und nichts Anderes als die „Produktion des gesellschaftlichen Lebens selbst“ (Hardt/Negri 2003: 11) sein soll – eine Kaskade an unterschiedlichen, aber gleichgesetzten Begriffen, die näherer Untersuchung bedarf.
Phänomenologisch findet sich in Empire sicherlich eine durchaus interessante Zusammenschau verschiedener Momente des postfordistischen bzw. postmodernen Kapitalismus, ohne diese irgendwie beschönigen zu wollen. Theoretisch werden diese deskriptiven Momente jedoch schon von einer Linie der Interpretation überschattet, die zu diskutieren ist und die Hardt/Negri im Zusammenhang dieses Papers interessant erscheinen lassen: Der Begriff der Biopolitik bzw. der biopolitischen Produktion scheint in ihrer Theorie eine äußerst zentrale Rolle einzunehmen, ja er ist als solcher, was noch zu zeigen sein wird, das positive Ticket, das es Hardt/Negri erlaubt, der düsteren Analyse der neuen Weltordnung von „Ausnahmezustand und Polizeiaktion in Permanenz“ (Hardt/Negri 2003: 52) mehr als einen Silberstreif der Hoffnung beizustellen; Biopolitik ist ihnen, ganz im Gegensatz zu Foucault, vielmehr der Garant für die bevorstehende Emanzipation von den knechtenden Verhältnissen, was einem ungewöhnlichen Sachverhalt der Umdrehung der ursprünglichen Perspektive gleichkommt. Diese absolute Positivierung des Begriffs Biopolitik hat viel mit den theoretisch-philosophischen Grundlagen beider Autoren zu tun, die auch hier nicht unbesehen bleiben können. So schreiben Hardt/Negri etwa voller Überschwang über „eine Reihe französischer Philosophen“ (Hardt/Negri 2003: 385), denen es in den 1960er-Jahren gelang, die Dialektik – „diese verfluchte Dialektik“ (Hardt/Negri 2003: 384) – beiseite zu schaffen und zwar indem sie „Nietzsche (…) neu gelesen“ (Hardt/Negri 2003: 385) hatten. Zu nennen wären hier vor allem Deleuze, Foucault und Derrida. Mit dieser offenen Frontstellung zur Dialektik im Kopf, die von den anderen bisher diskutierten Autoren zumeist nur zwischen den Zeilen formuliert wurde, darf angenommen werden, dass „die nicht zu unterdrückende Leichtigkeit und das Glück, Kommunist zu sein“ (Hardt/Negri 2003: 420) zu einem gewissen (theoretischen) Preis erkauft wurde.
Eingang in diese Problematik lässt sich, wie gesagt, durch den zentralen Begriff der Biopolitik finden. Auch Hardt/Negri kommen nicht darum herum, Foucault und seinen „gegenstandskonstitutiven“ (im Sinne eines wissenschaftlichen Objekts) Begriff von Biopolitik zu diskutieren. Ihre maue Kritik an Foucault beschränkt sich aber darauf, ihn des Strukturalismus zu zeihen. Seine „strukturalistische Epistemologie“, hören wir, die sich „funktionalistische[r] Wege“ bediente, sei nicht imstande, „die Dynamik des Systems, die schöpferische Zeitlichkeit seiner Bewegung und die ontologische Substanz der kulturellen und sozialen Reproduktion“ (Hardt/Negri 2003: 42) zu erfassen. Das klingt nun reichlich abstrakt und was die „strukturalistische Epistemologie“ anbelangt für das Werk von Foucault in den 1970er-Jahren, im Gegensatz zur „Archäologie des Wissens“ der 1960er, unrichtig, obwohl der Strukturalismus natürlich für das gesamte Schaffen Foucaults von großer Bedeutung war. Worauf Hardt/Negri wirklich hinaus wollen, ist den konstitutiven Link, den Foucault zwischen Disziplinar- und Biomacht und späterhin zwischen allen diesen Formen der Macht und der modernen Gouvermentalität sah, zu kappen. Disziplinarmacht ist für Hardt/Negri passé, untergegangen zusammen mit der fordistischen Fabriksgesellschaft und ihren starren Normen. Womit wir es stattdessen zu tun haben, ist die positive, lebensproduzierende Biopolitik (vgl. auch Benl 2006: 40), die sich für Hardt/Negri anscheinend aus Dynamik, schöpferischer Zeitlichkeit und ontologischer Substanz ergibt und die in dieser nun zu sezierenden Form ganz unmittelbar für Emanzipation einstehen soll.
Ein erster Schritt in diesem Unterfangen ist festzustellen (oder zu behaupten), dass biopolitische Arbeit heute im Zentrum gesellschaftlicher Reproduktion und kapitalistischer Akkumulation stehe. Oder um präziser zu sein, obwohl Hardt/Negri selbst beide Begriffe zumeist unterschiedslos gebrauchen: dass sogenannte immaterielle Arbeit heute im kapitalistischen Reproduktionsprozess die Hegemonie für sich beanspruchen kann und als solche „immaterielle Produkte schafft, also etwa Wissen, Information, Kommunikation, Beziehungen oder auch Gefühlsregungen“ (Hardt/Negri 2004: 126). Eine besondere Form dieser immateriellen Arbeit stellt die affektive Arbeit dar, die „Ideen, Symbole, Codes, Texte, sprachliche Figuren, Bilder“ produziert, kurzum also Arbeit ist, die Effekte produziert oder manipuliert. Als Beispiele für „affektiv Arbeitende“ nennen Hardt/Negri hier, so unglaublich es klingen mag, RechtsberaterInnen, FlugbegleiterInnen und Angestellte von Fastfood-Ketten, die den KundInnen ihre Burger mit einem Lächeln – „service with a smile“ (Hardt/Negri 2004: 126, Herhorhebung i. O.) – über die Theke schieben (müssen); und all diese Berufsgruppen dürfen sich durch ihren Anteil an der immateriellen bzw. affektiven Arbeit als Teil dessen begreifen, was Negri an anderer Stelle das heutige „Kognitariat“ nennt (vgl. Negri 2008: 175). Diese Beispiele sagen schon einiges über die Unschärfe der Kategorien und die Willkürlichkeit der Beispiele in der vorliegenden Argumentation aus, richtig interessant wird es aber, wenn sich die Autoren daran machen, zu erklären, warum diese Formen der immateriellen Arbeit eben genuin biopolitisch sein sollen. Dazu sagen sie das Folgende:
„Wir müssen also feststellen, dass immaterielle Arbeit in dieser Hinsicht ein recht zweideutiger Begriff ist. Es wäre besser, die neue hegemoniale Form als ‚biopolitische Arbeit zu verstehen, als Arbeit also, die nicht nur materielle Güter, sondern zugleich auch Beziehungen und letztlich das gesellschaftliche Leben selbst schafft. Der Ausdruck biopolitisch weist darauf hin, dass traditionelle Unterscheidungen zwischen dem Ökonomischen, dem Politischen, dem Gesellschaftlichen und dem Kulturellen zunehmend verwischen“ (Hardt/Negri 2004: 127, Hervorhebung i. O.)
Von besonderer Relevanz sind hier die „(sozialen) Beziehungen“ und schließlich der undeutliche Begriff des „sozialen Lebens selbst“, wobei die Verschwommenheit auch hier Methode hat. Irgendwie sollen RechtsberaterInnen oder KassamitarbeiterInnen bei Burger King – mehr und mehr, und mehr denn je zuvor – soziale Beziehungen und das soziale Leben selbst reproduzieren, sodass nicht nur alte Unterscheidungen an Gültigkeit verlieren und alle Formen der Arbeit „sozial“ produktiv würden, sondern eben auch das eigentlich Gemeinsame als „soziales Leben selbst“, um das es Hardt/Negri schlussendlich geht, hervorgebracht würde17. Dieses Gemeinsame wird durch biopolitische Arbeit produziert und als solches gilt es, es sich vollends anzueignen, wie es geht und steht bzw. lächelt.
Mit der biopolitischen Produktion verschiebt sich nämlich „das Gravitationszentrum der Ökonomie von der Produktion materieller Güter zur Produktion sozialer Beziehungen“ (Hardt/Negri 2009: 149), soziale Beziehungen selbst lassen sich aber, so die Argumentation, nicht regulieren, geschweige denn in eine quantifizierbare Form bringen, die dem Kapital verträglich ist, wodurch sie kurzerhand an sich für Widerständigkeit einstehen:
„Biopolitische Produkte allerdings tendieren dazu, über jedes quantitative Maß hinauszuschießen und zugleich gemeinsame Formen anzunehmen, die sich entsprechend problemlos gemeinsam nutzen lassen und es schwierig machen, sie in die Form des Privateigentums zu pressen“ (Hardt/Negri 2009: 149, Hervorhebung i.O.)
Die Argumentation rennt also ungefähr so: Biopolitische Arbeit, in der Form von immaterieller und affektiver Arbeit, wird immer hegemonialer und schafft als solche rein positiv verstandene soziale Beziehungen und ein ominöses soziales Leben selbst, die alle beide noch dazu kaum beherrschbar sind aus Sicht des Kapitals. Diese Formen des sozialen Lebens, des Gemeinsamen, werden also nicht mehr vom Kapital produziert oder zumindest zu gesellschaftlicher Relevanz synthetisiert, „sondern erwachsen aus den produktiven Energien der Arbeit selbst“ (Hardt/Negri 2004: 132) – das Biopolitische, um schließlich die Katze aus dem Sack zu lassen, ist im Endeffekt nichts Anderes „als konkrete Produktion, menschliche Kollektivität in Aktion“ (Hardt/Negri 2003: 394), also die „gute“ und rein positive „ontologische Substanz der kulturellen und sozialen Reproduktion“ von der weiter oben bei der Foucault-Kritik von Hardt/Negri bereits die Rede war. Das Leben selbst, könnte man jauchzend feststellen, ist umfassend produktiv geworden und dabei, das Kapital abzuschütteln. Einfach so vertschüsst sich das Kapital aber nicht, es „schwebt parasitär“ (Hardt/Negri 2009: 156) über der biopolitischen, das Gemeinsame instituierenden Arbeit von RechtsberaterInnen, PommesbraterInnen und allen anderen Teilen des modernen „Kognitariats“.
Diese Emphase von oberflächlich verstandenen sozialen Beziehungen und dem „Leben selbst“ dient einer ganz bestimmten theoretischen Operation: der Hinwendung zum Subjekt als reinem Positivum und einer mit ihr einhergehenden fundamentalen Subjektivierung gesellschaftlicher Kategorien. Nicht nur das Gemeinsame wird durch biopolitische Arbeit jenseits des Kapitals produziert, dieses Gemeinsame selbst ist wiederum nichts Anderes als (aufmüpfige) Subjektivität, denn „[d]er eigentliche Kern der biopolitischen Produktion, den wir erkennen können, wenn wir das Abstraktionsniveau ein wenig erhöhen, ist (…) die Produktion der Subjektivität selbst“ (Hardt/Negri 2009: 12). Diese neue Form der Subjektivität, die in „Kognitariat“ und Multitude ganz allgemein ihren Ausdruck finden soll, basiert auf „Wissen, Kommunikation und Sprache“ (Hardt/Negri 2003: 44), Formen der „gemeinsamen“ immateriellen und affektiven Arbeit also, die in der Definition der beiden Autoren dem Kapital entgegenstehen. Der Reihe an Gleichsetzungen entsprechend, steht somit auch die Subjektivität dem Kapital unversöhnlich gegenüber, ob sie es nun weiß oder nicht. Vor diesem Hintergrund können wir nun verstehen, warum Hardt/Negri viel von Biopolitik und Biomacht in rein positivem Sinne sprechen, nicht aber von ihrem herrschaftlichen Charakter (oder von Disziplinarmacht), der für Foucault in seiner Theoretisierung der Biopolitik noch zentral war.
