Kleine Geschichte des wertkritischen Theoriebildungsprozesses, Teile 1 und 2

Kleine Geschichte des wertkritischen Theoriebildungsprozesses von seinen Anfängen im Jahre 1986 bis heute. Von der Zeitschrift „Marxistische Kritik“ über die Gruppe „Krisis“ bis zu seinem neuesten Ausgang, dem Projekt „Exit

Im „verflixten“ siebten Jahr des „wertkritischen“ Theorieprojekts, das sich ab März 1986 zunächst mittels der Zeitschrift für revolutionäre Theorie und Politik „Marxistische Kritik“ (MK) in 7 Ausgaben artikulierte und dann ab der Nr. 8/9 im Jahre 1990 um die Krisis – Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft gruppierte, erschien Ende 1992 (übrigens erstmals im Horlemann-Verlag, der seit damals die Herausgabe einer wertkritischen Zeitschrift betreute und jetzt auch die neue wertabspaltungskritische Zeitschrift Exit! begleitet) die Nummer 12 der Krisis mit dem Schwerpunkt-Thema „Geschlechterverhältnisse in der Warengesellschaft“. In dieser Ausgabe der Krisis wird auch die „geschlossene Männerveranstaltung“ der Redaktion mit dem von Roswitha Scholz kritisch an die Krisis herangetragenen „Abspaltungstheorem“ konfrontiert. Ihre Thesen zu Wertvergesellschaftung und Geschlechterverhältnis in dem Artikel „Der Wert ist der Mann“, hauptsächlich sekundiert von Robert Kurz in seinem Aufriss „Geschlechtsfetischismus – Anmerkungen zur Logik von Weiblichkeit und Männlichkeit“, stellte ohne Zweifel eine Zäsur in der Geschichte des wertkritischen Theorieansatzes, das Umstoßen einer weiteren „Selbstverständlichkeit“ des bürgerlichen, auch bürgerlich-marxistischen Denkansatzes dar.

Die Redaktion der „Krisis“ nahm diesen Einschnitt und Aufbruch in neue theoretische Gefilde zum Anlass, in dem Editorial jener Krisis-Ausgabe einen Rückblick auf ihren Werdegang bis dahin zu geben. Ein Resumée, das den Ausgangspunkt des folgenden historischen Streifzuges bildet, der anhand wichtiger Auszüge der Editorials der genannten Zeitschriften, wichtiger Artikel und anderer Publikationen den Weg des nunmehr schon 18jährigen Projekts eines „fundamental wertkritischen“ Blicks auf die kapitalistische Welt nachzeichnet. Den Entwicklungsprozess einer radikalen Kritik der Totalität, Krise und Überlebtheit dieser wirklich „unwirklichen“
Gesellschaftsverhältnisse, der Notwendigkeit des Bruchs mit diesen und neuer Perspektiven der Emanzipation, die jenseits bisheriger revolutionärer Erfahrungen und Politiken angesiedelt sind.

Machen wir uns auf die Reise. Die farbig hervorgehobenen Originaltexte geben die Orientierung (Hervorhebungen und Überschriften/Zwischenüberschriften sind vom Verfasser neu hinzugefügt). Die Verweise bzw. online-links zu den wichtigsten Texten ermöglichen die eingehende, vertiefende Beschäftigung mit den Themen und den theoretischen Schwerpunkten. Die jeweiligen Autoren sind rot markiert schnell auszumachen.

Das ganze ist in fünf Abschnitte, mit grün unterlegten Überschriften eingeleitet,
gegliedert:

  • 1986 – 1992: Eine Entwicklung in der „Dialektik von Kontinuität und Bruch“
  • 1993 -1999: Im Spannungsfeld von theoretischer Aufarbeitung und Vermittlung zu gesellschaftlicher Praxis
  • Das Jahr 1999 – ein Jahr ohne „Krisis“, aber wegweisender Publikationen
  • 2000 – 2003: An der Aufklärungskritik und dem neuen Weltordnungskrieg scheiden sich die Geister“ –
  • 2004: Der „Coup“ und die Spaltung der KrisisAusblick: Mit „Exit“ geht’s weiter

1986 – 1992: Eine Entwicklung in der „Dialektik von Kontinuität
und Bruch“

„Ein Bändchen von Rossana Rossanda aus den siebziger Jahren trägt (zumindest in der
deutschen Übersetzung) den schönen Titel „Dialektik
von Kontinuität und Bruch“
. Damit ließe sich auch die Entwicklung
der KRISIS ganz gut überschreiben. Mit der Ausarbeitung, dem Weitertreiben und
Präzisieren des theoretischen Ansatzes hat sich dieser auch gründlich
verändert. Da die KRISIS von 1992 an vom Horlemann-Verlag
betreut wird und neue Leser zu erwarten sind, nehmen wir dies zum Anlass, ein
wenig auf die Irrungen und Wirrungen der letzten sieben Jahre in unserer
theoretischen Sub-Existenz zurückzublicken. Natürlich nicht mit der Illusion,
eine auf Anhieb verständliche Darstellung geben zu können. Aber doch in der
stillen Hoffnung, dass alte und junge Neuankömmlinge neugierig gemacht werden
auf jene seltsamen Vögel von „Marxisten, die schon keine mehr sind“.

Als in der
vormaligen „
Marxistischen Kritik Nr. 1 anno 1986 der Aufsatz „Die
Krise des Tauschwerts“
erschien,
war uns durchaus klar; dass dieser Beitrag eine grundsätzliche Wendung gegen den Hauptstrom aller
bisherigen marxistischen Theoriebildung implizierte
.
Allerdings ahnten
wir nicht einmal annähernd, was das in der Folge alles zu bedeuten hatte. Die
manchen Oberen vielleicht etwas anmaßend klingende „fundamentale
Wertkritik“ war geboren, die werte Elternschaft lernte aber erst nach der
Geburt, was für ein Gör sie da in die Welt gesetzt hatte.

Der in vielerlei
Hinsicht für unsere Entwicklung bahnbrechende Aufsatz
„Die
Krise des Tauschwerts“
etwa operierte – vollkommen naiv von unserem heutigen
Standpunkt aus gesehen – mit einem positiven Bezug auf den guten alten Klassenkampf
und unterstellte noch ganz brav-traditionell die Arbeiterklasse als
revolutionäres Subjekt. Kritik der
Warengesellschaft (Wertkritik) und Klassenkampfdenken koexistierten
hier noch friedlich
.
Wo aber die Keimzelle der bürgerlichen
Gesellschaft, die Ware, zum zentralen Kritikgegenstand wird, kann der stolze
Besitzer der Ware Arbeitskraft auf Dauer seinen Heiligenschein nicht behalten.
Drei Jahre später wurde in dem für unseren damaligen Stand zentralen Beitrag
„Der
Klassenkampffetisch“
(MK 7) die Konsequenz gezogen und jener so genannte
„Klassenstandpunkt“, der zuvor noch als stille Voraussetzung gegolten
hatte, zum expliziten Kritikgegenstand gemacht. Damit sahen wir uns plötzlich
genauso weit vom nur noch folkloristisch strammen Arbeiterbewegungs-Marxismus
entfernt wie die neuen „Realisten“ – bloß in der genau entgegengesetzten Richtung.

Die Hinwendung
zur Fetischismuskritik erzwang aber nicht nur den Bruch mit der Affirmation der
„Arbeiterklasse“, sie warf weitergehend das soziologistische
Denken überhaupt über den Haufen
.
Wenn der gesellschaftliche
Zusammenhang der Menschen sich paradoxerweise zu etwas Dinglichem verkehrt und
objektiviert, das den Individuen und ihrem Tun immer schon vorausgesetzt ist,
dann lässt sich Wirklichkeit nicht länger in letzter Instanz aus dem bloßen
Wechselspiel sozialer (Groß)subjekte erklären (vgl.
„Brüderchen und
Schwesterchen“
Krisis 11).
Der Blick richtet sich vielmehr auf die
Konstitutionsbedingungen von Subjektivität, während die vertraute Dichotomie
von blind hingenommener gesellschaftlicher Objektivität (Warenform) und
handelnden Subjekten obsolet wird (vgl
. „Das Ende des Proletariats als Anfang der
Revolution“
und „Die vergebliche
Suche nach dem unverdinglichten Rest“

Krisis
10).

Freilich konnte eine
ernst genommene Kritik der Warengesellschaft, die nicht bei der vagen
Überschrift stehen bleibt, sich keineswegs auf die Kritik des kruden „Soziologismus“ beschränken. Das Lieblings-Tummelfeld
der linken Aktivisten, „die Politik“, und ihr Lieblingsziel,
„die (wahre) Demokratie“, mussten ebenso in ihrer fetischistischen
Konstitution beleuchtet werden. Schon die Aufsätze von Peter Klein über
„Demokratie und
alte Arbeiterbewegung“
(MK 3-6) beginnen, in der
Auseinandersetzung mit Lenin, mit einer energischen Absetzbewegung vom linken Politizismus. Einige Jahre später haben sich die dort erstmals
publizierten Gedanken zu einer Kritik
der politischen Form
überhaupt und ihrer Grundkategorien („Freier
Wille“ und „Gleichheit) ausgewachsen Demokratendämmerung“ –
Krisis 11). Wo die Ebene des Abstrakt-Allgemeinen (Staat, Politik)
ins Blickfeld gerät, zieht die „Wertkritik“ die Kritik der Demokratie
nach sich.

Gleichzeitig musste
die Auseinandersetzung mit den scheinbar geläufigen und glatten, in Wahrheit
aber positivistisch-definitorisch affirmierten und
versteinerten Grundkategorien der „Politischen Ökonomie“ wieder
aufgenommen werden. Die Kritik der
„abstrakten Arbeit“
(vgl.
„Abstrakte
Arbeit und Sozialismus“
MK 4), der „Substanz des Werts“, setzte die Kritik
des Tauschwerts fort, bildete aber keineswegs den Schlusspunkt. Wurde in jenem
Text von Ende 1987 noch die „Arbeit“ als überhistorische,
ontologische Gegebenheit behandelt und nur deren warenförmige Abstraktifizierung kritisiert, so verfiel zwei Jahre später
auch schon die „Ontologie der Arbeit“ als solche der kritischen
Verdammnis: Nicht das Attribut „abstrakt“ allein ist das Problem,
sondern die „Substanz“ namens „Arbeit“ selbst. Es geht
nicht darum, die „Arbeit“ von der Gewalt der Abstraktion zu befreien,
sie ist vielmehr an ihr selber schon diese Gewalt der Abstraktion (vgl.
„Die
verlorene Ehre der Arbeit“
Krisis 10)

Die
„Wertkritik“ zerrt also die verschüttete Analyse der bürgerlichen
Keimform ans Licht und macht dort weiter, wo der von der Arbeiterbewegung liegengelassene „esoterische“ Marx aufgehört hat
(was nebenbei auch bedeutet, dass nicht mehr von einer geschlossenen,
„orthodox“ bloß noch zu interpretierenden Marxschen Theorie
ausgegangen werden kann). Sie macht
die basale Fetisch-Konstitution des zur totalen,
weltumspannenden Banalität gewordenen „Geldverdienens“ als die
unhaltbare Realabsurdität kenntlich, auf der das System negativer
Vergesellschaftung in toto gründet
.
Weil sie unbescheiden auf den
inneren Zusammenhang und aufs Ganze zielt, kann die negatorische
Denkbewegung die säuberliche Trennung für sich seiender Sonderbereiche
(Politik, Ökonomie, Psychologie, Privatheit,
Erkenntnistheorie usw.) nicht selbstbescheiden akzeptieren. Es ist die
Herrschaft der bürgerlichen Form, die all diese Grenzen zieht, und so wird die
Kritik der Warenform als solcher auf Grund ihrer eigenen Dynamik zum
grenzüberschreitenden Unternehmen.

Eine gekippte Selbstverständlichkeit wirft die
nächste um…

Ein solches Programm
lässt sich aber natürlich weder in einem Aufwasch besorgen, noch lassen sich
seine nächsten Schritte ohne weiteres präjudizieren. Die Emanzipation vom
etablierten bürgerlichen (und dem, wie sich herausgestellt hat, dazugehörigen
marxistischen) Denkkosmos läuft stück- oder stoßweise
.
Was zunächst
ausgeblendet blieb, rückt ins Licht, und die bisherigen Ergebnisse unserer
Arbeit erscheinen in neuer Beleuchtung. Die Theoriebildung der KRISIS
entwickelt sich als eine Art Domino-Effekt fort, der bis heute noch nicht beim
letzten Stein angelangt ist. Eine gekippte Selbstverständlichkeit wirft die
nächste um, und auf jeder Stufe finden sich dem jeweiligen alten
Reflexionsstand verhaftete Anti-Kritiker, die die Autorenschaft
der KRISIS der Blasphemie bezichtigen, oder sich ernstlich Sorgen um unsere
geistige Gesundheit machen. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.

In den vergangenen
sieben Jahren hat sich aber nicht nur unser theoretischer Ansatz präzisiert und
radikalisiert, parallel dazu hat sich die gesellschaftliche Großwetterlage
gründlich verändert, und damit auch die Rahmenbedingungen, in denen sich der
Theoriebildungsprozess vollzieht. 1986 schrieben wir mit der Hinwendung zu
einer neuen Kritik der bürgerlichen Basiskategorien gegen den Zeitgeist an und
lagen völlig quer zu den Fragestellungen, die in der allgemeinen
gesellschaftlichen Debatte und im linken Diskurs en vogue waren. Im Editorial der ersten Ausgabe war realistischerweise
von den „aktuell miserablen Aussichten unseres Projekts“
die Rede
,
und unsere theoretische Arbeit fand denn auch tatsächlich geraume Zeit tief
unten in den Katakomben statt, unsichtbar und unentdeckt von einem größeren
Publikum, gleich weit entfernt vom akademischen wie vom politischen Betrieb.

Das Epochenjahr 1989

Drei Jahre nach dem
Epochenjahr 1989 bietet sich für unser Projekt eine weit erfreulichere
Perspektive, wenn es erlaubt ist, diesen Ausdruck angesichts eines global
wachsenden Elends zu gebrauchen. während wir in der theoretischen Mönchszelle
damit beschäftigt waren das warenproduzierende
Weltsystem und die von ihm hervorgetriebenen
Denkraster zu kritisieren, war der prozessierende Widerspruch so freundlich,
diesem Unterfangen praktisch in die Hände zu arbeiten. Er hat nicht nur die
vertrauten politischen und theoretischen Konstellationen gründlich
durcheinander gewirbelt, er hat darüber hinaus auch damit begonnen, das
Vertrauen in Funktionsfähigkeit und politische Steuerbarkeit moderner
Vergesellschaftung zu untergraben.

Das erste prominente
Opfer dieses Prozesses, der die Schranken der Warengesellschaft sichtbar macht,
war die Linke. Was natürlich einer gewissen Ironie nicht entbehrt. Die
scheinradikale Opposition, die letztlich nichts anderes als die Avantgarde der
warenförmigen „Modernisierung“ selbst war, verlor jeglichen Boden
unter den Füßen. Diese Linke, aus der wir selber hervorgegangen sind, von der
wir uns kritisch abstießen, und deren letzte Fähnlein uns nach Kräften
ignorierten, überlebte den Untergang des glorreichen
„Realsozialismus“ nicht; trotz aller früheren Kritik dieser
Gesellschaftsformation, die aber nie auf den Kern gezielt, sondern bloß die
westliche Variante der demokratisch-politizistischen
Illusionen transportiert hatte. Wo der Staat gewordene Glaube an die Macht der
Politik die Segel streichen muss, müssen in der Folge auch die westlichen
linken Politikaster ihre Paralyse eingestehen. Der Part der System-Opposition
wird vakant, und so bietet sich gesellschaftskritischen newcomern
eine „Marktlücke“.

Sie bietet sich umso
mehr; als die im Grundsätzlichen bedingungslose Kapitulation des überlieferten
oppositionellen Denkens (oder; wo es von Unentwegten weiterbetrieben wird, sein
trauriges Versagen vor einer veränderten Wirklichkeit) keineswegs vorn Ende des
Bedürfnisses nach einer radikalen Kritik des Bestehenden kündet. Menschen, die
sich nicht im Einverständnis mit dem herrschenden Status quo fühlen, sind
keineswegs Mangelware. Dazu ist der Preis offensichtlich zu hoch, den wir für
die Fortexistenz der aberwitzigen Verwertungsrationalität zu entrichten haben.
Das nach dem Kladderadatsch des „Realsozialismus“ eilfertig verkündete
„Ende der Geschichte“, der „Endsieg“ von westlicher
Marktwirtschaft und Demokratie entpuppt sich von Tag zu Tag mehr als der größte
Flop aller Zeiten. Der Westen ist offensichtlich weder dazu in der Lage, den
Osten und Süden in seine „One World“ zu integrieren, noch seine
eigenen internen Probleme einer Lösung zuzuführen.

Der Kollaps der Modernisierung

Während sich in den Metropolen
nach dem defizitfinanzierten und spekulativen Yuppie-Boom der 80er Jahre nicht
nur an den internationalen Börsen Ernüchterung breit macht, versinkt jenseits
und diesseits der Landesgrenzen die abgekoppelte Peripherie der
Warengesellschaft in Desorganisation und Selbstzerfleischung. Die
Weltarbeitsgesellschaft hält ihre Tore geschlossen, und nur die Sumpfblüten des
entkoppelten Kredits sichern ihr einstweilen eine ebenso prekäre wie
neurasthenische Fortexistenz. In den Regionen, die von diesem geldförmigen
„Kommunismus“ der Noch-Reichen ausgeschlossen werden, grassieren die
Bürgerkriege in einem nie dagewesenen Ausmaß. Das
ehemalige Jugoslawien und die ehemalige Sowjetunion sind nahe liegende
Extrembeispiele; aber selbst das Leben zwischen Prenzlauer Berg, Hoyerswerda
und dem schwäbischen Musterländle ist mittlerweile nicht unbedingt von Toleranz
und liberalem Bürgersinn geprägt. Die entfesselte Warensubjektivität kommt in
der allgemeinen Verteilungsschlacht zu sich, und statt allgemeinem Frieden,
konzertierter Aktion und blühendem Wohlstand entpuppen sich Pogrom und Mafia
als die adäquaten Formen, in denen die Marktrationalität ihre weltumspannende
Herrschaft vollendet. Kein „politisches“ Handlungskalkül gewohnten
Zuschnitts kommt gegen diesen Trend an. Gegenüber der unaufhaltsamen
Selbstvernichtung der siegreichen westlichen Rationalität fühlt sich der „citoyen“ trotz allen Zivilitätsgesäusels
zu Recht auf verlorenem Posten. Mit
den sich häufenden und zuspitzenden Krisenphänomen wächst aber auch das
Bedürfnis nach einer Theorie und Analyse, die in der Lage ist, einen Schlüssel
zum Verständnis und zur Kritik der realen Entwicklung zu liefern
.
Vor
diesem Hintergrund erscheint der Erfolg des Buches
Der Kollaps der Modernisierung von
Robert Kurz vielleicht nicht mehr
gar so sensationell.

Robert Kurz, Der Kollaps der Modernisierung – Vorn Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Das Buch erschien im Herbst
1991 in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek
(Eichborn Verlag, Frankfurt/Main). Herausgeberschaft
und Verlag mögen manchen Zeitgenossen Überraschung und Ärgernis sein, die in
den alten Schützengräben sitzen geblieben sind wie einige japanische Soldaten
des 2. Weltkriegs und gar nicht mitbekommen haben, dass dieser Krieg schon
vorbei ist. Dass Offenheit für neue Ansätze von Gesellschaftskritik und
vorurteilsfreies Urteil nicht unbedingt bei den Resten des alten
Linksradikalismus zu finden sein werden, sondern zuerst bei notorischen
Querdenkern aus den unterschiedlichsten Positionen, war zu vermuten. Und es hat
sich bestätigt.
Im Oktober 2004 wurde Robert Kurz zum Kollaps der Modernisierung – 15 Jahre später interviewt

Als notwendiges
Pendant zum gewendeten Linksdemokratismus liegt eine
neue, nicht mehr arbeiterbewegte Kritik der bürgerlichen Form schlicht und
einfach in der Luft. Noch jedes linksakademische Traktätchen musste in den
letzten Jahren präventiv lauthals gegen imaginäre „Zusammenbruchsszenarien“
polemisieren. Als Popanz und Kinderschreck war also so etwas wie die
Krisis-Position bereits schimärisch präsent, ehe wir überhaupt wahrgenommen
wurden. Was, bevor es überhaupt ausformuliert ist, bereits auf dem Index steht,
muss sich aber nun einmal über kurz oder lang einfach durchsetzen. In der
wahrlich hochanständigen „Zeit“ orakelte ein Leitartikler vor einigen
Monaten, der Marxismus wäre mittlerweile so mega-out,
dass seine Renaissance in irgendeiner Form so sicher sei wie das Amen in der
Kirche. Zweifellos hat er Recht. Sobald das demokratische Über-ich
von Ereignissen verwirrt wird, die in seinem Drehbuch nicht vorgesehen sind,
und sobald es Schwäche zeigt, steht Mephisto urplötzlich auf der Bühne. Dem
Verbotenen und Verdrängten gehört allemal die Zukunft.

Wir wollen uns
deswegen aber nichts in die Tasche lügen. Das Echo, das etwa das „Kollaps“-Buch und mittlerweile teilweise auch die
KRISIS gefunden haben, darf nicht über die Verständigungsschwierigkeiten mit
den gängigen Diskursen hinwegtäuschen. Ein derart sperriger und ungewohnter
Ansatz wie unserer, der gerade scheinbar so Selbstverständliches wie
„Arbeit“, Geld und das tief gestaffelte System ihrer Emanationen
nicht mehr bloß „philosophisch“ aufs Korn nimmt, wird nicht an einem
Tag verdaut und diskursiv angeeignet. Das Bedürfnis nach einer grundsätzlichen
Gesellschaftskritik auf der Höhe der Zeit ist zwar vehement, hat aber immense
Schwierigkeiten mit Orientierung und Begriffssprache. Das haben wir nicht
zuletzt und in unserem eigenen Denken erleben müssen. Auch ein Bewusstsein, das
kritisch sein will, hält nur schwer mit der Geschwindigkeit Schritt, mit der
sich heute der Epochenbruch vollzieht, und es tut sich erst recht hart damit,
dessen Tiefendimension zu erfassen.

Wir wollen uns deswegen
aber nichts in die Tasche lügen. Das Echo, das etwa das „Kollaps“-Buch und mittlerweile teilweise auch die
KRISIS gefunden haben, darf nicht über die Verständigungsschwierigkeiten mit
den gängigen Diskursen hinwegtäuschen. Ein derart sperriger und ungewohnter
Ansatz wie unserer, der gerade scheinbar so Selbstverständliches wie
„Arbeit“, Geld und das tief gestaffelte System ihrer Emanationen
nicht mehr bloß „philosophisch“ aufs Korn nimmt, wird nicht an einem
Tag verdaut und diskursiv angeeignet. Das Bedürfnis nach einer grundsätzlichen
Gesellschaftskritik auf der Höhe der Zeit ist zwar vehement, hat aber immense
Schwierigkeiten mit Orientierung und Begriffssprache. Das haben wir nicht
zuletzt und in unserem eigenen Denken erleben müssen. Auch ein Bewusstsein, das
kritisch sein will, hält nur schwer mit der Geschwindigkeit Schritt, mit der
sich heute der Epochenbruch vollzieht, und es tut sich erst recht hart damit,
dessen Tiefendimension zu erfassen.

work in progress

Was sich bei der
Rezeption des „Kollaps“-Buches bemerkbar
macht, gilt erst recht für die Schriftenreihe der KRISIS selber. Die
Darstellung im Buch hat allemal die empirische Evidenz aktueller Ereignisse auf
ihrer Seite, für die Beiträge in den Sammelbänden der KRISIS gilt das bisher
nur ausnahmsweise. Sie bewegen sich vornehmlich auf der grundsätz1ichen
Ebene. Die theoretische Analyse und Kritik der bürgerlichen,
warengesellschaftlichen Formstruktur ist aber selten unmittelbar empirisch
zugänglich, und so kann sich beim Drüberlesen nur
schwer ein oberflächliches Einverständnis herstellen. Glücklicherweise
vielleicht.

Diese im
theoretischen Gegenstand selber liegenden Schwierigkeiten werden sicherlich
noch durch den Charakter vieler unserer Texte verstärkt. Die neue Kritik
der Warengesellschaft alias „fundamentale Wertkritik“ hat auch nach
sieben Jahren (mit fast noch einmal soviel an „Vorlauf“ his zu den
Grenzen des alten marxistischen Universums) nichts Abgeschlossenes an sich. Sie
befindet sich nach wie vor im statu nascendi; vieles wirkt tastend,
provisorisch, unabgerundet und ist es schlechterdings auch. Und wird es
vielleicht auch bleiben, weil dies womöglich überhaupt den Charakter eines
nicht mehr warenförmig determinierten, nicht mehr abstrakt-universalistischen
Denkens ausmacht
.
Nicht nur die ersten Ausgaben unserer Schriftenreihe
standen unter dem Vorzeichen „Selbstverständigung“ Die KRISIS
repräsentiert his heute im besten Sinne das, wofür die englische Sprache den
Ausdruck „work in progress
bereithält. Der weiter oben schon beschriebene „Domino-Effekt“
unseres Theoriebildungsprozesses, wie ihn die Krisis-Veröffentlichungen
dokumentieren, setzt sich weiterhin fort. Während einige Aufsätze mittlerweile
auf relativ gesichertem Terrain fortschreiten und/oder zu aktuellen Ereignissen
Bezüge herstellen, bewegen sich die zentralen Beiträge nach wie vor in der
Fall-Linie und beschäftigen sich wesentlich mit dem Knacken von selhstverständ1ich geglaubten Deutungsrastern.

Die demokratische
Frage ist für uns einigermaßen gelöst, und zwar negativ-aufhebend.
Dafür erhebt sich nun u. a. das Problem, ob die grundsätzliche Kritik am soziologistischen Denken in seiner Konsequenz nicht
impliziert, dass der Fetischhegriff auch auf vorbürgerliche Gesellschaften
angewendet werden muss. In vorkapitalistischen Gesellschafteen kann ja wohl
kaum die Rede davon sein, dass dort selbstbewusste Subjekte ihren
gesellschaftlichen Zusammenhang beherrschen, vielmehr stehen den Menschen
Produkte ihres eigenen Handelns (Verwandtschaftssysteme, Religion) als nicht
überschreitbare Fetisch-Gewalten gegenüber. Folgt daraus nicht, dass die
berühmte Sentenz aus dem Kommunistischen Manifest, dass „alle bisherige
Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen“ sei, ihrer soziologistischen Hülle entkleidet in der neuen Fassung
formuliert werden muss, dass
alle bisherige
Geschichte eine Geschichte von Fetischverhältnissen
ist?

Die
Problemstellungen haben sich verschoben, der treibende Impuls aber ist noch
lange nicht verbraucht. 1986, vielleicht auch noch drei Jahre später; war der
gute alte „Materialismus“ noch kein Thema. Die Scheinplausibilität
des marxistischen Materialismus-Postulats mochte implizit schon angeknackst
sein, explizite Auseinandersetzung dazu fehlt his heute. Nach einer intensiven
Auseinandersetzung mit „Realabstraktion“ und phantasmagorischer
Fetisch-Gegenständlichkeit ändert sich die Perspektive, und vom erbitterten
alten Gegensatz zwischen „Materialismus“ und „Idealismus“
bleibt mit der absehbaren Kritik des „Ismus“-Denkens
überhaupt nicht mehr sonderlich viel übrig. Das „Bewusstsein“
erscheint nicht mehr als Widerpart zum „Sein“, sondern immer mehr als
dessen notwendiges Moment; die alte Frontstellung zerfällt. Hier stünde die
kritische Auseinandersetzung mit unaufgearbeiteten Reflexionsstufen des alten
Marxismus (
Lukács,
Korsch u.a.) an, die dennoch zeitbedingt nicht über den
„Materialismus“ hinaus bis zur adäquaten Kritik der
Fetisch-Konstitution gelangt waren. Ein kurzer Seitenblick auf die Entwicklung
der nach-newtonschen Physik führt einem
sensibilisierten Bewusstsein die Tiefendimension dieses Problems vor Augen.
Genötigt, ein Bekenntnis zum „Materialismus“ abzulegen oder sich als
„Idealist“ zu entlarven, wird die KRISIS sich inzwischen wohl mit
einer alten Philosophenweisheit behelfen: Es gibt Fragen, die lassen sich nur
dadurch beantworten, dass man die Fragestellung verwirft.

Ähnlich wie mit dem
„Materialismus“ geht es uns inzwischen mit dem Rationalitäts-Begriff.
Im Spannungsfeld von moderner Rationalität und „Irrationalismus“ seit
Aufklärung und Romantik können wir unsere Position nicht mehr verorten, sondern
nur in der Kritik auch dieser bürgerlichen Dichotomie. Auch in dieser Hinsicht
ist die Auseinandersetzung mit früheren Reflexionsstufen, vor allem der
Kritischen Theorie, noch weitgehend zu leisten und explizit zu machen. Die
Gewalt der warenförmigen Realabstraktion, die jeden Inhalt als gleichgültiges
Material handhabt, findet ihren Widerhall im abstrakt-universalistischen
Denken, das die Besonderheit und Eigenheit des Inhalts vornehmlich als empirische
Verunreinigung kennt.

Geschlechterverhältnis in der
Warengesellschaft – das „Abspaltungstheorem“

Damit sind wir bei
jenem Thema angelangt, das die vorliegende Ausgabe der KRISIS hauptsächlich
füllt: dem Geschlechterverhältnis der Warengesellschaft. Denn vor allem die
modernen bürgerlichen Zuschreibungen auf das „Weibliche“ sind es, in
denen das Verhältnis von Rationalität und Irrationalität der Warengesellschaft
verräterisch wird. Nicht umsonst hat gerade der feministische Diskurs der letzten
Jahre, weitgehend unbeachtet vorn männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb,
auf seine Weise die Ansätze einer „Vernunftkritik“ in der Kritischen
Theorie und in der „postmodernen“ Debatte aufgegriffen, wenn auch
nicht unbeeinflusst vom neuen affirmativen „Realismus“. Dabei blieb
aber das Verhältnis von Patriarchats- und Kapitalismuskritik bis heute
ungeklärt, und die Problemstellung droht zusammen mit der alten
Kapitalismuskritik affirmativ verbunkert zu werden.