Was hier in dieser zentralen Begrifflichkeit erscheint, ist eine elementare Argumentationsfigur, die sich durch alle 3 Bände der Empire-Trilogie zieht, essentiell mit der postoperaistisch-poststrukturalistischen, anti-dialektischen Grundposition von Hardt/Negri zusammenhängt und mit etwas Augenzwinkern und aufgrund des positiven Nietzsche-Bezugs als Wille zur Positivierung negativ-dialektischer Kategorien bezeichnet werden könnte. In dieser Form von Produktivismus und schließlich auch Vitalismus postoperaistischer Prägung wird ausgegangen von einem daseienden Guten – hier der biopolitischen Arbeit(skraft), früher der ArbeiterInnenklasse –, das vielleicht äußerlich durchs Kapital (oder die Partei) korrumpiert wird, das aber an sich emanzipativ ist und als solches auch mehr oder minder unaufhaltsam zur Emanzipation drängt, wodurch die „immaterielle Arbeit das Potenzial für eine Art des spontanen und elementaren Kommunismus bereit“ (Hardt/Negri 2003: 305) hält. Ja, nicht nur das, sie ist alles in einem: wechselweise soziale Beziehungen, das soziale Leben selbst oder die aufrührerische Subjektivität, wobei alle drei nicht in einer dialektischen Beziehung zueinander stehen, sondern unmittelbar eins sein sollen in ihrem Gegensatz zum knechtenden, ausbeutenden, kurzweg vampirhaften Kapital. Formkritik und Widerspruchsbearbeitung sind so nicht mehr möglich, denn eine gesellschaftliche Form der Arbeitsprodukte jenseits des Gemeinsamen gibt es nicht mehr. So kann Negri auch ohne den geringsten Anflug von Zweifel oder Fragen über Krise und Barbarei frohlocken „[c]ognitive labour is terribly indigestible to capital“ (Negri 2010: 161).
Das gleiche Muster ergibt sich, wenn wir auf eine aggregiertere Ebene der Betrachtung wechseln, die von Empire und Multitude. Das Empire wird von Hardt/Negri zwar als „globaler biopolitischer Apparat“ (Hardt/Negri 2003: 54) bezeichnet, der, wie wir gesehen haben, dezentriert und deterritorialisiert agieren soll und seine Herrschaft über „das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit“ (Hardt/Negri 2003: 13) ausbreitet, das ist aber kein Grund zur Sorge, denn ihm gegenüber steht das „schöpferische Vermögen der Multitude“ (Hardt/Negri 2003: 13, Hervorhebung i.O.), also das Gesamtsubjekt biopolitischer Arbeit. Damit dürfte klar sein, wer die Hosen anhat, und daran lassen Hardt/Negri auch keinen Zweifel. Das Empire selbst sei keine positive Realität, formulieren sie, es handle nicht und reagiere nur auf die Vorstöße der globalen Multitude. Und selbst wenn es einmal einen Sieg erringen sollte, dann nicht aus eigener Kraft, sondern nur dadurch, dass es „auf den Widerstand der Menge gegen die imperiale Macht stößt und vom Rückprall dieses Zusammenstoßes vorangetrieben wird“ (Hardt/Negri 2003: 368). Es ist, kurzum, „wie eine Schale ohne Kern oder wie ein Parasit“ (Hardt/Negri 2003: 367) und damit „[a]us ontologischer Sicht (…) rein negativ und passiv“ (Hardt/Negri 2003: 369).
Gegen diesen Hintergrund gesetzt, erstrahlt die Multitude natürlich umso heller. Interessant ist hier, wie Hardt/Negri die Realität des Empires, das zwar total aber doch nur reaktiv sein soll, mit der Realität der Multitude zusammenbringen. Dies geschieht, zusammenfassend gesagt, in einer Art und Weise, die an eine Form der „verfluchten Dialektik“ erinnert, die das Autorenduo doch eigentlich mit den „Franzosen“ hinter sich lassen wollte:
„Was Foucault implizit beschreibt (und Deleuze und Guattari explizieren), ist demnach das Paradox einer Macht, die jedes Moment gesellschaftlichen Lebens vereinheitlicht, in sich selbst einschließt und so die Fähigkeit verliert, zwischen auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Kräften tatsächlich zu vermitteln, während sich im gleichen Augenblick ein neuer Kontext öffnet, ein neues Milieu mit einem Maximum an Pluralität und der Unbezwingbarkeit der Singularitäten – ein Milieu des Ereignisses“ (Hardt/Negri 2003: 40)
Hier wird nicht nur der Bezug auf Deleuze und Guattari und damit auf den französischen Poststrukturalismus explizit – auf der gleichen Seite sprechen Hardt/Negri auch noch von „Singularitäten auf Tausend Plateaus“ (Hardt/Negri 2003: 40) – und erscheint in einem noch zu diskutierenden Vokabular („Singularität“, „Ereignis“), auch ein bestimmtes Verhältnis von Macht und Widerstand wird deutlich. Anscheinend kippt die alles durchdringende Macht des Empires von selbst in ihr Gegenteil um; je mehr sie die Gesellschaft unterwirft und die Einzelnen entfremdet, desto mehr untergräbt sie ihre eigene Grundlagen, denn sie schafft ihren eigenen „Totengräber“ oder auf postmodern-postoperaistisch: ein Maximum an Pluralität und eine Unbezwingbarkeit von Singularitäten, ja ein Milieu des Ereignisses. Subsumptionslogik der Dialektik, die von Hardt/Negri immer wieder kritisiert wird, hin oder her, wenn das keine schöne positive Dialektik ist!
Diese Denkfigur ist sicherlich als Überbleibsel des Traditionsmarxismus zu werten, dessen Begrifflichkeiten verändert und auf anderes Fundament gestellt worden sind, ohne die Logik der Argumentation selbst abzuwandeln. Zwar gehen Hardt/Negri, den operaistischen Wurzeln Negris entsprechend, immer noch von einem absoluten Primat der Kämpfe aus, „die als Matrix jeder Form institutioneller Beziehung und jeglicher Art gesellschaftlicher Organisation begriffen werden“ (Hardt/Negri 2009: 39), aber allein um Klassenkämpfe kann es sich in diesem verallgemeinerten Paradigma nicht mehr handeln. Immerhin geht es um die Multitude, die keine Klasse mehr ist, sondern eine „irreduzible Vielfalt“, deren Elementarform wiederum „Singularitäten, die gemeinsam handeln“ (Hardt/Negri 2004: 123) sind. In der prästabilisierten und positivierten Form, in der sich die biopolitische Arbeit präsentiert und mit Hilfe der eben skizzierten positiven Dialektik kann es auch hier keinen Widerspruch geben zwischen Singularität und Gemeinsamem. Hardt/Negri dekretieren: „Der Schlüssel zu dieser Definition liegt in der Tatsache, dass es keinen konzeptionellen und keinen tatsächlichen Gegensatz zwischen Singularität und Gemeinsamkeit gibt“ (Hardt/Negri 2004: 105). Mögliche Widersprüche sind im Guten der biopolitischen Arbeit bzw. dem ihr gleichkommenden „Gemeinsamen“ schlicht unmöglich.
Ganz von den Klassen bzw. von der ArbeiterInnenklasse, denn was mit der Bourgeoisie geschieht und in welcher Form sie im Empire (nicht) aufgeht, bleibt völlig unklar, wollen sie aber auch nicht lassen. Die Diskussion des Klassenbegriffs in Commonwealth zeigt dabei, wie weit Hardt/Negri in ihrer absoluten Positivierung der Kategorien bereit sind zu gehen. Der Klassenkampf nimmt nämlich heutzutage, unter den Bedingungen der biopolitischer Produktion des „Gemeinsamen“, die Form „des Exodus aus dem Kapitalverhältnis und aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen“ (Hardt/Negri 2009: 166) an. Zwar bleibt unklar, wo sich diese Bewegung abzeichnen soll, vielmehr schaut es ja gerade danach aus, dass viele Menschen geradezu unfreiwillig aus der kapitalistischen Reproduktion herausfallen und eben zu schauen haben, wo sie bleiben. Für Hardt/Negri stellt sich das Verhältnis jedoch genau umgekehrt dar. Exodus ist für sie ein „Sich-Entziehen, in dem die Arbeitskraft ihre potenzielle Autonomie aktualisiert“ (Hardt/Negri 2009: 166). Eins darf wohl mutmaßen, dass dieser „Auszug der Nomaden“ aus Ägypten bzw. dem Kapitalverhältnis ins „gelobte Land“ der Autonomie ungefähr so autonom ist wie die von Hardt/Negri angeführte Arbeit von FlugbegleiterInnen und Angestellten in Mac-Jobs.
Die beiden Autoren gehen aber in ihrer Positivierung, ja eigentlichen Glorifizierung moderner Prekarität noch weiter und landen bei einem richtiggehenden Ästhetizismus der Armut. Nicht nur eignen sich die beiden Universitätsprofessoren die Parole „We are the poors!“ (vgl. Hardt/Negri 2004: 121) an, sie meinen auch, dass die Armen „Teil der gesellschaftlichen und biopolitischen Produktionszyklen sind“ (Hardt/Negri 2005: 150) seien. Diese leben nicht nur zu großem Teil in den Ländern mit der größten Biodiversität, sie seien auch die originellsten SprachgebraucherInnen, so Hardt/Negri, was sie insgesamt „in vielerlei Hinsicht ausgesprochen reich und produktiv“ (Hardt/Negri 2004: 152) mache; schade nur, dass man Sprache nicht essen und Biodiversität nur in begrenztem Maß in eine Attraktion verwandeln und sodann mit einem Lächeln verkaufen kann. Und da das „Leben“ selbst, und sei es in den Elendsregionen des modernen Kapitalismus, bereits als absolutes Positivum, als übersprudelndes Etwas aus Sprache, Biodiversität und unmittelbaren sozialen Beziehungen definiert worden ist, kann eins auch zu folgendem Fazit gelangen: „Die Armen verkörpern die ontologische Bedingung nicht nur des Widerstands, sondern zugleich der Produktion des Lebens selbst“ (Hardt/Negri 2004: 153, Hervorhebung i. O.). Dementsprechend haben Flüchtlinge auch zuerst einmal „subversive Wünsche“ und „[d]ie Erfahrung der Flucht ist eine Art Schule für den Wunsch nach Freiheit“ (Hardt/Negri 2004: 154), so wie insgesamt aus dem „Inferno der Armut“ (Hardt/Negri 2004: 158) und der „Odyssee der Migration (…) schemenhaft die Gestalt der Multitude“ (Hardt/Negri 2004: 158f.) erkenntlich wird.
Konfrontiert mit dieser Chuzpe ist eins zuallererst einmal sprachlos. Der „Wille zur Positivierung“ macht auch vor Flüchtlingen und Armen nicht halt, sie haben in einem Fall zumindest Sprache und große Naturvielfalt, im anderen ein ganz praktisches „Training“ in „Freiheitsdrang“ erfahren, auch wenn dieses beinhalten kann, auf dem Weg in die Wohlstandsinseln der Welt elendiglich zu krepieren. Nun kann die Multitude aber nicht nur aus Armen mit Sprach- und Kräuterkompetenz, Flüchtlingen mit gestähltem Freiheitsdrang, RechtsberaterInnen und BurgerwenderInnen bestehen und so spricht Negri, seinem Drang zur Positivierung entsprechend, auch vom „common desire for love, equality and solidarity“ (Negri 2010: 165), das uns allen eingeschrieben sein soll. Dieses Verlangen immunisiert die Multitude scheinbar auch gegen jegliche Form von ideologischer Versuchung, denn das Empire versucht zwar, perfide wie es ist, „die verschiedenen Mächte des Nationalismus und Fundamentalismus zu organisieren und zu orchestrieren“, aber Hardt/Negri wissen in Stellvertretung der Multitude zu antworten: „All diese Unterdrückungsmaßnahmen bleiben (…) der Menge und ihren Bewegungen äußerlich“ (Hardt/Negri 2003: 405, Hervorhebung i.O.), sie steht also weiterhin unbefleckt für das (ontologisch) Gute18, das sich in einem unverbrüchlichen „will to affirmation“ (Negri 2010: 162) äußert.
Vordergründig zielt diese Affirmation natürlich auf das Gemeinsame, das im dritten Buch der Empire-Reihe genauer entfaltet wird. Doch auch in diesem selbst finden sich vielsagende Äquivokationen, die die ganze Konstruktion als fraglich erscheinen lassen. Michael Hardt gibt eine Übersicht über all das, was in seiner und Negris Theorie als gemeinsam gelten kann:
„On the one hand the common names the earth and all the resources associated with it: the land, the forests, the water, the air, the minerals, and so forth. This is closely related to the seventeenth century English usage of ‚the commons‘ (with an ’s‘). On the other hand, the common also refers (…) to the results of human labour and creativity, such as ideas, language, affects and so forth“ (Hardt 2010: 136)
Das Gemeinsame ist also in einem moralphilosophischem Argument, das an frühbürgerliche Philosophien à la John Locke erinnert, das ganze Erdenrund mit all seinen Gütern, die dem Menschen quasi (von Gotteshand oder sonstwem) gemeinsam gegeben worden sind, es bezeichnet aber auch spezifischer die Früchte menschlicher Arbeit und Kreativität, wobei unter letztere alles fällt, was wir bisher als biopolitische Produktion kennengelernt haben. Das Gemeinsame hat ferner auch nichts mit dem Privaten und Öffentlichen zu tun, es existiert „auf einer anderen Ebene“ als beide und ist, wie könnte es anders sein, „völlig autonom gegenüber beiden“ (Hardt/Negri 2009: 293).
Mit so einem breiten Begriff des Gemeinsamen, der so gut wie alles einbegreift, lässt sich aber kaum arbeiten, darum schränken ihn Hardt/Negri auch noch in spezifischer Art und Weise weiter ein. Sie definieren das Gemeinsame als „Produktivkraft ebenso wie als Form, in der Reichtum produziert wird“ (Hardt/Negri 2009: 291). Untergründig ist das Gemeinsame, wohl als Idee, Sprache, Affekte etc., also nicht nur die treibende Produktivkraft heutiger Produktion, sondern auch deren Form. Beide Punkte bedürften eigentlich umfassender Argumentation, werden von Hardt/Negri aber einfach so gesetzt und das aus gutem Grund: Das Gemeinsame ist ja nicht nur die gesamte Welt mit all ihren Reichtümern, es ist auch die biopolitische Arbeit, welche selbst wiederum das frei kooperierende und nach Emanzipation strebende Subjekt ist. Wir befinden uns also auch beim Gemeinsamen – wie gehabt – in der Sphäre des unantastbar (und unbegreiflich) Guten, sodass die Waren- und Wertförmigkeit der Produkte und die destruktive Dynamik der materiellen Produktivkräfte erneut nur als willkürliches Kommando von außen erscheinen können. So kann es ebensogut sein, dass „die Natur einfach nur ein anderes Wort für das Gemeinsame“ (Hardt/Negri 2009: 185) ist, genauso wie das „Finanzkapital im Wesentlichen eine elaborierte Maschine“ ist, „die das Gemeinsame repräsentiert“ (Hardt/Negri 2009: 171, Hervorhebung i.O.). Und zwar dadurch, dass es „die Beziehungen und Netzwerke darstellt, die für die Produktion einer spezifischen Ware, einen Bereich von Waren oder irgendeine andere Art von Gut oder Phänomen notwendig sind“ (Hardt/Negri 2009: 171). Man spürt hier der beiden Autoren Zögern, ganz das Gemeinsame kann es nicht sein, das Finanzkapital, da es aber „Beziehungen und Netzwerke“ darstellt, und die immer schon gut sind und das Gemeinsame sowieso irgendwie überall ist, muss auch das Finanzkapital es wohl, so die widersprüchliche Verlegenheitslösung, irgendwie „repräsentieren“19.
Was uns zur unmittelbaren Metamorphose des „Gemeinsamen“ in das ontologisch Gute noch fehlt, ist die Verknüpfung desselben mit der Subjektivität. Es lässt sich vermuten, dass das Gemeinsame wohl auch Subjektivität ist und Subjektivität das (aufgehobene) Gemeinsame (oder so…). Bezugnehmend auf Marx sagt Hardt in diesem Zusammenhang, dass „the ultimate object of capitalist production (…) not commodities but social relations or forms of life“ ist, insbesondere natürlich im Rahmen der fortschreitenden biopolitischen Produktion, welche selbst als „human production of humanity, social relations and forms of life – all in the context of the common“ (Hardt 2010: 142) angesehen werden kann. Hier schließt sich der Kreis mit dem ambigen Begriff der „sozialen Beziehungen“ wieder, der an dieser Stelle sogar mit dem noch schwammigeren der „Lebensform“ („forms of life“) ergänzt wird – und heraus kommt das „Gemeinsame“ als die unmittelbare „human production of humanity“, also als das altbekannte ontologisch Gute. Wir sind folglich an einem Nullpunkt angelangt, an dem sich die grundlegenden Kategorien von Hardt/Negri im Kreis drehen. Eine kleine Zusammenschau scheint deshalb hier angebracht.
Das Grundproblem in der Theorie von Hardt/Negri ist, dass sie von einem ontologisch Guten, einem ontologischen Substrat ausgehen, das sie äußerst vage als kulturelle und soziale Reproduktion definieren. Dieses Gute und eigentlich auch Unbefleckte ist in allen Aspekten ihrer Theorie vorhanden und produziert die verschiedensten Äquivokationen in den zentralen theoretischen Begrifflichkeiten. Irgendwie hockt das Empire, die gesamte Herrschaftlichkeit moderner Gesellschaften, die sie schwerlich abstreiten können, zwar doch auf den Bestimmungen, diese sind aber gleichzeitig immer auch autonom und frei von diesen Determinationen zu denken. Dadurch entsteht eine gewisse Spannung und Willkürlichkeit innerhalb der Theorie, die als solche nicht aufgelöst werden kann. Die grundlegende Motivation hinter dieser Konstruktion scheint mir ein unverdauter Traditionalismus zu sein – nach dem Ende von Realsozialismus und Traditionsmarxismus gilt es, umso verbissener am vorherbestimmten revolutionären Subjekt festzuhalten und dessen positive Dialektik kommt damit gleich frei Haus. Daraus erklärt sich auch der andauernde Hang zur positiven Subjektivierung aller gesamtgesellschaftlichen Kategorien und Determinationen. Das ontologisch Gute ist nicht nur da in der biopolitischen Produktion, es ist ebenso gegeben im, ja eigentlich gleichbedeutend mit dem neuen-alten revolutionären Subjekt, mit der ominösen Multitude. Das absolut Positive lässt sich dadurch allzeit und überall betonen, was in der Empire-Trilogie, wenn es um konkretere Bestimmungen geht, z.B. zu einer Glorifizierung prekärer Arbeitsformen und einer Ästhetisierung von Armut führt. Gleichzeitig kann mit dieser Figur auch das Gemeinsame, eigentlich auch nur ein anderes Wort für die biopolitische Produktion und das Subjekt, in der gesamten Natur, wie auch im Finanzkapital oder im Geld wiedergefunden werden. Kurzum, das „Gute“ drängt dazu, alle kategorialen (und kritischen) Unterscheidungen und Bestimmungen durchzustreichen und sich in all seinem Glanz an deren Stelle zu setzen. Aus Gesellschaftskritik wird so tendenziell ein hymnischer Singsang auf das produktive und „autonome“ Leben der Menge, das unaufhaltsam auf die Emanzipation zudrängt und das vom „Parasit“ oder „Vampir“ Kapital mehr schlecht als recht in willkürliche Grenzen gebannt werden kann.
Ein solches theoretisches Gepräge kann sich kaum marxistisch nennen, ohne die grundlegenden kritischen Kategorien Marxens fundamental zu verbiegen. Hardt und Negri bauen dabei auf einem spezifischen traditionellen Marxverständnis auf, das von den verdinglichten Grundkategorien des Kapitals, etwa Wert und abstrakte Arbeit, nichts wissen will, dafür aber umso mehr die Klassenbasis des Kapitalismus betont. So meint Negri etwa mit Referenz auf den Marx der Deutschen Ideologiein einem teleologisch gefärbten Argument: „[T]he meaning of the history of class struggle is communism (…). It is a case of being inside this movement“ (Negri 2010: 155, Hervorhebung i. O.). Kapital wird in einer simplen Vorstellung, in der sich letztendlich alleinig die Klassen feindlich gegenüberstehen und in der es für die ArbeiterInnen mit dem Kommunismus nur ein Ziel gibt, zu einer einfachen „relation of power“ (Negri 2010: 155, Hervorhebung i.O.) im traditionellen Sinne. Produktion ist damit grundsätzlich als Kampf zwischen Klassen bestimmt, der womöglich durch verschiedenste Zirkulationsideologien, darunter auch der Fetisch, verschleiert werden mag, aber doch die zentrale Konfliktachse des Kapitalismus abgibt. Elementare Kategorien von Marx, die den fetischistischen und verdinglichten Charakter des Kapitalismus beschreiben sollen und in der Sphäre der Produktion angesiedelt sind, hängen damit aber in der Luft und werden der Tendenz nach subjektiviert. Dies wird schon klar an Negris Definition von historischem Materialismus. Er meint, dieser sei auch ein „immanentism of subjectivity“ (Negri 2010: 159), wobei das „auch“ eigentlich auch weggelassen werden kann. Worum es in gut operaistischer Manier geht, ist die Subjektivität der ArbeiterInnen und später der Multitude zum Dreh- und Angelpunkt von Analyse und Kritik zu machen. Der Marxismus dreht sich auf diese Art und Weise nur mehr um den Kampf als einfacher Macht- und Herrschaftsbeziehung zwischen Proletariat und Bourgeoisie bzw. Empire und Multitude und was dessen Ausgang anbelangt, ist Negri, wie wir gesehen haben, ja durchaus zuversichtlich gestimmt20.