Wenn wir uns dieses
auch in der feministischen Debatte unaufgearbeiteten Problems annehmen, so
keineswegs aus einer besserwisserischen Position heraus und erst recht nicht in
glatter Verlängerung unseres bisherigen Theoriebildungsprozesses. Es war uns
durchaus nicht klar; dass dieses Thema eben keineswegs bloß ein
„Thema“ wie alle anderen ist und nur dem bereits entworfenen Raster
der allgemeinen „Wertkritik“ unterlegt werden müsse. Dies hängt nicht
nur mit den auch in der feministischen Debatte wirksamen Defiziten akademischer
und marxistischer Theoriebildung zusammen, sondern sicherlich auch damit, dass
es sich bei der KRISIS-Redaktion, wen wundert’s, bis
jetzt um eine geschlossene Männer-Anstalt handelt (ein transvestitisches
Pseudonym beweist leider nicht das Gegenteil). So musste nach längerem
untergründigen Knuffen und Knurren der Entwurf einer theoretischen Vermittlung
in Gestalt des „Abspaltungstheorems“ (siehe unten) von weiblicher
Seite kritisch an die KRISIS herangetragen werden. Und wie sich herausstellt,
wird dadurch der ganze Ansatz grundsätzlich verändert und in ein neues Licht
getaucht. Das kann nicht ohne Spannungen abgehen, und dem Gegenstand
entsprechend können sich diese Spannungen auch nicht mehr bloß auf die
„abgespaltene“ theoretische Sphäre beziehen, während die persönlichen
Verhältnisse außen vor bleiben. Wieder einmal Neuland also, und von der
heikelsten Art. Dabei kann es weder darum gehen, mit „männlichen“
Abwehrhaltungen und Ignoranzstrategien zu reagieren. Noch soll umgekehrt der
berüchtigte heuchlerische Kotau vor einem „weiblichen“ Entwurf bloß
deswegen gemacht werden, weil er weiblich ist – der sicherste Weg in die
erneute Verdrängung und Ignoranz. Nötig wäre also eine kritische
Auseinandersetzung, die sich der Logik des theoretischen Ansatzes selbst stellt
und versucht, die Abwehr-Potentiale der eigenen („männlichen“)
Identität mitzureflektieren.

Wenn der an uns
herangetragene Entwurf des „Abspaltungstheorems“ erst einmal (wenn
auch nicht ohne ein gewisses Widerstreben) grundsätzliche Zustimmung gefunden
hat, obwohl die Terminologie nach wie vor strittig ist, so nicht zuletzt
deswegen, weil damit eine entscheidende Lücke in der „Wertkritik“
geschlossen werden könnte. Schon seit langem mussten wir uns mit der immer
wieder geäußerten Kritik herumschlagen, wir wollten „alles“ aus dem
„Wert“ (der Warenform) einseitig „ableiten“ und ließen
ganze Dimensionen von Gesellschaftlichkeit ausgeblendet. Obwohl diese Vorwürfe
eigentlich die kritische, negative Analyse der Warenform zu einem positiven
„Ableitungstheorem“ verkehrten und missverstanden, legten sie doch
unbewusst den Finger auf eine theoretische Wunde. Die Abbügelung fiel deswegen
leicht, weil die Intention dieser Anwürfe fast immer der leicht durchschaubare
(meistens marxistisch inspirierte) Versuch war; die Zumutungen der „fundamentalen
Wertkritik“ abzuwehren und auf den alten Gleisen weiterzufahren. Mit dem „Abspaltungstheorem“ liegt
nun erstmals ein Versuch vor, das Nicht-Waren-förmige
in der Warengesellschaft historisch, theoretisch und analytisch zu erfassen,
ohne die Kritik der Warenform wieder halbwegs zurückzunehmen und zu verwässern.
Diese Kritik wird dadurch vielmehr sogar zugespitzt
.

Das
„Abspaltungstheorem“ setzt einen aus der Psychoanalyse stammenden
Begriff quasi „politökonomisch“ ein, um die geschlechtliche Besetzung
warenförmiger Gesellschaftsverhältnisse zu erklären. Die Welt des scheinbar
selbstgenügsamen abstrakten Universalismus der Ware entpuppt sich bei näherem
Zusehen als Produkt einer gigantischen Abspaltungsmaschinerie. Hinter der
abstrakten Warensubjektivität mit ihrer absurden Tauschrationalität stehen
„abgespaltene“ Momente von Sinnlichkeit, die in diesem Kosmos keinen
Platz haben, ohne die er aber überhaupt nicht existieren kann. Das abstrakte
Individuum führt nicht nur eine Doppelexistenz als „citoyen
und als abstrakter Privatmann. Auch diese letztere Existenz fällt noch einmal
auseinander in privates Geldinteresse einerseits und in die davon abgetrennte
Sphäre der Privatheit im Sinne von
„Intimität“ („Liebe“ Haushalt, Familie etc.) andererseits.
Damit sind wir aber schon beim „Abspaltungsmechanismus“ angelangt,
bei den Zuschreibungen auf das „Weibliche“.

Konnte der Begriff der „abstrakten
Individualität“ wie er in den bisherigen KRISIS-Beiträgen
verwendet wurde, als geschlechtsneutrale Kategorie verstanden werden, so
erweist sich das jetzt als unhaltbar. Sobald die geschlechtliche Polarität
innerhalb der abstrakten Privatheit ins Blickfeld
gerät, wird auch die geschlechtsspezifische Besetzung des warenförmigen
Individuums unübersehbar. Wo das abgespaltene Sinnliche aber zum
„weiblichen“ zwangsdefiniert wird, da enthüllt sich auch die
abstrakte ratio, ihrem universalistischen Anspruch
zum Trotz, als spezifisch „männlich“.

In diesen für die
KRISIS neuen Problemhorizont stößt also erstmals das
„Abspaltungstheorem“ von
Roswitha Scholz vor, in diesem Heft mit dem Aufsatz „Der
Wert ist der Mann“
; ein
gewiss einigermaßen provokatorischer Titel. Die Autorin stellt dabei zunächst
noch sehr knapp den Grundgedanken vor, der hier sozusagen in seiner ersten,
noch nicht weiter ausgearbeiteten Rohfassung erscheint. Im Folgenden wird
versucht, diesen Grundgedanken im historischen Durchgang von antiken Anfängen
der Warengesellschaft bis zur Gegenwart darzustellen und dabei die Entwicklung
„zugerechneter Weiblichkeit“ parallel zu den Durchsetzungsschüben der
Warengesellschaft zu skizzieren.

Nicht unbedingt
identisch mit dieser Position, aber auch nicht unbeeinflusst von der darüber
bereits geführten Debatte, bemühen sich Ernst Lohoff
und Norbert Trenkle in den beiden folgenden Beiträgen
darum, die im Rahmen der KRISIS bereits formulierte Kritik an den
Grundkategorien bürgerlicher Vergesellschaftung für die Analyse des
Geschlechterverhältnisses fruchtbar zu machen.
Norbert
Trenkle
schlägt in seinem Beitrag „Differenz
und Gleichheit“
eine Brücke von der grundsätzlichen Kritik an der
Kategorie „Gleichheit“ zu den Aporien, in denen sich diese Kategorie
in der feministischen Binnendebatte verhakt hat.
Ernst Lohoff kritisiert in seinem Beitrag „Sexus und
Arbeit“
die
weit verbreitete Vorstellung, das bürgerliche Geschlechterverhältnis ließe sich
vom Begriff der „geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung“ her
aufrollen, und versucht stattdessen umgekehrt über die „Kritik der
Arbeit“ einen Zugang für das Verständnis zu eröffnen. In seinem Rückgriff
auf die „Kritik der Arbeit“ unterfüttert er gleichzeitig mit
historischem Material diese heftig umstrittene These der KRISIS.

Diese drei Beiträge
dienten in ihren ursprünglichen Fassungen als Grundlage zu einem Seminar, das
im Januar 1992 von der KRISIS-Redaktion zum Thema
„Geschlechterverhältnis“ veranstaltet wurde und bereits etliche
Folgedebatten ausgelöst hat. Die Texte liegen hier in überarbeiteter Form vor
(…)

Im vierten
umfangreichen Aufsatz dieses Heftes setzt sich
Robert Kurz
unter dem Titel „Geschlechtsfetischismus“ mit der bisherigen
Diskussion kritisch und streckenweise polemisch auseinander. Soweit dabei auf
das „Abspaltungstheorem“ von Roswitha Scholz Bezug genommen wird, ist
die Argumentation mit der Autorin abgesprochen (damit nicht diese positiv den
Ansatz aufgreifende „männliche“ Interpretation womöglich als
Verballhornung verstanden wird). Darüber hinaus geht der Beitrag von Robert
Kurz ausführlich auf wesentlich „politökonomische“ Implikationen des
Abspaltungstheorems ein, vor allem im Hinblick auf den Begriff des
Gebrauchswerts und das Problem einer „Gebrauchswertorientierung“. Die
phänomenologischen Exkurse über geschlechtlichen Narzissmus und bürgerliche
Paarbeziehungen im letzten Tell des Aufsatzes werden in ihrem polemischen
Gehalt sicher keine ungeteilte Zustimmung finden.

Aus dem Editorial der Krisis 12,
1992

 

Der abspaltungskritische Ansatzeine
folgenreiche
Zäsur

Welche Zäsur dieser wert- und abspaltungskritische
Ansatz Anfang der 90er Jahre tatsächlich bedeutete wird nicht zuletzt auch
darin deutlich, dass dieser inhaltliche Um- und Aufbruch auch im Hintergrund
der Spaltung der Krisis-Gruppe Anfang des Jahres 2004 eine wesentlich Rolle
spielte. So heißt es in der
Erklärung
zur Spaltung der Gruppe Krisis der ehemaligen
Redaktionsmehrheit und Trägerkreismitglieder der
krisis und jetzigen
Protagonisten des neuen wertabspaltungskritischen Projekts „Exit – Beiträge zur Kritik
und Krise der Warengesellschaft“ (neben
Roswitha
Scholz
und Robert Kurz
sind dies Hanns von Bosse, Petra Haarmann, Brigitte Hausinger und Claus Peter Ortlieb) vom
März 2004 unter anderem:

„Die
Wurzel dieses Konflikts liegt, wo Beziehungs- und Inhaltsprobleme sich
berühren: im Geschlechterverhältnis. Wie die Abspaltungstheorie seit 12 Jahren
ein Fremdkörper in der Krisis-Wertkritik geblieben ist, so deren Urheberin
Roswitha Scholz als Person bei etlichen Protagonisten der Krisis-Männerriege
ein Ärgernis. Es ist kein Zufall, sondern durchaus willkommener Nebeneffekt,
dass die Krisis-Redaktion, nach gerade mal einjährigem Interregnum, nunmehr
wieder frauenlos ist. Und auch Robert Kurz hat man(n)
es nie verziehen, dass er diesen Ansatz unterstützt hat, der den
ableitungslogischen Objektivismus der alten Krisis-Theoriebildung in Frage
stellt.“

Und in der gemeinsamen Stellungnahme
GENDER-TROUBLE IN DER KRISIS“ von Frauen,
die schon einmal ins Allerheiligste der Krisis, die Redaktion, vorgedrungen waren,
schreiben, Petra Haarmann
und
Roswitha Scholz:

Die plötzliche
Spaltung der Krisis ist nicht aus den Ereignissen und Aussagen der letzten
Wochen zu begreifen, sondern beruht auf tief sitzenden Struktur- und
Beziehungsproblemen. (…)

Es ist leider so:
Frauen werden in der Krisisgruppe vor allem dann am liebsten geduldet, wenn sie
passive Anhängsel sind. Sie sollen nur „Dabei-Sein
dürfen und am besten geschlechtsneutrale Standpunkte einnehmen. Dies ist der
Subtext des männerbündischen Krisiszusammenhanges bis heute (auch wenn dies
durchaus nicht für jedes männliche Krisismitglied gilt!,
aber es gilt nicht zufällig besonders für die Putschistenclique), trotz aller
oberflächlichen Goutierung, einer bloß jargonmäßigen
Einarbeitung der Wert-Abspaltungstheorie (oft ohne Verweis auf die Urheberin)
und einer mittlerweile zur Schau getragenen Geschlechtersensibilität in
abstracto. (…)

Wenn wir aber von
„Männerbund“ oder einer „männerbündischen Struktur“ reden,
sollten wir uns zunächst einmal vergewissern, was überhaupt darunter verstanden
werden kann. Eva Kreisky schreibt dazu in zwar problematisch positivistischer
Manier (was hier aber nicht weiter zu verhandeln ist): „Männerbünde sind immer
Wertegemeinschaften. Die Affinität und Solidarität der Männer hat nicht nur
rationale, sondern auch emotionale, affektive und häufig auch erotische Basis.
Männerbünde haben eine extrem hierarchische Binnenstruktur: Um die zentrale
Figur des `Männerhelden`(`Führer`, `Meister`) scharen sich die libidinös gebundenenen `Brüder`, `Freunde`, `Kameraden`. Männerbünde
bedürfen der Aura des Geheimnisvollen. Initiationsriten, Zeremonien, magische
Techniken, Sprache `verbinden`. Künstliche Feindbilder (…) schweißen – trotz
aller internen Differenzen und Gegensätze – zusammen“.

Dies war (trotz
ihres inoffiziellen Status ganz ähnlich wie in akademischen Gremien oder
politischen Institutionen) so ungefähr der Zustand der Krisis-Gruppe bis Anfang
der 90er Jahre. Inhaltliche Innovationen des „Meisters“ Robert Kurz
gingen so gut wie immer durch wie Butterschneiden; aber nur so lange, bis er
gegen den erbitterten Widerstand der gesamten damaligen Nürnberger Gruppe die
Wert-Abspaltungstheorie von Roswitha Scholz zu unterstützen begann. Ohne diese
Unterstützung wäre diese Theorie gänzlich abgewehrt worden. Ab diesem Zeitpunkt
aber wurde der ehedem dezidiert antifeministische Robert Kurz so etwas wie ein
informeller Frauenbeauftragter im Krisis-Zusammenhang. (…)

Freilich kann die Wert-Abspaltungstheorie
im jetzigen Krisiszusammenhang nicht mehr einfach schlankweg ignoriert werden.
Darauf berufen sich ja ständig die Männerbund-Männer scheinheilig, indem sie
betonen, es gebe gar keine inhaltlichen Differenzen und die Abspaltungstheorie
sei bei ihnen hoch geachtet (als Sonntagspredigt). Aber man(n) verfährt dabei
eiskalt nach dem Motto: „Deine Ideen, aber ohne Dich“, wobei der
wertkritische Philosophenkönig diese Ideen nach seinem Gusto aufzubereiten
gedenkt. Die Methode dafür lässt sich als Ausgrenzung und Eingemeindung
zugleich beschreiben. Es ist mittlerweile Usus und guter Ton der
Krisis-Männerbund-Männer, an irgendeiner Stelle eines Artikels einen Absatz
(wahrscheinlich mit Roswitha Scholz` High-Heels vor
dem geistigen Auge) zur Wert-Abspaltung an- und einzustückeln. Ungeübte
Männerhände setzen den vorgefertigten Flicken auf das gähnende Loch ihres
glorreichen In-Sich-Reflektiertseins und trösten sich
damit, dass immerhin die „Wertform hierarchisch über der Abspaltung
angeordnet ist“ (Norbert Trenkle). Was nur
beweist, dass sie in Wahrheit von der Abspaltungstheorie nichts begriffen haben
und nichts begreifen wollen. (…)

Das Putzige an
diesem veröffentlichten „theoretischen Zugang“ der Krisis-Mannen ist,
dass in jedem Artikel ein großes Gewese um das blind
Vorausgesetzte allen gesellschaftlich immanenten Denkens gemacht wird, die
Meta-Ebene der Wert-Abspaltung aber nicht erklommen, sondern als von der
Wertform abgeleitete Kelleretage namens Wertschatten von unseren Fremdenführern
nur nebenbei und mit dem zarten Hinweis auf die in diesen Gewölben hausenden
Schrecken Erwähnung findet. Gar schaurig ist`s, übers
Moor zu gehen, wo kein „Begriff“ mehr Weg und Steg bereitet und
jegliche Kategorie sich als trügerischer Treibsand entpuppt. Nein, damit haben
sie nichts zu tun. Sie haben zwar im Theorieunterricht aufgepasst und
„gelernt“, dass es „da draußen“ etwas gibt; aber dass hier
sogar Praxis möglich ist und diese bei ihnen selbst „da drinnen“
anfängt, das ist noch jenseits des Begreifens. So spalten sie eben ab und
lassen die Puppen (die Krisis-Frauen) tanzen, damit diese stellvertretend für
sie ihre unangenehmen Gefühle erleben
.“

Der selbstkritische Rückblick der Gruppe Krisis in
dem Editorial zu dieser gewissermaßen historischen
Krisis 12 – Ausgabe im Jahre
1992 hat bereits sehr wichtige Stationen und Beiträge zu dem
Theoriebildungsprozess der Wertkritik hervorgehoben. Einige weitere sollen im
Folgenden noch kurz Erwähnung finden.

Darunter die Beiträge zur „Krise des
Marxismus“ und Geschichte revolutionärer Bewegungen und Persönlichkeiten
wie
Zur
Ideologie der KPD – Material zur alten Arbeiterbewegung

(MK 4) eines anderen Nürnberger Autors, Udo Winkel, der zusammen mit Robert Kurz seit den ersten Tagen an der Ausarbeitung wertkritischer Positionen
zunächst in der
Marxistischen Kritik, dann in der Krisis und jetzt auch in dem neuen wertabspaltungskritischen Projekt Exit mitwirkt. Sein
Beitrag in der MK 2
dokumentiert den Rückzug der akademischen Linken in den bürgerlichen
Wissenschaftspluralismus auf positivistischer Grundlage und stellt die Krise des
Marxismus
in den historischen Rahmen der periodisch
wiederkehrenden Krise des bürgerlichen Subjekts. In der MK 3 setzte er seine kritische
Positionsbestimmung der akademischen Linken mit der Vorstellung des Buches von
E. Dozekal: Von der
„Rekonstruktion“ der Marx’schen Theorie zur „Krise des
Marxismus“. Darstellung und Kritik eines Diskussionsprozesses in der BRD
1967-1984″ .
fort. Dabei werden
die Schwächen, aber auch die nicht eingelösten Chancen des theoretischen
Werdegangs der Neuen Linken und die Gründe für die heutige staatsbürgerliche
Regression ihrer akademischen Vertreter erörtert. Bereits in der
MK 1 leistete er mit
seinem Artikel
Wissenschaft,
Rationalisierung und Qualifikation im Kapitalismus
neben
dem bereits erwähnten Artikel Die Krise
des Tauschwerts. Produktivkraft, Wissenschaft, produktive Arbeit und
kapitalistische Reproduktion
von Robert Kurz, Aufklärung über die Wirkungen des Schubs der Verwissenschaftlichung der Produktion
durch die Mikroelektronik für das Abstraktwerden der Arbeit und die Zuspitzung
der Widersprüche der relativen Mehrwertproduktion.

Und last but not least müssen noch drei wichtige Dokumente – die erste Ausgabe
der MK von 1986, das erste Manifest
der Wertkritiker
1988 und die Geburt der
Krisis 1990 – aus diesen
zurückliegenden ersten sieben Jahren Erwähnung finden, die den Ausgangspunkt
und das Selbstverständnis der aufbrechenden Wertkritiker veranschaulichen.

 

Am
Anfang war die Nr. 1

Marxistische
Kritik – Zeitschrift für revolutionäre Theorie und Praxis“

„Revolutionäre
Theorie schöpft ihre Legitimität ebenso wie die ihr entsprechende historische
Praxis aus sich selbst; sie rechtfertigt sich weder vor der
institutionalisierten bürgerlichen Wissenschaft noch vor den Ideologien des
Reformismus. Ihr Medium ist nicht die Legitimation, sondern die Kritik; ihre
Absicht nicht die Verteidigung, sondern der Angriff. Die Waffe der Kritik wird
nicht geführt, um den Interpretationen der herrschenden Ordnung eine besonders
pikante neue hinzuzufügen, sondern um sich in die Kritik der Waffen zu
verwandeln.

Aber gerade dieser
Zusammenhang war in der Geschichte der Linken den schwersten Missverständnissen
ausgesetzt. Da eine selbstverständliche „Einheit von Theorie und
Praxis“ seit langem nicht mehr behauptet werden kann, bedarf das Projekt
einer marxistischen Theorie-Zeitschrift heute, wenn nicht einer Rechtfertigung,
so doch einer selber theoretischen Begründung; und sei es nur zur Dokumentation
unseres Selbstverständnisses.

Es ist kein
Geheimnis, dass das viel beschworene Theorie-Praxis-Verhältnis heute weitgehend
in offene Theoriefeindlichkeit umgeschlagen ist. Theoretische Zeitschriften,
gleichgültig welcher Richtung, finden in der gegenwärtigen linken
Oppositionsbewegung kaum noch ein größeres Publikum; Zeitschriften wie „
Argument“ und
Prokla„, die mit der gesellschaftlichen Bewegung der
„Neuen Linken“ Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre aufgestiegen
waren, beginnen mitsamt ihrem theoretischen Anspruch sichtlich abzubröckeln.
Halten können sich noch am ehesten „Magazine“ mit leichterer Kost für
den Tageskonsum theoretischer Bedürfnislosigkeit, durch die ebenso locker wie
folgenlos die aktuellen Themen des linken Modebewusstseins gezogen werden, ganz
nach dem relativistischen Motto: „Anything goes„. Aber eben doch nicht alles
„geht“: Der revolutionäre Marxismus ist nach einer sektenhaften
Scheinblüte von wenigen Jahren heute in der Linken selbst kaum weniger verpönt
und tabuisiert als im restaurativen Klima der Adenauer-Kultur in den fünfziger
Jahren. Die antitheoretische und antimarxistische „Wende“ der
(Ex-)Linken ging der neokonservativen „Wende“ im größeren
gesellschaftlichen Maßstab noch voraus, und ironischerweise ist die eine wie
die andere „Wende“ offenbar als Reaktion auf die real existierende
Krise des Kapitalismus zu verstehen.

Nun mag es kein
besonders einschneidender Verlust für die Weltrevolution sein, dass heute nicht
mehr ohne weiteren jeden halbwegs anständigen Germanistik-Studenten mit
revolutionärer Blasmusik und anderem Agitprop-Kasperltheater „heraus zum
1. Mai“ kommt. Auch wollen wir nicht behaupten, dass die Linke theoretisch
verarmt wäre, denn in dieser Hinsicht befand sie sich schon vor ihrer
„Wende“ im Gnadenstand einer Kirchenmaus. Trotz aktuell miserabler
Aussichten unseres Projekts sind wir allerdings zuversichtlich, dass die Rolle
der revolutionären Theorie auf lange Sicht keineswegs ausgespielt ist; sowenig
sie Selbstzweck werden kann im Sinne einer spekulativen Loslösung von
gesellschaftlicher Praxis, ebenso wenig kann sie bloße Funktion und
Vollzugsorgan der aktuellen Bewusstseinslage einer Linken bleiben, die sich
fälschlich für „frei“ hält in der „Einschätzung“ des
gesellschaftlichen Prozesses. Die gegebene historische Situation macht freilich
den direkten Bezug auf diese politische Linke in dem Sinne notwendig, dass
Theorie als rücksichtslose, radikale Kritik der Verhältnisse heute immer
gleichzeitig eine ebensolche Kritik des herrschenden Bewusstseins in der Linken
selbst sein muss. Gerade deswegen bedarf ein Projekt wie das unsrige auch einer
Herleitung aus der Geschichte und Theoriegeschichte der Linken in der BRD.

Mit der Kritischen
Theorie der Frankfurter Schule ist bekanntlich die Zuwendung der „
Neuen Linken“ zum
Marxismus Ende der 60er Jahre ebenso vermittelt wie ihre sukzessive Abkehr von
der Marxschen Theorie seit Mitte der 70er Jahre. In dieser rückläufigen
Gesamtbewegung hat freilich ein zentrales Motiv der Frankfurter nie eine
wesentliche Rolle gespielt, nämlich die „Kritik der instrumentellen
Vernunft“. Im Gegenteil, gerade in diesem Punkt standen schon die
Studentenbewegung und die „Außerparlamentarische Opposition“ (
APO) von 1968 der
Kritischen Theorie verständnislos und ablehnend gegenüber. Der moralisierende,
bürgerlich-demokratische Impetus, von dem die „Neue Linke“ nie ganz
losgekommen ist (und der gerade heute wieder üppige Blüten treibt), diktierte
der Bewegung durch alle ihre Metamorphosen hindurch ein platt positivistisches,
unmittelbarkeits-fixiertes „Praktisch-Sein“ als kategorischen
Imperativ der „Politisierung“. Was für die Frankfurter Schule ein
zentraler Ansatz ihrer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft gewesen war, die
Kritik des instrumentalistisch verkürzten Denkens, erschien so den
„politisierten“ Adepten gerade umgekehrt als der bürgerliche
Pferdefuß der Kritischen Theorie, aus der sie sich folgerichtig selektiv die im
Sinne subjektivistischen Handelns interpretierbaren
Versatzstücke (hauptsächlich der Theorie von
Herbert
Marcuse
) herausbrachen.
Den subjektiven Aktivismus ist die Bewegung als Ganzes ebenso wenig jemals
losgeworden wie das Moralisieren. Sie musste darum eben jener bürgerlichen
Vernunft letztlich gerade „praktisch-politisch“ zum Opfer fallen,
gegen deren professorale Repräsentanten sie einst angetreten war.

Die reaktionären
Plattitüden des gesunden Menschenverstandes der Grün-Alternativen, für die man
sich vielleicht 1969 noch zu Tode geschämt hätte, werden heute ernsthaft von
ehemaligen Theorie-Häuptlingen erörtert, die anfangen, sich in vitalistischen
Posen zu gefallen. Dass in der fluchtartigen Absetzbewegung der akademischen
Ex-Linken heute die Rezeption von Max Weber schon fast eine „linke“
Rückzugsstellung bildet, wirft mehr als bloß ein Schlaglicht auf ihre Geistesverfassung.

Evident war das
verkürzte instrumentalistische Denken schon in den fraktionellen Zerfallsformen
der APO zu Beginn der 70er Jahre. Die feindlichen Brüder der
„Spontis“ und der „Marxisten-Leninisten“ gaben sich
gegenseitig nichts nach an Subjektivismus, instrumenteller Rezeption
historischer oder exotischer Strategeme und einer
völlig unvermittelten „direkten“ Massenagitation, die kaum einen Hund
vom Ofen locken konnte. Das logisch notwendige Scheitern solchen Tuns, das einige traurige Restbestände bis zum heutigen Tag
weiterbetreiben, wurde schon nach wenigen Jahren zum
„Scheitern des Marxismus“ erklärt („Wir haben’s probiert, es hat
nicht geklappt“, frei nach Sir Popper), und keineswegs zufällig trotten
große Teile der damals spinnefeinden Fraktionen heute
wieder traut vereint unter dem grünen Banner eines banalen bürgerlichen
Moralismus. Die heutigen „Autonomen“ und andere so genannte
„Militante“ reproduzieren offensichtlich nur die Ideologie und die
Illusionen ihrer Vorgänger auf noch niedrigerem Niveau.

Diese immer plattere
instrumentalistische Blockade der revolutionären Theoriebildung konnte von der
linkssozialistischen akademischen Theorie, wie sie in „
Argument“ oder
Prokla“ ihr Dasein fristet, keinesfalls überwunden, ja
nicht einmal systematisch thematisiert werden. Der theoretisierende politische
Reformismus dieser Zeitschriften, deren gesellschaftlicher Erfolg vor allem
darin besteht, dass sie im Sinne individueller Karrieren akdemisch
„zitierfähig“ wurden, war immer nur der Form nach verschieden von der
subjektiven Legitimationstheorie anderer Fraktionen der „Neuen
Linken“. Während für die „Marxisten-Leninisten“ (K-Gruppen) und
die verschiedenen Generationen von „Spontis“ der instrumentalistisch
verkürzte Charakter der Theorie offen als proklamierte unmittelbare Identität
von Theorie und Praxis im handelnden Subjekt erschien, zeigte sich derselbe
Charakter der Theorie linkssozialistischer Akademiker, wenn auch mehr
gesellschaftlich vermittelt, in ihrem bewusstlosen und legitimatorischen
Bezug auf die institutionalisierten gesellschaftlichen Ausdrucksformen des
sozialen Reformismus (Gewerkschaften, linke Sozialdemokratie, neuerdings
Grün-Alternative).

Eine Theoriebildung
aber, die sich analog zur bürgerlich-positivistischen bloß als
„wissenschaftliche Hilfestellung“ für im Großen und Ganzen
hingenommene, als solche überhaupt nicht oder höchstens immanent kritisch
hinterfragte gesellschaftliche Ziele begreift, muss selber in ihren blinden
Voraussetzungen kritisiert werden. Sie kann ebenso wenig wie die subjektivistische Unmittelbarkeits-Identität der
handwerkelnden revolutionären Sekten und revoltistischen
Grüppchen eine Spannung aushalten und in vermittelnde Bewegung verwandeln, die
in der objektiven Distanz und Polarität revolutionärer Theorie zur gesellschaftlichen
Praxis begründet ist.

Wenn wir mit der
Kritik instrumenteller Verkürzung des Denkens ein zentrales Motiv der
Kritischen Theorie aufgreifen und gegen die vorgefundene Linke selbst wenden,
so ist dies allerdings keineswegs bloß methodisches Credo, sondern gleichzeitig
wesentlich inhaltliche Bestimmung. Das revolutionäre und theoretische Defizit
der Frankfurter Schule sehen wir nicht in ihrer Negation subjektivistischen
Handlungsdrangs, ebenso wenig in einer mangelnden Thematisierung der „Politischen
Ökonomie“ schlechthin, sondern vielmehr in einer fehlenden Zuspitzung der
KRITIK der „Politischen Ökonomie“ als Fundamentalkritik der
Warenproduktion und der Lohnarbeit. Die Kritik der instrumentellen Vernunft zu
Ende führen, heißt radikal werden gegen die Warenform-Vergesellschaftung, deren
Produkt sie ist. Erst dann kann die auch in der Linken als esoterisch
behandelte Kritik des positivistischen Instrumentalismus zum Sprengsatz gegen
die bestehende Ordnung werden, wenn sie inhaltlich entfaltet wird als
Konkretisierung des Zentrums der Marxschen Theorie: als Kritik des Tauschwerts,
die auf der Grundlage entwickelter stofflicher Produktivkraft notwendig in die
historische Parole mündet: Nieder mit der Lohnarbeit!

Nicht nur die evidente Existenz von Lohnarbeit
und „Ware-Geld-Beziehungen“ in den Gesellschaften vom Typus der
Sowjetunion, deren Erklärung aus einer nachholenden ursprünglichen Akkumulation
keine apologetische Rechtfertigung bedeuten kann, liegt als schwere Hypothek
auf dem theoretischen Bewusstsein der Linken. Als mindestens ebenso
deformierend erwies sich der historisch gewachsene Bezug der Marxisten auf die
alte westliche Arbeiterbewegung, die nie über die Rolle einer Charaktermaske
des variablen Kapitals hinausgekommen ist. Die Linke musste aus diesen ererbten
Zusammenhängen heraus nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch verkommen
als gesellschaftlicher Faktor. Ihr Sozialismus-Begriff degenerierte zur
Hilflosigkeit eines endlos und begriffslos gedehnten
„Übergangs“, die Aufhebung der Waren-Vergesellschaftung verwandelte
sich aus der Konsequenz wissenschaftlicher Kritik in eine kaum noch erinnerte
Fata Morgana von vager Gestaltlosigkeit. Die Kategorien der Marxschen Theorie
mussten so bis zur Affirmation verdinglichen; real werden ihnen heute
bestenfalls linkskeynesianistische Inhalte
untergeschoben. Theorie als „Anleitung zum Handeln“ zerfällt so in
einen vulgären Ökonomismus einerseits und in
verselbständigte Form en von „Politik“ andererseits, deren Einheit
als Vollendung des fetischistischen Bewusstseins schließlich zu allem Überfluss
und zunehmend der Untergang in „nationaler“ Identität bildet.