Ist das Kapitalverhältnis erst einmal als einfache Ausbeutungsbeziehung definiert, ist es allgemein nicht mehr weit zu einer „neue[n] politische[n] Werttheorie“ (Hardt/Negri 2003: 43), die sich auf Kampf oder eben „biopolitische“ Kooperation gründet. Marx hätte zu einer solchen Bestimmung nicht vordringen können, so Hardt/Negri, da seine Theorie alleiniglich eine des Wertmaßes sei und er sich damit in „die metaphysische Tradition des Abendlandes“ eingereiht hätte, die „das Unermessliche, das Maßlose stets verabscheut“ (Hardt/Negri 2003: 363) haben soll. Ein kurzer Blick in die Wertformanalyse des ersten Bands des Kapitals enthüllt natürlich sofort, dass es Marx nicht nur um das Wertmaß ging, das Wertmaß und die dazugehörige Geldfunktion hatte die traditionelle politische Ökonomie schon mehr oder minder bestimmt, sondern eben auch um Wertsubstanz und Wertform, an deren Bestimmung die Tradition eben gescheitert war. Um das zu verstehen, bedarf es aber eines Verständnisses des fundamentalen Doppelcharakters der Arbeit im Kapitalismus, dessen Bestimmung Marx immerhin als sein eigenes Verdienst und als „Springpunkt für das Verständnis der politischen Ökonomie“ (Marx 2005, MEW 23: 56) bezeichnet hat. Hardt/Negri können aber zu keinem historisch-spezifischen Begriff von (abstrakter) Arbeit kommen, zu sehr hängt noch der Schatten der traditionellen Bestimmungen über ihnen und zu sehr wähnen sie sich gleichzeitig schon „’jenseits des Maßes’“ in der Welt des „produktive[n] Exzess[es]“ (Hardt/Negri 2003: 365). Dafür versichern sie uns, dass „Wert und Gerechtigkeit auch in einer unermesslichen Welt bestehen und fortbestehen können“ (Hardt/Negri 2003: 364). Das hat nun mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie nichts mehr zu tun, diese enthält sich zum größten Teil moralisierender Bestimmungen, ist aber eine „schöne“ ideologische Rückversicherung für diejenigen, die sich zwar mit der guten Multitude und ihrem fortlaufenden „Exzess“ anfreunden können, nicht aber mit einer Welt jenseits von Wert und Arbeit. Ihrem ontologischen und vitalistisch-produktivistischem Verständnis von Arbeit gemäß, ist abstrakte Arbeit für Hardt/Negri auch einfach der „Repräsentant dessen, was Arbeit in verschiedenen Berufen oder Tätigkeiten gemeinsam ist“, sodass sie „die Arbeiterklasse zu denken erlaubt“ (Hardt/Negri 2009: 173). Wir können wohl annehmen, dass die so verewigte abstrakte Arbeit das „Gemeinsame“ ebenso repräsentiert, wie es das Geld oder das Finanzkapital tun und selbst im Kommunismus werden die Arbeiten wohl noch dasselbe gemeinsam haben, das ihnen schon heute gemeinsam ist, nimmt eins Hardt/Negris Theorie des „Gemeinsamen“ und ihren ontologischen Begriff von abstrakter Arbeit ernst.
Haben wir die „metaphysische“ Welt des Messbaren aber erst einmal verlassen, erwartet uns eine ungeahnte allseitige Produktivität, eine „Unermesslichkeit von Zeit und Wert (…)“(Hardt/Negri 2003: 409). Denn „auf dem Feld biopolitischer Produktion gibt es keine Stechuhren; das Proletariat produziert in seiner Gesamtheit überall den ganzen Tag lang“ (Hardt/Negri 2003: 409). Somit wird auch der Wert zu einer rein positiven Kategorie, die völlig vom „Gemeinsamen“ aufgesogen ist, was Hardt/Negri auch genau so sagen:
„Eine Theorie über das Verhältnis von Wert und Arbeit muss unter den gegenwärtigen Bedingungen vom Gemeinsamen ausgehen. Das Gemeinsame steht am Anfang und am Ende der immateriellen Produktion, taucht als ihre Voraussetzung wie als ihr Ergebnis auf“ (Hardt/Negri 2004: 168
Das „Gemeinsame“ ist einmal mehr Resultat und Voraussetzung der gesamten Geschichte und es ist nicht nur unmittelbar eins mit dem Subjekt und dem Unermesslichen, es ist als solches auch der Wert, der nur mehr im Plural der positiven (und moralischen) Werte auftreten kann. Nicht mehr abstrakte Arbeit ist die gesellschaftlich paradoxe Substanz des Kapitals, die es durch ihre Selbstbezüglichkeit zu einem fundamental negativen Verhältnis macht, sondern das genaue Gegenteil davon ist nun der Fall: „Only freedom creates value“ (Negri 2008: 176). Der Wert ist die Freiheit.
Hat sich dieser Furor der Positivierung erstmal der Grundkategorien bemächtigt, ist nur klar, dass andere folgen müssen. Die Produktivkräfte sind heutzutage „vollkommen biopolitisch“ (Hardt/Negri 2003: 372), was ihre kapitalistische Destruktivität vergessen macht, genauso ist der „general intellect“, den Marx in den Grundrissen noch im Rahmen der fundamentalen Krisenproblematik des Kapitalismus besprochen hatte, ein reines Positivum, das im Internet und der immateriellen Produktion ganz allgemein zu sich kommt. Überhaupt, und darauf will diese Verbiegung der marxschen Kategorie ja hinaus, ist „die kapitalistische Akkumulation (…) dem Produktionsprozess heute vollkommen äußerlich“ (Hardt/Negri 2009: 151) und war es, so lässt sich hinzufügen, für Hardt/Negri immer schon, zumindest der Tendenz nach. Auch kommt die bereits benannte positive Dialektik hier zum wiederholten Male zum Vorschein. Denn diese völlige Äußerlichkeit kommt einer reellen Subsumption der Gesellschaft unter das Kapital gleich:
„Mit der reellen Subsumption der Gesellschaft unter das Kapital können sich die sozialen Gegensätze in jedem Augenblick und in jedem Bereich kommunikativer Produktion und Zirkulation als Konflikte entladen“ (Hardt/Negri 2003: 392)
Die reelle Subsumption der gesamten Gesellschaft unter das Kapital ist für Hardt/Negri kein Ding der Unmöglichkeit und als Versuch Anzeichen für einen Krisenprozess, sondern eben gleichbedeutend mit den ersten Schritten zur Emanzipation selbst. Der Niedergang des Empires hat, wie wir wissen, „immer schon eingesetzt“, wobei „jede Linie von Widerspruch in Richtung Ereignis und Singularität führt“ (Hardt/Negri 2003: 393). Hardt/Negris Wille zur Positivierung macht also auch vor den marxschen Kategorien nicht halt und aus der Kritik der politischen Ökonomie wird so eine politisch-philosophische Theorie des überschießenden Lebens, die in ihrer Ausdehnung des Begriffs der Produktivität bedeutungsgleich ist mit dessen absoluter Subjektivierung, was an der Behandlung der Kategorie des Werts besonders gut abgelesen werden kann.
Eine solche Theorie, die das (voluntaristische) Ereignis zelebriert und von Singularitäten spricht, ist natürlich das genaue Gegenteil einer umfassenden negativen Dialektik der modernen Gesellschaft. Hardt/Negri schreiben ihrer Neudefinition des Werts als Freiheit und „Gemeinsames“ deshalb auch eine „anti-dialektische Rolle“ (Hardt/Negri 2003: 367) zu, denn Dialektik ist für sie gleichbedeutend mit der „Macht der Subsumption“ (Hardt/Negri 2003: 384) und eine solche „Subsumption“ wiederum würde das ontologisch Gute, sei es nun der Wert, das Subjekt oder die biopolitische Produktion, verunreinigen, was mit aller Kraft vermieden werden muss. Das menschliche Leben in seinem Exzess und Drang nach Emanzipation, so geht diese Lebensphilosophie, ist immanent, Wert und Maß im traditionellen Verständnis aber sind „transzendentale Bestimmungen“ (Hardt/Negri 2003: 362) und somit wohl dem Subsumptionsdrang der Dialektik zuzuordnen. Interessant ist hier, welche Begriffe Hardt/Negri der Transzendentalität und Dialektik entgegensetzen:
„Lebendige Arbeit überschreitet, wenn sie, wie beispielsweise kognitive oder intellektuelle Arbeit, immaterielle Güter produziert, immer schon bestimmte, ihr gesetzte Grenzen; sie bringt Begehren hervor, das sich nicht verzehrt, und Lebensformen, die akkumulieren. (…) Der Eintritt der Phänomenologie der Körper in die marxistische Theorie, der damit beginnt, die Ideologie des Rechts und jede Art transzendentaler Vermittlung oder dialektischer Beziehung zurückzuweisen, bedarf politischer Organisierung (…)“ (Hardt/Negri 2009: 40)
Arbeit ist hier nicht nur exzessiv, sie produziert auch Begehren, ein weiterer Begriff aus dem Instrumentarium von Deleuze/Guattari (der eigentlich aus der psychoanalytischen Theorie von Jacques Lacan stammt), das sich ebensowenig in Schranken weisen lässt. Ihre eigene Position bezeichnen Hardt/Negri hier als „Phänomenologie des Körpers“, was gut zu ihrem (latenten) Produktivismus und Vitalismus passt. Die Körper stehen hier gegen jegliche Form von Vermittlung oder „subsumptiver“ Dialektik, also gegen jegliche Bestimmung der Materie jenseits des angenommenen, unumstößlichen Guten. Die Körper symbolisieren also nicht mehr das Naturmoment im Menschen, das ihn nicht in der „zweiten Natur“ der Gesellschaftlichkeit aufgehen lässt, nicht mehr einen somatischen Stachel in jeder Form der kapitalistischen Identitätslogik, sie sind ein positiver Gegenentwurf zu jeder Art des Denkens in komplexen und widersprüchlichen Zusammenhängen. Eigentlich denken Hardt/Negri, wie die gesamte poststrukturalistische Philosophie, sich gegen starres Identitätsdenken zu wehren. Ihrer „Dekonstruktion“ der überzogenen Ansprüche moderner identitär-ideologischer Kategorien steht aber keine Rekonstruktion gegenüber, die den kausalen Nexus zwischen Identitätslogik und kapitalistischer Vergesellschaftung offenlegt, vielmehr argumentieren sie, wie wir gesehen haben, selbst von einem oberflächlich immanenten („Körper“), selbst aber im schlechten Sinne äußerlichen Standpunkt, der den schlechtfaktisch negativ-dialektischen Kategorien der Moderne einfach das ontologisch Gute entgegensetzt, im Falle der Identitätslogik die „Phänomenologie der Körper“. Eine „Phänomenologie der Körper“, argumentieren sie mit Maurice Merleau-Ponty in gehabter Manier, impliziere eine „grundlegendere Beziehung zur Alterität“ (Hardt/Negri 2009: 44) und in dieser finde „sich immer schon das Bestreben, das Gemeinsame aufzubauen“ (Hardt/Negri 2009: 44f).