Eine derart
begrifflich abgerüstete und entwaffnete Linke, die ihre wissenschaftliche
Fundierung in radikaler Kritik von Ware und Geld preisgegeben hat, muss
angesichts ihres eklatanten Versagens vor den Erscheinungen der neuen
kapitalistischen Krise winselnd nach UTOPIEN verlangen, deren Erbärmlichkeit
umso greller hervortritt, je mehr sie sich als ebenso reaktionäre wie
illusionistische Entgesellschaftungs-Träumereien
entpuppen. Die fetischistische Propaganda eines gesellschaftlichen Märchenparks
zurückgedrehter Ware-Geld-Beziehungen in „kleinen Kreisläufen“
markiert einen unglaublichen Tiefpunkt im Rückfall hinter die Marxsche
Kapital-Kritik.

Wenn wir gegen
diesen Strom schwimmen wollen, so nicht aus jener trotzigen Resignation heraus,
wie sie die Frankfurter Schule beseelte und wie sie heute bei einigen ihrer
späten Nachkommen wieder auftaucht als zornige Polemik gegen die friedensschwangere
und grün-nationale Linke: ein Zorn aber, dessen Festhalten an der Marxschen
Theorie gleichzeitig ein Abgesang auf die historische Möglichkeit ihrer
Verwirklichung ist und sich nur noch darstellt als angeekeltes Abwenden von der
scheinbar unvermeidlichen Barbarei, zu deren Heraufdämmern die Linke nichts als
die Begleitmusik ihrer eigenen haltlosen Zersetzung liefert.

Unser Standpunkt in
der Kritik der Linken ist ein gerade entgegengesetzter.
Die Verwirklichung der Marx’schen Theorie ist keine versunkene Möglichkeit,
sondern wird im Gegenteil erst heute praktisch wahr in der massiv erscheinenden
Krise des Geldes, wie sie der kapitalistische Vergesellschaftungsprozess auf
der heutigen hohen Stufe von Verwissenschaftlichung und Produktivkraft der
gesellschaftlichen Arbeit hervortreibt. Die
Wirklichkeit des Kapitals drängt heute in Wahrheit stärker zum Gedanken der
authentischen Marx’schen Theorie als jemals vorher in der Geschichte.

Aufgabe dieser
Zeitschrift wird daher nicht allein die Ideologiekritik der Linken sein,
sondern vielmehr das Auffinden und die begriffliche Bestimmung des konkreten
gesellschaftlichen Widerspruchspotentials, das real und historisch aktuell in
Aufhebung von Lohnarbeit, Ware und Geld transformiert werden kann.

NACHBEMERKUNG

In gewisser Hinsicht ist die „Marxistische
Kritik“ ein Folgeprojekt der vor einigen Jahren eingestellten Zeitschrift
„Neue Strömung“
. Die gleichnamige Gruppe bildet heute aber
nur noch einen Teil des neuen Trägerkreises, der sich aus Personen und Gruppen
mit revolutionärmarxistischer Position, aber unterschiedlicher politischer
Herkunft und ideologischer Sozialisationsgeschichte zusammensetzt; die
Bandbreite reicht dabei von ehemaligen Mitgliedern oder Anhängern
„marxistisch-leninistischer“ Organisationen der 70er Jahre
(K-Gruppen) über Leute aus dem Umfeld der „Arbeiterstimme“ und einen
Genossen der „Gruppe Arbeiterpolitik“ bis hin zum Spektrum der
„Autonomen“, ehemaligen Hausbesetzer“ etc. Die „Neue
Strömung“ war noch ganz ein Produkt der Auseinandersetzung innerhalb der
sich auflösenden K-Gruppen-Bewegung; die damals bezogenen Positionen (vor allem
gegen die Konstruktion einer „Traditionslinie“ der revolutionären
Arbeiterbewegung mit den berüchtigten „fünf Köpfen“, in die man sich
zu „stellen“ habe) teilen wir auch heute noch. Aber die damalige
Auseinandersetzung, die mehr propädeutischen Charakter trug, hat sich längst
erschöpft; sie konnte in dem eng beschränkten Rahmen der auf ein starres
Kategorien-System bezogenen K-Gruppen-Opposition nicht mehr fruchtbar weitergeführt
werden. Andererseits genügte es nicht, die Eierschalen eines hilflosen
Hausmacher-Marxismus der politischen Sektenbewegung abzustreifen. Es war eine
längere theoretische Mauserungs-Phase notwendig, bevor sich erneut die Frage
der Publizistik stellen konnte. Nach mehr als zweijähriger Seminararbeit sehen
wir nun den Zeitpunkt als gekommen an, auf einer neuen Ebene in dem uns
möglichen Maßstab publizistisch in die öffentliche Diskussion der Linken
einzugreifen.

Aus dem Editorial der Marxistischen Kritik
Nr. 1,
März 1986

 

Inhalt Marxistische Kritik 1-7

MK
1
(1986) Editorial + Die Krise des Tauschwerts. Produktivkraft Wissenschaft,
produktive Arbeit und kapitalistische Reproduktion
Robert Kurz
+ Die Kategorie der abstrakten Arbeit und ihre
historische Entfaltung
Ernst Lohoff + Wissenschaft,
Rationalisierung und Qualifikation im Kapitalismus
Udo Winkel + Die Chance
der Möglichkeit eines menschenfreundlichen Kapitalismus
Rainer Büschel/Rainer Jahn

MK
2
(1986) Editorial + Herrschaft der toten Dinge, Teil 1: Kritische Anmerkungen zur
neueren Produktivkraft-Kritik und Entgesellschaftungs-Ideologie
Robert
Kurz
+ Krise des Marxismus. Zur neuen Marxrezeption der alten akademischen
Linken
Udo Winkel + Irrational, aber wenig radikalRobert Schlosser + Schwarze Kunst und
neue Technik
Wolfgang Bogner + Leserbrief
zu „Krise des Tauschwerts“

MK
3
(1987) Editorial + Herrschaft der toten Dinge, Teil 2: Kritische Anmerkungen zur
neueren Produktivkraft-Kritik und Entgesellschaftungs-Ideologie

Robert Kurz
+ Technik als Fetisch-Begriff. Über den Zusammenhang
von alter Arbeiterbewegung und neuer Produktivkraftkritik
Ernst Lohoff + Moderne Demokratie und Arbeiterbewegung, Teil 1: Wie der
Klassenkampf den Kapitalismus zu sich selbst gebracht hat
Peter Klein + Von der „Rekonstruktion“ der Marx’schen
Theorie zur „Krise des Marxismus“
. Darstellung und Kritik eines Diskussionsprozesses
in der BRD 1967-1984
Udo Winkel

MK
4
(1988) Editorial + Abstrakte Arbeit und Sozialismus. Zur Marx schen
Werttheorie und ihrer Geschichte
Robert Kurz + Moderne Demokratie und Arbeiterbewegung. Teil 2: Die
Demokratie bei Lenin
Peter Klein + Die Privatisierung des Politischen oder: Neue soziale
Bewegungen und abstraktes Individuum
Ernst Lohoff + Zur
Ideologie der KPD – Material zur alten Arbeiterbewegung
Udo Winkel

Robert Kurz unterwirft in seinem Beitrag den Begriff der abstrakten Arbeit, den Übergang der abstrakten Arbeit in Wert und
dessen Erscheinen im Tauschwert einer eingehenden Analyse und kommt zu einer
Bestimmung des Ursprungs des Warenfetischlsmus aus
der spezifischen Gesellschaftlichkeit der wertsetzenden
Arbeit selbst, die kritisch gegen die zirkulativ
beschränkte Sicht des Warenfetischismus bei Sohn-Rethel
und anderen gerichtet wird. Die für einen Artikel monumentale Länge ergibt sich
daraus, dass ein wirkliches Verständnis gerade der grundlegendsten Kategorien
der Kritik der politischen Ökonomie ohne eine Kritik ihrer Entschärfungen im
Verständnis des traditionellen „Parteimarxismus“ und in dem seines
Antipoden, des „westlichen Marxismus“ und seiner Nachfolger,
schlechterdings nicht mehr zu haben ist und gezeigt werden muss, wie diese
Verkürzungen sich auf für absolut genommene einzelne Seiten des Marxschen
Werkes selbst stützten und die historisch beschränkte Entwicklungsstufe der
Wertvergesellschaftung ihrerseits diesen vereinseitigten
Lesarten theoretische Plausibilität und praktische Wirksamkeit verschaffte. Das
theoretisch noch immer virulente Problem, inwiefern die Entwicklung der
bürgerlichen Gesellschaft zur Totalität als Entfaltung der Wertkategorie
dargestellt werden kann, wird dabei auf seinen Ausgangspunkt zurückgeführt: die
Auflösung der Bestimmtheit der sozialen Beziehungen, die sich im Wert
resümieren. Um den Umfang des Artikels nicht vollends ins Gigantische zu
steigern, konnten manche Implikationen, die sich im Titel „Abstrakte
Arbeit und Sozialismus“ ankündigen, bloß skizziert werden. Kontroversen
über die Grundlage des Werts, die Konstitution der Wertform und die Demystifikation des Warenfetischismus legen ja Schlüsse für
die theoretische Begründung und den schließlichen
praktischen Vollzug des Interesses nach Aufhebung des Kapitalverhältnisses
nahe. Die Argumentation in diese Richtung auszubauen, wird Gegenstand künftiger
Arbeiten sein.

MK
5
(1988) Editorial + Moderne
Demokratie und Arbeiterbewegung. Teil 3: Der politische Inhalt der Sowjets

Peter Klein + Der
Zusammenbruch einer Zusammenbruchstheorie. Henryk
Grossmann und die Marxschen Reproduktionsschemata
Ernst Lohoff
+ Glanz und Elend des Antiautoritarismus . Streiflichter zur Ideen-
und Wirkungsgeschichte der Neuen Linken
Robert Kurz + Der unsichtbare Sozialismus. Kritische Auseinandersetzung
mit dem älteren Lukács
Johanna W. Stahlmann

Der Titelbeitrag von Robert Kurz befasst
sich „zwanzig
Jahre später
“ mit der „antiautoritären“ Basis-Ideologie
der Neuen Linken seit jenem gesellschaftlichhistorischen Einschnitt von 1968.
Ausgehend vom Begriff abstrakter bürgerlicher Individualität, dessen Äußerungen
sukzessive mit dem Aufstieg und der Totalisierung der Warenproduktion durch das
gesellschaftliche Bewusstsein geistern, wird der permanente Selbst-Widerspruch
dieser Individualität gezeigt, die sich zunehmend „revoltistisch
oppositionell gegen ihren eigenen unbegriffenen Vergesellschaftungs-Zusammenhang
periodisch auflehnt, ohne ihn doch überwinden zu können. Zwar ist von dieser
Position aus durchaus ein historischer Fortschritt in der Kritik der
bürgerlichen Gesellschaft festzustellen, so etwa in der Kritischen Theorie der
Frankfurter Schule oder noch mehr bei den französischen Situationisten;
der „archimedische Punkt“, die konkretisierte Kritik der Warenform
selber, konnte nicht berührt werden. Der Niedergang der 68er Bewegung wird zum
Menetekel für jede gegenwärtige und zukünftige Radikalität: der Weg von der
revolutionären „Selbstbestimmung“ über die
alternativ-lebensreformerische „Selbstverwaltung“ zur
neokapitalistischen „Selbstbewirtschaftung“ des
„Humankapitals“ ist vorgezeichnet, wenn die Radikalität der Kritik es
nicht vermag, die warenförmige Konstituiertheit
des Subjekts aufzusprengen.

MK
6
(1989) Editorial + Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff. Überakkumulation,
Verschuldungskrise und „Politik“
Robert Kurz
+ Staatskonsum und Staatsbankrott. Das Verhältnis
vom „tendenziellen Fall der Profitrate“ und „Profitmasse“

Ernst Lohoff + Militanter Empirismus und IWF-Kampagne. Zur Kritik des Operaismus Norbert Trenkle + Moderne
Demokratie und alte Arbeiterbewegung IV: Die beiden Komponenten des
Volkswillens
Peter Klein

Mit der historischen Entfaltung des
Kapitalverhältnisses nähert sich die empirische Wirklichkeit zusehends ihrem
von Marx in wesentlichen Zügen schon antizipierten eigenen Begriff, und die
Analyse der realen Durchsetzungsform kapitalistischer Vergesellschaftung fällt
heute mehr und mehr mit der Dechiffrierung der begrifflichen Logik des sich
verwertenden Werts in eins.
Die beiden zentralen Artikel dieser Ausgabe reflektieren diesen Sachverhalt,
wenn auch erst im Ansatz und als polemische Prolegomena
noch zu leistender Untersuchungen, in denen die hier angesprochene
Wiedergewinnung der Einheit von „Theorie“ und „Empirie“
einzulösen wäre.
Robert Kurz
versucht in seinem Beitrag Alles im
Griff auf dem sinkenden Schiff. Überakkumulation, Verschuldungskrise und
„Politik“
die
hier im Editorial bereits angerissene Grundsatzkritik am krisentheoretischen Raster der zum bürgerlichen
„Realismus“ degenerierten akademischen Linkssozialisten (z.B. Hickel, Schubert, Altvater, Hirsch/Roth usw.) detaillierter
auszuführen. Im Mittelpunkt steht dabei das Verhältnis von immanenten „Wachstums“-Potenzen der arbeits-fetischistischen Warenproduktion,
konkurrenzvermittelter „postfordistischer
Produktivkraftentwicklung und „Politik“, wobei die theoretische
Begriffs- und Haltlosigkeit des gegenwärtig publizistisch und politisch sich
spreizenden Neo-Reformismus aufgezeigt wird.
Der Artikel „Staatskonsum und Staatsbankrott“ von Ernst Lohoff setzt diese Argumentation auf einer etwas
anderen Ebene fort. Akkumulationstheoretisch wird dabei zunächst das Verhältnis
von „tendenziellem Fall der Profitrate“ und „Profitmasse“
(auch theoriegeschichtlich) erörtert, um von da aus die Hilflosigkeit der
gängigen marxistischen Krisen- und Akkumulationstheorien gegenüber dem Keynesianismus herauszuarbeiten. Eine besondere Rolle
spielt dabei die Kritik des neomarxistischen wie linkskeynesianischen
Staatsfetischismus und des naiven Glaubens an die „politische“
Verewigungsfähigkeit des „deficit spending“ ohne Rekurs auf die jedem bewussten Zugriff
entzogene Sphäre der Realakkumulation.

MK
7
(1989) Editorial + Der
Klassenkampffetisch
. Thesen zur
Entmythologisierung des Marxismus
Robert Kurz/Ernst
Lohoff
+ Demokratie und Sozialismus. Zur Kritik einer linken
Allerweltsphrase
Peter Klein + Die Wechseljahre der Republik. Über die Volksparteien und
ihre ungeliebten Kinder
Ernst Lohoff

In ihrem Artikel „Der
Klassenkampffetisch“
verweisen Robert Kurz und Ernst Lohoff das zentrale Ideologem
des Marxismus auf seinen Platz unter den Denkformen der Wertvergesellschaftung.
Der das Kapital vermeintlich sprengende Arbeitersozialismus wird dargestellt
als das, was er ist – eine der Schrittmacherideologien des modernen
Kapitalismus. Ein diesen überwindendes Subjekt kann nicht aus der Affirmation
der Arbeiterkategorie, sondern nur aus der Krise, der Krise des Werts
entstehen. Dem tradierten Klassenbegriff wird der noch näher auszuführende
Begriff der „Antiklasse“ gegenübergestellt.

 

Das
erste wertkritische Manifest

1988, 11 Jahre vor dem weithin bekannten Manifest gegen
die Arbeit
der Gruppe Krisis, erschien ein von Robert Kurz verfasstes „Manifest
für die Erneuerung revolutionärer Theorie
„, das unter dem Titel Auf der
Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel

erstmals die damalige Position der „Wertkritiker“ zusammenhängend
formuliert und darstellt. Damit wurde die Stoßrichtung ihrer theoretischen
Bemühungen einmal als Ganzes sichtbar, werden Grundsteine gelegt, die
Abgrenzung gegen den traditionellen Marxismus in ihren Grundzügen geleistet und
damit, wenn auch nicht schon alle Probleme, die der wertkritische Neuansatz
aufwerfen muss, schon aufgelöst, doch eine Basis gewonnen, Fragestellungen klar
herausgearbeitet, von denen weitere theoretische Fragen ihre Orientierung
gewinnen konnten.

Das Vorwort und das vor dem Erscheinen noch formulierte Nachwort,
das erste Reaktionen auf die Ankündigung dieses Manifests schon aufgreift,
geben einen ersten Einblick in das Dokument, dass ansonsten die folgenden Kapitel
umfasst:

1. Die bisherige Linke ist am Ende
– 2. Die Theorie muss ihr Recht bekommen – 3.
Eine Erneuerung des sozialistischen Ziels kann nur
in einer fundamentalen Kritik der Warenproduktion bestehen –
4. Die alte Arbeiterbewegung konnte nur Entwicklungshelfer
kapitalistischer Vergesellschaftung sein –
5. Die wahren Totengräber des Kapitalismus werden erst heute
geboren
und 6. Revolutionäre Intelligenz kann
sich nur außerhalb des Wissenschaftsbetriebs entwickeln

„Manifest für die Erneuerung revolutionärer
Theorie
„Auf
der Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel – Manifest für die
Erneuerung revolutionärer Theorie“

I. Das nachfolgende
Manifest, Resultat eines mehrjährigen theoretischen Aufarbeitungsprozesses,
stellt keinen Endpunkt, sondern einen Ausgangspunkt dar. Es ist nicht
unmittelbar Anleitung zum Handeln im Sinne des üblichen politischen
Praxis-Fetischismus, sondern theoretisches Programm eines revolutionären
Willens, der sich des objektiven und subjektiven gesellschaftlichen
Vermittlungsproblems bewusst ist: ein Programm insofern für die
„theoretische Praxis“ selbst als ein begriffenes Moment
gesellschaftlicher Bewegung, das mit deren anderen Momenten weder unmittelbar
identisch noch auch nur synchron sein kann. Die apodiktischen Formulierungen,
wie sie dem Charakter eines Manifests entsprechen, sollen keineswegs irgendeine
Heilsgewissheit suggerieren oder eine neue Glaubenswahrheit in die Welt setzen.
Vielmehr wird die Kohärenz einer erarbeiteten theoretischen Position „aus
einem Guss“ offen gelegt, die für sich allerdings in Anspruch nimmt, den
Zugang zu einer radikalen Kritik „aller bestehenden
Gesellschaftsordnung“ im Sinne des Kommunistischen Manifests erneut
freizulegen. Es ist dies kein theoretisches „Sesam öffne dich“ für
denkfaule Mitläufer und Bekenner, sondern das Wiederaufnehmen einer verschütteten
Dimension des Marxschen Werkes, ohne dass wir uns diesem in einem bloß
schriftgelehrten Sinne auslegender Priester des „Marxismus“
verpflichtet fühlen würden. Gerade aus einer solchen Haltung heraus ist dieses
Manifest gleichzeitig ein hingeworfener Fehdehandschuh der gesamten heutigen
Linken gegenüber, deren Spektrum sich in reformistischer Verplattung,
steriler Traditionspflege und sprachloser Bauchmilitanz erschöpft.

Der Text gibt im
wesentlichen die Anschauungen wieder, wie sie in der Zeitschrift
„Marxistische Kritik“ sowie auf zahlreichen Seminaren in den
vergangenen Jahren entwickelt wurden; er geht aber über das bisher (wenige)
Publizierte hinaus, auch über den gesicherten Konsens der Redaktion der
„Marxistischen Kritik“, die sich weder als abgeschottete monolithische
Einheit noch den Theoriebildungsprozess als abgeschlossen begreift. Die
Kernaussagen über die Befangenheit der Linken in den warenfetischistischen
Reproduktionsformen und über das Ende der alten „Arbeiterbewegung“
stellen allerdings eine verbindliche Grundlage unserer Position dar mit einem
einheitlichen Ansatz. Die „
Initiative
Marxistische Kritik
“ (IMK) als Trägerkreis der
Zeitschrift und der Seminararbeit gibt dieses Manifest heraus, um sich einen
Orientierungsrahmen für die weitere theoretische Arbeit, Qualifizierung und
öffentliche Auseinandersetzung zu schaffen. Es handelt sich aber für sie weder
um einen theoretischen Katechismus noch um das Surrogat eines politischen
Programms. Im Einzelnen gibt es auch innerhalb der IMK Vorbehalte und Unklarheiten
gegenüber diversen Aussagen der dargelegten Gesamtanschauung, so etwa
hinsichtlich der „Zusammenbruchstheorie“, der Frauenbewegung, der
Bestimmung des bürgerlichen Staates etc. Die IMK betrachtet aber das Ganze der
im Manifest entwickelten Position als geeigneten und fruchtbaren Ausgangspunkt,
um zu einer Erneuerung revolutionärer Theorie auf der Höhe der Zeit zu
gelangen. Insofern ist das Manifest nicht nur als die notwendig schroffe
Abgrenzung von der bisherigen Linken, sondern gleichzeitig als Angebot zur
Mitarbeit, theoretischen Qualifizierung und Auseinandersetzung zu verstehen.
Nicht im Sinne eines linken Pluralismus ohne inhaltliche Verbindlichkeit,
sondern als weitertreibendes Abarbeiten an einer
bestimmten und unmissverständlich klargelegten Position.

II. Obwohl es sich
um eine Manifestation auf dem Boden der Theorie selbst handelt und noch nicht
um eine unmittelbar praktische Kampfansage an die bestehende Gesellschaft, kann
sie doch nicht in einer neutralen wissenschaftlichen Form und ohne jeden
politischen Bezug vorgetragen werden. Auch die Theorie hat immer an sich selbst
schon das Moment des Kampfes, weil sie Teil der gesellschaftlichen Praxis ist.
Wir verstehen uns nicht als positivistische Wissenschaftler, die zumindest
ihrer Ideologie nach außerhalb dieser totalen Praxis stehen und diese quasi nur
unter dem Mikroskop beobachten, sondern vielmehr selbst als aktives und
kämpfendes Teilchen der von uns untersuchten Bewegung. Der Ausgangspunkt für
ein Programm zur Erneuerung revolutionärer Theorie ist auch notwendigerweise
nicht etwa voraussetzungslos die kapitalistische Gesellschaft in ihrer
Unmittelbarkeit, sondern der Zustand der Theorie und der Linken selbst, gegen
die wir polemisieren, weil sie ihren Frieden mit dieser Ordnung gemacht hat oder
bloß hilflos gegen deren Erscheinungsformen anrennt. Die Kritik nicht bloß
äußerlich, sondern auch immanent als Erklärung des kritisierten Zustands selbst
zu leisten, erfordert gleichzeitig eine im wesentlichen geschichtliche
Darstellung, in der nicht (wie es einem rein wissenschaftlichen Vorgehen
angemessener wäre) das Historische im Logischen impliziert ist, sondern
vielmehr das Logische anhand der historischen Entwicklung herausgearbeitet
wird.

III. In der Abfolge
der Kapitel handelt es sich zunächst einmal um die Geschichte unserer eigenen
kritischen Theoriebildung selbst, sozusagen um die „Jahresringe“
unserer Entwicklung, die sich dabei gleichzeitig als ein logisches,
systematisches Ganzes herausstellt. Ausgehend von der Kritik des gängigen
linken Theorieverständnisses spannt sich der Bogen über eine Kritik der
Wertform und der Befangenheit der Linken in dieser Form negativer, abstrakter
Gesellschaftlichkeit bis hin zu einer aufhebenden Kritik dieses Zustands durch
eine Bedingungsanalyse der alten Arbeiterbewegung und der auf diese bezogenen
marxistischen Strömungen hindurch (als deren Endprodukt wir die heutige Linke
sehen), um schließlich zu klassentheoretischen Schlussfolgerungen und zum
sozialen Vermittlungsproblem der Theorie selber zu kommen. Im Kapitel über
Arbeiterbewegung und Demokratie, das deshalb auch den größten Raum einnehmen
muss, werden die vorher für sich behandelten Momente des Theorieverständnisses
und der Warenproduktion in einen größeren historischen Erklärungszusammenhang
gestellt; die Geschichte des Kapitalverhältnisses wird so gleichzeitig als
Geschichte der Arbeiterbewegung und der theoretisch-politischen Linken selbst
skizziert, wobei die allgemeine Entwicklungslogik des Warenfetischs und seiner
Sekundärformen ebenso wie die spezifische Kritik bestimmter linker Gruppen und
Strömungen in Form kurzer Exkurse in diesem Rahmen dargestellt werden. Wir
erwarten weder ungeteilte Zustimmung noch ein bloß betretenes Schweigen. Wenn
dieses Manifest zum Ärgernis für die Linke wird, dann hat es seinen Zweck
erfüllt.

Robert Kurz. April/November
1988

Nachwort

I.
Die bisherigen Diskussionen unseres Textes lassen es noch vor seiner
Veröffentlichung geraten erscheinen, einige Nachbemerkungen zu machen; einmal,
um einige Missverständnisse über Inhalt und Zielsetzung auszuräumen, zum andern
aber, um eine „öffnende“ Auseinandersetzung für die nähere Zukunft zu
ermutigen und den Text nicht als glatte Wand von Schein-Abgeschlossenheit für
den Leser dastehen zu lassen. Trotz gegenteiliger Aussagen schon im Vorwort
scheint sich dieses Gefühl aber doch teilweise aufgedrängt zu haben, wie wir
einigen Reaktionen entnehmen mussten.

So mag die
apodiktische Kürze und Zugespitztheit, wie sie dem Genre eines Manifests
entspricht, vielleicht bei manchen Lesern den unangenehmen Eindruck entstehen
lassen, wir verhielten uns wie Leute, denen ein vermeintlich neues Wissen wie
eine „Eingebung“ vom Himmel gefallen ist und die von einem Standpunkt
aus ihre Botschaft verkünden, von dem sie gar nicht sagen, wie sie ihn eigentlich
erreicht haben. Da es nicht möglich ist, die theoretischen Trittspuren in einem Manifest ausreichend
aufzuzeigen, soll dazu wenigstens hier etwas gesagt werden. Das erkenntnisleitende Motiv war anfangs für uns inhaltlich ein
sehr abstraktes, geschuldet einem Unbehagen über die Situation der Linken etwa
Ende der 70er Jahre: wir wollten weder dem „neuen“ und erkennbar
erbärmlich neo-reformistischen Praxis-Strom der Grün-Alternativen als Lemminge
folgen wie so viele allzu kurzatmige Ex-Revolutionäre der neuen Linken, noch
andererseits „in Treue fest“ an einem offensichtlich in vielen Fragen
überlebten und versteinerten Marxismus-Verständnis dogmatisch und sektiererisch
festhalten. Gefragt war also eine „Aufarbeitung“. Dass und inwiefern
das Ernstnehmen einer solchen Aufgabenstellung bedeutet, den aus der
„Bewegung“ ererbten Hang und Drang zu unmittelbarer Praxis und
Machbarkeit zurückzunehmen, statt das Problem sofort wieder in
„politischer Praxis“ zu ersäufen, ist im Manifest als polemische
Kritik des „Praxis“-Fetischismus der Linken
deutlich genug dargestellt.

Das Ernstnehmen der
Theorie ohne Rücksicht auf jede wie immer geartete „politische“
Machbarkeit und ohne sofortige hechelnde Einklinkungs-Versuche in die
Bewegungs-Konjunkturen trug uns den Hass der Praktizisten
und „Politik“-Fetischisten aller
Schattierungen ein, soweit sie mit unserem Bemühen konfrontiert wurden. Das
Resultat war eine tiefe Entfremdung und ein Entkoppelungsprozess von der linken
Oppositionsbewegung überhaupt und ihrer gesamten Vorstellungswelt, deren
Geschöpfe wir doch andererseits auch selber waren. Es kann und soll zugestanden
werden, dass wir einen theoretischen Anknüpfungspunkt allein in der
Kritischen Theorie der Frankfurter Schule fanden, und zwar gerade in einem von
der neuen Linken nicht ohne Grund beiseitegelegten
Moment, nämlich in der expliziten Kritik des positivistischen instrumentellen
Denkens
. Dieses instrumentelle Denken richtet sein Augenmerk
„unmittelbar“ auf das Erreichen von Zielen und Zwecken bzw. das
„Vertreten von Interessen“, ohne dass die gesellschaftliche
Konstituiertheit dieser Ziele, Zwecke und Interessen selber in das Blickfeld
gerät oder gar Gegenstand wissenschaftlicher Kritik wird. Dieses Denken, soweit
es sich als links oder gar „radikal“ versteht, realisiert überhaupt
nicht, dass es sich a priori schon in bürgerlicher Immanenz bewegt und seine
Ziele und Interessen nur in bürgerlichen Kategorien ausdrückt statt in deren
Kritik. Wir bemerkten, dass die Linke einschließlich der linkssozialistischen akademischen
Strömungen dieses von Horkheimer und Adorno
kritisierte instrumentell verkürzte Theorieverständnis des bürgerlichen Denkens
via eine falsche Interpretation der Marxschen Feuerbachthesen (die als
kategorischer Imperativ des Praktizismus und „Politizismus“ missverstanden werden) selber
reproduzierte, mithin jener gewohnte und geläufige kategorische Imperativ
„politischer Praxis“ in dieser instrumentellen Form bürgerlich war
und den Keim reformistischer Verflachung von Anfang an in sich trug. Gerade von
einem revolutionären Standpunkt aus gewannen so die kritische Zurückhaltung von
Adorno, Alfred Schmidt und selbst Habermas gegen die
abstrakte „Praxis“-Emphase der
Studentenbewegung, ungeachtet der zweifellos vorhandenen
bürgerlich-professoralen Attitüden, im Nachhinein ein größeres Maß von
Berechtigung.

Die von der
Kritischen Theorie hervorgebrachte Kritik des bürgerlichen Instrumentalismus
erschien uns jedoch teils als merkwürdig inhaltslos, teils als mit eklektischen
Inhalten verknüpft (besonders bei Habermas). Bei
näherer Betrachtung stellte sich sogar heraus, dass die Kritische Theorie (vor
allem in der „Dialektik der Aufklärung“) den gesellschaftlichen
Bedingungsgrund des instrumentellen Denkens verwechselt und gleichsetzt mit der
menschlichen Naturbeziehung. Gerade in der Naturbeziehung aber ist ein
„instrumentelles“ Denken und Vorgehen nicht nur unvermeidlich,
sondern auch alles andere als negativ. Das Problem besteht ja gerade in der
gesellschaftlichen Präformierung der Ziele und
Zwecke, denen die Naturbeziehung unterworfen wird und die nicht aus dieser
Naturbeziehung selber zu erklären sind. Indem die Kritische Theorie aber dieser
Verkehrung erliegt (begründet nicht zuletzt in ihrer Anlehnung an Freud und
dessen ideologische Zurückführung gesellschaftlicher Phänomene auf eine
ontologische Trieb-Natur des Menschen), verfehlt sie auch den wirklichen
gesellschaftlichen Inhalt des positivistischen Instrumentalismus.

Diese Kritik führte
uns schließlich zum entscheidenden, von allen früheren Interpretationen der
Marxschen Theorie inklusive der „kritischen“ Marxismen nicht oder
jedenfalls bei weitem nicht ausreichend reflektierten Kernpunkt: zur
radikalen Kritik von Wert und Geld, d.h. zur expliziten und nachdrücklichen
Kritik der Warenproduktion überhaupt in der Stufenfolge aller ihrer
Erscheinungen
. In diesem Punkt aber versagte offensichtlich auch die
Kritische Theorie. Wenn sie in unserem Manifest-Text vor allem unter diesem
Gesichtspunkt negativ in den Gesamtkomplex der „alten“,
traditionellen Theorie-Strömungen eingeordnet und kritisiert wird, so soll doch
wenigstens hier ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass ihre Kritik des
positivistischen Instrumentalismus (und damit auch des „Praxis“-Fetischs nicht nur der neuen Linken, sondern
auch der alten Arbeiterbewegung und des auf diese bezogenen traditionellen
Machbarkeits“-Marxismus innerhalb der
Warenform) für uns trotz ihrer Mängel ein wichtiger Erkenntnisschritt war und
die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie zweifellos insofern einen
Ansatz bot, um aus dem bürgerlich immanenten traditionellen Marxismus überhaupt
heraustreten zu können. Es galt jedoch, über die Kritische Theorie hinaus die
Kritik des verkürzenden instrumentellen Denkens nicht bloß als methodische zu
führen oder fälschlich ihren Inhalt primär in der Naturbeziehung zu suchen,
sondern vielmehr den wirklichen gesellschaftlichen Inhalt herauszuarbeiten,
nämlich als Kritik der Warenproduktion überhaupt von ihren Grundlagen her. Da
die Kritische Theorie aber in dieser entscheidenden Hinsicht die Verkürzungen
des Wert-Begriffs der traditionellen Marxisten vollauf teilte, musste sie die
Wertform als bloß sektorales Teilmoment gesellschaftlicher Reproduktion
missverstehen, statt sie als Totalitätskategorie durchhalten zu können; die
neuen Erscheinungen kapitalistischer Vergesellschaftung nach dem Zweiten
Weltkrieg konnten dann nicht mehr adäquat begriffen und schließlich nur noch eklektisch-„multikausaldeskripiert
und interpretiert werden wie etwa bei
Habermas.

Für uns war damit
ein theoretischer Ausgangspunkt gewonnen, der es erstmals erlaubte, die gesamte
alte Arbeiterbewegung und alle darauf bezogenen Marxismen, die neue Linke seit
1968 eingeschlossen, als abgeschlossene und bewusst theoretisch abzuschließende
Epoche zu begreifen, ohne deswegen die Marxsche Theorie über Bord zu werfen
bzw. zu vormarxistischen (und vorwissenschaftlichen) Emanzipationsideen des 18.
und 19. Jahrhunderts Zuflucht nehmen zu müssen. Das vorliegende Manifest ist
eine erste zusammenfassende Darstellung dieser Gedanken, ohne dass damit wie
gesagt irgendeine Abgeschlossenheit suggeriert werden soll.

II. Ein wenig böses
Blut mag auch unsere Kritik der
Autonomen
machen, die im Manifest unserer Auffassung nach keineswegs zu
Unrecht polemisch als „halbe Portion Nachschlag von 1968“ tituliert
werden. Freilich kann dazugesagt werden, dass die Autonomen heute natürlich
einen anderen sozialen Hintergrund haben als die alte Jugend- und
Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre. Konnte diese noch gewisse bildungsbürgerliche
Züge des traditionellen Universitätslebens und „höheren“ Schulwesens
nicht völlig verleugnen, so ist die viel zitierte „Sprachlosigkeit“
und Theorielosigkeit der neuen Militanz umgekehrt
auch bereits der spätfordistischen explosiven
Ausdehnung und gleichzeitig Auspowerung des gesamten Bildungswesens geschuldet,
die sozialen Probleme einer kapitalistisch vermassten Semi-Intelligenz
eingeschlossen. Dieser veränderte soziale Hintergrund hindert die Autonomen
aber nicht daran, das Spektrum der Ideen von 1968 (die damals schon ein bloßer
Durchlauf sämtlicher historischer Varianten des abgelebten traditionellen
Marxismus, Anarchismus etc. waren) noch einmal neu und noch einmal verflacht im
kurzschlüssigen Praktizismus wieder zu beleben: ein
wenig Existentialismus, der schon 1968 veraltet war; ein Schuss Nietzsche
(unvermeidlich für den galoppierenden Weltschmerz deutscher Jungfrauen und
Jungmänner sowie altdeutscher Tanten und französischer Neu-Philosophen), ein
paar Brocken
Operaismus samt Toni Negri, das ganze gewürzt
mit blumiger altanarchistischer Moralsoße – ungenießbarer geht’s nimmer. Also
Entschuldigung: das ist ungefähr so, wie wenn jemand einen steinalten, unter
die Schulbank geklebten Kaugummi wieder hervorpult und in den Mund steckt. Aber
die Nierentische werden ja auch wieder modern. Wir sehen leider keinen Grund,
dem irren Wiederholungszwang irgendein Zugeständnis zu machen.

Beleidigt mögen
einige Autonome sein, weil sie doch inzwischen die Theorie entdeckt haben.
Dieser Impuls, wohl den Erfahrungen der letzten Jahre geschuldet, ist
sicherlich zu begrüßen. Mehr noch: in den Autonomen (bzw. vielleicht aus den
Autonomen hervorgehenden neuen Gruppen und Strömungen), soweit sie sich dem
Problem theoretischer Aufarbeitung nähern, sehen wir durchaus einen möglichen
Ansprechpartner; gerade auch von den objektiven Grundlagen gesellschaftlich
entkoppelter“ Intelligenz her, wie sie im
letzten Teil des Manifests skizziert wird. Insofern soll unsere Polemik ja dazu
dienen, dass die auf diesem Weg befindlichen Autonomen die Schlacken der
Vergangenheit und bloßer Lebensform- und Kaputtheits-Ideologien
schneller loswerden. Trotzdem soll uns niemand unsere Skepsis verdenken. Allzu
oft hat der manisch-depressive Zyklus der linken Praxis-Fetischisten in seiner düsteren
und zähneklappernden Phase schon den Ruf nach „mehr Theorie“
hervorgebracht und das weiße Fähnlein der „Schulung“ wurde gehisst,
ohne dass dies nachhaltige Folgen gehabt hätte. Es sollte den Autonomen zu
denken geben, dass viele von ihnen die großenteils verblichenen K-Gruppen bis
vor kurzem noch als „zu theoretisch“ kritisiert und darin den Grund
ihres Niedergangs gesehen hatten – ausgerechnet die K-Sekten, die ödesten
Buchhalter eines totgelaufenen Traditions-Marxismus und die schlimmsten Politikaster
und Praxis-Handwerkler, die jemals auf der Weide der
neuen Linken gegrast haben! Zu einer wirklichen Neu-Orientierung gehört ein
wenig mehr, als sich jetzt endlich notgedrungen zur Theorie überhaupt zu
bequemen; vor allem muss der Stellenwert der Theoriebildung selber bestimmt und
begriffen werden, dass die Vergangenheit nicht auszuschlachten, sondern endlich
zu überwinden ist. Die Theoriebildung ist ein eigenständiger Kraftaufwand, kein
bloßes Futter für den nächsten Praxis-Zyklus.

Es sind allerdings
in diesem Zusammenhang einige häufig wiederkehrende Missverständnisse
auszuräumen. Wir stellen nicht das absurde Ansinnen, dass zugunsten der Theorie
auf Formen negatorischer, revolutionärer Praxis wie
Agitation, Demonstrationen usw. etwa verzichtet werden soll. Gesellschaftliche
Oppositionsbewegungen können sich überhaupt nur in solchen Formen ausdrücken
und dürfen nicht mit theoretischen Strömungen verwechselt oder unmittelbar
gleichgesetzt werden. Freilich ist auch eine solche Bewegung noch keineswegs identisch
mit wirklichen gesellschaftlichen Widerstands- oder gar Offensivhandlungen,
also etwa Streik, Boykott oder militärische Aktionen. Die Verballhornung und Inflationierung des „Widerstands-Begriffs entspringt
der Ohnmacht der heutigen Bewegungen, die in kindlicher Manier gesellschaftlich
vermittelte Kampfaktionen zu bloß symbolischen Ersatzhandlungen heruntertransformiert haben und sich mit diesem Schwachsinn
zufrieden geben. Dies gilt aber nicht bloß für die Totstell-Übungen
christlicher Friedensfreunde oder die lächerlichen Pseudo-Blockaden
moralisierender Prominenz vor diversen NATO-Kasernentoren, sondern mindestens
genauso für die so genannte Militanz der Autonomen, die wohl teilweise bis
heute dazu neigen, gewisse Indianerspiele mit der Polizei zu
quasi-militärischen „Widerstands“-Handlungen
hochzustilisieren. Eine Oppositionsbewegung kann mit
Formen wie Agitation und Demonstration, Veranstaltungen usw. zunächst nur
versuchen, eine „öffentliche Meinung“ in ihrem Sinne zu schaffen; der
Übergang zu realen gesellschaftlichen Kampf-, Widerstands- und Offensivaktionen
hängt von der weiteren Entwicklung und vom Gelingen der gesellschaftlichen
„Vermittlung“ ab. Wenn diese Vermittlung nicht gelingt und die
berühmten „Massen“, die „arbeitende Bevölkerung“, die
„Betroffenen“ usw. sich scheinbar gegen ihre eigenen Interessen
verhalten und die Agitation, Demonstration usw. zum leeren Ritual wird, dann
kann daraus nur ein kurzschlüssiger Verzweiflungs-Existentialismus die
Notwendigkeit des Übergangs zur „Militanz“ folgern. Viel eher wäre
nach der Qualität der Agitation selber zu fragen, nach den Inhalten, die
vermittelt und nach den gesellschaftlichen Zielen die gewonnen werden sollen.
Wenn sich herausstellt, dass in dieser Hinsicht nichts existiert als eine Mischung
aus blauäugigen Forderungen des gesunden Menschenverstandes und
programmatischen Brocken sozialistischer Steinzeit, dann ist eben theoretische
Aufarbeitung gefragt, um zu einem neuen und weitergehenden Programm
gesellschaftlicher Umwälzung auf der Höhe der Zeit zu gelangen. Eine
theoretische Kritik der Verhältnisse und ihrer Geschichte ist aber nie und
nimmer aus den bloßen „Kampferfahrungen“ zu
gewinnen; dafür ist ein Verständnis der Theorie als einer eigenständigen und
nicht bloß „instrumentell“ nachgeordneten
„Kampffront“ notwendig. Wie sich aus der Vermittlung von Theorie und
theoretischer Aufarbeitung, Oppositionsbewegungen und der Krise der
Lebensverhältnisse selber so etwas wie ein revolutionäres gesellschaftliches
„Lager“ und wirkliche Kampfhandlungen ergeben, dafür kann natürlich
kein fertiges Rezept existieren. Wenn wir am Ende des Manifests einige mögliche
Formen theoretischer Praxis aufgezählt haben, dann gilt dies eben nur für
diesen Sektor der Theorie selber und soll nicht die ohnehin stattfindende
Praxis der Oppositionsbewegungen generell und abstrakt negieren.

Deswegen verlangen
wir auch mitnichten, dass nun etwa jeder linke Oppositionelle schlechthin zum
„Theoretiker“ werden soll. „Theoretiker“ im strengen Sinne
eines „hauptseitig“ in seiner persönlichen Praxis theoretisch
Arbeitenden, also eines theoretischen Publizisten, wird man sowieso nicht durch
einen plötzlichen Entschluss, sondern durch eine lange Geschichte hindurch, die
auch viele Formen von praktischer Betätigung einschließt (wie ja auch die
theoretische Praxis selber, z.B. das Publizieren, nicht ohne organisatorische
und technische Betätigungen auskommt). Dass die theoretische Aufarbeitung für
die Linke heute zum wichtigsten Kettenglied geworden ist, bedeutet vielmehr,
dass auch für diejenigen, die weiterhin rein numerisch in erster Linie
praktisch-politisch tätig sind (in Initiativen, Organisationen, Bewegungen
etc.), die Fragen der Theorie und des gesellschaftlichen Ziels zu den „brennendsten“ geworden sind, auch wenn sie nicht selber
theoretische Schriftsteller werden. In den praktischen Bewegungen selber ist
eine Debatte über ein neues, weitergehendes sozialistisches Ziel, über eine tiefergehende Gesellschaftskritik als bisher zu führen und
zu entfachen, um die gegenwärtige Paralyse zu überwinden. Dazu gehört nicht nur
das Ernstnehmen der Theorie überhaupt, sondern auch das bewusste Lesen
theoretischer Literatur und das Weitervermitteln theoretischer Einsichten, wozu
oft andere Fähigkeiten erforderlich sind, als sie die theoretischen Publizisten
selber haben. In einem solchen Prozess theoretischer und programmatischer
Debatte werden dann nicht nur Vermittlungen zwischen theoretischer und
politischer Praxis hergestellt, sondern es kann sich auch ein ganzes Spektrum
von Übergangsformen zwischen Theorie und politischer Praxis herausbilden, von
neuen Theoretikern und Publizisten, aber auch von Agitatoren, Propagandisten,
Organisatoren, Journalisten usw., die einen neuen Ansatz revolutionären
Bewusstseins nicht bloß verbreiten und gesellschaftlich verankern, sondern auch
auf vielen Ebenen selber mitentwickeln helfen. Dafür freilich ist eine Geduld
nötig, wie sie der Unmittelbarkeits-Fetischismus der aktionistischen und politikasternden Linken nicht aufbringen kann, der immer
sofort machbare Ergebnisse sehen und zu Hau-Ruck-Vermittlungen übergehen will.
Wir können nur hoffen, dass das jämmerliche Scheitern dieser Haltung den Boden
bereiten hilft für ein anderes Theorieverständnis.

Wenn wir also
mit der „Zumutung Theorie“ nicht die politische Praxis als solche in
Frage stellen wollen, so können wir umgekehrt auch verlangen, dass die
politischen Praktiker und Bewegungs-Aktivisten die gegenwärtige Spannung
zwischen Theorie und unmittelbarer gesellschaftlicher Praxis aushalten müssen
. Wir haben uns aus Einsicht in die Notwendigkeit
„gegen den Strom“ und „antizyklisch“ für die theoretische
Arbeit entschieden; wenn jetzt so manchen Aktionisten
selber die Notwendigkeit theoretischer Aufarbeitung zu dämmern beginnt, dann
sollen sie uns aber auch nicht langweilen mit der moralisch-imperativen Frage,
ob wir denn auch gegen Wackersdorf demonstrieren würden – als ob dies
irgendetwas zu tun hätte mit dem Gewicht oder der Nichtigkeit theoretischer
Argumente! Wer sich überhaupt nur mit theoretischen Ansätzen beschäftigen und
auseinandersetzen will, deren Vertreter bzw. Publizisten er vorher zur
unmittelbar persönlichen Teilnahme an seinen Demos und sonstigen Aktionen
verdonnert hat, der hat weder von den Gesetzen der gesellschaftlichen
Theoriebildung im allgemeinen noch von der spezifischen gegenwärtigen Situation
auch nur das geringste verstanden. Wenn etwa eine Gruppe der alttrotzkistischen
GIM (deren opulente Mäusehochzeit mit der früher eispickelschwingenden KPD/ML wenigstens zur Erheiterung der verdüsterten Restlinken
beigetragen hat) nicht mit uns in eine theoretische Debatte eintreten wollte,
weil wir „von der Praxis abgehoben“ wären und „man uns nicht in
Gewerkschaftsgremien sieht“, dann können wir nur betonen, dass wir
unsererseits mit derart bornierten Hohlköpfen eines betulichen politischen Vorsichhinpfuschens ebenfalls überhaupt nichts anfangen
können. Wer nicht einmal durch Schaden klug wird, dem ist in keinster Weise mehr zu helfen.

III. Das quasi
physikalische Trägheitsgesetz auch des Lebens und Denkens zeigt sich unserem
Ansatz gegenüber nicht nur in der Art des Theorieverständnisses, sondern auch
im Beharrungsvermögen der alten Inhalte. Schon die bisherigen Diskussionen im
Vorfeld der Veröffentlichung des Manifests haben uns gezeigt, mit welch enormen
Widerständen, Verdrängungen, Ab- und Ausgrenzungen, Aggressionen und teilweise
unglaublichen Verdrehungsversuchen wir zu rechnen haben und mit welch
irrationaler Verbissenheit und Starrheit des Denkens die traditionellen Linken
aller Schattierungen an ihren Verständnisrastern und Glaubensgewohnheiten in
geradezu altkatholischer Manier festhalten.

Mehrfach ist uns
entgegengehalten worden, unsere Position sei doch keineswegs etwas wirklich
Neues, sondern auch früher schon sowohl in der alten wie der neuen Linken auf
die eine oder andere Weise (erfolglos) vertreten worden. Natürlich wäre es
lächerlich, aus Gründen quasi der „Selbstdarstellung“ (in dieser
Hinsicht scheinen einige Leute von sich auf andere zu schließen) einen formalen
Streit um „Prioritäten“ führen zu wollen. Es ist für den Inhalt und
seine Bedeutung ganz gleichgültig, ob wir nun die „ersten“ sind oder
nicht; im Gegenteil wäre es sogar von Nutzen, einen Strang marxistischer
Debatte bereits für diese radikale Position reklamieren und darauf aufbauen zu
können. Ein solcher Strang existiert jedoch nicht, jedenfalls nicht in der Art
und Weise der Fragestellungen, auf die es uns vor allem ankommt. Nicht, dass
die Kritik der Warenproduktion und des Geldes in der linken oder marxistischen
Geschichte wie auch außerhalb davon überhaupt nicht vorkommen oder nicht
gelegentlich benannt würde, und sei es als bloßes Spurenelement. Aber diese
Benennung wird stets sofort wieder zurück- und also nie wirklich ernst
genommen, entweder durch ein eiliges Hinwegeskamotieren des Problems in eine
weit entfernte Zukunft (worin sich eben die objektive Begrenztheit der alten
Arbeiterbewegung spiegelt, die eine radikale Kritik der Warenform als
solcher wirklich auf eine nach ihr liegende Zukunft verschieben musste), oder
durch eine vermeintliche Kritik der Warenproduktion mit selber warenlogischen
Kategorien, die nicht als solche erkannt werden.

Außerhalb des
Marxismus findet sich so zwar eine „Kritik
des Geldes
“ von Proudhon über
Silvio Gesell, die
Anthroposophen, einige Varianten des faschistischen Gedankenguts und die (sich
positiv so bezeichnenden) amerikanischen „Technokraten“ der 30er
Jahre bis hin zu Herrn Ghaddafi. Für alle diese außermarxistischen Ansätze
gilt, dass es sich bei näherem Hinsehen entweder überhaupt bloß um
„Geldreformen“ und Geldpfuschereien handelt (insbesondere aus einer
kleinbürgerlichen Kritik des Zinstragenden Kapitals heraus) oder um eine
oberflächliche, mit etatistisch-technokratischen
Elite- und Planungs-Illusionen verbundene „Geldkritik“, die niemals
bis zu einer Analyse und Kritik der gesellschaftlichen Realabstraktion von Ware
und Wertform vorstößt. Weder die Propaganda von „Tauschgerechtigkeit“
noch elitäre und kriegs- oder zuteilungswirtschaftlich inspirierte
Regulierungsmodelle haben auch nur das Geringste mit der Marxschen Kritik der
Warenform und des darin eingeschlossenen gesellschaftlichen Fetischismus
gemein.

Innerhalb des
Marxismus beschränkt sich die direkte Kritik des Geldes, verbunden mit
praktischen Aufhebungsversuchen, auf den bolschewistischen Kriegskommunismus
und neuerdings das Pol-Pot-Regime in Kampuchea,
dessen massenmörderische Praktiken weltweit Entsetzen und Abscheu erregt haben.
In beiden Fällen handelte es sich natürlich nicht um die Sprengung der
Warenform in hoch vergesellschafteten Reproduktionsaggregaten, sondern um
Bewältigungsversuche extremer Notsituationen in „unterentwickelten“
Gesellschaften mit großen vorkapitalistischen Sektoren; die
„Geldkritik“ auf dieser Basis stellte bloß eine ideologische
Verhimmelung mehr oder weniger brutaler etatistischer
Eingriffe dar, die keine Kritik der Wertform selber und ihrer Stufenfolge von
Fetischismen zu leisten imstande war, insofern also den außermarxistischen
Ansätzen eng verwandt bleiben musste. Auf den gegebenen gesellschaftlichen
Grundlagen konnten auch die radikalen bolschewistischen Theoretiker des
„Kriegskommunismus“ (so u. a.
Bucharin, der heute
gerade umgekehrt als Theoretiker der NÖP
rehabilitiert wird) nicht über die Kategorie des „Austauschs“ (was in
irgendeiner Form voneinander getrennte und also formal „unabhängige“
Produzenten impliziert) hinauskommen und daher das Geld nur
äußerlich-funktionell und „organisatorisch“ kritisieren, ohne zum
Begriff der Wertform und des Warenfetischs selber im Sinne einer Aufhebung
vorzustoßen. In der Folge wurde unter dem Diktat der nachholenden
Industrialisierung die Problemstellung völlig verdunkelt durch den von uns
ausführlich kritisierten ideologischen Begriff der „sozialistischen
Warenproduktion“.

Ähnliches gilt für
die westliche „Sozialisierungsdebatte“ Ende des 19. Jahrhunderts und
vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. Nirgendwo wurde die Kategorie des Werts
selber auch nur in Ansätzen qualitativ transzendiert;
bestenfalls wurde unter „Aufhebung der Warenproduktion“ eine
weiterhin letztlich wertförmige „Planwirtschaft“ unter Beseitigung
lediglich der äußeren Regulationsmechanismen des „blinden“
kapitalistischen Marktes verstanden, selbst dort noch, wo ausnahmsweise auch im
Westen direkt von einer „Abschaffung des Geldes“ gesprochen wurde (so
etwa von dem sozialistischen Positivisten Otto Neurath). Bezeichnenderweise
waren es im Westen gerade nicht die vermeintlich „orthodoxen“
Marxisten, die so weit gingen; auch im Westen war der wirkliche Ausgangspunkt
solcher Forderungen nicht theoretisch als Konsequenz der Marxschen Wertform-
und Fetischismuskritik abgeleitet, sondern empirisch aus den Erfahrungen der
Kriegswirtschaft, vor allem des deutschen Reiches. Die im Kontext und Gefolge
dieser Debatten aufgestellte bürgerliche Behauptung einer „logischen
Unmöglichkeit“ sozialistischer Reproduktion (Weber, v. Mises
u. a.), deren blinde Prämisse selbstverständlich die Wertform als
gesellschaftliche Qualität immer war, blieb von sozialistisch-kommunistischer
Seite entweder unbeantwortet oder die Replik ging bewusstlos von derselben
Prämisse aus (so etwa O. Lange). Soweit also der historische Marxismus auf dem
Boden der alten Arbeiterbewegung überhaupt explizit Sozialismus und
Warenproduktion für unvereinbar hielt, handelte es sich letztlich immer bloß um
Missverständnisse oder (z. T. grobe) Unklarheiten über den inneren Zusammenhang
von abstrakter Arbeit, Wert und Geld, in dem sich die Warenproduktion erst als
gesellschaftliche Reproduktionsform konstituiert und ihre destruktiv werdende
historische Dynamik entfaltet.

Indem diese
verkürzten Vorstellungen einer „Aufhebung der Warenproduktion“ nicht
über den Gedanken einer „organisierten“ Wertvergesellschaftung unter
vermeintlicher äußerer Beseitigung bestimmter als genuin kapitalistisch empfundener
Bestandteile der Warenform hinauskamen („Privateigentum“,
„Profit“, „Konkurrenz“, „freier Markt“ als
abgelöste und verdinglichte Teil-Kategorien) und damit nicht über die Basis des
Fetischismus, mussten sie notwendig historisch verblassen. Die Marxsche Kritik
von Wertform und Geld erschien so schließlich bestenfalls noch als die nichts
sagende bzw. sogar inhaltlich grundfalsche trotzkistische Phrase vom
angeblichen „Absterben“ des Geldes in einer unbestimmbaren Zukunft
(so u. a.
Rosdolsky), womit das theoretische und praktische Zentralproblem
gnädig zugedeckt und eingesargt wird. Von solchen hilflosen Phrasen abgesehen
ist daher weder im Osten noch im Westen bei irgendeiner traditionellen Linken
heute noch die Rede von einer „Aufhebung der Warenproduktion“, wie
wir im Manifest gezeigt haben. Ein um diese Dimension erleichterter
„Marxismus“ ist es allerdings wert, auf den Müll geworfen zu werden.
Dass unser Ansatz also keineswegs mit früheren (und in der Tat gescheiterten)
Versuchen einer radikalen Kritik von Ware und Geld identifiziert werden kann,
sollte damit klargestellt sein. Wer freilich den grundsätzlichen Unterschied in
der Herangehensweise gar nicht sehen will, für den dürfte auch dieser Nachtrag
vergebne Liebesmüh sein.

Ähnliches gilt auch für
die neue Linke und ihre Geschichte. Nur flüchtig wurde 1968 der Warenfetisch
thematisiert, weit entfernt von theoretischer Konkretisierung und Zuspitzung
und eher kulturkritisch begründet („Konsumzwang“) als von einer
Kritik der politischen Ökonomie her. Entsprechend rasch verflüchtigte sich
diese Fragestellung in Varianten bürgerlicher Machbarkeits-Illusionen innerhalb
der Fetisch-Sphäre der „Politik“. Eine gewisse Zuspitzung leisteten
zwar die hierzulande niemals einflussreichen französischen „
Situationisten“ in der 68er Bewegung, die direkt eine Kritik des
Warenfetischs thematisierten, jedoch vermischt mit dem bürgerlichen
Unmittelbarkeits-Denken ihrer existentialistischen Herkunft; indem sie so nicht
über einen radikalisierten bürgerlich-abstrakten Subjektbegriff hinauskamen,
blieben auch die Situationisten unfähig, eine aus der
Kritik der politischen Ökonomie begründete konkrete Kritik der Warenform zu
entfalten und gesellschaftlich vermittlungsfähig zu machen. Sicherlich wird es
auch zu unseren Aufgaben gehören, Ansätze wie die genannten und andere zu
würdigen und alle bisherigen Anläufe zu einer radikalen Kritik von Ware und
Geld in der Theoriegeschichte aufzuspüren und kritisch zu verarbeiten. Schon
die bisherige Sichtung lässt aber den Schluss zu, dass weder außerhalb noch
innerhalb des bisherigen Marxismus explizit die Konsequenzen der Kritik der
politischen Ökonomie in ihrer vollen Tragweite begriffen und ausgearbeitet
worden sind. Auch das Marxsche Werk selbst, das als einziges auf diese Konsequenzen
hinführt, enthält noch Dunkelheiten und Unklarheiten in dieser entscheidenden
Hinsicht. Solche Feststellungen treffen wir nicht aus unserer selbsternannten
„Genialität“ heraus, sondern vielmehr aus der Einsicht, dass die
bisherigen Interpretationen der Kritik der politischen Ökonomie ihre
Verkürzungen aus der Eingebundenheit in eine historische Situation ziehen, in
der die weltweite Entfaltung der Wertform als Kapitalverhältnis ihren
Entwicklungsspielraum noch nicht ausgeschöpft hatte, auch nicht hinsichtlich
dessen, was Marx als die „zivilisatorische Mission“ des Kapitals
bezeichnet hat (Entwicklung der Produktivkräfte, Erweiterung der Bedürfnisse,
Herausbildung vernetzter gesellschaftlicher Infrastrukturen usw., die den
„Austausch“ ad absurdum führen). Dass die historische
Arbeiterbewegung in allen ihren Varianten selber Bestandteil und Motor dieser
vollen Entfaltung des Kapitalverhältnisses war und gar nichts anderes sein
konnte, gehört zu den zentralen Thesen unseres Manifests. Erst heute beginnt dieses
Verhältnis als Resultat seiner eigenen Entwicklung an absolute Grenzen zu
stoßen. Erst heute wird daher auch jene radikale Kritik der Warenform überhaupt
in ihrer vollen Konsequenz möglich und notwendig, die wir für unseren Ansatz in
Anspruch nehmen.

IV. Nicht besser ist
das mehrfach aufgetretene Argument, unsere Thesen liefen auf „ökonomischen
Reduktionismus“ hinaus bzw. wir würden uns einbilden, mit der
„fundamentalen Wertkritik“ den „Stein der Weisen“ gefunden
zu haben
. Aus solchem Gerede spricht einzig und allein das tiefverwurzelte Zurückscheuen vor einer radikalen Kritik
der Grundlagen aller bestehenden Gesellschaft, aus deren Form auch die gesamte
Linke ihre eigene fetischistische „politische“ Subjektivität herleitet,
ohne sich dessen bewusst zu sein. Das alte begriffslose Gefasel des
traditionellen Marxismus von einer so genannten „relativen
Selbständigkeit“ diverser „gesellschaftlicher Sphären“ (Überbau,
Politik, Kultur etc.) gegenüber der „Ökonomie“ entspringt einzig und
allein einem selber „ökonomistisch
verkürzten Verständnis der Wertform und verkennt, dass allein schon die
Existenz dieser „Sphären“ als getrennte und gegeneinander
„relativ selbständige“ ein historisches Produkt der Entfaltung der
Wertform ist. Die heutigen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, wie
weit entfernt sie immer von der „Ökonomie“ im kruden Sinne, d.h. von
der empirischen „Wirtschaft“ auch sein mögen, sind von der
dynamischen Entfaltung der Wertform entweder überformt worden (z.B. die „Familie“)
oder von ihr überhaupt erst hervorgebracht. Gerade die Sphäre der
„Politik“ selbst, der beliebteste Tummelplatz linksbürgerlicher
Subjektivität, muss als vom Wert gesetzte Fetisch-Sphäre begriffen werden, die
in keinster Weise als solche transitorische
Möglichkeiten enthält (wie es sich der linkssozialistische Reformismus
einbildet), sondern vielmehr zusammen mit dem Kapitalverhältnis als dessen
integraler Bestandteil abzuschaffen ist. Solche Einsichten bedeuten nicht im
mindesten, dass die empirischen Erscheinungen sämtlicher gesellschaftlicher
„Sphären“ nun idealistisch aus der Wertform unmittelbar
„abzuleiten“ wären (was eine völlige Verkennung dessen beinhalten
würde, was logische „Ableitung“ überhaupt meint); vielmehr muss die
Empirie durchaus als solche untersucht werden, allerdings gerade, um anhand der
wirklichen empirischen Erscheinungen das Wirken der Wertform als Totalitätsform
der kapitalistischen Gesellschaft zu entwickeln und aufzuzeigen. Eine Theorie,
die sich unter heutigen Bedingungen beliebigen gesellschaftlichen Gegenständen
zuwendet, ohne von der darin erscheinenden Wertform zu sprechen, können wir nur
als ignorant bezeichnen und nicht mehr ernst nehmen, d.h. höchstens unter
ideologiekritischen Aspekten behandeln.

Es muss heute
festgestellt werden, dass die allzu glattzüngige Rede vom „ökonomischen
Reduktionismus“ (so sehr dieser Vorwurf auch bestimmten verkürzten
Anschauungen im traditionellen Marxismus tatsächlich gemacht werden kann) zur
billigen Alibi-Formel für die „politische“ Linke geworden ist, den
Konsequenzen der Kritik der politischen Ökonomie systematisch auszuweichen. Die
linke Durchschnittstheorie betet die Wertform bestenfalls abstrakt
definitorisch herunter, um gleich im nächsten Atemzug dieses weder begrifflich
noch in seiner historischempirischen Entfaltung durchdrungene Zentralproblem
wieder soziologistisch zu relativieren, praktisch fallenzulassen und sich mit der stumpfsinnigen Formel zu
begnügen, dass der Wert schließlich nicht „alles“ sei: Subjekt
„ja bitte“, systematische Kritik der Warenproduktion bis auf die
Grundlagen „nein danke“ – die Grundformel des seinem Unwirklichwerden
hinterher winselnden bürgerlichen Individuums. Diese heute fast schon abgefeimt
gewordene Ignoranz gegenüber der Wertform als Totalitätsform hat sich niedergeschlagen
als Einordnung der „linken“ Theoriebildung in den Supermarkt des
bürgerlichen akademischen Denkens, das aus den empirischen „Sphären“
und Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft ebenso viele
„Wissenschaften“ macht und ihren gesellschaftlichen Grund in der
Wertform auch nur wahrzunehmen unfähig ist. Und wenn sich die linken Subjekt-Soziologisten auf den Kopf stellen: der Wert ist
die negative, zerstörerisch gewordene Totalitätsform dieser Gesellschaft, deren
Kritik die Voraussetzung aller Kritik und deren Erkenntnis die Voraussetzung
aller Erkenntnis ist. Darunter geht nichts.