Hardt/Negri ist es allgemein ein großes Anliegen, „immanent“ zu argumentieren, also jenseits dessen, was sie „transzendentale Vermittlungen“ und „dialektische Subsumptionen“ nennen. Sie führen aus:
„Immanenz ist dadurch definiert, dass dem Handeln der Menge in seinen Fluchtlinien jegliche äußere Beschränkung fehlt und dass Immanenz in ihren positiven wie negative Auswirkungen einzig an die Gesetze der Möglichkeit gebunden ist, denen sie ihre Entstehung und Entwicklung zu verdanken hat“ (Hardt/Negri 2003: 380)
Von den negativen Auswirkungen der Immanenz hören wir hier zum ersten Mal und sie werden auch nicht weiter ausgeführt. Zentral ist, dass die beiden Autoren von einem Handeln der Menge sprechen, das keine äußere Beschränkung kennt, außer schwammige „Gesetze der Möglichkeit“. Die Multitude ist auch philosophisch frei, das zu tun, was ihr von Anfang an zugedacht war: mit dem parasitären Kapital im Namen des „Gemeinsamen“ Schluss zu machen.
Dieses „immanente“ Unterfangen verlangt natürlich die Umdefinition bzw. Auswechslung zentraler philosophischer Begriffe. Einer dieser neuen Begriffe, auf den wir schon gestoßen sind, ist derjenige der Singularität. Die Singularität ist Hardt/Negris Gegenbegriff zur Identität – „mit einer langen Geschichte im europäischen Denken, die von Duns Scotus und Spinoza bis zu Nietzsche und Deleuze reicht“ (Hardt/Negri 2009: 345). Eine beeindruckende Ahnengalerie, fürwahr, in der man jedoch kaum eine selbsternannte marxistische Theorie erwarten würde. Eine Singularität im Sinne von Hardt/Negri definiert sich durch drei Merkmale: sie bezieht sich, erstens, immer auf eine außerhalb ihrer selbst liegende Vielfalt, ohne die sie nicht existieren kann; sie ist, zweitens, in sich selbst eine Mannigfaltigkeit von „Trennlinien“ (Hardt/Negri 2009: 346) und drittens ist sie einem beständigen Prozess der Veränderung unterworfen, was sich aus den ersten beiden Merkmalen von selbst ergibt; als Begriff schließlich konstituiert die Singularität „das Gemeinsame als ein Feld von Vielheiten“ (Hardt/Negri 2009: 346).Wie diese Singularitäten, die in jedem Moment dabei sind, ihr Singuläres zu verändern, sich ins Gemeinsame einfügen oder dieses als „Feld von Vielheiten“ begründen können sollen, bleibt das Geheimnis von Hardt/Negri. Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass bei aller Verbundenheit eine quasi-monadische „prästabilierte Harmonie“ (Gottfried Wilhelm Leibniz) zwischen ihnen besteht. Alles, was Hardt/Negri uns dazu wissen lassen, ist, dass es eben so ist. Sie dekretieren in der ersten Person Plural: „[W]ir sind eine Vielzahl singulärer Lebensformen und zugleich teilen wir eine gemeinsame globale Tendenz. Die Anthropologie der Multitude ist eine von Singularität und Kommunalität“ (Hardt/Negri 2004: 147, Hervorhebung i.O.).
Auch hier können wir wieder sehen, wie Hardt/Negri dem kapitalistisch-regressiven Identitätsbegriff entkommen wollen, nur um das Problem qua Supponierung eines einseitig Guten bzw. einer hier einfachen Harmonie zu eskamotieren. Der starren Identität, die ebenso starre Differenz bedingt, wird in bekannter Manier der abstrakte Prozess und die Einzigartigkeit entgegengehalten, der Dialektik von Identität und Nichtidentität im Kapitalismus, mit der sich etwa Adorno in der Negativen Dialektik abgemüht hat, ist eins damit allerdings keinen Schritt näher gekommen. Was diese hardt-negrische Form der Prozess- und Differenzontologiejedoch von Nietzsche und anderen unterscheidet, ist ihre Vermischung mit traditionsmarxistischen Elementen (siehe Klassenemphase und positive Dialektik) und ihre Emphase von Produktivität und Potenzialität in einer Form, die nicht so sehr an den Marxismus erinnert, obwohl dieser natürlich auch seinen „fair share“ an Produktivismus und Arbeitsfetisch hatte, denn an Deleuze und andere PoststrukturalistInnen. Bei Hardt/Negri heißt es in einer weiteren deklamatorischen Definition: „Wir menschliche Wesen sind zutiefst allgemeine Möglichkeit oder allgemeines produktives Vermögen“ (Hardt/Negri 2004: 173) und, wir erinnern uns, diese unsere Produktivität, die unsere Potenzialität bei Hardt/Negri erschöpfen dürfte, produziert bei aller Einzigartigkeit doch nichts anderes als immerfort das „Gemeinsame“. Wir haben es also nicht nur mit einer Prozess- und Differenzontologie zu tun, sondern einer solchen, die auf den Menschen zentriert ist und ihn philosophisch zu nichts Anderem macht als einem permanenten Produzenten des „Gemeinsamen“. Dieser Produktivismus, der sich durch leichte Begriffsveränderung auch als anthropozentrischer Vitalismus geben kann (siehe die Äquivokation zwischen biopolitischer Arbeit und Subjektivität), ist natürlich selbst gleichbedeutend mit Hardt/Negris Stipulierung eines einfachen Positiven, dieses ist als das „Gemeinsame“ quasi das „handfeste“ Produkt von jenem. Von daher erklärt sich auch die andauernde Emphase des Tuns der Menge gegenüber dem Sein und all dem, was Hardt/Negri nur als „identitäre Erstarrungen“ ohne echte „Substanz“ auffassen können – Strukturen, Institutionen, Staaten etc.. Sie treten jedenfalls für „ein Verschieben des Fokus von der Erkenntnis zum Tun“ (Hardt/Negri 2009: 136) ein, und auch vom „Wissen zum Tun“ (Hardt/Negri 2009: 134), womit nichts gelöst ist, kritisch-theoretische Reflexion aber, die womöglich das „Schlechte“ im Guten hervorkehren würde, abgewürgt wäre.
Damit wäre dieser Durchgang durch die essentiellen Kategorien der Philosophie von Hardt/Negri beinahe abgeschlossen. Was noch fehlt ist der letzte Showdown zwischen Gutem und Bösem, Generation und Korruption bzw. Liebe und Korruption in Hardt/Negris Worten. Das „summum bonum“, das Hardt/Negri durch die drei Bände der Trilogie hindurch verteidigen, ist schlussendlich nichts Anderes als die Liebe und eines ihrer philosophischen Hauptziele in Commonwealthist es, einen „politischen Begriff von Liebe“ (Hardt/Negri 2009: 14) zu entwickeln. Um es kurz zu machen: Liebe ist „ein biopolitisches Ereignis, planvoll und gemeinsam herbeigeführt“, genauso wie „Subjekt hervorzubringen“ Liebe ist – und Hardt/Negri denken hier nicht an die Geburt eines Kindes – , in summa: „Das Sein wird durch Liebe konstituiert“ (Hardt/Negri 2009: 193). Wenn alles Liebe ist, dann ist es die privilegierte Multitude natürlich in besonderem Maße und so wird Emanzipation zu einem „Projekt der Liebe“ (Hardt/Negri 2003: 420). Und deren Ziel? – „Was fehlt, ist Liebe“ (Hardt/Negri 2009: 192)21. Der philosophische Vertreter des Empire, die Korruption, kann bei dieser geballten Kraft der Liebe natürlich nur blöde daneben stehen und allenfalls reaktiv handeln, so wie wir es bereits beim Empire gesehen haben. Zur Illustration:
„Korruption, das Gegenteil von Begehren, ist kein ontologischer Antrieb, sondern bedeutet schlicht, dass den biopolitischen Praktiken des Seins die ontologische Begründung fehlt“ (Hardt/Negri 2003: 396)
Ontologisch und damit ontologischer Antrieb ist nur das sich verschieden darstellende Gute bzw. auf dieser Ebene der philosophischen Grundbegriffe die Liebe, alles andere fällt der „unmittelbare[n] Erkenntnis“ anheim, „dass es an Sein mangelt“ (Hardt/Negri 2003: 396).
Wir sehen uns hier der gleichen Problematik „auf philosophisch“ gegenüber, die wir zuvor schon anhand des Verhältnisses von Empire und Multitude aufgedröselt haben: das unbefleckt Gute ist jetzt die Liebe und das Subjekt, die Singularität und das Ganze erscheinen nun darüberhinaus eingebettet in eine allgemeine Prozess- und Differenzontologie, die dem ganzen postoperaistischen Unternehmen von Anfang an als Fundament galt, quasi als Abstoßungspunkt von der traditionelleren Philosophie und vom traditionsmarxistischen Operaismus. Diese Ontologie selbst wird aber vom anthropologischen Produktivismus von Hardt/Negri zusammengehalten und eben von der Liebe bzw. vom Guten, oder fallweise dem menschlichen Leben, der biopolitischen Produktion oder einfach dem „Gemeinsamen“, regiert. Innerhalb dieses Gepräges kommt es so zu einer eigenwillig verengten Immanenzemphase, die sich direkt gegen die Dialektik richtet und alle kritischen und negativen Bestimmungen hintertreibt.
Somit wird auch klar, wieso die Theorie der Biopolitik von Hardt/Negri im Vergleich zu den anderen diskutierten Autoren als überaffirmativ bezeichnet werden muss. So defizitär die einzelnen Behandlungen moderner Biopolitik derselben sind und so wenig sie es vermochten, ihre Theoreme gesellschaftstheoretisch zu verorten, keiner von ihnen hat Biopolitik, in völliger Absehung des von Foucault aufgezeigten Zusammenhangs, einfach vollends positiv gesetzt. Das Paradox, vor dem wir stehen, ist also, dass ein Ansatz, der sich selbst als marxistisch begreift, jede Kritik an der modernen Biopolitik verunmöglicht. Die Erklärung dieses Sachverhalts verlangt nach deutlicher Abgrenzung und rechtfertigt, denke ich, den zum Teil schärferen und polemischeren Ton dieses Abschnitts. Was Hardt/Negri uns hier als neuesten – postoperaistischen – Schrei des Marxismus verkaufen wollen, ist nichts weiter als die Argumentationslogik des alten Traditionsmarxismus, angereichert mit zweifelhaften poststrukturalistischen Theoremen und Philosophemen. Hardt/Negri scheitern deshalb, genauso wie die anderen besprochenen Theoretiker, an einer umfassenden Bestimmung moderner Biopolitik und sie scheitern nicht zum Mindesten wegen dieser postmarxistischen Grundlagen, die die Ambivalenzen und Spannungen des Traditionsmarxismus falsch herum, hin zu völliger Kontingenz, auflösen.