Tatsächlich scheint
es unseren bisherigen Gegnern und Kritikern auch nur darum zu gehen, mit
solchen und ähnlichen Argumenten unseren Ansatz schon im Vorfeld einer
Auseinandersetzung zu verwässern und zu relativieren, um ihn gewaltsam in den
Kosmos des altgewohnten „linken“ Denkens
irgendwie einordnen zu können, mit dessen gewöhnlichem Theorie- und
Politik-Verständnis sie sich kompatibel halten wollen, um nicht aus dem wiederkäuend
vor sich hinvegetierenden Spektrum der „Linken“ herauszufallen
oder als „utopisch“ bzw. „theoretisch abgehoben“
exkommuniziert zu werden; geradezu demagogisch (und gleichzeitig selbstentlarvend) wird diese Haltung, wenn etwa geäußert
worden ist, unser theoretischer Ansatz radikaler Kritik der „Warenform
überhaupt“ erinnere in seinen Konsequenzen (nämlich u. a. Abschaffung des
Geldes als historisch aktuelle Losung) „an die mörderischen Praktiken
eines Pol Pot“ etc. In solchen Äußerungen zeigt sich, wie tief verwurzelt
die warenförmige bürgerliche Subjektivität auch in der Linken ist, wie sehr
diese Subjektivität als negative und abstrakte an der Geldform hängt und sich
an diese Form klammert, wie tief der Unwille ist, sich wirklich auf die
unvermeidlichen Konsequenzen der Marxschen Theorie einzulassen. Wenn dann
blindlings und wider besseres Wissen der Verweis ausgerechnet auf Pol Pot
hervorgestoßen wird, also auf die Tragödie einer terroristisch-etatistischen
Kommandowirtschaft unter dem Vorzeichen eines asketischen
Anti-Intellektualismus in der Bürgerkriegssituation eines unentwickelten Landes
mit zerstörter Infrastruktur – dann fällt es schwer, auf solche Anwürfe
überhaupt noch zu antworten. Dann können wir nur offen sagen: Wer eine
„politische Heimatlosigkeit“ fürchtet, wer sich kompatibel halten
möchte mit den fetischistischen Illusionen der „demokratischen
Linken“, der hat in der Tat nichts bei uns verloren und eine Diskussion
ist überflüssig, wenn sie bloß der Konservierung eigener Vorurteile dienen soll
und der Zelebrierung eines in der Schwebe gehaltenen „Unbehagens“
gegenüber einer klar bestimmten Position, auf die man sich nur nicht
verbindlich einlassen will.

V. Wenn wir unser
Manifest und unsere theoretisch „aufarbeitende“ Tätigkeit überhaupt
im Sinne eines Anfangs und einer „Öffnung“ verstehen, so also eben
gerade hinsichtlich der von uns grundsätzlich neu aufgeworfenen Fragestellung
einer konsequenten Kritik der Warenform durch alle gesellschaftlichen
Erscheinungen hindurch – und nicht etwa als Angebot eines „Pluralen
Marxismus“ (so das hilflos demokratistische
Konstrukt von
W.F. Haug und der „Argument„-Redaktion) oder einer unverbindlichen theoretischen
Beschäftigungstherapie für Leute mit gehobenen Ansprüchen, erst recht nicht als
Bereitstellung eines Ruhekissens für einen Restbestand theoretischen Gewissens
bei politischen „Praxis“-Handwerklern, die
ansonsten ungestört und ungerührt „so weitermachen“ wollen. „Öffnen“ soll sich gerade eine
Diskussion und Auseinandersetzung um die von uns aufgeworfene
„fundamentale Wertkritik“ als radikale Kritik auch der bisherigen
Linken, was selbstverständlich auch ein Sich-Einlassen
auf diese Fragestellung verlangt
. Wenn wir unsere Thesen und die
theoretische Arbeit in diesem Kontext als unabgeschlossen und einer kritischen
Auseinandersetzung bedürftig darstellen, so eben mit dem Ziel einer Überprüfung
und kritischen Weiterentwicklung dieses Ansatzes, nicht jedoch, um die Fauna
der Linken um eine weitere seltene Spezies zu bereichern. Mit anderen Worten: wir
wissen keineswegs sicher, ob alles „richtig“ ist, was wir in der
mühsamen Gewinnung dieses neuen Ansatzes bis jetzt gleichsam provisorisch
ausgearbeitet haben; wir sind uns auch bewusst, dass das Hindurchgehen durch
die Empirie und Geschichte unter dem Leitstern dieses Ansatzes nicht von einer
Handvoll Leute geleistet werden kann, sondern vieler Kräfte bedarf. Es ist
jedoch sinnlos, wenn die Kritik und Auseinandersetzung bloß vom alten
theoretischen Terrain aus und unter dem Aspekt von dessen Verteidigung erfolgt.
Wir erlauben uns, einen Wechsel des Terrains selber zu fordern und kritische
Mitarbeit auf diesem neuen Terrain. Spott und Polemik sollen also nicht unsere
eigene Arbeit sakrosankt und jede denkbare Kritik im vorhinein mundtot machen,
sondern nur eine Haltung denunzieren, die ihre Kritik und ihr
„Unbehagen“ spazieren führt, ohne das von uns zu erschließende
theoretische Terrain überhaupt zu betreten.

Es ist tatsächlich
erstaunlich, wie rasch selbst scheinbar gutwillige Leute nach Kenntnisnahme unseres
Ansatzes in groben Zügen und nach einem kurzen Stutzen geneigt sind,
hinsichtlich interessierender Themen von Politik und Theorie zur gewohnten
Tagesordnung und zu den gewohnten, von uns gerade als verkürzt kritisierten
„marxistischen“ Standard-Argumentationen überzugehen. Offensichtlich
fällt es schwer, zu realisieren, dass die theoretische Untersuchung und Kritik
der warenförmigen Konstituiertheit aller gesellschaftlichen Praxis und der
darauf bezogenen Willensäußerungen und Willenshandlungen auch der gewohnten,
überlieferten marxistischen Begriffswelt und Politik den Boden unter den Füßen
wegzieht. Die Furcht vor dem freien Fall scheint eine große Hemmschwelle zu
sein und die Phantasie der Ignoranz zu beflügeln. Unser Credo aber lautet: Wer
von der Warenform nicht reden will, soll auch zu allem anderen schweigen. In
diesem und nur in diesem Sinne verstehen wir unser Angebot einer
„öffnenden“ Diskussion und Auseinandersetzung. In welche Richtung
sich eine solche weitere Erarbeitung und Diskussion bewegen könnte, zeigen
einige andere, durchaus ernst zu nehmende Einwände. Mit an erster Stelle wäre
dabei die Überlegung zu nennen, dass der Eifer in der Kritik der
„Warenform überhaupt“ nicht dazu verführen soll, die kapitalistische Spezifik als hoch entwickelte und potenzierte Warenform
außer Betracht zu lassen. Das Problem ist nur, dass beides nicht gegeneinander
ausgespielt werden kann. Es gehört zum Standard-Repertoire des traditionellen
Fetisch-Marxismus, die kapitalistische Spezifik der
entwickelten Warenform von der „einfachen“ Warenform systematisch
abzutrennen, um dann eben zu jener von uns kritisierten verdinglichenden
Verselbständigung „rein“ kapitalistischer Kategorien wie
„Mehrwert“ und „Profit“ etc. zu gelangen. Der DDR- und
Sowjet-Revisionismus etwa entblödet sich nicht, die Existenz „einfacher
Warenproduktion“ in den Nischen vorkapitalistischer, nicht-warenförmiger
Gesellschaften als ideologische Rechtfertigung für das logische Monstrum einer
„sozialistischen Warenproduktion“ zu nehmen, nach dem Motto:
„Nicht“ die Warenproduktion, „sondern“ der Kapitalismus ist
das Übel; „vor“ dem Kapitalismus hat es Warenproduktion gegeben,
„also“ kann es auch „nach“ dem Kapitalismus Warenproduktion
geben. Diesen begriffslosen theoretischen Kurzschluss wollen wir ja gerade als
historisch bedingte Ideologie überwinden.

Dasselbe Problem
kommt auch in der Frage zum Ausdruck, ob der Staat aus der Warenform als
solcher oder erst aus der Konkurrenz abzuleiten sei; die Fragestellung
entstammt der „Staatsableitungs-Debatte“ der 70er Jahre, in der Teile
der damaligen akademischen Linken vielleicht am nahesten an eine radikale
Kritik der Warenform herangekommen sind, freilich nur, um im entscheidenden
Moment wieder zurück zubiegen in den traditionellen Marxismus. Tatsächlich ist
es wohl zu wenig, wenn in unserem Manifest bezüglich des Staates die Konkurrenz
nur beiläufig erwähnt wird als das „notwendige Gegensätzlich-Werden“
der „Interessen“ in der entfalteten (also kapitalistischen)
Warenform. Das Problem ist aber auch in diesem Zusammenhang, ob die
kapitalistische Form (hier die „Konkurrenz“) im erwähnten Sinne gegen
die „Warenform überhaupt“ ausgespielt wird oder nicht. Wenn gesagt
wird, dass die entfaltete Warenform die Konkurrenz notwendig impliziert und der
moderne Staat sich erst mit der kapitalistischen Dynamisierung der Warenform
und insofern zusammen mit der Konkurrenz herausbildet, dann ist die Ableitung
des Staates aus der Konkurrenz in diesem Sinne sicher richtig; der Staat kann
also nicht unmittelbar aus der „einfachen“ Warenproduktion (im
„Kapital“ ohnehin nur eine analytische Kategorie) abgeleitet werden.
Falsch wird dieser richtige Gedanke jedoch, wenn damit gleichzeitig die bereits
kapitalistische Kategorie der Konkurrenz gegenüber der „Warenform
überhaupt“ verselbständigt oder der systematische Zusammenhang von
Warenform und Konkurrenz in der weiteren Argumentation nicht mehr ausreichend
berücksichtigt wird. Dieser Fehler ist schon angelegt, wenn in der
Staatsableitung eine falsche Gegenüberstellung in der Weise gemacht wird, dass
der Staat „nicht“ aus der Warenform als solcher, „sondern“
aus der Konkurrenz abzuleiten sei. Hier deutet sich schon eine Tendenz an, die
Grundkategorien der Warenform bloß noch für die definitorische Herleitung der
kapitalistischen Kategorien zu verwenden, um sie dann in der weiteren
Argumentation und Kritik „verschwinden“ oder „verstummen“
zu lassen – exemplarisch bei der „
Marxistischen
Gruppe
“ (MG), die sich auch in ihrer Behandlung
der „Interessen“-Kategorie um das Problem
von deren warenförmiger (und also kapitalistischer) Konstituiertheit
herumzumogeln versucht (vgl. dazu die entsprechende kurze Passage im Manifest).
Das Resultat solcher Verkürzungen ist nicht bloß eine theoretische Verdunkelung
des Kernproblems, sondern immer gleichzeitig eine verkürzende Verschwommenheit
in der „sozialistischen“ Zielsetzung und Programmatik (bei der MG
eine ebenso vornehme wie alberne totale Programmlosigkeit),
die sich dann entweder direkt in warenförmigen Kategorien darstellt, sozusagen
als die vermeintliche Emanzipation des Arbeiter-„Interesses
innerhalb dieser Form, oder diese entscheidende Frage offen und unbeantwortet
lässt. Bei der MG führt dieser fundamentale Fehler, nebenbei bemerkt, auch zu
einer grotesken Hilflosigkeit in der Einschätzung des
„Realsozialismus“ und dessen Entwicklung, die nur noch mit blankem
Idealismus kommentiert werden kann.

Immerhin zeigen
solche Erörterungen, dass und in welcher Hinsicht auch unsere eigene Arbeit und
unser eigener Diskussionsprozess noch „offen“ und keineswegs
abgeschlossen ist; „offen“ eben für die weitere Konkretisierung
dieses Ansatzes. Dies gilt auch für eine ganze Reihe weiterer Fragestellungen,
so etwa die Faschismus-Theorie, den Feminismus, die „Dritte Welt“ und
die Entwicklung der Sowjetunion etc. Wenn etwa im Manifest gesagt ist, dass das
„Paradigma“ der Oktoberrevolution und der daran mehr oder weniger
anschließenden „Dritte Welt“-Revolutionen
erloschen ist, dann soll dies natürlich nur für die historische Situation als
Ganzes gelten; dass es noch „Nachzügler“ innerhalb des alten
Horizonts geben kann und geben wird (etwa in Afrika und vor allem Südamerika)
ist damit keineswegs ausgeschlossen. Wenn wir für einen fundamentalen Neuansatz
revolutionärer Theorie eintreten und die Epoche des alten Arbeiterbewegungs-Marxismus
polemisch als abzuschließende attackieren, so wollen wir damit nicht hinter
eine Einsicht aus dieser Epoche selber zurückfallen: Aber eine große Weltperiode stirbt niemals so schnell ab, wie
ihre Erben zu hoffen pflegen und vielleicht auch, um sie mit dem gehörigen
Nachdruck berennen zu können, hoffen müssen
(
Franz Mehring). Was der alte Mehring hier
noch abstrakt „geschichtsphilosophisch“ ausdrückt, kann heute
wesentlich konkreter gefasst werden: er weiß insofern noch gar nicht, was er
sagt, als die Epoche der alten Arbeiterbewegung selber noch zu jener
„großen Weltperiode“ des Wertverhältnisses und seiner Entfaltung
gehört, die sich erst heute anschickt, mit dem „Absterben“ ernst zu
machen. Dass es sich auch jetzt um den Beginn einer Epoche handelt, und zwar
einer Epoche gesellschaftlicher Katastrophen, die bereits konkret abzusehen
sind, scheint uns evident. Da sich in dieser erst nach dem zweiten Weltkrieg
herausgebildeten neuen Epoche die endlich erreichte kapitalistische Voll- oder
Weltmarkt-Vergesellschaftung als identisch mit der Krise der Warenform
überhaupt herausstellt, muss unser „Berennen“ des
Kapitalverhältnisses nicht nur ganz anders aussehen als jenes, das der alte Mehring im Auge hatte, sondern gleichzeitig mindestens
denselben langen Atem besitzen, den die alte Arbeiterbewegung für die reine
Herausarbeitung der Ware Arbeitskraft benötigte. Kurzfristige und kurzatmige
„Hoffnungen“, wie sie vielleicht den Konjunkturen des
„linken“ Politikastertums entsprechen, sind
daher keineswegs angebracht, auch wenn (oder gerade weil) krisenhafte
Erschütterungen auf allen Ebenen bevorstehen, auf die gegenwärtig weder die
Massen noch die linken Theoretiker und „Politiker“ vorbereitet sind.

Robert Kurz, Juli
1988

 

Von
der
Marxistischen
Kritik
zurKrisis“

„(…)
Es überrascht sicher, dass diese Ausgabe unserer Zeitschrift (
8-9, 1990) nicht mehr
unter dem alten Titel
Marxistische Kritik erscheint. Wenn alle
Welt sich von Marx verabschiedet und in Marxens Namen vornehmlich unfreiwillige
Büttenreden fabriziert werden, läge es scheinbar nahe, unseren Bezug auf den
revolutionären Gehalt der Marxschen Theorie auch dadurch herauszustellen, dass
wir am Begriff „marxistisch“ im Namen festhalten. Und in der Tat, die
Koinzidenz zwischen der durch den realsozialistischen Kollaps ausgelösten
Massendesertion vom alten marxistischen Banner und unserer Umbenennung ist
wenig glücklich. Dies ändert aber nichts daran, dass die Logik unserer eigenen
theoretischen Entwicklung uns längst zu einem Punkt geführt hat, an dem die
Beibehaltung des Wörtchens „marxistisch“ als Selbstcharakterisierung
vollkommen irreführend geworden ist; mit dem Gedanken einer Namensänderung
schlagen wir uns mittlerweile schon gut 2 Jahre herum. Wir haben ja schon
früher mehrfach darauf hingewiesen, dass unser Versuch, die revolutionäre
Sprengkraft der Marxschen Theorie herauszuarbeiten, gerade die radikale Kritik
des „Marxismus“ einschließt. Unsere Abgrenzung begnügt sich nicht
damit, die eine oder andere Spielform des Marxismus als unzureichend zu
verwerfen. Mit unserem Versuch, eine Kritik der modernen bürgerlichen
Gesellschaft auf der Höhe der Zeit zu formulieren, haben wir uns vielmehr
inzwischen aus dem überlieferten marxistischen Denkuniversum in toto
hinauskatapultiert. Gerade weil wir den von Marx mit der Analyse des
Warenfetischs geknüpften roten Faden weiterspinnen wollen, müssen wir die
Färbung beseitigen, die die Kritik der politischen Ökonomie in der
Rezeptionsgeschichte erhalten hat. Da wir uns längst nicht mehr unter dem
„Banner des Marxismus“ vorankämpfen, sondern diesen einstigen
Prachtbau ziemlich gründlich in die Luft gejagt haben (der vorerst letzte
Höhepunkt war wohl der Artikel
„Der
Klassenkampffetisch“
in
der (MK 7), wäre es ein reines Verwirrspiel, uns weiterhin an
einem historisch gewordenen Namen
festzuklammern.
Wenn unsere neue Titelgebung vor dem Hintergrund der
akuten ideologischen Verwerfungen Missverständnisse erzeugen kann, so ziehen
wir es noch vor, wegen der Änderung in einen absurden Wendehalsverdacht zu
geraten, als die Rolle der letzten Mohikaner einzunehmen, die nach wie vor in
Treu und Redlichkeit zum alten Marxismus stehen. Dass mit der Namensänderung
kein inhaltlicher Bruch verbunden ist, sondern die „Krisis
den wertkritischen Ansatz weiterverfolgt, wollen wir durch das Fortschreiben
der Nummerierung deutlich machen.

Warum Krisis„?

Warum
nun aber ausgerechnet der Name „
Krisis„? Eine Anbiederung an den Zeitgeist, der überall
Krisen erspäht, auch wenn er diese Erkenntnis vergeblich im Sektglas zu
ertränken sucht? Eine Beschwörung apokalyptischer Endzeitvorstellungen? Ein
Umkippen in kulturpessimistische Resignation und Defätismus? Oder umgekehrt,
eine Neuauflage revolutionären Attentismus angesichts
der allmächtig erscheinenden Objektivität geschichtlicher Entwicklung, die ein
subjektives Eingreifen überflüssig macht? Kein Zweifel, der Begriff
„Krise“ hat Konjunktur, und dies nicht erst seit gestern. Dass dies
nicht nur eine modische Erscheinung ist, liegt auf der Hand. Überflüssig, hier
die Allgegenwart von Krisenerscheinungen zu belegen:
Krise der Familie, Krise der Umwelt, Krise der Identität, Krise der
Staatsfinanzen etc., die Phänomene sind geläufig. Das moderne Individuum hat
scheinbar gelernt, damit zu leben. Je weiter sich die Krisenerscheinungen
verallgemeinern, je mehr das Wort „Krise“ zum Bestandteil des
Alltagsvokabulars geworden ist, desto weniger Schrecken scheint von ihm
auszugehen. Was einem auf Schritt und Tritt begegnet, daran stößt man sich
nicht mehr, das gehört zum Leben wie der morgendliche Werbefunk vor den
8-Uhr-Nachrichten.

Selbst noch auf der
Mikroebene der unmittelbaren zwischenmenschlichen Beziehungen scheint sich das
moderne Subjekt mit geradezu mittelalterlichem Fatalismus seinem Schicksal
ergeben zu haben. Krisen sind keine zentralen biographischen Einschnitte mehr,
Zuspitzungen in der Persönlichkeitsentwicklung, die einen grundsätzlichen
Reflexions- und Wandlungsprozess auslösen; sie markieren nicht den Übergang von
einer Lebensphase in die nächste, sondern haben sich zum Dauerzustand
verfestigt. Wo eine Beziehungskrise die nächste ablöst und eine
„Sinnkrise“ nach kurzer Unterbrechung in die nächste mündet, da
erübrigt sich jede substantielle Entscheidung. Die Reaktionsweisen werden
stereotyp, reflexartig und verharren bewusstlos an der Oberfläche. Der
Partnerwechsel, die Aufnahme eines Zweitstudiums, der Kauf einer neuen
Wohnungseinrichtung, dies alles ist unschwer als Ersatz für wirkliches Handeln
zu erkennen. Wozu wirkliche Anstrengungen auf sich nehmen, wenn ein Ausweg
ohnehin nicht erkennbar ist? Was für die Ebene des Subjekts gilt, trifft in
noch viel höherem Masse für die Makroebene des gesellschaftlichen Prozesses zu.
Keines der grundlegenden Probleme, an denen sich die Protestbewegungen der
letzten zwei Jahrzehnte entzündeten, ist einer ernsthaften Lösung auch nur
näher gekommen. Ganz im Gegenteil. Über die Zuspitzung der Klimakatastrophe und
die beschleunigte Verelendung der Dritten Welt, um nur zwei zentrale Themen zu
nennen, berichtet mittlerweile jede Fernsehillustrierte. Aufklärung ist nicht
mehr angesagt. Der Zeitgeist weiß Bescheid. Achselzuckend nimmt er hin, was
sich nicht ändern lässt, so wie man sich einer Naturkatastrophe ergibt. Nur
scheinbar ist die no future-Mentalität einem
allgemeinen Zukunftsoptimismus gewichen. Die Tünche dieses in Meinungsumfragen
konstatierten Gesinnungswandels ist dünn und schon beim genaueren Hinsehen
erkennt man darunter das wahre Gesicht des modernen Individuums: die Fratze der
nackten Angst.

Und diese Angst ist
nicht unbegründet. Was uns bevorsteht, wovon wir hier im Epizentrum der weltweiten
Erschütterung, die in anderen Weltgegenden bereits katastrophale Verheerungen
angerichtet hat, bisher nur eine leichte Ahnung verspüren, ist tatsächlich eine
knallharte Krisenepoche. Eine ganze Epoche wohlgemerkt, die sich durchaus über
ein paar Jahrzehnte hinziehen kann und deren Ausgang keineswegs sicher ist. Nur
eines lässt sich prognostizieren: Am Ende wird mit Sicherheit kein neuerstarkter Kapitalismus aus ihr hervorgehen, wie
überhaupt keine Gesellschaft auf der Grundlage des Werts, denn diese Grundlage
ist es, die zerbricht. Die allumfassende Krise ist nicht irgendeine, sondern
die Krise der warenproduzierenden Gesellschaft
schlechthin. Die merkwürdige Erstarrung angesichts ihrer Erscheinungen, die
gespenstische Schicksalsergebenheit, die sich in den letzten Jahren nach der
vorangegangenen Phase hektischen Bewegungsaktivismus breit gemacht hat, sie
erklärt sich daraus, dass alle vorgetragenen „Lösungsmodelle“ nie
explizit (wenn auch zum Teil durchaus implizit) die Warenform selbst in Frage
gestellt haben und daher letztlich scheitern mussten. Dem in der Wertform
befangenen Bewusstsein muss sich dies als das Scheitern jeglicher
Lösungsmöglichkeit überhaupt darstellen. Krise gerät zum Synonym für Apokalypse
und darf daher nicht gedacht werden.

Der ursprüngliche Gehalt des Wortes
„Krise“ verweist jedoch auf einen ganz anderen Zusammenhang.
„KRISIS“, das heißt im Griechischen soviel wie „Entscheidung,
auch Unterscheidung“ und stammt von dem Verb „
krinein = sich entscheiden, prüfen, von daher auch Kritik.
Im klassischen Drama ist „KRISIS“ die Zuspitzung des dramatischen
Konfliktes, die eine Entscheidung des Helden herausfordert, welche den Umschwung
der Handlung einleitet. Und in Medizin schließlich bezeichnet
„KRISIS“ den Höhepunkt des Krankheitsverlaufes, an dem eine
entscheidende Wendung (zur Besserung oder auch zum Exitus hin) erfolgt. Die
gemeinsame etymologische Wurzel der Begriffe Krise und Kritik verweist auf
deren logischen Zusammenhang. Die radikale Neuformulierung revolutionärer
Theorie setzt weder voll Gottvertrauen auf den automatischen Zusammenbruch,
noch tritt sie im Namen hehrer Prinzipien gegen das in sich wasserdichte schlecht
Faktische an. Zuspitzung eines unhaltbar gewordenen Zustandes und seine
Auflösung fallen zusammen. Die Krise macht subjektive Entscheidungen nicht
überflüssig, sondern fordert sie geradezu heraus, sie schafft aus sich selbst
heraus keine Fakten, sondern setzt Potentiale frei, die genutzt werden können –
oder auch nicht. Indem die gegenwärtige Krise die Grundfesten der
Wertproduktion erschüttert, eröffnet sie damit erstmals auch die Perspektive
auf eine bewusste Vergesellschaftung. Aber eben nur der Möglichkeit nach. Wenn
der Kommunismus die bewusste Regelung aller menschlichen Angelegenheiten auf
der Basis des Zugriffs aller Individuen auf den gesellschaftlichen Zusammenhang
ist, muss die Revolutionierung des Wertverhältnisses bereits die Züge dieser
Bewusstheit tragen. Die Krise des Werts bringt, indem sie alle bisherigen
Formen auflöst, aus sich heraus alle potentiellen Elemente einer revolutionären
Subjektivität hervor. Die reale Konstituierung des betreffenden Bewusstseins
erfolgt jedoch keinesfalls automatisch. Die Mühen des Begreifens, die je
individuelle Entscheidung für die Arbeit am revolutionären Prozess, können
niemandem abgenommen werden. Diesen Zusammenhang scheint uns der neu gewählte
Titel „KRISIS“ angemessen auszudrücken.“

Aus dem Editorial des „Krisis-Heftes 8-9, 1990

 

Inhalt Krisis 8/9-12

KRISIS 8/9 (1990)
Robert Kurz:
Deutschland einig Irrtum. Die Wiedervereinigungsfalle
und die Krise des warenproduzierenden Weltsystems

Johanna W. Stahlmann:
Die Quadratur des Kreises. Funktionsmechanismus und Zusammenbruch der
sowjetischen Planökonomie
Ernst Lohoff:
Das Gorbi-Syndrom. Ein Generalsekretär
für westliche Sinndefizite
Robert Kurz:
Aschermittwoch
des Marxismus
. Der Abgesang der Linken und
die Kritik der politischen Ökonomie
Robert
Schlosser
: Das Scheitern des »Sozialismus«
und die Chancen eines »Neuen Anfangs«
Ernst Lohoff: Die Inflationierung der Krise. Vom immanenten Zyklus zur
Zersetzung der kapitalistischen Struktur — Nuno Tomazky: Die Wissenschaftsfabrik entlässt ihre Kinder.
Technokratische Massenuniversität und neue Studentenbewegung
Udo Winkel:
Unkritische
Theorie. Anmerkungen zu einer Habermas-Kritik der
linken Enkel Adornos
Peter Klein: Moralische Kritik oder Kritik der Moral? Zu Christoph Türckes Auseinandersetzung mit dem Ethik-Betrieb

Im Mittelpunkt dieser Doppelnummer steht (im Weiteren) die
Auseinandersetzung mit dem Dahinscheiden des Realsozialismus und den
ideologischen Reflexen darauf. Den Reigen eröffnet Robert Kurz
mit seinem Artikel Deutschland,
einig Irrtum
.
Angesichts
des Konkurses von VEB Ostdeutschland demontiert er den Popanz künftiger
großdeutscher Übermacht. Der Anschluss des „Mezzogiorno im Osten“
stärkt keineswegs die Stellung des Exportvizeweltmeisters BRD, sondern trägt
die Weltmarktkrise mitten ins Herz der Metropolen.(…)
Ernst Lohoff
viviseziert in seinem Beitrag „Das Gorbi-Syndrom
die Aspekte des Phänomens Gorbatschow. Er untersucht die Funktion des
Generalsekretärs als ideellen Gesamtdemokraten des erschlafften demokratischen
Bewusstseins im Westen. In Gorbatschows Exekutierung historischer
Zwangsläufigkeiten, der Beseitigung der letzten Rückständigkeiten in Sachen
Demokratie, kann dieses Bewusstsein sich ein letztes historisches Mal offensiv
vorkommen. Gorbatschows Tragik ist, dass er ein paar Jahrzehnte zu spät kommt.
Er markiert gleichzeitig den Abschluss des ideologischen Zeitalters im alten
Sinne und den Übergang zur Epoche allgemeiner Notstandsverwaltung.

Mit den ideologischen Reflexen der Linken, vor allem des
linksakademischen Kartells, auf den Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks
beschäftigt sich Robert Kurz in seinem Artikel „Aschermittwoch
des Marxismus“
.
Ganz in den Kategorien bürgerlichen Denkens
befangen, erscheint diesem Kartell des akademischen Restmarxismus der
gescheiterte Versuch, das Wertgesetz administrativ zu regulieren, als Beweis
dafür, dass es ohne den „Markt“ nun mal nicht gehe. Wer es dennoch
wagt, die Ware-Geld-Beziehung selbst in Frage zu stellen, gerät in den Geruch
des Obszönen und wird systematisch ausgegrenzt. Robert Kurz nimmt die zentralen
Standardvorwürfe gegen eine solche Position, wie den des „rohen
Unmittelbarkeitskommunismus“, auseinander und weist gleichzeitig nach,
dass die neuerdings von Linken vielbeschworene
„Rationalität des Marktes“ von einem konkret-stofflichen Standpunkt
aus keinesfalls rational ist, sondern im Gegenteil zunehmend zerstörerisch
wirkt.

KRISIS 10 (1991)
Robert Kurz: Die verlorene Ehre der Arbeit – Produzentensozialismus als
logische Unmöglichkeit
Johanna W.
Stahlmann
: Pretty Woman – Reflexionen über einen
Kinobesuch oder: Warum dem Überdruss des Raffens keine Renaissance des
Schaffens folgt
Ernst Lohoff:
Das Ende des Proletariats als Anfang der Revolution –
über den logischen Zusammenhang von Krisen- und Revolutionstheorie
Norbert Trenkle: Die vergebliche Suche nach dem unverdinglichten Rest oder:
Warum das subjektapriorische Denken in der Sackgasse des Kulturpessimismus
enden muss
Peter Klein: Hier ruht Agnoli – Buchbesprechung

In seinem Artikel „Die
verlorene Ehre der Arbeit“
zeigt Robert Kurz, dass jede Verherrlichung des unmittelbaren
Produzenten und mithin der Arbeit absolut unvereinbar mit dem Begriff des
Kommunismus ist. Arbeit ist die spezifische Form, in der der Stoffwechsel mit
der Natur im fetischistischen Formzusammenhang geregelt wird, und der Begriff
der Arbeit drückt bereits die Gleichgültigkeit gegenüber dem Stoff aus, die
unter den Bedingungen explodierender Produktivkraftentwicklung in nackte
Destruktion umschlagen muss. Die sinnlich-konkrete Organisation des
gesellschaftlichen Zusammenhangs und des Stoffwechsels mit der Natur schließt
auch den Formwandel gesellschaftlichen Tätigseins der Individuen ein. Robert
Kurz versucht mit dem Begriff des „produktiven Müßiggangs“
anzudeuten, was an die Stelle von „Arbeit“ treten könnte.