Schlussbemerkung
Mit Hardt/Negri haben wir, was den Begriff der Biopolitik angeht, ein dead end erreicht. Bei allem phänomenologisch interessanten Material, das sich auch in ihrer Trilogie wiederfinden lässt, ist dem Begriff der Biopolitik ebenda jeder kritische Stachel gezogen. Ging Foucault noch von einem Zusammenhang von Bio- und Disziplinarmacht in der Moderne aus, also etwas abstrakter gesprochen von einem historisch-relationalen und negativen Verständnis von Biopolitik, das zumindest teilweise anschlussfähig war für eine umfassende Konzeptualisierung derselben als genuin kapitalistischer Unterwerfung des menschlichen (Gattungs-)Lebens, ist dieser Zusammenhang in den späteren, hier diskutierten Theorien (Agamben, Esposito) bereits abgeflacht, um in einer Theorie, die sich selbst als marxistisch bezeichnet, ins absolut Positive gewendet zu werden und damit gänzlich verloren zu gehen. Foucault lozierte die Biopolitik im Rahmen seiner Kontextualisierung außerdem noch innerhalb einer „Genealogie des modernen Staates“ und konnte folglich einen Zusammenhang herstellen zwischen dem Aufkommen von biopolitischen Praxen und einem genuin modernen nationalstaatlichen Sicherheits- und Territorialdispositiv, was für ihn auch eine enge Verwobenheit von moderner Biopolitik und Rassismus implizierte. Schließlich fanden all diese Analyse ihre Verankerung im Begriff der (liberalen) Gouvermentalität als Form einer spezifisch modernen „Regierungstechnologie“ und „Vernunft“. Der Begriff der Gouvermentalität bedarf wohl weiterer Analyse, im Foucaultschen Paradigma und darüberhinaus in rezenten theoretischen Auseinandersetzungen etwa um Fragen des Neoliberalismus, wo er im Anschluss an foucaultsche Analysen immer wieder auftaucht, Foucault selbst jedoch hat fraglos als erster ein theoretisches Verständnis und historisch-empirisches Analyseraster moderner Biopolitik entwickelt, an welchen sich alle nachfolgenden Theorien zu messen haben. Agamben und Espositio tun dies jeweils auf ihre eigene Art und Weise und betonen dabei das Moment der Souveränität, das bei Foucault tendenziell unterbelichtet bleibt. Agamben gelingt es dabei, Widersprüche der modernen Rechtsform und deren Ideologie in den Blick zu nehmen und Esposito weiß die inneren Widersprüche (früh-)moderner politischer Theorie zu skizzieren, auch wenn beide Autoren, wie eingehend dargelegt, die Komplexität von Foucaults Analysen ansonsten nicht erreichen und in ihren rein „philosophischen“ Theorien hinter seine Erkenntnisse in den Zusammenhang der modernen Biopolitik zurückfallen.
Woran alle genannten Theoretiker, inklusive Hardt/Negri mit ihrer (post-)marxistischen Theorie, jedoch scheitern, ist das Phänomen der Biopolitik in einen weiteren gesellschaftstheoretischen und sodann auch gesellschaftskritischen Rahmen einzubetten. Die jeweils zugrunde liegende philosophisch-theoretische Problematik der Autoren, deren fundamentales Realitäts- und Gegenstandsverständnis, ist als reales Erkenntnishindernis für eine solche integrale Perspektive anzusehen. Diese theoretische Grundlage kann in einem von Autor zu Autor genauer zu konkretisierenden Sinne als postmarxistisch und poststrukturalistisch bzw. allgemein postmodern bezeichnet werden22. Grob zusammengefasst ließe sich sagen, dass dieses Gegenstandsverständnis sich in unterschiedlich ausdifferenzierten Formen auf eine gewisse Prozess- und Differenzontologie gründet, die oftmals explizit oder implizit auf die Philosophie Nietzsches zurückgeht (siehe Foucaults „Kräfteverhältnisse“) und sich späterhin zumeist mit einem linguistisch-semiotischen Verständnis von Sprache angereichert hat (siehe die Ontologien von Agamben und Esposito), das grundsätzlich auf Ferdinand De Saussures strukturaler Linguistik und deren unklarem Bezug zur außersprachlichen Realität fußt (und allgemein durch den französischen Strukturalismus hindurch gegangen ist). In diesem Gepräge, egal ob nun durch Sprache oder erkenntnistheoretische Operationen bedingt, ergibt sich dadurch eine durchgängige Tendenz zur Rücknahme des „Realobjekts“ in ein wie auch immer gedachtes „Gedankenobjekt“, sodass die ganze Analyse immer wieder in seichten, sich selbst negierenden Relativismus umzukippen droht oder zumindest in einem widersprüchlichen Zwielicht verbleiben muss, was den Status ihrer eigenen zentralen Kategorien angeht. Einher gehen diese fundamentalen Bestimmungen mit anderen, wenn eins so will, „konkreteren Ausflüssen“ bzw. Amalgamierungen dieser Ontologie, die mit der Grundproblematik jeweils vermittelt sind und sich von Autor zu Autorin verschieden gestalten können; zu nennen sind hier: Konzeptualismus und Etymologismus, Produktivismus und Vitalismus, Aktualismus und Punktualismus (Emphase des unbegreiflichen „Ereignisses“) und die eine oder andere Form des Politizismus, wenn es um Emanzipation selbst geht – alle diese ideologischen Emanationen auf Basis der poststrukturalistsich-postmodernen Grundproblematik sind uns in der einen oder anderen Form in den Theorien der hier diskutierten Autoren begegnet.
Die jeweiligen fundamentalen Ontologien, die sich genauer besehen als abstrakt-theoretische Ideologien erweisen, stehen in einem bestimmten Widerspruchsverhältnis zu konkreteren Bestimmungen, der sich jede Gesellschaftstheorie bedienen muss, oder gar empirischen Analysen, was diese Theorien als ganzes zu „compromise formation[s]“ (Bhaskar 2008: 395, siehe ganz allgemein zu diesem Begriff Bhaskar 2008: 66-67) stempelt, deren Umrisse wir anhand der einzelnen Autoren nachverfolgt haben. Innerhalb der Ideologiekritik würde ich deshalb von einem spezifischen Genre der Theoriekritik sprechen wollen, das sich theoretischen Ideologien, wie sie etwa in vielen wissenschaftlich-akademischen Denksystemen vorliegen, en detail widmet. Neben dem Nachweis der historischen Bedingtheit und ganz bestimmten Verfangenheit in den Verhältnissen, quasi als Merkmal einer jeden Ideologie, gilt es, theoretischen Ideologien, da sie mit einem umfassenden Erklärungsanspruch auftreten, eben auch abstrakt innertheoretisch, Ebene für Ebene, Widersprüchlichkeiten nachzuweisen, beginnend (bzw. endend) bei deren grundlegendem Gegenstandsverständnis. Dabei ergibt sich, abstrakt gesprochen, ein Feld möglicher theoretischer Operationen innerhalb der Problematiken, die allesamt die gegebene Widersprüchlichkeit der „compromise formation“ nicht abschütteln können, ja häufig in gewissem Sinne als „unzulängliche Antworten“ auf die sich intern ergebenden Widersprüche selbst verstanden werden müssen. Einige dieser Operationen, die uns im Verlauf dieses Textes begegnet sind, seien hier genannt: die einfache Negation einer Kategorie auf demselben theoretischen Terrain, also ohne den eigentlichen Gegensatz als ideologischen benennen zu können und mittels eines anderen Verständnisses auszuhebeln (bzw. aufzuheben) – diese Form der theoretischen Abgrenzung bzw. Frontstellung ist uns bei der einfache Negation der traditionellen Metaphysik in poststrukturalistischen Theorien begegnet (oder bei Hardt/Negris „Negation“ des Traditionsmarxismus); das (oft darauf folgende) typisch polarische Changieren zwischen Extremen, das sich in beinah allen ideologischen Begriffen findet und das ohne einen weiteren (dialektischen) Begründungszusammenhang im Regelfall darauf verweist, dass sich, uneingestanden, der jeweils andere Pol des Widerspruchs geltend macht – auch das ist uns in den besprochenen Autoren zuhauf begegnet, Foucaults Machtbegriff ist hier ein bekanntes wie anschauliches Beispiel; oder schlichte begriffliche Äquivokationen, die ebenfalls auf Widersprüchlichkeiten im theoretischen Gepräge verweisen und oft zum genannten Changieren führen – gut zu sehen etwa an Hardt/Negris begrifflichen Pirouetten, die schlussendlich noch jede Bestimmung hinterrücks in die sprudelnde Kraft der Multitude bzw. des Lebens verwandeln. Das ist keine allumfassende Auflistung der möglichen theoretisch-ideologischen Operationen innerhalb der vorliegenden ideologischen Problematik, aber damit dürfte, so hoffe ich doch, das hier betriebene „Herumreiten“ auf den grundsätzlich-philosophischen Bestimmungen der einzelnen Theorien etwas begreiflicher werden. Diese machen eben einen Unterschied, bei theoretischen Ideologien in ganz besonderem Maße, und bedürfen der eingehenden Kritik.
Übergreifende Gesellschaftstheorie und Gesellschaftskritik wird durch diese Positionen, die Kleinteiliges bevorteilen, tendenziell verunmöglicht, ja es ist diesen Theorien, zumindest was die grundlegenden Problematik anbelangt, unmöglich, zu einem Verständnis des Kapitalismus als konkreter Totalität zu gelangen, davon legen besonders Hardt/Negri, aber nicht nur sie, Zeugnis ab. Heutzutage, in Zeiten der fundamentalen globalen Krise des Kapitalismus mit all ihren zerstörerischen Auswirkungen auf Mensch und Natur, wäre indes umgekehrt ein solch kritisch-dialektisches Gegenstandsverständnis des Kapitalismus zu schärfen, gerade auch in der Kritik an denjenigen modernen theoretischen Ideologien, die sich über die letzten Jahrzehnte hin in der Linken breit gemacht haben. Nur so ließe sich die Überwindung moderner Biopolitik und die mit ihr notwendig verbundene des Kapitalismus überhaupt ins Auge fassen.
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1 Ich danke Ruud van de Meerakker, der mich dazu angehalten hat, meine kursorische Kritik an Foucault und dem Poststrukturalismus im Allgemeinen genauer auszuarbeiten. Ohne seine kontinuierlichen Einwände wäre es nie zu dieser genaueren Auseinandersetzung und in deren Folge zum vorliegenden Artikel gekommen.
2 Dazu Nietzsche im Wortlaut: „[D]as Leben ist nicht Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der von innen immer mehr ‚Äußeres‘ sich unterwirft und einverleibt“ (Nietzsche 1980a: 295)
3 Siehe dazu auch das folgende Zitat aus Überwachen und Strafen, das nochmals den inneren Zusammenhang von modernem Nutzenkalkül, Produktivität und Unterwerfung als (gewollter) Gefügigkeit in der Disziplinarmacht betont: „Der historische Augenblick der Disziplinen ist der Augenblick, in dem eine Kunst des menschlichen Körpers das Licht der Welt erblickt, die nicht nur die Vermehrung seiner Fähigkeiten und auch nicht bloß die Vertiefung seiner Unterwerfung im Auge hat, sondern die Schaffung eines Verhältnisses, das in einem einzigen Mechanismus den Körper umso gefügiger macht, je nützlicher er ist, und umgekehrt“ (Foucault 1994: 176)
4 Gouvermentalität als Praxis der Führung der Menschen ist ein Paradigma, das für Foucault bis in die Antike und insbesondere bis zum Frühchristentum zurückverfolgt werden kann. Das bedeutet natürlich nicht, dass die moderne liberale Gouvermentalität einfach eine Fortführung dieser Logik wäre, wie Foucaults beeindruckende historische Analysen beweisen. Die Frage nach der Regierung und der Selbstführung der Individuen – nach der „“Führung von Individuen mittels ihrer eigenen Wahrhaftigkeit” (Foucault 2005a: 204) – bringt Foucault Anfang der 1980er-Jahre dazu den Focus seiner Forschungen von der “Analytik der Macht” auf die “Ethik des Subjekts” zu verschieben. Aus dieser Perspektive sind auch die weniger beachteten Bände II und III von Sexualität und Wahrheit, Der Gebrauch der Lüste (vgl. Foucault 1989b) und Die Sorge um sich (vgl. Foucault 1989c) geschrieben.