KRISIS 11 (1991)
Robert Kurz:
Geschichtsverlust
– Der Golfkrieg und der Verfall des marxistischen Denkens

Ernst Lohoff: Von Auschwitz nach Bagdad – Anmerkungen zu den
wundersamen Wandlungen des Anti-Antisemitismus
Norbert Trenkle:
Rien ne va plus – Nachruf auf die
Anti-Golfkriegs-Bewegung und ihre Kritiker
Ernst
Lohoff
: Brüderchen
und Schwesterchen
Norbert Trenkle: Freiheit, Gleichheit,
Schwesterlichkeit – Die Gleichheitsforderung als Auslaufmodell
Peter Klein: Demokratendämmerung
– das Ende von Freiheit und Gleichheit

Der Golfkrieg, eine von vielen Stationen im abrollenden Krisen- und
Katastrophenprozess des warenproduzierenden
Weltsystems, hat die Gemüter bewegt wie schon lange kein Ereignis von
vergleichbarer Tragweite mehr. Rechte wie Linke gleichermaßen wurden irre an
ihren gewohnten Meinungsrastern; Fronten vertauschten sich mit atemberaubender
Geschwindigkeit quer durch das gesamte politisch-ideologische Spektrum. Hatte
die Krise der 3. Welt seit Beginn der 80er Jahre noch recht und schlecht
einigermaßen in die alten Schablonen eingepresst werden können, obwohl sie
bereits über die Nachkriegs-Konstellation hinauswies, so waren der
Zusammenbruch des Realsozialismus und die unglaublich rasche Selbstaufgabe der
DDR schon nicht mehr in das politische Normalbewusstsein integrierbar; der
Golfkrieg, obwohl vergleichsweise episodenhaft, hat offenbar das tradierte
Weltbild vollends obsolet gemacht.

Es scheint so, als hätte jener berühmte alte Maulwurf durchaus in
unserem Sinne gewühlt, aber vielleicht ein wenig zu heftig. Der schon lange
zwiespältige Bezug auf eine Linke, aus der wir uns selbst herausgearbeitet
haben und der doch auch der größere Teil unseres Publikums entstammt oder
zugehört, wird von Mal zu Mal schiefer und prekärer. Seitdem die möglichen
Adressaten der Auseinandersetzung reihenweise den Geist aufgeben, erheben sich
moralische Skrupel: auf Schwerversehrte prügelt man nicht ein, und Toten soll
man nichts Schlechtes nachsagen. Wenn innerhalb weniger Wochen über dem guten
alten KB und über der zum vertrauten Ärgernis
gewordenen Marxistischen Gruppe (MG) der
Sargdeckel sich geschlossen hat, ist auch für uns eher Zurückhaltung angesagt.
Und welche Lust zur Polemik soll andererseits noch aufkommen, wenn z.B. der
orthodoxe Seminarmarxist Joachim Bischoff (SOST) sich in aller orthodoxen Seelenruhe zum Profitprinzip
bekennt, einem sozial geläuterten selbstverständlich, das er aber verbissen
immer noch mit Marx und als „sozialistisch“ begründen will. Oder wenn
der theoretisch sterbensmüde gewordene „Argument“-Guru
W.F. Haug sich peinlich spreizt in einem ebenso
sterbenslangweiligen wie dickleibigen „Versuch, Gorbatschows Gedanken zu
verstehen“ (oder so ähnlich), während der solcherart Angehimmelte als
Konkursverwalter des sowjetischen Marxismus unseres Wissens bis jetzt nichts
von sich gegeben hat, was auch nur im entferntesten
einem Gedanken ähnlich sähe. (…)

Im Falle des Golfkriegs war eine kritische Annäherung an die aktuelle
Auseinandersetzung der Linken fast unvermeidlich. Denn es handelte sich dabei
ja nicht um eines der vielen Schattengefechte auf dem Friedhof des
marxistischen Denkens, sondern um den Bezug auf eine neue weltgesellschaftliche
Konstellation und ein Ereignis von großer Tragweite. Nicht nur dieser Krieg
selber ist integraler Bestandteil einer heranreifenden Krise der globalen
Warenform (also keineswegs gleichzusetzen mit den früheren Interventionskriegen
der USA oder anderer Westmächte), sondern auch das daran sich entzündende
ideologische Gemetzel unter den Linken verweist auf diese Krise, die
zwangsläufig auch eine Krise des der alten Konstellation angehörenden Marxismus
sein muss. So hat der Golfkrieg, ähnlich wie und fast noch mehr als vorher schon
der Untergang der DDR, mit einem Schlag die Lebenslügen eines veralteten
Denkens enthüllt, diesmal vor allem bei den Linksradikalen. Ausgerechnet der
immer noch unverdaute Faschismus war es, der auf die unappetitlichste Weise als
sich jeder Lösung sperrendes Problem wieder hochkam, und noch dazu in einer
völlig unerwarteten und verräterischen Konstellation. Selten hat sich die
antifaschistische Veteranen-Ideologie derart blamiert wie diesmal. Grund genug
also, sich die phantastischen Analogieschlüsse vorzunehmen und ihren
Hintergrund auszuleuchten.

Freilich wäre es vergebliche Liebesmüh, sich auf die angebotenen
Alternativen in dieser Auseinandersetzung einzulassen. Am lautstärksten und triumphierendsten setzten sich natürlich diejenigen
Exlinken in Szene, die sich schon im Laufe der 80er Jahre von den veralteten
marxistischen Denkformen verabschiedet und ihre okzidentale Läuterung hin zu
einem sympathischen Kapitalismus in den Grenzen gemäßigter Barbarei vollzogen
hatten. Jetzt könnten die USA sogar die Bewohner fremder Planeten im Namen
einer neuen Sonnensystemordnung ausrotten, und die eifernden deutschen Vollokzidenzler wären dabei mit Geheul. Eine Cora Stephan etwa mit ihrer steilen Karriere von der
linken Theoretikerin zur journalistischen Allzweck- und Seifenblasen-Eloquenzia
(demnächst wird sie wohl ihre ständige Kolumne in „Heim und Welt“
bekommen – wir gemäßigten Basisdemokraten sind wieder wer), die den
Verlierermassen der Zusammenbruchsökonomien die „Spielregeln“ ihres
Elends, westliche Geldrationalität und Demokratie nämlich, nicht bloß
aufzuschwatzen, sondern mit Laserwaffen und Phantombombern aufzuzwingen für
hoch in Weltordnung hält, kann kaum noch kommentarlos als das zur Kenntnis
genommen werden, was sie eben geworden ist.

Es enthüllt sich hier eine „westliche“ Logik, die trotz
äußerer Gegensätzlichkeit auch die aufklärerischen
Linksradikalen kennzeichnet. Deren wüste Schlägerei in und um „Konkret“ anlässlich des Golfkriegs lädt kaum
zum Mitmachen ein. Da kündigten massenhaft Leute ihr „Konkret“-Abo
wie katholische Rentner ihr Kirchenblatt, in dem versehentlich die Jungfrau
Maria beleidigt worden ist. Als könnte das Ausspielen warenförmiger
„Verbrauchermacht“ die heile Welt der linken Pietistengemeinde
zurückbringen, in der die historisch Guten und Bösen klar geschieden sind. Die
panikartigen An- und Ausfälle der linksradikalen Publizisten selber freilich
sind eher als Dokumente zu werten. Das Problem ist offenbar, dass auf die
Kontrahenten dieser Duelle die Trümmer des gemeinsamen Weltbildes herabhageln.

Als Dokumente aber ernst genommen, können diese Aussagen erhellend
sein, weniger für die Lage am Golf, als vielmehr für die Struktur eines
linksradikalen (dem Marxismus und der Kritischen Theorie verpflichteten)
Denkens, das in seinem hoffnungslosen Versagen vor der heutigen
kapitalistischen Entwicklungsstufe einen exemplarischen Blick auf die
vergangene Epoche erlaubt. Nicht zuletzt das Licht, das dabei auf den
Faschismus und seine nie gelungene Verarbeitung, seine ideologische Wiederkehr
und Instrumentalisierung fällt, kann aufzeigen, in welche Richtung das
veraltete gesellschaftskritische Denken überwunden und eine neue Perspektive
gewonnen werden kann. In diesem Sinne ist auch unser theoretisches und
publizistisches Interesse am Thema hauptsächlich zu verstehen. Die gemeinsame demokratisch-aufklärerische Logik und deren Defizite, die
jene grosse Koalition zum Golfkrieg von den Realos
bis zu den Linksradikalen hervorgetrieben hat, soll
einer grundsätzlichen Kritik unterzogen werden. Wenn dabei die alt-„antiimperialistischen“ Fundi-Linken nur am
Rande vorkommen, so ihrer Bedeutungslosigkeit wegen. Sie scheinen ja selber zu
ahnen, dass der stämmige Volkstümler-Radikalismus,
der alle riots und Interessenkonflikte der aus den
Fugen geratenden Warenwelt zum vermeintlichen Gesamtklassenkampf aufbläst,
keine guten Karten mehr hat. Die Ankündigung von Thomas
Ebermann
, politisch entsagungsvoll und von Erfolglosigkeit zermürbt in
Hamburg ein Tabak- und Lottogeschäft eröffnen zu wollen, ist so gesehen durchaus
verständlich. Man kann ihm nur ehrlichen Herzens alles Gute für seinen weiteren
Lebensweg wünschen. Wenn jetzt Jutta Ditfurth
noch ihren Brezenstand in Frankfurt aufmacht, dann
sind wenigstens ein paar altlinke Veteranen versorgt. Irgendwann muss die
„wilde Freiheit“ ja mal zur Ruhe kommen. Aber weniger Polemik (und
schon gar nicht ein labormäßig konstruierter „Antisemitismus“-Vorwurf) ist angesagt, sondern eher
Mitleid, wenn einige begnadete Agitatoren in einer veränderten Welt jede
Orientierung verloren haben, zu einer kritischen Aufarbeitung ihres Weltbilds
aber weder fähig noch willens zu sein scheinen. Womit unsrerseits auch gesagt
ist, dass unsere Kritik der linken Bellizisten nichts
mit jener der alten „Antiimperialisten“ zu tun hat. Die
„Radikale Linke“ – ein Schlesiertreffen; dieser Titel unserer
Broschüre vom Sommer letzten Jahres (übrigens in einer Restauflage weiterhin
lieferbar) hat an Gültigkeit eher noch gewonnen.

In seinem Artikel Von Auschwitz nach Bagdad
beschäftigt sich Ernst Lohoff
ausführlich mit dem „antifaschistischen“ Analogieschluss von
Saddam Hussein auf Hitler und den Rechtfertigungsideologien für den Schwenk zur
okzidentalen Weltpolizei. Faschismus und Antisemitismus werden dabei in
Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie aus ihrer enthistorisierten
Ontologisierung, von der die linksradikalen Aufklärer leben, herausgenommen und
in den jeweils realen Bezugsrahmen gestellt. Das „totalitäre
Zeitalter“, als abgeschlossene Binnenepoche begriffen und nicht zur
Ontologie des Kapitals aufgeblasen, kann sich in der neuen Krise nicht
wiederholen, die ihre eigenen Ausgeburten der Destruktion hervorbringt. Der
Antisemitismus wird zum ideologischen Segment im Bewusstsein von
Verlierermassen, er hat aber seine Verallgemeinerungsfähigkeit bis zur
„Staatsdoktrin“ eingebüsst. Dies ergibt sich aus dem veränderten
Entwicklungsstand der abstrakten Arbeit und der zugehörigen bürgerlichen
Subjektformen. Norbert Trenkle befasst sich in seiner Glosse Rien ne va plus,
einem Nachruf auf die Anti-Golfkriegs-Bewegung und ihre Kritiker,
weniger mit den unbezweifelbaren Naivitäten der Friedensbewegung, als mit dem
neuen sozialpsychologischen Hintergrund, der auf Bewusstseinslagen verweist,
wie sie den erreichten globalen Vergesellschaftungsgrad widerspiegeln. Es wird
gezeigt, dass daran nicht nur die ideologisch pazifistischen Protagonisten der
alten Friedensbewegung vorbeigehen, sondern mehr noch die linksradikalen
Adorno-Enkel, deren Tiraden ihren Gegenstand hoffnungslos verfehlen.

In seinem Beitrag Geschichtsverlust
greift Robert
Kurz
die Argumente von Lohoff und Trenkle noch einmal auf, um die ideologischen
Grundstrukturen der linksradikalen Aufklärer auseinander zunehmen. Entgegen
eigener Selbsteinschätzung handelt es sich um ein sowohl enthistorisiertes
als auch im Kern bürgerliches Denken, eine Verfallsform des Marxismus. Dem wird
auf fünf Ebenen nachgegangen, jeweils thesenhaft
zugespitzt: Die Ideologiekritik ist von jeder Realanalyse abgelöst; die
Marxschen Kategorien des Kapitals im Allgemeinen wurden dogmatisch enthistorisiert und stillgestellt;
das Verhältnis zu den Adressaten der Polemik ist ein abstrakt selbstlegitimatorisches; der bloß attributiv verdoppelnde
und letztlich positive Bezug auf die „Aufklärung“ verkennt deren an
sich bürgerlichen Charakter; der unkritische Gebrauch des okzidentalen Begriffs
der Vernunft entwertet die in ihrem Namen vorgetragene Kritik des
„Irrationalismus“ und verfehlt die Irrationalität als integrales
Moment der westlichen Vernunft selbst. Dieses Denken ist unfähig, die
Warenlogik zu überwinden, und eben deshalb bleibt es am Faschismus ein ums
andere Mal hängen.

KRISIS 12 (1992)
Roswitha Scholz
: Der Wert ist der Mann. Thesen zu
Wertvergesellschaftung und Geschlechterverhältnis
Ernst Lohoff: Sexus und Arbeit. Zur Kritik der Arbeitsontologie in der
feministischen Debatte
Norbert Trenkle: Differenz und Gleichheit. Zur Kritik eines falschen
Gegensatzes —
Robert Kurz: Geschlechtsfetischismus. Anmerkungen zur Logik von
Weiblichkeit und Männlichkeit
Johanna
W. Stahlmann
: Thesen über das Ende des
Schönen

1993 – 1999: Eine Entwicklung im Spannungsfeld von theoretischer
Aufarbeitung und Vermittlung zu gesellschaftlicher Praxis

Wo Kritik ihren
Namen verdient, vereinigt sie in sich stets zwei gegenläufige Momente. Kritik
lässt sich ohne Distanz zum Kritisierten gar nicht denken, aber genauso wenig
ohne das Bewusstsein von Nähe und Verstrickung. Radikale Kritik ist über das,
was sie überwinden und abstreifen will, schon hinaus und weiß doch gleichzeitig
darum, wie eng die eigene Existenz mit ihrem Gegenstand verschlungen ist.
Dementsprechend hat sie keinen festen und eindeutigen Standort, sondern
oszilliert beständig zwischen Innen- und Außenperspektive und kann sich
überhaupt nur in dieser Pendelbewegung entfalten. Allein indem die Kritik ihren
Gegenstand von sich stößt und zum Gegenüber macht, kann sie dessen innere Logik
erkennen; und im selben Maße, wie sie ihn verstehen lernt, wird er ihr
zusehends fremdartiger.

Natürlich
bewegt sich auch die Kritik der Warengesellschaft in einem solchen Spannungsfeld.
Sie ist überhaupt nur in der Lage, die herrschende gesellschaftliche
Verkehrsform zu fassen, weil sie nicht im blinden Selbstlauf des
warengesellschaftlichen Prozesses mittreiben will und sich einen virtuellen
Beobachterplatz an einem anderen Ufer sucht. Diese Distanzierung eröffnet ihr
indes keinen Zugang zum kontemplativen Glück bloßer Theorie und reiner
Anschauung (der Begriff »theoria« bedeutet im Altgriechischen »Anschauung«).
Wenn die Warenkritik nämlich auf den Fluss der gegenwärtigen Entwicklung
blickt, dann sieht sie immer nur jene Strudel, in denen sie um ihr Schicksal
kämpfen muss, denen sie aber auch ihre Entstehung verdankt.

Kritik
braucht zunächst einmal Abstand. Wer eine totalitäre Vergesellschaftungsform in
Frage stellt, die mit ihren Emanationen in allen gesellschaftlichen Sektoren
und allen Weltregionen gegenwärtig ist, kann diese Distanz nur durch die
radikale Historisierung der gegenwärtigen Ordnung herstellen. Der wertkritsche
Ansatz
ist dementsprechend ständig bemüht, die gesellschaftlichen Formen,
die im Laufe der Moderne zur scheinbar selbstverständlichen Grundlage jedes
übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhangs aufgestiegen sind, als
spezifische Phänomene einer bestimmten Epoche zu dechiffrieren. Was dem
Alltagsverstand und den in der Theoriesphäre konkurrierenden affirmativen
Ideologien als selbstverständlich und damit als unaufhebbar erscheint, soll in
seinem Gewordensein und damit auch in seiner Vergänglichkeit begriffen werden.

Diese
Orientierung rückt die Wertkritik in gewisser Weise in die Nähe der
Geschichtswissenschaft. Soweit diese nicht einem unkritischen Universalismus
aufsitzt, muss es ihr darum gehen, den besonderen Merkmalen und Strukturen
vergangener Gesellschaftsarchitekturen nachzuspüren, ohne dabei die
Verhältnisse der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft zu projizieren und
damit zu verabsolutieren. Angesichts dieser Gemeinsamkeit darf man indes nicht
übersehen, welches zusätzliche, der Geschichtswissenschaft fremde Problem die
Historisierung der gegenwärtigen Gesellschaft aufwirft. Beim Streifzug durch
die Vergangenheit hat der Betrachter mit seiner eigenen Epoche und ihren
vertrauten Prinzipien immer ein Kontrastmittel zur Hand, das es ihm
erleichtert, sich die Spezifika seines Gegenstandes zu vergegenwärtigen. Dagegen
bleibt die Kritik der Warengesellschaft zu diesem Zweck ausschließlich auf die
Kraft der Negation verwiesen
. Mehr noch: Während beim Blick auf bereits
untergegangene Gesellschaften sich von ganz alleine versteht, dass deren zu
rekonstruierenden Strukturprinzipien nur ein historisch beschränkter
Gültigkeitsbereich zukommt, hat die Wertkritik, wenn sie auf die
Vergänglichkeit der herrschenden Formprinzipien insistiert, beständig gegen die
Schwerkraft fest verankerter Wahrnehmungsmuster und gegen eingeschliffene
Sprachgewohnheiten zu argumentieren. Dieser Widerstand zwingt dem
Historisierungsbemühen eine bestimmte Schwerpunktsetzung auf. Anders als in der
Geschichtswissenschaft, in der die Vergeschichtlichung von (Struktur-)Begriffen
und Kategorien für gewöhnlich nur deren Relativierung bedeutet, zielt
Historisierung im wertkritischen Zusammenhang im Wesentlichen auf
Begriffskritik.

Bei
ihrem Kampf gegen die Verklärung spezifisch bürgerlicher Verhältnisse zu den
einzig denkbaren Mustern gesellschaftlicher Vermittlung steht der Kritik der
Warengesellschaft keine andere existierende gesellschaftliche Praxis als
Anrufungsinstanz zur Verfügung. Dieser Umstand zwingt sie in ihrer
Historisierung nicht nur auf die Ebene des Begriffs, er prägt zugleich auch
nachhaltig das begriffliche Instrumentarium, das sie den ontologisierten
bürgerlichen (Real-)Kategorien entgegenhält. Die wertkritischen
Schlüsseltermini sind allesamt negativ gefärbt und bleiben für gewöhnlich
selbst dort noch notorisch negatorisch, wo sie versuchen, eine Alternative zum
Bestehenden zu formulieren. Während die traditionelle Systemopposition mit dem
»Sozialismus« einst ein positives Gegenprinzip anzubieten hatte, muss der
wertkritische Ansatz auf die Proklamation abstrakt-allgemeiner Prinzipien
verzichten. Formeln wie »Antipolitik« oder »unmittelbare Vergesellschaftung«
bestimmen sich offensichtlich schon ihrer semantischer Struktur nach über ihr
Gegenteil; aber auch eine Aussage wie die, eine »postmonetäre Gesellschaft«
habe ihre Reproduktion an »stofflichen« und »sinnlichen« Kriterien
auszurichten, macht ohne ihren immer schon mitgedachten Kontrapunkt der
Wertform keinen Sinn. Jedenfalls dürften die Mitglieder einer von der Waren-
und Gelddiktatur befreiten Gesellschaft schwerlich auf die Idee verfallen, mit
den Sammelbegriffen »stofflich« oder »sinnlich« zu hantieren, wenn sie zwischen
all den Gesichtspunkten abwägen, die bei der konkreten Ausgestaltung der
gesellschaftlichen Reproduktion eine Rolle spielen (Optimierung des
Ressourcenverbrauchs, befriedigende Organisation und Verteilung der
gesellschaftlichen Tätigkeiten, Reduktion der in der Produktion gebundenen
menschlichen Lebenszeit, Schaffung von vernetzten, dezentralisierten und
kooperativen Strukturen, Berücksichtigung ästhetischer Gesichtspunkte etc.).

Die Dekonstruktionen weiter
treiben

Ist
Kritik der warengesellschaftlichen Wirklichkeit immer wesentlich auch Kritik
der warengesellschaftlichen (Real-)Kategorien, so fällt sie notwendig mit einer
fortgesetzten Begriffsdekonstruktion zusammen. An der Entwicklung des
Krisis-Ansatzes lässt sich das unschwer nachzeichnen. Wer sich die aufeinander
folgenden Entwicklungsetappen der wertkritischen Position vergegenwärtigen
will, findet in den umgestürzten Begriffsklötzen kaum übersehbare Wegmarken.
Immer wieder haben wir Kategorien historisiert und in ihrem scheinbar
ontologischen Gehalt destruiert, auf die wir uns einige Ausgaben der Krisis
zuvor noch positiv bezogen hatten. Nachdem die
„Arbeit“ zunächst einmal nur
in ihrer abstrakten Form aufgehoben werden sollte
(Nr. 4), blieb sie
schließlich ganz auf der Strecke
(
Nr. 10 und Nr. 15). Die
Abwendung von der Politikemphase mündete im
„Ende der Politik„.
Der Kritik am »Klassenkampf« als systemimmanentem Interessengegensatz
(Nr. 7) und am Subjektapriorismus (Nr. 10) folgte der Abschied von einer affirmativen Subjektvorstellung (Nr. 13). Und das von Roswitha Scholz in die wertkritische
Diskussion hineingetragene
„Abspaltungstheorem“ (
Nr. 12) hat den geschlechtsneutralen Schein des wertförmig
konstituierten abstrakten Individuums aufgebrochen
.

Damit
ist natürlich noch nicht das letzte Wort gesprochen. Eine ganze Reihe von aus
dem marxistischen und bürgerlichen Universum ererbten Begriffen wie etwa der
Materialismus oder der Revolutionsbegriff bedürften einer »wertkritischen
Dekonstruktion«; und zweifelsohne muss auch noch eine Vielzahl blinder Flecken
in der eigenen Theoriebildung aufgedeckt werden. Natürlich ruft dieser
fortgesetzte Prozess der Begriffsdemontage auch Unwillen hervor, der sich nicht
nur aus der Befürchtung vor einer weiteren Radikalisierung der Kritik speist.
Schon mehrfach ist in unserem Diskussionskontext die Befürchtung geäußert
worden, wir könnten in einen selbstzerstörerischen antiontologischen Amoklauf
abdriften und schließlich auch den begrifflichen Boden mitzerstören, auf dem
sich so etwas wie die Kritik der Warenform überhaupt nur formulieren lässt.

Die Realabstraktion „Arbeit –
keine conditio humana“

Wir
denken jedoch, dass diese Angst übertrieben ist. Gelegentlich mag es der
manchen als brusttrommelnd erscheinende »Krisis-Duktus« vielleicht vergessen
machen, aber der antiontologische Impuls zielt keineswegs auf die Schaffung
eines begriffslosen Nirwana ab. Zum einen erkennt die Wertkritik durchaus die
Gültigkeit von unterschiedliche Gesellschaftsformen übergreifenden
(Real-)Kategorien an, ohne sie freilich für unaufhebbar zu erklären: dazu
gehören etwa die Begriffe des Fetischismus, der Herrschaft oder des
Patriarchats. Zum anderen bestreiten wir nicht, dass es auch so etwas wie
eine conditio humana gibt, so z.B. den Stoffwechselprozess mit der Natur. Damit
sind aber auch Bezugspunkte gesetzt, von denen die begriffliche Argumentation
ausgehen kann. Diese Bestimmungen wirken sicherlich meist dürr und blass. Der
von Marx entlehnte Terminus »Stoffwechselprozess mit der Natur« etwa kann als bloße
Denkabstraktion schwerlich mit der empirischen Lebensfülle einer in
mehrhundertjähriger geschichtlicher Entwicklung aufgeladenen Denk- und
Realabstraktion wie der »Arbeit« konkurrieren. Doch gerade dies verweist auf
seine theoretische Berechtigung, insofern er nämlich der Gefahr falscher
Ontologisierung spezifisch bürgerlicher Verhältnisse entgeht
.

Der
Angriff auf die Subjektkategorie, die Dechiffrierung von Subjektivität als Form
bewusstloser weil formblinder Bewusstheit, bedeutet keineswegs, die Möglichkeit
selbstbewussten gesellschaftlichen Handelns zu leugnen. Doch muss die Frage
nach den möglichen Akteuren und Handlungsträgern einer neuen emanzipatorischen
Praxis neu gestellt werden. Dabei verdeutlicht der Verzicht auf eine
emphatische Besetzung der Subjektkategorie die Tiefendimension der notwendigen
Aufhebung der Warenform. Der emphatische Subjektbegriff muss fallen, weil er
die Vorstellung eines souveränen Handlungsträgers transportiert, der ein
fremdes und passives Objekt namens Gesellschaft nach seinem Bilde modelt, und
weil damit »Emanzipation« genau in die Form gezwängt wird, in der sich das
Warensubjekt auf seine Gesellschaftlichkeit bezieht. Zugleich verweist die
Subjektkritik darauf, dass die Befreiung von der Warenform nichts mit der Freisetzung
irgendeiner verborgenen Substantialität (»der Arbeit«, »des Lebens« oder
irgendeiner anderen metaphysischen Wesenheit) zu tun hat, sondern sich im
Gegenteil nur negativ-aufhebend auf die existierenden Sozialkategorien beziehen
kann.

Anders
als der postmoderne Dekonstruktivismus hat die wertkritische Begriffskritik
keine Affinität zu einem Standpunkt der Beliebigkeit. Ihr Ausgangspunkt ist die
gegenwärtige Krise und Unhaltbarkeit der herrschenden gesellschaftlichen
Realkategorien und deren notwendige Aufhebung. Insofern bietet die bisherige
Theoriebildungspraxis kaum Anlass für die Befürchtung, die fortgesetzte
wertkritische Begriffskritik könne schließlich ins geistige Niemandsland und in
die Sprachlosigkeit führen. Dennoch hat das Misstrauen gegen ein
bedingungsloses »heiteres Begriffeknacken« noch in anderer Hinsicht durchaus
seine Berechtigung. Muss, wie oben angedeutet, Wertkritik ihrem Wesen nach beim
Blick auf die Warengesellschaft zwischen Innen- und Außenperspektive
oszillieren, so gehört die Begriffskritik eindeutig der Außenperspektive an.
Würde Wertkritik sich allein auf die Aufgabe fortgesetzter
Begriffsdekonstruktion konzentrieren, dann stellte sie damit die Dialektik, der
sie als Kritik ihre Existenz verdankt, letztlich still. Damit schlüge
Historisierung aber in Quasi-Ethnologisierung um. Die Wertkritik verkäme zu
einer merkwürdigen Geheimlehre, deren Anhänger daraus ihr Selbstbewusstsein
ziehen, dass sie sich gegenüber den Alltagswilden der Warengesellschaft als
eine Art Völkerkundlerverein im Stil des 19. Jahrhunderts inszenieren.

Aus dem Editorial der krisis 19, 1999

Inhalt
Krisis 13 -19

KRISIS
13 (1993)
Robert Kurz: Subjektlose Herrschaft. Zur
Aufhebung einer verkürzten Gesellschaftskritik
Norbert Trenkle: Fragmente
zur Selbstkritik der Männlichkeit
Ernst Lohoff:
Zur Kernphysik des bürgerlichen Individuums
Robert Bösch: Die
wundersame Renaissance des Antonio Gramsci
Johanna
W. Stahlmann
: Auf dem Jahrmarkt der Tugenden

KRISIS
14 (1994)
Ernst Lohoff: Vom ideellen
Gesamtkapitalisten zum reellen Gesamtkriminellen. Der Fall Jugoslawien

Robert Kurz:
Das Ende der Politik. Thesen zur Krise des warenförmigen RegulationssystemsPeter Klein: Pars pro toto – warum die Partei nicht mehr Recht hat
Robert Kurz: Der Zusammenbruch des Realismus. Anmerkungen zum Verfall der ehemaligen linken OppositionChristian Neugebauer:
Wider die Kultur und die Aliens der Modernisierung:
Afrika

KRISIS
15 (1995)
Roswitha Scholz: Die Maske des roten Todes. Kasinokapitalismus, Frauenbewegung und
Dekonstruktion
Norbert
Trenkle
: Die globale Gesamtfabrik: ein irres
Unternehmen. Vom warenförmigen Gesellschaftsmoloch zur dezentral vernetzten
Welt
Robert Kurz:
Postmarxismus und Arbeitsfetisch. Zum historischen Widerspruch in der
Marxschen Theorie
Udo Winkel: Marx hat uns im Voraus überholt. Rosa Luxemburg nach 75 JahrenAnselm Jappe: Sic transit gloria
artis. Theorien über das Ende der Kunst bei Theodor W. Adorno und Guy Debord

KRISIS
16/17 (1995)
Robert Kurz: Himmelfahrt des Geldes.
Strukturelle Schranken der Kapitalverwertung, Kasinokapitalismus und globale
Finanzkrise
Ernst
Lohoff
: Die harte Landung des Dollar. Von
der währungspolitischen Pax Americana zum Weltmarkt ohne Weltgeld
Roswitha Scholz: Die Metamorphosen des teutonischen Yuppie. Wohlstandschauvinismus, 90er-Jahre-Linke und
kasinokapitalistischer Antisemitismus
Robert
Bösch
: Unheimliche Verwandtschaft.
Anmerkungen zum Verhältnis von Marxismus-Leninismus und Antisemitismus

Robert Kurz:
Politische Ökonomie des
Antisemitismus
. Die Verkleinbürgerung
der Postmoderne und die Wiederkehr der Geldutopie von Silvio Gesell

KRISIS
18 (1996)
Robert Kurz: Die letzten Gefechte. Ein Essay über den Pariser Mai, den Pariser Dezember und
das Bündnis für Arbeit
Ernst Lohoff: Determinismus und EmanzipationNorbert Trenkle: Weltgesellschaft
ohne Geld. Überlegungen zu einer Perspektive jenseits der Warenform
Ernst Lohoff: Krise und
Befreiung – Befreiung in der Krise. Ein postpolitischer Streifzug
Heinz Weinhausen: Sphärenklänge.
Zum Teilzeitsozialismus des André Gorz
Franz Schandl:
Dimensionen des Mülls

KRISIS
19 (1997)
Ernst Lohoff: Der Tod des sterblichen
Gottes. Skizze über Aufstieg und Fall des Nationalstaats
Robert Kurz:
Antiökonomie und Antipolitik. Zur Reformulierung der sozialen
Emanzipation nach dem Ende des »Marxismus«

Volker Hildebrandt: Der
Dritte Sektor. Wege aus der Arbeitsgesellschaft
Gaston Valdivia: »Zeit« ist
Geld und Geld ist »Zeit«. Von der Produktion der »Zeit« zu ihrer
marktwirtschaftlichen Dekonstruktion.

Die
Subjektkritik aufnehmen

Inwieweit unsere
Diagnosen über die fundamentale Krise des warenförmigen Weltzusammenhangs
zutreffen, darüber gehen die Meinungen in der mehr oder weniger geneigten
Öffentlichkeit weit auseinander. Immerhin wird die Krisenanalyse angesichts der
Tatsachen nicht mehr derart borniert und geringschätzig abgewehrt wie noch vor einigen
Jahren. Daß nach dem Süden und Osten nun auch der Westen selbst in die
Reproduktionskrise stürzt, kann inzwischen bei Professor Engels u. Co. in der Wirtschaftswoche
nachgelesen werden, und selbst im restlinken Spektrum, dem es ganz besonders
schwer fällt, sich vom Glauben an die Allmacht des Kapitals zu verabschieden,
scheinen klammheimlich Krisendebatten zu beginnen.

Eines hat sich
allerdings nicht geändert. Auch wenn den von uns entworfenen
Zusammenbruchs-Szenarios durchaus allmählich ein gewisser Realitätsgehalt
zugetraut wird, so bleibt doch der stets wiederholte Vorwurf, wir gefielen uns
darin, die Apokalypse an die Wand zu malen. Die Kritiker des warenproduzierenden
Systems, so heißt es nach wie vor, seien bloße »Untergangspropheten« mit eher nekrophilen
Neigungen, die ein rein objektivistisches, negatives und nicht am leidenden und
kämpfenden Subjekt orientiertes Denken an den Tag legten. »Robert Kurz
automatisiert den Untergang«, so konstatiert etwa Gerhard Scheit in einer
durchaus wohlwollenden kritischen Erörterung (Konkret 10/93), »(er)
scheint das Eingreifen gar nicht für nötig zu halten: Die Welt richtet sich
erst einmal selber zugrunde. Und dem Theoretiker ist aufgegeben, den
Automatismus des Untergangs zu interpretieren«. Einen ganz ähnlichen Ton
schlägt auch Franz Knipping in seiner Rezension unseres im September ’93
erschienenen Buches
„Rosemaries Babies – Die Demokratie und ihre
Rechtsradikalen“
an. Sichtlich ratlos resümiert er die Aufsätze zum neuen
Rechtsradikalismus mit dem vielsagenden Satz: »Die Antworten auf die Frage, was
gegen die rechte Gewalt getan werden muss, genügen vielleicht theoretischen
Ansprüchen, für die politische Arbeit sind sie nur schwer nutzbar« (Neues
Deutschland
, Beilage zur Frankfurter Buchmesse 1993).

Derlei Anklagen
lösen bei uns ein zwiespältiges Gefühl aus. Einerseits könnte natürlich
geantwortet werden, dass von Theorie und Analyse billigerweise nicht verlangt
werden darf, die Antworten, Konzepte (oder gar Rezepte) gleich mitzuliefern,
dass die Rezipienten und Kritiker sich als bloß auswählende Konsumenten
gerieren und somit eigentlich den Diskurs verweigern, ja sogar im Grunde
genommen so tun, als handle es sich lediglich um innertheoretische Probleme,
mit denen sie selbst in ihrem praktischen Leben gar nichts zu tun hätten und zu
denen man/frau sich zustimmend oder ablehnend verhalten könnte. Andererseits
ist die abstrakte Richtigkeit einer solchen Antwort zweifellos unbefriedigend.
Letztlich müssen Theorie und Analyse wenigstens einen Zugang zu auflösenden
Konzepten ermöglichen, wenn der Gegenstand wirklich durchdrungen wird. Das ist
allerdings nicht unmittelbar möglich, sondern nur durch eine ganze Reihe von Vermittlungen
hindurch; und das kurzschlüssige Einklagen der »Antwort« droht eben diese
notwendigen Vermittlungen abzuschneiden. Außerdem folgt die Theoriebildung
selber ebenso wenig wie ihre gesellschaftliche Vermittlung einer
innertheoretischen oder »methodischen« Systematik, wie es die
Wissenschafts-Mystifikationen unterstellen, sondern sie ist mutativ,
unsystematisch und springt zwischen Themen, Ebenen und Bezügen (logischer,
historischer, empirischer und tagesaktueller Art etc.), um erst allmählich ein
erkennbares Bild zu weben und erst im nachhinein so etwas wie Systematik und
Methodik (in einem kritisch reflektierten Sinne) erkennen zu lassen. Wie es
also keine durchmarkierte Einbahnstraße von der Hypothese zum Beweis oder von
der Empirie zur Theorie gibt, ebenso wenig gibt es eine solche von der Theorie
zur Praxis (wie überhaupt diese Begriffe in ihrer abstrakten Gegensätzlichkeit
nur begrenzt tauglich sind).

Es handelt sich aber
keineswegs nur um ein Problem der Vorgehensweise, wie von der Analyse eines
objektivierten Zusammenhangs zum »Eingreifen« zu gelangen wäre. Die crux
besteht darin, dass schon die Prämissen ungeklärt sind. Tatsache ist, dass für
die meisten mehr oder weniger kritischen Rezipienten »Krisenanalyse« und
»Kritik der warenproduzierenden Gesellschaft« völlig auseinander fallen. Die
immanente, »objektive« Krisenanalyse, das Aufzeigen der logischen und
materialen Widersprüche wird inzwischen selbst von theoretisch wenig
anspruchsvollen Menschen als plausibel und (weitgehend oder zunehmend) als
realitätsgerecht und mit der eigenen Wahrnehmung übereinstimmend empfunden,
während umgekehrt die für uns daraus folgende Kritik der Warenproduktion als
solcher selbst von den theoretisch Anspruchsvollsten entweder abgelehnt oder
nicht verstanden wird, weil eine Krisenbewältigung nur in Warenkategorien
vorstellbar ist, ja überhaupt nur warenförmig gedacht werden kann. So müssen
wir argwöhnen, dass es in Wahrheit gar nicht um einen Gegensatz von
»objektivistischer« Theorie einerseits und aufhebendem »Eingreifen«
andererseits geht, sondern dass vielmehr über die Natur und die Zielsetzungen
dieses möglichen »Eingreifens« keinerlei Klarheit und Übereinstimmung besteht.

Dies gilt auf spezifische Weise
offenbar auch für den minoritären Teil des alten linken und linksradikalen
Diskurses, der unser Wiederaufnehmen einer grundsätzlichen Kritik der Warengesellschaft
zunächst durchaus begrüßt und als positive Perspektive aufgenommen hat, teils
mit und teils ohne Akzeptanz der Krisenprognose (was allein schon von groben Missverständnissen
zeugt, denn diese beiden Momente sind überhaupt nicht zu trennen, weder so-
noch andersherum). Inzwischen gibt es wohl so etwas wie eine »linksradikale
Enttäuschung« über die früher als Geheimtipp gehandelte Krisis. Wir
haben nicht nur ein Problem, wir sind anscheinend auch eines. Wenn ein und
dieselbe theoretische Position von den einen als ultraradikaler Utopismus und
von den anderen als kapitalfreundlicher Erzreformismus verteufelt wird, dann muss
mit den Kriterien der Beurteiler etwas nicht stimmen. Es scheint so zu sein, dass
auch diejenigen, die glaubten, sich mit der Perspektive einer Kritik der
Warenproduktion anfreunden zu können, dies noch ganz aus den alten linken
Schützengräben heraus getan haben. Dafür jedoch sind wir eine völlig falsche
Adresse. Wie sich herausgestellt hat, dass nicht nur die »bürgerlichen«, sondern
auch die linken Konzepte zur Krisenbewältigung völlig im waffenproduzierenden
System befangen bleiben, so stellt sich auch heraus, dass jede »linksradikale«
Vorstellung von Kritik der Warenproduktion schon nach der ersten Wegbiegung
munter diese Kritik in unerkannten abgeleiteten Formen eben dieses vermeintlich
kritisierten Systems formuliert und ausagiert. So sind wir zu dem Schluss
gekommen, dass »Linkssein« in allen seinen Fraktionen ganz genauso wie
»Rechtssein« nichts anderes als eine Variation warenförmigen Bewusstseins
darstellt und selber eine zu überwindende (statt zu erneuernde) Größe ist, wenn
mit der Kritik der Warengesellschaft tatsächlich ernst gemacht werden soll.

Es ist für uns
längst (und mehrfach abgehandelt) eine Selbstverständlichkeit, dass der
»Klassenkampf« nur noch Geschichte ist und zur Durchsetzungsstory des warenproduzierenden
Systems gehört, dessen »innere Unruhe« er war, dass er aber keinen Grund für
eine Systemtransformation bietet und auch die Marxsche Theorie hier sortiert
und transformiert werden muss. Dagegen denkt gerade der linke
Scheinradikalismus mit altersschwacher Hartnäckigkeit in den Bahnen des
Klassenkampfs und eben deswegen blind warenförmig weiter, ohne sich über diesen
Charakter seines Denkens überhaupt Rechenschaft ablegen zu können. Dasselbe
gilt noch viel allgemeiner für die Kategorie des Politischen. Da die »Politik«
als solche eine Sphäre der Warengesellschaft darstellt, kann es uns überhaupt
nicht darum gehen, umstandslos »politische Wirksamkeit« und »politische Praxis«
zu postulieren oder gar harmlose Staatsbürgervereine wie die PDS oder die
Grünen für die »politische Arbeit« zu munitionieren. Die Kritik der
Warengesellschaft schließt die Kritik des Politischen zwingend mit ein, und
daher ist es durchaus in unserem Sinne, wenn die »Politikverdrossenheit« sich
nicht mehr in die stehenden Gewässer des Parteien(un)wesens zurücklenken lässt.
Zwar ist das »postpolitische« Terrain ein gefährliches und heute fast nur
rassistisch und fundamentalistisch besetzt, aber durch dieses Terrain wird eine
emanzipatorische Systemkritik in Auseinandersetzung mit der neuen Barbarei
hindurchmüssen. Sicher gilt dies umgekehrt auch für die politische Sphäre
selber, aber im treuherzigen, unreflektierten und altbackenen Sinne »politisch«
kann eine Aufhebungsbewegung keinesfalls sein.

Diese sehr
allgemeinen und provisorischen Aussagen, mit denen wir uns an diesem Punkt
bisher beholfen haben, können auf die Dauer nicht befriedigen; daher wird die
Suche nach Anknüpfungspunkten und Vermittlungsschritten für eine
emanzipatorische, aufhebende Bewegung quer zu den alten Fronten zu den
dringenden Aufgaben der weiteren theoretischen Arbeit gehören. Diese
Ankündigung dürften manche unserer Kritiker sicherlich mit Skepsis aufnehmen.
In der Tat wird vermutlich die Vermittlung der Warenformkritik mit aktuellen
Problemen und gesellschaftspolitischen Debatten (Ökosozialprodukt/Ökobilanzen
und »sustainable development«, Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich,
Veränderung der internationalen Beziehungen usw.) eine fordistisch
sozialisierte Linke erst recht aufschreien lassen. Die Idee einer Entkoppelung
der Ressourcen von Markt und Staat zu entwickeln, muss auch praktisch in die
Polemik gegen die altlinke Identität ebenso wie gegen das herrschende Bewusstsein
führen. Das Problem ist hier abermals, dass dieses Terrain nicht
emanzipatorisch, sondern neorassistisch, elite-ideologisch oder plump
technikfeindlich etc. besetzt ist. Wie schon in den früheren Brüchen des
warenförmigen Modernisierungsprozesses versuchen auch jetzt, am definitiven
Ende der warenproduzierenden Moderne, ein autoritärer Neokonservatismus und ein
phantastisch rückwärtsgewandter Neo-Rechtsradikalismus in die konzeptionelle
Lücke zu stoßen. Aber die Rechte ist in diesem Sinne erst recht und ebenso wie
die Linke nur Produkt und Verfallsform der Modernisierung; sie wittert völlig
zu Unrecht Morgenluft.

Eine Hinwendung zu
praktisch-konzeptionellen Ansätzen muss allerdings begleitet sein von einer
weitergehenden Kritik der Prämissen von Aufklärung und Gesellschaftstheorie in
der Hülle der Warenform. Diese Aufgabe ist mit den Ansätzen einer Kritik des
Klassenkampf-Paradigmas und einer Kritik des Politischen noch längst nicht
erledigt. Die Versuche eines transformierenden Diskurses angesichts einer
gründlich veränderten Wirklichkeit, wo immer sie unternommen werden, leiden
gegenwärtig daran, dass das Aufklärungsdenken entweder weitergesponnen wird
oder scheinbar nur von rechts kritisiert werden kann, wobei jeweils das
Verhältnis zu den Zumutungen der Marktwirtschafts-demokratie dubios bleibt. Der
kryptische Text von Botho Strauß, der so viel »antifaschistischen« und
demokratischen Mumienstaub aufgewirbelt hat, zeigt in seiner Zwiespältigkeit
und Amalgamierung kritischer und affirmativer, aufklärerischer und
konservativer, linker und rechter Motive die Hilflosigkeit des Bezugs auf den
oxydierenden Aufklärungsfundus. Solche diskursiven Desaster verweisen darauf, dass
das finstere Geraune der »konservativen Revolution» gegen die Logik des Geldes
und gegen westliche Rationalität auch in aufgewärmten Fassungen außer einigen
aphoristischen Teileinsichten in der Hauptsache nur ebenso undurchsichtig
wabernde wie übel riechende Reflexionsblasen hervor zu treiben vermag. So ist
kein aufhebendes Denken über die bürgerliche Aufklärung hinaus zu gewinnen.
Diese Aufgabe kann nur im Kontext präziser Ökonomie- und Formkritik gelöst
werden, und allein die Marxsche Theorie liefert den Ausgangspunkt dazu,
freilich derjenige Teil des Marxschen Denkens, mit dem der modernisierungs-immanente
Arbeiterbewegungsmarxismus nie etwas anfangen konnte, und der erst auf der
heutigen Entwicklungshöhe und Krisenreife des warenproduzierenden Systems
relevant wird.

Die Dekonstruktionen des
Subjektbegriffs

Einen Knotenpunkt
sowohl der theoretischen Meta-Reflexion als auch der praktisch-konzeptionellen
Anstrengungen bilden der aufklärerische Subjektbegriff und seine postmoderne
Dekonstruktion. Diese vielfältige Dekonstruktion des Subjekts wird heute
durchschattiert von ebenso vielen post-postmodernen Subjektrettungsprojekten,
die ihrerseits wieder irgendwelche theoretischen Leichenteile des
Aufklärungsdenkens ausgraben. Ob als neokonservativer Rekurs auf das dezisionistische
Elite-Subjekt, ob als post-68er Beschwören des urbanen, redseligen und
bürgersinnigen Aushandlungs-Subjekts oder als post-arbeiter-bewegte und
spät-linksradikale Spitzwegphantasie jenes leidenden und kämpfenden
Militanz-Subjekts: der Atomkern warenförmiger Konstitution bleibt verschlossen.
Offenbar ist die Dekonstruktion des Subjektbegriffs nicht gründlich genug
gewesen und hat zu nichts geführt. Damit aber wird die Frage der Praxis und der
Veränderung immer wieder auf den alten bürgerlichen Ausgangspunkt zurückgebogen.

Unser Insistieren
auf die Subjektlosigkeit des warenförmigen Vergesellschaftungs-prozesses wird
also entweder als bloß affirmative Subjektlosigkeitstheorie missverstanden,
synonym mit den bereits wieder ausgelutschten postmodernen Dekonstruktionen
bzw. mit der Systemtheorie etc., und also prinzipiell als praxis- und
konzeptionsunfähig. Oder das Postulat einer Aufhebung der Warenform wird als
unglaubwürdig empfunden, solange nicht »das Subjekt« dieser Aufhebung angegeben
werden kann. Wenn die bisherigen historischen Oppositionsbewegungen,
insbesondere die Arbeiterbewegung, unserer Theorie zufolge allesamt in der
einen oder anderen Weise bürgerlich-warenförmig immanent gewesen sind, wenn
jede Gesellschaftskritik in der Vergangenheit den Vormarsch des warenproduzierenden
Systems nur beschleunigen statt aufhalten konnte, weshalb, so wird gefragt,
sollte es dann in Zukunft anders aussehen? Wieso sollte es ausgerechnet beute
möglich sein, den Systemautomatismus zu durchbrechen? Nur deshalb, weil eine
Handvoll größenwahnsinniger mittelfränkischer Schlauberger sich einbildet, den
Gang der Weltgeschichte durchschaut zu haben? »Die Theorie des automatisierten
Untergangs … beteuert, dass es in der Vergangenheit niemals eine reale
Alternative zum Kapitalismus gegeben habe. Es gibt sie also erst, seit Robert
Kurz zur Feder griff«, mokiert sich etwa
Gerhard
Scheit
, der hier stellvertretend für viele
spricht.

Nun ist die
Tatsache, dass »ausgerechnet« heute damit begonnen werden kann, die »Herrschaft
der toten Dinge« über die menschliche Gesellschaft in ihrer ganzen historischen
Tiefendimension und in ihrer strukturellen Ausformung zu dechiffrieren,
natürlich keineswegs den besonderen Fähigkeiten einzelner Personen zu verdanken
(sich selbst als »Genie« zu outen, wäre bloß der Beweis für das Ausflippen des
frustrierten Räsonnements, sei es von Verbitterten und sich für verkannt
Haltenden, sei es von scheintheoretischen Parvenüs). Zum einen steht
bekanntlich jede Generation auf den Schultern ihrer Vorgänger und ist daher
auch bei weniger entwickelter Geistesgröße prinzipiell in der Lage, weiter zu
sehen als diese. Die einzige Voraussetzung dafür ist, die Augen aufzumachen.
Zum anderen aber, und das ist das eigentlich Entscheidende, lässt sich die
Geheimstruktur der warenförmigen Vergesellschaftung nicht zufällig zum heutigen
Zeitpunkt leichter entschlüsseln als bisher. Der qualitativ neue Charakter der
Krise, auch wenn er von vielen noch geleugnet wird, enthüllt gewissermaßen ex negativo
erst die letzten Geheimnisse der Moderne, indem er Zug um Zug alle bisherigen
Selbstverständlichkeiten bürgerlicher Handlungssubjektivität auch im Alltag
erodieren lässt und empirisch in Frage stellt, von der abstrakten Arbeit über
die »Politik« und ihr Parteiensystem bis hin zur vermeintlich sichersten Bank
der Geschlechtsidentität.

Während das System
der demokratischen Regulation aus den Fugen gerät und sein gewalttätiger Kern
im rechten Mob ebenso wie im Inneren des Staatsapparats zum Vorschein kommt,
bedauerlicherweise just in dem Augenblick, in dem sich die postsozialistischen
und post-befreiungsbewegten Gesellschaften zum freudigen Eintritt in das letzte
Stadium der Demokratie bereit machen, zerbröckeln gleichzeitig die glatten
Ich-Fassaden der atomisierten Leistungsindividuen, und die Unlebbarkeit der
bürgerlichen Subjektform wird praktisch offensichtlich. Das innere
Widerspruchspotential der abendländischen, warenförmigen,
marktwirtschaftsdemokratischen Zivilisation wurde zwar schon in allen früheren
Krisensituationen manifest, doch waren dies nur Etappen eines
»Entwicklungswegs«, auf dem jeder weitere Schritt nicht die Aufhebung des
Zwangs, sondern lediglich seine Reproduktion und Potenzierung auf höherer
Stufenleiter der »Realabstraktion« bedeutete. Das Widerspruchspotential ist
deshalb auch nie verschwunden, und es wurde auch nie wirklich domestiziert,
sondern vielmehr mit jedem Vergesellschaftungs- und Individualisierungsschub
auf ein höheres »energetisches Niveau« gehoben.

Erschien es z.B. in
den 60er Jahren (zu recht) als Fortschritt, sich von den Zwängen lebenslanger familialer
Bindung und muffig-spießiger Sexualmoral zu emanzipieren, so leiden die
heutigen Individuen im fortgeschrittenen Stadium der Atomisierung nun an ihrer
Entwurzelung und Bindungslosigkeit, an der totalen Beliebigkeit und
Gleichgültigkeit und am Zwang, sich immer und überall »gut verkaufen« und als
leistungsstarke autonome Ichs bewähren zu müssen. Da hiermit, was die
Freisetzung abstrakter Individualität angeht, ein Kulminationspunkt erreicht
ist, heißt das aber auch, dass die Entwicklung heute nicht nur auf der Ebene
der objektivierten ökonomischen Formen, sondern auch hinsichtlich des
Subjektbegriffs zu einer Aufhebung der warenproduzierenden Gesellschaft drängt,
d.h. zu einer Kritik der Subjektform selbst und der mit ihr gesetzten
gesellschaftlichen Subjekt-Objekt-Struktur, in die das »autonome Individuum«
eingebettet ist. Dabei reicht es mit Sicherheit nicht aus, auf die normative
Kraft des negativen Faktischen zu setzen. Die »dekonstruktivistische Arbeit«
der Krise des Werts muss als solche auch begriffen werden, denn nur dann kann
die Perspektive einer nicht-warenförmigen Gesellschaftlichkeit auch praktisch
Konturen gewinnen und der Umschlag in die Barbarei des bloßen Zerfalls
verhindert werden.

Ob die Antworten
angesichts der destruktiven Dynamik rechtzeitig zu finden sind, das ist
sicherlich offen. Jeder optimistische Überschwang in der Warenformkritik wäre
angesichts der derzeitigen weltweit katastrophischen Entwicklungen fehl am
Platze. Vielleicht stehen wir tatsächlich am buchstäblichen, nämlich negativen
Ende der menschlichen Geschichte, und nur die gegenwärtig vorherrschenden
intellektuellen und politischen Verdrängungskünstler können diese bittere
Einsicht als den bloß wichtigtuerischen Gestus von „Untergangspropheten“ abtun,
worauf übrigens vorausschauend schon
Günther Anders hingewiesen hat. Diese selbstmörderischen Gestalten eines
post-mittelständischen und sterbensmüden Verdrängungs-Eskapismus verwechseln
systematisch ihren eigenen Geisteszustand mit der Krisenrealität. So sehr aber
auch die Zeit drängt, und gerade weil mit der bisherigen Handlungssubjektivität
nichts mehr ausgerichtet werden kann, muss gegen alle kurzschlüssigen
Lösungsversuche die Formulierung von praktischen Konzepten erst recht mit der
begrifflichen Kritik verbunden werden. Die kritische Durchdringung der
warenförmigen Fetisch-Konstitution ist erst in Ansätzen geleistet, und ein
weiteres Fortschreiten auf diesem Weg bleibt notwendig für den Übergang zu
einer selbstreflexiven Gesellschaftlichkeit, die gewissermaßen die negative
Aneignung der negativen Vergesellschaftung voraussetzt. Womöglich aus Gründen
des praktischen Krisendrucks auf die meta-theoretische Reflexion der
Subjektform selbst verzichten zu wollen, hieße nichts anderes, als zur Begriffslosigkeit
der Aufklärung in der Subjektfrage oder gar zum »Instinkt« des alten
Klassensubjekts zurückzukehren. Mit anderen Worten, es wäre der paradoxe
Versuch, die gesellschaftliche Bewusstlosigkeit in selber bewusstloser Form
aufheben zu wollen.

Im Gegensatz zur
Systemtheorie und zu den postmodernen Dekonstruktionen kann eine
Subjektkritik als
Warenformkritik
nicht beim bloßen Systemautomatismus oder bestenfalls
beim »Automatismus der Krise« landen, wie uns voreilig unterstellt wird. Zwar
setzt die objektivierte Krise auch positive Potenzen frei, doch eine
Systemtransformation kann natürlich nicht selbstläufig erfolgen. Die Aufhebung
der Warenform stellt einen Bruch mit der Form gesellschaftlicher Bewusstlosigkeit
dar, und deshalb setzt sie einen gesellschaftlichen Willensakt voraus
. Der gute alte Voluntarismus behält dabei freilich nur
in einem sehr bedingten Sinne Recht. Denn dieser Voluntarismus ist «Wille« nur
in der Form des Subjektwahns, dem alles als machbar erscheint, die eigene
Durchsetzungsstärke vorausgesetzt. Deshalb macht er das Gelingen der
Emanzipation zu einer Frage lediglich der Entschlossenheit und/oder der
»gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse«. Für ein solches Denken ist es daher
nur konsequent, die bisherige Modernisierungsgeschichte als eine einzige Serie
von Niederlagen und »missglückten Versuchen« wahrzunehmen. Ein unfreiwilliger
Beweis dafür, dass die so gedachte Emanzipation noch gar nicht wissen kann, was
sie über die Warenform hinaus wollen sollte. Und ein ebenso unfreiwilliger
Hinweis darauf, dass die bisherige Durchsetzungsgeschichte der Warenform
durchaus emanzipatorische Momente besaß, die erst heute erlöschen.

Die Kritik des
abstrakt freien Willens kommt also zwar nicht dem Verzicht auf das emanzipative,
transformierende Wollen über die Warengesellschaft hinaus gleich; doch es macht
einen großen Unterschied, ob uns dieses Wollen als ein für sich seiendes
Abstraktum und daher auch als jederzeit Mögliches erscheint, oder ob wir es
konkret-historisch an den Bruchstellen der reif gewordenen Warengesellschaft
und also im Zentrum ihrer heutigen Krisis verorten. In diesem Sinne wäre die
Aufhebung der Warenform Willensakt und Aufhebung der bürgerlichen
Willenssubjektivität zugleich. Wer dieses Problem ernst nimmt, muss sich auf
überraschende Perspektivenverschiebungen gefasst machen. Um die Aufhebungsfrage
konzeptionell beantworten zu können, maß sie erst in der richtigen Weise
gestellt werden können, und das geht nur durch die Auflösung altvertrauter
Verknüpfungen. Auch wir waren gewohnt, die Überwindung der Warengesellschaft in
den Kategorien von Subjektivität zu denken, die uns als gleichbedeutend mit Bewusstheit
erschien. Doch in der Auseinandersetzung mit dem Geschlechterverhältnis und dem
Herrschaftsbegriff wuchsen allmählich Zweifel, ob die Frage nach dem »Subjekt«
der Aufhebungsbewegung überhaupt richtig gestellt ist. Es erhärtete sich der
Verdacht, dass die Subjektform, da selbst Moment der warenförmigen
Konstitution, gerade im Interesse einer bewussten Aneignung der bis jetzt
unbeherrschten gesellschaftlichen Potenzen, selber aufgehoben statt mobilisiert
werden muss.

Auch das vorliegende
Heft der Krisis setzt sich also wieder einmal (in einem weiteren Durchgang
durch die theoretische Auflösung des Fetisch-Problems) vornehmlich mit
Fragestellungen auf der Ebene begrifflicher Selbstverständigung auseinander, um
die blinden Axiome und handlungstheoretischen Prämissen des Aufklärungsdenkens
und der Modernisierungslinken zu kritisieren; und die Ergebnisse sind
vielleicht schwerverdaulicher als je zuvor.
Robert Kurz versucht in seinem Beitrag über Subjektlose Herrschaft nicht nur den Stellenwert des Herrschaftsbegriffs im
fetisch-kritischen Rahmen neu zu bestimmen, sondern gleichzeitig den
Subjektbegriff als Binnenform des subjektlosen Formprozesses (statt als bloßen
»Irrtum«) aufzulösen, um zu Ansätzen einer transformierenden »Praxistheorie« zu
gelangen. Nach einem kurzen Streifzug durch die Theoriegeschichte, insbesondere
einer ersten Auseinandersetzung mit Strukturalismus und Systemtheorie, werden
einige Bestimmungen zur aufhebenden statt bloß dekonstruierenden Kritik des
Subjektbegriffs erarbeitet. Der Aufsatz versteht sich als thesenhafte
Annäherung an eine noch zu erschließende, keineswegs genügend ausgeleuchtete
Fragestellung.

Norbert Trenkle beschäftigt sich in
seinen
Fragmenten
zur Selbstkritik der Männlichkeit
mit einem zentralen Aspekt von Subjektivität: ihrer
männlichen Bestimmtheit. Er skizziert in groben Zügen den Zusammenhang von
wertförmiger Vergesellschaftung und abstrakter männlicher Ich-Identität und
zeigt, dass die Männlichkeitskritik, wie sie in »männerbewegten« Kreisen
formuliert wurde, trotz vieler richtiger Ansätze zu kurz greift, weil sie nicht
auf die Subjektform selber zielt. Die gängige Selbstkritik der Männlichkeit
treibt im Gegenteil den grassierenden Autonomiewahn sogar noch auf die Spitze,
denn sie läuft letztlich auf den vergeblichen Versuch hinaus, die bürgerliche
Geschlechter Polarität innerhalb der einzelnen Individuen zu versöhnen und so
ein »entfaltetes« mann-weibliches Subjekt zu schaffen.

Ernst Lohoff vertieft in seinem
Aufsatz zur
Kernphysik
des bürgerlichen Individuums
diese Überlegungen. Er geht von der Makro-Ebene des gesellschaftlichen
Prozesses aus, um dann nachzuzeichnen, wie sich das für die Warengesellschaft
charakteristische Auseinandertreten von Produktion und Konsumtion an den
Subjekten niederschlägt. Während der herrschende Individualitätskult das
Idealbild einer ganzheitlichen, in sich geschlossenen Monade propagiert, wird
gezeigt, daß sich hinter diesem Entwurf eine ebenso schizophrene wie instabile
Grundstruktur verbirgt.

Robert Bösch wechselt das Terrain
der Auseinandersetzung. In seinem Beitrag
Die wundersame Renaissance des Antonio Gramsci geht er der Frage
nach, weshalb der alte Vordenker der italienischen KP sich nicht nur großer
Beliebtheit in einem gewissen Spektrum der akademischen Linken, sondern auch
bei der Neuen Rechten erfreut. Bösch zeigt, dass Gramsci, genau wie Lenin, als
Modernisierungstheoretiker der bürgerlichen Gesellschaft begriffen werden kann.
Seine Vorstellungen von einem »Staat der Produzenten« reflektieren die
Durchsetzung der fordistischen Arbeitsgesellschaft, und insofern kann auch von einer
geheimen Identität von Fordismus, Sozialismus und Faschismus gesprochen werden.
Allerdings werden zusammen mit der Arbeitsgesellschaft auch die affirmativ
darauf bezogenen Theorien obsolet. Deshalb haben Gramscis Gedanken heute nicht
viel mehr als historischen Wert.