5 Siehe zu diesem Punkt auch Gilles Deleuze, den anderen großen Nietzscheaner der französischen Linken, in seinem Buch über Foucault: „Das allgemeine Prinzip Foucaults lautet: jede Form ist eine Verbindung von Kräfteverhältnissen. In Anbetracht der Kräfte wird man sich also zunächst fragen, mit welchen Kräften des Draußen sie in Beziehung treten, hernach, welche Form sich von dort her ableitet“ (Deleuze 1992: 175). Und der „Hexenmeister“ selbst zu Leben, Kampf und Kräfteverhältnissen: „Leben wäre zu definieren als dauernde Form vom Prozeß der Kräftefeststellungen, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen“ (Nietzsche 1980b: 560, Hervorhebung i.O.). Deleuze ist übrigens auch derjenige, der versucht hat, das ambige Erbe Nietzsches links zu appropriieren, jedoch selbst grundsätzlich auf dem Boden der nietzeanischen Ontologie stehend (vgl. Deleuze 2008). Ohne hierfür im Detail argumentieren zu können, würde ich meinen, dass dieser Versuch als Großprojekt zum Scheitern verurteilt ist. Eine teilweise Aneignung nietzscheanischer Gedanken kann nur von einer fundamental anderen theoretisch-philosophischen Grundposition – einer kritisch-dialektischen – aus geschehen.
6 Foucault selbst war zu Beginn der 1950er-Jahre Mitglied der Parti communiste français (PCF) und Louis Althusser war in vielerlei Hinsicht sein Mentor. Beiden Denkern ist ein gewisses Interesse, eine gewisse Nähe zur französichen „historischen Epistemologie“ (épistémologie historique) von Gaston Bachelard und Georges Canguilhem (vgl. überblicksmäßig Canguilhem 1979) und dem Strukturalismus eigen, die sich bei Foucault in seiner archäologischen Phase noch viel expliziter zeigt, aber auch in seinen späteren Analysen noch fassbar ist. In dem von Althusser etwa durch seinen Szientismus, der gleichzeitig ein Politizismus war, und seinen Ideologiebegiff vorgefertigten Weg standen grob zwei Möglichkeiten offen für kritische Intellektuelle, die mit der sich wissenschaftlich gebenden, aber eigentlich durch und durch stalinistischen Theorie und der reformistischen Praxis der damaligen PCF unzufrieden waren: der Maoismus oder der Postmarxismus. Letzteren Weg beschritt Foucault mit Hilfe von Nietzsche, ersteren viele andere SchülerInnen von Althusser. Siehe dazu z.B. die folgende Erinnerung von Jacques Rancière, einem der bekanntesten Schüler von Althusser, der auch an dessen Re-Lektüre des Kapitals in der Mitte der 1960er-Jahre maßgeblich beteiligt war: „Let us remember, for instance, how my generation moved from the Althusserian assertion of the power of science unveiling the inescapable illusions of the agents of production, to the Maoist enthusianism for the re-education of the intellectuals by the workers and work factory (…)“ (Rancière 2010: 172). Foucault selbst spricht bei der Verortung seines eigenen postmarxistischen Projekts etwas undeutlich von einem gewissen „’Marxeffekt’“ (Foucault 2005b: 76), von dem es sich zu befreien gelte. Dieser, eigentlich ein „poststalinistischer Stalinismus“ (Foucault 2005c: 84), zeichnet sich laut Foucault dadurch aus, dass er „aus dem marxistischen Diskurs alles ausschloss, was nicht Wiederholung des bereits Gesagten war“, wodurch es unmöglich wurde, „sich noch nicht erschlossenen Bereichen“ (Foucault 2005c: 84) wie etwa der Psychatrie oder der Medizin zuzuwenden. Zum allgemeinen intellektuellen Klima in Frankreich vor und insbesondere nach dem Mai 1968 und dem Einfluss der PCF siehe auch Althusser 1992: 176-191.
7 Siehe z.B. auch in welch ambigen Begriffen, die quasi nach einer dialektischen Vermittlung schreien, Foucault die „Entstehung jener asymetrischen Zweipoligkeit der Politik und Ökonomie“ (Foucault 2006b: 39) beschreibt: „Die Politik und die Ökonomie, die weder existierende Dinge sind noch Irrtümer noch Illusionen noch Ideologien. Sie sind etwas Nichtexistierendes und doch etwas, das an der Wirklichkeit teilhat, das aus der Herrschaft der Wahrheit hervorgeht, die das Wahre vom Falschen unterscheidet“ (Foucault 2006b: 39).
8 JustIn Monday diskutiert im zitierten Text einige der philosophischen Grundlagen Foucaults in ähnlicher Art und Weise wie ich es hier tue und kommt so zu der Formulierung „Rücknahme des Objekts in die Methode“, der ich mich dem eigentlichen Inhalt nach nur anschließen kann. Konzeptuell halte ich sie aber nicht für sonderlich gelungen, da Foucault das (Real-)Objekt nicht einfach in die Methode zurücknimmt – über Foucaults reale Methode des wissenschaftlichen Arbeitens, über seine Aneignung des historischen Materials und dessen Übersetzung in theoretisch relevante Begriffe und Kategorien ist sehr wenig bekannt. Hinter dieser Operation steht vielmehr eine raffinierte Ontologie und Epistemologie, die spezielle Operationen nahelegt (einfache Umkehrung ins Gegenteil, Tendenz zur Annulierung des Realobjekts etc.). Wovon in dieser Hinsicht besser gesprochen werden sollte, ist eine Tendenz der Rücknahme des Objekts in die Epistemologie, wobei diese Rücknahme selbst vom nietzscheanischen Gegenstandsverständnis, von dieser epistemologisch definierten Ontologie begünstigt wird.
9 Diese Aufwertung von marginalen Wissen, die im Innersten der Foucaultschen Theorie verankert ist und an der auch ein Großteil seiner politischen Praxis orientiert war (z.B. sein Auftreten gegen das französische Gefängnissystem), macht ihn interessant für Standpunktepistemologien verschiedenster Coleur (postkolonial, feministisch, queer). Denn Foucault will „lokale, unzusammenhängende, disqualifizierte, nicht legitimierte Wissen“ gegenüber der „theoretischen Einheitsinstanz“ (Foucault 2001: 23) von Wahrheit und Wissenschaft aufwerten und es sind ja gerade die Wissen und Erfahrungsschätze von Frauen, sexuellen und ethnischen Minderheiten etc., die in wissenschaftlichen Diskursen oftmals strukturell ignoriert werden. In diesem Sinne kann die Foucaultsche Perspektive, die den engen Zusammenhang von Macht, Wissen und Herrschaft betont, sicherlich hilfreich bei den Emanzipationsbemühungen dieser Gruppen sein, gerade deshalb, da sie über eine einfache Wissens- und Wissenschaftssoziologie hinausgeht. Das philosophische Grundgerüst, das viele Standpunktepistemologien mit Foucault teilen oder von ihm übernehmen (siehe für einen Überblick Singer 2005), ist im Endeffekt aber für diese Emanzipationsbemühungen hinderlich, da es, wie argumentiert, dazu tendiert, Wahrheit jenseits von Macht zu negieren und verunmöglicht, großflächigere Zusammenhänge in den Blick zu bekommen.
10 Agamben ist sich bewusst, dass Adorno in den Minima Moralia, aber auch in der Negativen Dialektik, als einer der ersten auf diese „Degradation des Todes“ in den Vernichtungslagern der Nazis und anderswo hingewiesen hat (vgl. Agamben 2003: 63). Ohne hier ins Detail gehen zu können, sind die Grundlagen und Perspektiven von Adorno und Agamben aber dennoch grundverschieden. Adorno spricht, etwa im Aphorismus „Abdeckerei“ aus den Minima Moralia (vgl. Adorno 2003: 263-266), über die „Aufnahme der biologischen Zerstörung in den bewußten gesellschaftlichen Willen“, die zur Zeit des Nationalsozialismus als „Musterung Lebender als Toter, dann die Massenproduktion und Verbilligung des Todes“ (Adorno 2003: 266) zum Vorschein kam. Adorno versucht, ganz anders als Agamben, eine umfassende gesellschaftliche Entwicklung zu beschreiben, die von Momenten der Kulturindustrie bis zu den nazistischen Vernichtungslagern reicht und deren Ursprung er in den Metamorphosen des Kapitalismus, im Ende der „ökonomisch entsprungenen Autonomie“ (Adorno 2003: 264) sieht. Agamben ist, wie wir noch sehen werden, aufgrund seiner philosophisch-theoretischen Grundlagen zu einer solch umfassenden Perspektive nicht fähig.
11 Nochmals in Agambens wohl kaum verständlicherer Phrasierung: „In analoger Weise [zum Gesetz, G.G.] hält auch die Sprache den Menschen in ihrem Bann, weil er als Sprechender immer schon in etwas eingetreten ist, ohne sich dessen bewusst werden zu können. Alles was man der Sprache vorausschickt (in Form von Nichtsprachlichem, Unaussprechlichem etc.) ist nichts weiter als etwas von der Sprache Vorausgesetztes, das mit der Sprache gerade dadurch die Beziehung aufrecht erhält, daß es daraus ausgeschlossen wird“ (Agamben 2002: 61).
12 Erst vor diesem Hintergrund lässt sich Agambens Theorie des Zeugnisses verstehen, die er im Band 3 der Homo-Sacer-Reihe, der den hochtönenden Titel Was von Ausschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (vgl. Agamben 2003) trägt, entwickelt. Seiner sprachlichen Definition der Realität und der Logik der Ausnahme entsprechend, ist der Akt des Bezeugens für Agamben eigentlich unmöglich, denn „[d]as Subjekt des Zeugnisses ist konstitutiv gespalten, hat keinen anderen Bestand als in dieser Kluft und Verbindungslosigkeit (…)“ (Agamben 2003: 131), in die wir durch die Sprache „geworfen“ sind. Zeugnis muss aber gleichzeitig für den „Muselmann“ abgelegt werden, der selbst nicht mehr die Grauen der Vernichtungslager bezeugen kann, ein Verhältnis, das die allgemeine Struktur der Sprache in Agambens Theorie wiederum nur spiegelt. Was der Mensch ist, kann hier nur der „Nicht-Mensch“ (Agamben 2003: 117), also der Muselmann als „Ausnahme“ angeben, er selbst wurde aber endgültig zum Schweigen gebracht. In diese theoretische Konstruktion injiziert Agamben sodann seinen Begriff des (metaphysischen und messianischen) Rests. Die sprachliche Entsubjektivierung der Einzelnen habe kein Ziel, lässt er wissen, aber doch eine Art messianischen Rest. Die Sprache schaffe „eine irreduzible Kluft, in der jeder Terminus den Platz des Rests einnehmen, Zeugnis ablegen kann“ (Agamben 2003: 139). Was in diesem Verhältnis, und was – siehe den Titel – von Auschwitz bleibt, ist die Erkenntnis, dass „die Identität von Mensch und Nicht-Mensch niemals vollständig ist, daß es nicht möglich ist, das Menschliche vollständig zu zerstören, daß ein Rest übrigbleibt. Dieser Rest ist der Zeuge“ (Agamben 2003: 117, Hervorhebung i. O.). Dass für diese metaphysische „Theorie“ des messianischen Rests des Zeugnisses Auschwitz und die „Muselmannen“ herhalten mussten, ist ein gewaltiges Ärgernis, aber diese Konzeptualisierung des Zeugnisses passt gut in Agambens allgemeinen Theoriezusammenhang. Diese Form der Anlehnung an den Messianismus, die in Agamben Hand in Hand geht mit einem allgemeinen Interesse an der Metaphysik – er sieht, als guter „Philosoph“, Metaphysik und Politik untrennbar miteinander verbunden, denn „[a]n der Grenze des reinen Seins angekommen, geht die Metaphysik (das Denken) in Politik (in Wirklichkeit) über“ (Agamben 2002:191) – , veranlasst einige KritikerInnen, zuvörderst Ernesto Laclau (vgl. Laclau 2007), dazu, von einem (Benjaminschen) Mystizismus bei Agamben zu sprechen, insbesondere da Agamben viele seiner zentralen Begriffe in Auseinandersetzung mit dem Messianismus Benjaminscher Prägung entwickelt. Obwohl es wichtig wäre, diese weitere untergründige Komponente von Agambens Denken und ihre Relation zum Denken von Walter Benjamin genauer zu untersuchen, denke ich, dass sie seiner fundamentalen sprachlichen Definition der Realität untergeordnet ist, ja als bestimmte Folge dieser angesehen werden kann.
13 Nach diesem „Schnelldurchlauf“ durch die bürgerlichen Kategorien von Freiheit, Souveränität und Eigentum sei nochmals an die bereits erwähnten höhnischen Kommentare Marxens über das „Eden der angebornen Menschenrechte“, wo Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham herrschen sollen, erinnert: „Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. (…) Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den andren kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilierten Harmonie der Dinge oder unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzens, des Gesamtinteresses“ (Marx 2005: 189f.). Esposito dem Ansinnen nach nicht unähnlich, will Marx hier die Widersprüche dieser bürgerlichen Karidinalskategorien, die er in dieser Ausformung als Zirkulationsideologien entlarvt, sichtbar machen. Die Gesamtperspektive beider Autoren ist, wie sich noch zeigen wird, dennoch äußerst unterschiedlich. Marx betrieb kurzum nicht (politische) Philosophie, sondern gedachte, eine umfassende Kritik des Kapitalismus vorzulegen; sein Metier war die Gesellschaftskritik. Dementsprechend finden sich fundamental unterschiedliche Gegenstandsverständnisse und Formen von Kausalnexus bei Marx und Esposito.
14 Esposito spricht selbst einmal von der „negative dialectic“ (Esposito 2006:36) derjenigen Kategorien, denen seine Analyse gilt. Weiters heißt es an einer anderen Stelle desselben Textes, „that a negative implication with its contrary (…) indicates that the concept of immunization presupposes what it also negates. Not only does it appear to be derived logically, but also it appears to be inhabited by its opposite“ (Esposito 2006: 28). Esposito benennt hier zentrale Elemente einer negativen Dialektik, die, formaler gesprochen, immer auf Formen der sogenannten strikten Antinomie aufbaut. Siehe dazu Knoll/Ritsert 2006 und Ritsert 2008.
15 „What predominates in the munus is, in other words, reciprocity or ‚mutuality‘ (…) of giving that assigns the one to the other in an obligation“ (Esposito 2009: 5, Hervorhebung i. O.).
16 Nietzsche schreibt bekanntlich gegen das, was er in Zur Genealogie der Moral (vgl. Nietzsche 1980c) als „Verkleinerung des Menschen“ (Nietzsche 1980c: GM 5.278) im modernen Zeitalter bezeichnet, an. Dagegen setzt er ein vitalistisches Verständnis von Natur und Mensch als „Wille zur Macht“, als fortlaufende und niemals zu einem Ende kommende Überwindung von Schranken, die zumindest einer Handvoll Menschen, einigen Philosophen und anderen mit starkem Willen, nicht aber Frauen und ArbeiterInnen, auf dem Rücken der anderen gegönnt sein soll. Espositos „Spinozian juridical naturalism“ ist nicht unmittelbar eins mit dieser nietzeanischen Position, hat in seiner Emphase des überschießenden Lebens tout court aber eine offene Flanke hin zu repressiveren Formen der Ethik oder Moral des „Lebens“.
17 In den Worten von Hardt/Negri: „Alle Formen sind gesellschaftlich produktiv, sie produzieren gemeinsam; und ebenso gemeinsam ist ihnen das Potenzial, der Herrschaft des Kapitals zu widerstehen“ (Hardt/Negri 2004: 125)
18 Hier sei auch noch in Kürze erwähnt, was Hardt/Negri zu Faschismus und Nationalsozialismus zu sagen haben. Nicht nur haben Faschismus und Nationalsozialismus, indem sie die „Menschen in solch monströser Weise auf das Minimum des nackten Lebens reduzierten“, es nicht zustande gebracht, „die enorme Macht, zu der das nackte Leben werden kann, zu zerstören und die Form, in der die neuen Mächte produktiver Kooperation der Menge akkumuliert sind auszulöschen“, beide können darüberhinaus nur als Reaktionen „auf soziale Kooperation“, die „nicht mehr Folge von Kapitalinvestionen war, sondern autonome Macht“ (Hardt/Negri 2003: 374), angesehen werden. Zwar steht diese Bestimmung des Autonomwerdens der Arbeit vor der Zeit des Heraufkommens von Faschismus und Nationalsozialismus im Widerspruch mit der anderweitigen Datierung dieser Entkopplung auf das Ende des Fordismus, irgendwie ist man aber auch froh, dass Hardt/Negri sich nicht weiter über das nackte Leben, die produktive Kooperation und die autonome Macht außerhalb und speziell in den Lagern und womöglich auch an der Front auslassen. Diese Stellen zeigen auch nochmals, wie Hardt/Negri eigentlich mit einem ontologischen Begriff von Arbeit und insbesondere von autonomer Arbeit hantieren, der es ihnen erlaubt, die Kontrolle des Kapitals zu jeder gewünschten Zeit als rein oberflächliches Kommando darzustellen. Natürlich muss eine solche „zwangspositivierte“ Perspektive auch dem Antisemitismus als kollektivem sozialpsychologischem Massenphänomen völlig verständnislos gegenüberstehen.
19 Dazu verraten Hardt/Negri weiter: „Die Abstraktionsmacht des Finanzkapitals ist schwindelerregend, mathematische Modelle rücken hier in den Mittelpunkt. Die Abstraktion selbst ist allerdings nur möglich aufgrund des gesellschaftlichen Charakters des Reichtums, der hier repräsentiert wird. (…) Anders gesagt: Die Macht der Abstraktion beruht auf dem Gemeinsamen und mystifiziert es zugleich“ (Hardt/Negri 2009: 171). Dieselbe Argumentation ließe sich auch auf das Geld anwenden, diesen größten aller Abstraktoren. Das entgeht auch Hardt/Negri nicht, womit eine revolutionäre Aufgabe der Multitude am Horizont erscheint. Sie argumentieren darob, wenn auch etwas vorsichtiger als bei anderen Elogen, „dass Bestrebungen, sich das Geld auf diese Weise wieder anzueignen, die Richtung weisen, wie revolutionäre Aktivität heute aussehen könnte“ (Hardt/Negri 2009: 305)
20 Der Operaismus geht in dieser grundsätzlichen Bestimmung seiner traditionellen Momente natürlich nicht auf. Als „immanentism of subjectivity“, der die autonome Handlungsfähigkeit und Widerständigkeit der ArbeiterInnen hochhält, ist ihm auch eine grundlegende Ablehnung der Parteiform und des Staates historisch eigen. Negri kann deshalb im gleichen Text unzweideutig sagen: „Being communist means being against the State“ (Negri 2010: 158, Hervorhebung i. O.), was selbst als Reaktion auf gewisse traditionsmarxistische Theorie- und Praxisformen, wie sie etwa im Leninismus vorliegen, aufgefasst werden kann. Nimmt eins den von Perry Anderson geprägten, ungenauen Begriff des „westlichen Marxismus“ heran, so ließe sich sagen, dass der traditionelle Operaismus einen Teil desselben darstellt, jedoch selbst noch auf traditionellem Fundament. Er ist eine traditionelle Kritik des Traditionsmarxismus, die sich auf die Autonomie der ArbeiterInnen gründet, ohne das Primat des Arbeiterklassenstandpunkts in der theoretischen Analyse selbst zu hinterfragen. Der Postoperaismus wechselt die Begriffe aus und begibt sich philosophisch partiell auf anderes Terrain, ist in vielen seiner grundsätzlichen Bestimmungen aber ebenso noch im Traditionsmarxismus verhaftet. Siehe zu diesen widersprüchlichen Entwicklungen des Marxismus und zu Operaismus und Postoperaismus im Speziellen auch Flatschart 2008.
21 Hardt und Negri beziehen sich in ihrer „politischen Theorie der Liebe“ auf den Hl. Franz von Assisi wie auf Deleuze/Guattari. Emanzipation durch Liebe bedeutet damit nicht nur „die armen ausgebeuteten Menschen (…) gegen den Willen der Macht und die Korruption“ zu vereinen und eben „politisch“ zu lieben, sondern auch „alles Sein und die gesamte Natur, die Tiere, Schwester Mond, Bruder Sonne, die Vögel auf dem Felde“ (Hardt/Negri 2003: 420). In ihrer Emphase des Tuns gegenüber dem Wissen haben Hardt/Negri mit Deleuze/Guattari auch eine Praxisform der Liebe gefunden, die für „die Produktion einer Subjektivität“ einsteht und die „die biopolitische Ökonomie beseelt“ (Hardt/Negri 2009: 201), die „Wespen-Orchideen-Liebe“ (Hardt/Negri 2009: 200). Die Multitude hat also „liebreizenden“ Zuwachs erhalten, sie besteht nicht nur aus uns allen Menschlein, aber im Speziellen aus Flüchtlingen, Armen in den Elendsregionen der Welt, RechtsanwaltsgehilfInnen und PommesbraterInnen, sondern nun reihen sich auch noch (Genosse?) Tier, Schwester Mond, Bruder Sonne (hier scheint es ein kleines gender trouble zu geben), ja die gesamte Natur und alles Sein ein, allesamt vereint in der „Wespen-Orchideen-Liebe“. Und da soll noch jemand sagen, Hardt/Negri wären in „ihrem kommunistischen Manifest unserer Zeit“, so der Klappentext von Empire, nicht originell.
22 Generell wichtige Autoren in diesem Zusammenhang, im Übergang von einem orthodox verstandenen Marxismus zu einem postmarxistischen bzw. poststrukuralistisch-postmodernen Gegenstandsverständnis, wobei beide Stränge, Postmarxismus und Poststrukturalismus, nochmals gesondert zu diskutieren wären, sind Louis Althusser (vgl. z.B. Althusser 2005) und Ferdinand de Saussure (vgl. De Saussure 2001). Althusser steht tendenziell für diesen Übergang innerhalb des Marxismus und stellt somit das Bindeglied zu bestimmten Formen des Postmarxismus dar und De Saussure ist als Begründer der strukturalistischen Linguistik ein zentraler, oft aber nur mehr impliziter Referenzpunkt in vielen poststrukturalistischen Theorien. Eine genauere Erläuterung der „Problematiken“ dieser beiden Autoren, ein Begriff der übrigens selbst von Althusser stammt, muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.