Zum Abschluss dieser
Ausgabe noch ein kleiner Abstecher in die Welt von Moral, Treue, Höflichkeit
und Mut.
Johanna
W. Stahlmann
hat
sich in ihrem Beitrag Auf dem
Jahrmarkt der Tugenden mit einer Buchreihe aus dem Elster-Verlag beschäftigt,
die diesen alten Ethik-Katalog zum Leitmotiv kürt. Neue Erkenntnisse konnten
dabei nicht gewonnen werden, denn die »neuen« Moralisten bohren keine dicken
Bretter. Ihre »situative Ethik« erweist sich als Anpassung des Denkens an die
krude Fetisch-Realität, und nicht als Versuch, diese zu überwinden. »Lasst die
böse Gesellschaft bleiben wie sie ist und schreitet daselbst auf dem Pfade der
Tugend«, so etwa lautet der gemeinsame Nenner aller Autoren der bisher
vierbändigen Reihe. Was als philosophische Erkenntnis und als neu ausgegeben
wird, erinnert verblüffend an das Ethos von Hollywoodhelden und an die schon
wieder obsolete Lebenshaltung der 80er Jahre: sich »um sich selbst zu sorgen«,
während nebenher die Welt untergeht.

Robert Kurz, Ernst
Lohoff
und Norbert Trenkle für die
Redaktion

Aus dem Editorial der krisis 13, 1993

Kritik und
Krise der Politik und des „Realismus

Wer sich an
Bedeutung und Funktion von Politik kritisch-historisch heranzutasten versucht
und in vergangenen Gesellschaften nach strukturell artverwandten Phänomenen
fahndet, dem drängt sich der Vergleich mit der Religion auf. Wenn der Staat in
der Moderne den Platz einer abstrakten Allgemeinheit einnimmt, also jenseits
der Gesellschaft verortet ist, und doch gleichzeitig allgegenwärtig den Rahmen
für das Alltagstreiben der Warensubjekte setzt, dann erinnert das fatal an die
Stellung Gottes in der von ihm geschaffenen Welt. Sowohl Jahwe als auch der
Staat sind transzendente, gesonderte Wesen, die paradoxerweise für das Ganze
stehen und es umgreifen.

Es hat Jahrhunderte
gedauert, bis die Politik, d.h. die staatsbezogene Aktivität, Gottes Thron für
sich erobern konnte und die Religion im Gegenzug ihren Allgemeingültigkeits-anspruch
einbüßte, um zur Privatangelegenheit herabzusinken. Die Affinität von Staat und
Gott war in diesem Ablösungsprozess aber von Beginn an spürbar. Schon Thomas
Hobbes, einer der Kirchenväter der Staatstheorie, bezeichnete in seinem
»Leviathan« den Staat als den »mortal god« und brachte in dieser Formel
instinktsicher den Bezug von Religion und moderner Staatlichkeit auf den Punkt.

Die heutigen
Apologeten von pluralistischer Demokratie und »offener« politischer Regulationsweise,
die sich pragmatisch geben, haben diesen Zusammenhang konsequent verdrängt.
Ziehen sie Parallelen zwischen politischem und religiösem Bekenntnis, so denken
sie ausschließlich an ein verflossenes »ideologisches Zeitalter«, an die
Haltung ihrer dahingeschiedenen Ex-Gegner auf dem Schlachtfeld des Politischen,
die von ihnen als Vertreter eines rechten oder linken Totalitarismus gefasst
werden. Ihr eigenes Credo scheint hingegen gerade aufgrund der für ihr
Selbstverständnis konstitutiven, naserümpfenden Distanzierung von den als
Diesseitsreligionen entlarvten Lehren des Marxismus oder des
Nationalsozialismus mit religiösem Bewusstsein nichts mehr gemein zu haben.

Eins übersehen die vermeintlich so aufgeklärten
Befürworter der pluralistischen Demokratie dabei allerdings. Religiosität
existiert nämlich nicht nur als Chiliasmus. Wenn die beständige politische
Mobilisierung der Volksmassen historisch vom »Systemstandpunkt« aus gar nicht
mehr nötig ist, und wenn politische Emphase oder Begeisterungsfähigkeit nur
mehr in homöopathischer Dosierung gebraucht werden, dann heißt dies noch lange
nicht, dass damit auch die religiösen Züge des Politikglaubens verschwunden
sind. Diese besondere, moderne Form des Glaubens und der säkularisierten
Religion (Staatsreligion im wahrsten Sinne des Wortes) tritt vielmehr lediglich
in ihre gewissermaßen amtskirchliche Phase ein.

Vor allem eine
Tatsache ist es, die darauf verweist, dass es sich beim politischen Denken auch
im Zeitalter der pluralistischen Demokratie um eine Abart von religiösem
Bewusstsein handelt. Wie alle Glaubensformen, so setzt auch das moderne
Politikverständnis seinen Anbetungsgegenstand ganz selbstverständlich voraus,
behandelt ihn als causa prima und kommt gar nicht auf die Idee, die Frage nach
seinem Bedingungszusammenhang zu stellen. Genauso wie im Mittelalter den
Menschen Gott und sein Wirken in der Welt eine unhintergehbare Gegebenheit war,
so erscheint dem Warensubjekt die Politik als eine präexistente, ontologische
Größe. Es kann sich schlicht und einfach keine Vergesellschaftung jenseits der
Formen abstrakter Allgemeinheit vorstellen, d.h. jenseits von Staatlichkeit und
Politik einerseits und Geld andererseits. Politik gibt es, so das Credo,
seitdem es überhaupt Gesellschaftlichkeit gibt, und sie wird ebenso wie das
Geld bis zum Jüngsten Tag weiterexistieren. Amen!

Spätestens die
heutige »Krise der Politik« bringt ans Licht, dass diese Sichtweise nicht nur
aus Trägheit und mangelnder Phantasie resultiert, sondern dass ein lupenreines
Dogma am Werk ist. Die Krise des Politischen ist nämlich nicht Anlass zur
demokratischen Selbstkritik, sie weckt keine Zweifel am Ewigkeitscharakter des
Politischen, sondern sie führt erst einmal zu dessen erbitterter
Fortschreibung. Das gilt für den Alltagsverstand ebenso wie für die
theoretische sozialwissenschaftliche Reflexion. Was die Massenstimmung und
ihren tagespublizistischen Niederschlag angeht, so gehört es zwar mittlerweile
zum guten Ton, über »das Versagen der Politik« Klage zu führen; gemeint ist
damit aber immer nur das Versagen der jeweils amtierenden politischen Eliten
und nicht etwa die Paralyse der politischen Regulationsform selber.

Auch wenn sich sämtliche real
existierenden politischen Kräfte täglich neu blamieren, auch wenn sich kaum
einer beim Anblick von Figuren wie Berlusconi, Jelzin-Schirinowski oder
Kohl-Scharping eines gewissen Brechreizes erwehren kann: all dies tut dem
Glauben an das Medium der Politik als solchem keinen Abbruch. All diejenigen,
die ihr Interesse am Gesellschaftlich-Allgemeinen nicht ersatzlos fahren
lassen, landen unweigerlich der Schwerkraft der Formbeziehung folgend wieder
bei der Politik und ihrem Elend und orientieren sich bewusstlos auf das auseinander
brechende politische Bezugssystem. Noch die obskursten Protestparteien, die in
der Krise der Politik wie Pilze aus dem Boden schießen, gerieren sich als
ernstzunehmende politische Gegenkräfte und reproduzieren aus Leibeskräften im
Protest gegen die offizielle Politik die Politik-Illusion. Ihr Auftreten
markiert nicht nur die Zersetzung des Politischen, sondern gleichzeitig auch
sein Fortwuchern über die ihm gesetzte historische Grenze hinaus (dasselbe
könnte auch von der anderen Seite der abstrakten Allgemeinheit gesagt werden,
dem Geld nämlich, das in den Formen des fiktiven Kapitals ein historisches
Nach- und Scheinleben führt).

Der Zusammenbruch der
politischen Form
vollzieht sich nicht nur hinter dem Rücken des gemeinen
Alltagsverstands. Auch im laufenden sozialwissenschaftlichen Diskurs weigern
sich die Protagonisten konsequent, so etwas wie den Bruch mit der Politik als
System ins Auge zu fassen. Insbesondere in der links-liberalen Abteilung des
Geistesbetriebs gehört die Apotheose des Politischen zum common sense, ja der
emphatische Politikbegriff dient mehr denn je als der kleinste gemeinsame
Nenner, auf dem sich dieses Spektrum noch treffen kann. Nachdem die
hereinbrechende Krisenwirklichkeit die abgehalfterten Demokratisierer und ihre
Stichwortgeber von jeder ernstzunehmenden programmatisch-inhaltlichen
Reformorientierung befreit hat, die sich nicht a priori schon auf die »Gesetze
der Marktwirtschaft« verschworen hätte, gewinnen sie mittlerweile ihr Selbstbewusstsein
wesentlich daraus, dass sie sich entschieden für die Verteidigung der leeren
politischen Form stark machen.

Nicht nur der
unsägliche
Habermas’sche „Staatsbürgerpatriotismus“
gedeiht heute prächtig. Auch Autoren wie
Ulrich
Beck
singen
in diesem Chor lautstark mit. Angesichts der Misere, in die seine fröhliche
„Risikogesellschaft“ und die „reflexive Moderne“ insgesamt
hineinstolpern, kennt auch er nur ein Remedium: die angebliche (Neu)»erfindung
des Politischen«. Die satte Selbstverständlichkeit, mit der die Politik als
Regulationssphäre immer vorausgesetzt wurde, kippt in eine Beschwörungsformel
um. Die Politik darf einfach nicht sterben! Denn ohne die (neu)erfundene
Politik als einzigem denkbaren Hoffnungsträger in einer von vielerlei
Katastrophengefahr bedrohten Welt des totalen Marktes bleibt, so Beck, »nur
Staub zu fressen und die >bewährten Libretti< des Fatalismus zu
intonieren«. Feierlich deklamiert der Risikosoziologe gegen den Popanz
kulturpessimistischer Untergangsprophetik: »Handeln ist möglich und
chancenreich«, und damit ist die Apotheose des Politischen für ihn auch schon
begründet. Diese »Argumentation« ist ebenso simpel wie bezeichnend. Beck nimmt
wie alle anderen »Politikretter« Politik ganz selbstverständlich prinzipiell
als den einzigen Modus, in dem die Menschen auf die Inhalte und Probleme ihres
eigenen gesellschaftlichen Zusammenhangs Einfluss nehmen und ihn gestalten
können. Politikmachen und gesellschaftliches Handeln verschmelzen ihm unbesehen
zu Synonymen.

Gewiss kann Beck
zugestanden werden, dass er in seine »Neuerfindung« des Politischen im
Unterschied zum offiziellen politischen System die Basisbewegungen,
nicht-politischen Initiativen usw. (bezogen auf die »neuen sozialen Bewegungen«
seit Ende der 70er Jahre) mit hineinnehmen möchte. Das scheint auch uns ein
Schritt in die richtige Richtung zu sein. Aber damit wird, nimmt man diesen Weg
ernst, die Frage nach der Aufhebung der Politik als ausdifferenziertes System
aufgeworfen. Und Aufhebung heißt bekanntlich auch, das Moment der Negation und
»Beseitigung« wahrzunehmen und diesem Moment nicht auszuweichen. Genau dieses
Ausweichen ist aber beim Beckschen »Politikrettungsprojekt« festzustellen. Es
fällt ihm natürlich erst recht nicht ein, Geld und Markt oder Staat auch nur
ansatzweise in Frage zu stellen, d.h. eben den Funktionszusammenhang, in dem
Politik als System immer schon steht. Was ist dann die Rede von der »Entkernung
des Politischen« (Beck) noch wert, die der Politik ihren transzendentalen
Charakter nehmen soll? Dieser resultiert aber seinerseits aus dem
transzendentalen Charakter der Bezugsformen des Abstrakt-Allgemeinen von Geld und
Staat, wie Marx gezeigt hat, und er haftet daher der Politik als solcher an.
Beck würde wahrscheinlich das Problem der fundamentalen Kritik, das in dieser
Frage nach dem transzendentalen Charakter von Geld und Staat aufscheint, als
»fruchtlose Utopie« abtun nach dem Muster des scheinpragmatischen Demokratismus.
Es handelt sich hier keineswegs um einen »Streit um Worte«, es handelt sich
vielmehr darum, wie weit man gehen muss, damit die Menschen die Kontrolle über
ihr eigenes Leben von den fetischistischen Entfremdungsmächten Geld und Staat
zurückgewinnen. Gerade die diversen »Neuerfindungen des Politischen« drohen,
indem sie die basalen Fetischformen der Moderne blind fortschreiben, selbst
ihre guten Intentionen in ein bloß verbales »Umdefinieren« zu verwandeln, und
das ist noch viel »fruchtloser« als die utopischste Utopie. Dieses Spiel mit
Worten führt praktisch dahin, die autonome Aktivität an den Systemcharakter der
Politik auszuliefern, wie die Entwicklung der grünen Partei schon überdeutlich
gezeigt hat, die zum politizistischen Totengräber der »neuen sozialen
Bewegungen« geworden ist.

Die Gleichsetzung
von gesellschaftlichem Handeln und Politik, die in diese nicht bloß
begriffliche Misere führt, ist gleich in einem doppelten Sinne falsch. Zum
einen handelt es sich bei der Politik um keine überhistorische Erscheinung. Auf
die Gesamtgesellschaft bezogenes Handeln nimmt nur in einer besonderen Epoche
die Form der Politik an. Vorkapitalistische Gesellschaften haben ihre Synthese
nicht über eine ausdifferenzierte politische Sphäre hergestellt, und auch die
nachkapitalistische Gesellschaft wird eine postpolitische sein. Das, was wir
unter Politik verstehen, ist an die Herrschaft der Warenform gekoppelt und
damit historisch eindeutig verortbar. Zum anderen ist die Politik auch
innerhalb ihres historisch begrenzten Gültigkeitsbereichs keineswegs mit
gesellschaftlichem Handeln schlechthin identisch. Es handelt sich dabei immer
um eine spezifische (und das heißt vor allem in ihrer Reichweite beschränkte)
Form dieses Handelns. In der gegenüber den Alltagsbeziehungen verselbständigten
politischen Sphäre können sich die Menschen keineswegs in einem nach
Möglichkeit »herrschaftsfreien Diskurs« darüber verständigen, wie sie ihren
gemeinschaftlichen Zusammenhang einzurichten und zu organisieren gedenken. Im
politischen Streit lassen sich vielmehr lediglich die allgemeinen
Rahmenbedingungen aushandeln, in denen die immer schon als Geldsubjekte
gesetzten einzelnen ihren gesellschaftlich-ungesellschaftlichen Verkehr
abwickeln. Die Doppelgottheit von kapitalisiertem Geld und Staat lässt nichts
anderes »aushandeln« als den Dienst an ihr, nicht aber unmittelbar die
Bedürfnisse und die Ressourcen.

Die Liebhaber des
Politischen verwischen diesen Unterschied und drücken sich damit um die
entscheidende Einsicht. Gerade der gesellschaftliche Basisprozess, der in alle
zentralen sozialen und ökonomischen Entwicklungen eingeht, ist jedem
politischen Handeln vorgelagert und damit jedem politischen
Regulationspotential entzogen. Weder dem ökologischen Zerstörungswerk, das die
tautologische Selbstzweckbewegung abstrakter Arbeit in Gang setzt, noch dem
Ausbrennen der arbeitsgesellschaftlichen Grundlage selber haben Politik und
Staat als von eben dieser Selbstzweckbewegung abhängige Größen etwas
entgegenzusetzen.
Politische Eingriffe modifizieren lediglich den Verlauf
der Weltmarktkonkurrenz
. Alle Staaten sind bemüht, die Stellung ihres
Verwertungsstandorts auf Kosten der konkurrierenden Standorte zu verbessern.
Das hat aber nichts damit zu tun, daß Politik in der Lage wäre, die von der
Verwissenschaftlichung der Produktion ausgelöste Krise der globalen
Arbeitsgesellschaft irgendwie zu managen und zu bewältigen.

Die Zähigkeit, mit
der sich die Politik-Illusion reproduziert, ist vor allem der Last der
Vergangenheit geschuldet. Der Glaube an die Politik lebt vom Blick zurück, er
extrapoliert die Konstellation, wie sie die letzten beiden Jahrhunderte geprägt
hat, und projiziert ihre Kriterien automatisch in die Zukunft. Die Politik war
zwar noch nie tatsächlich ihre eigene Herrin. Solange sie aber noch als ein
Moment im Durchsetzungsprozess der modernen Warengesellschaft funktionierte,
lag es durchaus nahe, ihr so etwas wie »Souveränität« zuzuschreiben. In einer
Ära, in der im Kampf konkurrierender politischer Kräfte der institutionelle
Rahmen der modernen Arbeitsgesellschaft erst entstand und eine politische
Sphäre im beständigen Ringen mit prämodernen Verhältnissen und Haltungen sich
erst sukzessive etablierte, konnte die neugewonnene abgeleitete Macht des
Politischen zunächst als dessen ureigenstes Vermögen erscheinen. Solange der
Staat sich und die Gesellschaft gewaltsam der Logik moderner Warenproduktion
gemäß umformte, konnte diese Transformation leicht in den Geruch geraten, für
den Endsieg des Staates über die Gesellschaft und für den Triumph des
»politischen Subjekts« zu stehen.

Dieser »Irrtum«
wurde selber geschichtsmächtig, ja konstitutiv für die Durchsetzungsgeschichte
des warenproduzierenden Systems bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Die politischen
Protagonisten von Lenin bis Roosevelt und Hitler konnten ihr Werk nur
vollbringen, weil sie von der Allmacht des politischen Willens überzeugt waren.
Aber nicht nur die Handelnden saßen dem Quidproquo auf. Eine ganze Generation
namhafter Denker erhob diese Illusion, insbesondere unter dem Eindruck des
Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Herrschaft, in den Rang
eines Theorems.
Horkheimer etwa, um nur einen Vertreter des linken Flügels dieser
breiten Strömung zu nennen, sah im »autoritären Staat« die vollzogene und nicht
mehr hintergehbare Emanzipation der Politik von der Ökonomie.

Mittlerweile hat die
empirische Entwicklung diese Sichtweise allerdings gründlich falsifiziert. Die
Enkel der Kritischen Theorie müssen schon die eigene Ignoranz zum Argument
wenden, um noch treu und brav die Zauberformel von der »Sistierung der
Zirkulationssphäre« nachzuplappern und sich so etwas wie die Herrschaft der
Politik über die Ökonomie zurecht zu imaginieren. Die schnöde Wirklichkeit
bietet eine gänzlich andere Perspektive. Heute erschüttert nicht mehr der
Vormarsch der Politik den Erdball, die nun selbstherrlich die Welt nach ihrem
Ebenbilde formen würde; wir erleben vielmehr den Kollaps des Politischen, den
langsamen und qualvollen Tod des Leviathan, der vom kommenden Tod seines
Zwillingsgottes Geld-Kapital kündet. Der »mortal god« stirbt am Ende des 20.
Jahrhunderts in der säkularisierten Gestalt seines zweiten Lebens wirklich.
Wenn jetzt die menschliche Gesellschaft nicht den politischen Gotteszauber
abstreift und ihrer selbst bewusst wird, muss sie aller Wahrscheinlichkeit nach
zugrunde gehen.

Die Paralyse der
bisherigen Gesellschafts- bzw. Kapitalismuskritik rührt nicht zuletzt daher, dass
sie über die Befangenheit im Politikbegriff nicht hinauskommen kann. Es ist
so gesehen geradezu schmeichelhaft zu nennen, wenn wir von den Resten der
Linken aufgrund unserer Kritik des Politischen des »Ökonomismus« und des
»Objektivismus« geziehen werden. Diese ausgeleierten innermarxistischen
Kampfbegriffe verweisen heute nur noch auf den mangelhaften Reflexionsstand
derer, die sie gewohnheitsmäßig benutzen. Mit diesen vermoderten Kampfbegriffen
aus der Durchsetzungsgeschichte des Systems verschanzt sich der linke Politizismus
und Subjekt-Fetischismus gegen die veränderten Anforderungen der
gesellschaftlichen Krisenrealität.
Wie er (zusammen mit den Vorkämpfern der
bürgerlichen Politikrettungsprojekte) sich ein gesellschaftliches Handeln nicht
anders als in der Politikform vorstellen kann, so hält er es auch in einer
anderen als der Subjektform (der allgemeinen Erkenntnis- und Handlungsform der
Fetisch-Konstitution) für unmöglich. Und wie Ulrich Beck jenseits der Politik
nur noch den Fatalismus zu erkennen vermag, so sieht auch die politizistische
Linke in unserer Herangehensweise keine aktive Fundamentalkritik des warenproduzierenden
Systems und seiner ausdifferenzierten Sphären, sondern ebenfalls nur
»Objektivismus« und »ökonomischen Determinismus«.

Das simple Geheimnis
dieser merkwürdigen Fehldeutung, die aus unseren Texten nur gewaltsam
herausgelesen werden kann, besteht also in der bürgerlichen Form-Immanenz der
vermeintlichen »Ökonomismus«- und »Objektivismus«-Kritiker. Der Befangenheit in
der Ware-Geld-Form entspricht die Befangenheit in der Politikform und in der
Subjektform. Durch dieses vor die Stirn genagelte Raster hindurch muß jede
Kritik der modernen Handlungsform als Verneinung des Handelns überhaupt, als Quietismus
oder bloßer Attentismus erscheinen: »auf die Krise warten« (als wäre sie nicht
schon da), »sich automatischen Prozessen hingeben« (als täten dies nicht gerade
die »Ökonomismus«-Kritiker selber, indem sie sich a priori dem Automatismus der
Warenform als solcher beugen). Statt der objektivierten Form ihres eigenen
Denkens und Handelns ans Leder zu gehen, wollen sie jede Aktivität überhaupt in
diese ansozialisierte und verinnerlichte Form bannen, deren radikale Kritiker
sie dann absurderweise des »Objektivismus« bezichtigen. Dabei ist es
gleichgültig, ob sich diese falsche (politizistische) Immanenz in kruder oder
in elaborierter Fassung äußert, ob sie implizit oder explizit wird. Ebenso
gleichgültig ist es, ob sich der Politizismus als »positiver« darstellt und in
die so genannte Realpolitik mündet, oder ob er als negativer die
Übermächtigkeit des vermeintlich in sich geschlossenen Systems beschwört. Im
ersten Fall wird man/frau uns vorwerfen, dass wir die wunderbaren Möglichkeiten
des »politischen Gestaltens« verleugnen oder sogar kaputtmachen wollen; im
zweiten Fall heißt es dann, dass wir die ebenso wunderbaren Eingriffs- und
Manipulationsmöglichkeiten »der Herrschenden« und ihres Staates sträflich
unterschätzen würden. In beiden Fällen aber bleibt das Bezugssystem der
abstrakten Allgemeinheit von Staat und Geld systematisch unreflektiert, positiv
oder negativ blind vorausgesetzt und begrifflich unaufgelöst. Damit aber
zerfällt auch die Einheit und Irreversibilität des Geschichtsprozesses in einen
bloßen Dualismus von Geld und Macht, von diktatorischen (bzw. »totalitären«)
und demokratischen »Herrschaftsformen«: ewige Wiederkehr statt kapitalistische
Binnengeschichte und historische Krisenschranke.

Dieser sozusagen
»buddhistische Marxismus« hat inzwischen als eine Art Abfallprodukt auch eine
wohl letzte spezielle Verfallsgestalt des alten Linksradikalismus
hervorgebracht, die sich zunehmend der in ganz anderem Kontext entstandenen »Political
Correctness« (PC) zu bemächtigen sucht; genauer gesagt: der daraus entstandenen
»Methode« einer besonderen Art der Denunziation. »Political Correctness« enthält
eigentlich ein zutiefst berechtigtes Moment, nämlich Rassismus und Chauvinismus
bis in die verborgenen Winkel der scheinbar neutralen Sprache zu benennen, die
in Wahrheit geronnene Geschichte der Unterdrückung ist. Aber wie so oft ist
hier ein ursprünglich kritischer Ansatz vielfach umgeschlagen in einen »identitären
Gegenrassismus« und in ein repressives Instrument der Diskussionsverweigerung,
der Trennung und Ghettoisierung. Der aus den USA kommende Impuls von PC, der in
seinem ursprünglichen Ansatz durchaus nicht in Bausch und Bogen zu verdammen
ist, hat sich mangels inhaltlicher Gesellschaftskritik und aufhebender Bewegung
mehr und mehr in eine abstrakt moralistische Landplage verwandelt, die
zunehmend willkürliche Definitionen von Rassismus, Faschismus, Chauvinismus
usw. produziert. Dass ein Teil des theoretisch verkommenen politizistischen
Linksradikalismus, auch wenn er nicht explizit PC vertritt oder sich dazu
rechnet, mit dieser von PC übernommenen »Methode«, die bereits den Umschlag ins
Gegenteil von Kritik anzeigt, seine Chance wittert, im Kontext der schwach
gewordenen gesellschaftskritischen Opposition »Definitionsmacht« zu behaupten,
ist eine ebenso bezeichnende wie deprimierende Erscheinung.

Wenn die lautstarken
Wortführer aus diesen Kreisen auch sonst nichts mehr zu sagen haben, so wollen
sie doch moralische Definitionsgewalt darüber behaupten, wer Rassist, Antisemit
usw. ist. Die Kraftlosigkeit der verfallenden Linken gegenüber der rechten
Bandengewalt und ihre theoretische Inkompetenz soll offenbar durch eine
»moralistische« Inquisitions-Anmaßung innerhalb der Gesellschaftskritik selbst
kompensiert werden. Nicht nach ihren Inhalten wird die theoretische Produktion
von diesen selbsternannten politizistischen Moralzensoren beurteilt, sondern ihre
polemischen oder ironischen Formulierungen werden fast fieberhaft danach
durchsucht, ob sich (und sei es unter noch so großen Verrenkungen und absurden
Interpretationen) irgendwelche »Stellen« finden lassen, die gewaltsam als
»rassistisch«, »deutschnational« usw. hininterpretiert werden können. Der Narr
als Sultan mit der Befugnis zum Köpfenlassen, dahingehend scheinen sich die
Gelüste der abgetakelten »Politiker« in ihrem unerklärten Krieg gegen die
»Theoretiker« zu entwickeln. Einige Narrenstellen für die linksradikalen
Pseudomoralisten werden sich doch hoffentlich noch finden lassen, damit sie
ihrem invertierten Rassismus-Antisemitismus-Nationalismus freien Lauf lassen
können und dieser Schwachsinn nicht auch noch einer größeren Auseinandersetzung
bedürftig wird.

Dass wir nicht allen
Verästelungen, Verlaufs- und Verfallsformen des politischen Bewusstseins
nachgehen können, versteht sich von selbst. Aber aller notwendigen
Differenzierung der zeitgenössischen politischen und theoretischen
Gruppierungen, Autoren, Strömungen usw. (gerade innerhalb der Linken) zum Trotz
wird mit der Kritik des Politischen doch immer der Sack getroffen, in dem sie
alle stecken. Unsere schon früher angedeutete Kritik des Politizismus und der
politischen Regulationssphäre als solcher soll jedenfalls weiter fortgeführt
und ausgebaut werden. Dem Problemfeld »Krise der Politik«, dem Schwerpunktthema
dieser Krisis-Ausgabe, haben sich die Autoren auf verschiedenen Ebenen
anzunähern versucht. Dabei werden begrifflich und exemplarisch zugleich unsere
These vom Zerfall des Politischen und das Abhängigkeitsverhältnis der Politik
von der totalen Warenform und deren Weltmarktentwicklung aufgezeigt.

Die Krise der
Politik im Allgemeinen als einer gesellschaftlichen Sondersphäre kann nur als die
Krise der politischen Subjekte in Erscheinung treten
. Zwei Grundtypen politischer Subjektivität hat die
Moderne hervorgebracht, zum einen auf der Ebene der Konkurrenz der
Weltmarktstandorte den Nationalstaat, zum anderen im innerstaatlichen Rahmen
die Partei. Um beide steht es heute nicht zum Besten. Was den Nationalstaat
angeht, so ist eins klar: angesichts der Globalisierung nicht mehr nur des
Warenverkehrs, sondern auch der Kapitalströme und der Zerlegung von
Produktionsprozessen, wird es für die Einzelstaaten, selbst für solche mit
großem wirtschaftlichen Gewicht, immer aussichtsloser, sich dem unmittelbaren
Zugriff des Weltmarkts zu entziehen. Gegen die Schwerkraft der vaterlandslosen
Verwertungsbewegung und gegen die internationalen Geldströme, vor deren
Dimensionen die Interventionsmöglichkeit der Zentralbanken geradezu lächerlich
wirkt, lässt sich keine Politik mehr machen. Die Entnationalisierung von
Produktion und Spekulation schlägt den Metropolenländern ihre geldpolitischen
und sonstigen Regulationsmittel aus den Händen, ohne dass jedoch internationale
Institutionen die bisherige immer schon beschränkte Eingriffsmöglichkeit der
Nationalstaaten übernehmen könnten. Den Ländern der »nachholenden
Modernisierung« hat die Gewalt der allgegenwärtigen Weltmarktbeziehung und die
in der Krise verschärfte Konkurrenz bereits mehrheitlich jegliche
Entwicklungsperspektive innerhalb von Weltmarkt und Warenform geraubt. Nur
negativ in die weltumspannende Arbeitsgesellschaft integriert, fallen sie einem
beschleunigten Verelendungsprozess anheim. Dieser von der Weltmarktübermacht
induzierte Absturz paralysiert auch die staatlich organisierten
Entwicklungsregimes und hinterlässt eine poststaatliche Katastrophenlandschaft.

Unter dem Eindruck
dieser Entwicklung haben wir eine Studie über den
„Fall Jugoslawien“ an den Anfang
gestellt, denn dieser Fall ist (neben dem der afrikanischen
Katastrophengebiete) das Menetekel des postpolitischen Krisenprozesses.
Ernst Lohoff entwirft die Konturen dieses Prozesses in seinem Beitrag
»Vom ideellen Gesamtkapitalisten zum reellen Gesamtkriminellen – der Fall
Jugoslawien« an den Stationen der binnenökonomischen und nationalpolitischen »Inwertsetzung«
bzw. Weltmarktintegration Jugoslawiens. Im Durchzug durch die jugoslawische
Nachkriegsgeschichte macht er an diesem paradigmatischen Fall deutlich, welche
Verfallsformen das nationalstaatliche Prinzip im Zusammenbruch nachholender
Modernisierung annehmen kann.

Im folgenden
Thesenartikel über
Das Ende der Politik versucht Robert Kurz auf einer
abstrakteren Ebene den historischen und logischen Zusammenhang von Markt und
Staat, Politik und Ökonomie zu entwickeln. Dabei wird der Begriff des
Politischen aus dem strukturellen »Spaltungsirresein« der modernen bürgerlichen
Fetisch-Konstitution hergeleitet und die falsche Emphase der Politik bei
Rechten wie Linken aus ihrem Status als »Durchsetzungsmodus« des warenproduzierenden
Systems bestimmt. In diesem Zusammenhang findet auch eine erste kritische
Auseinandersetzung mit dem abgenutzten »Ökonomismus«-Begriff und mit dem
»Wirtschaftsliberalismus« statt, wobei die innere Verwandtschaft scheinbar weit
auseinander liegender Positionen erhellt wird. Schließlich werden die
objektiven historischen Grenzen von Staatlichkeit und Politik an den vier
zentralen Problem- und Voraussetzungsfeldern gezeigt, die vom politischen
Löffel nicht mehr zu erreichen sind: nämlich an der Krise der Arbeit, der
Ökologie, des Nationalstaates und des Geschlechterverhältnisses.

Peter Klein setzt diese Kritik mit seinem Beitrag Pars pro toto. Warum die Partei nicht mehr recht hat fort, indem er den
Begriff der politischen Partei seziert (dieser Artikel ist Teil einer größeren,
noch unveröffentlichten Arbeit zur Staats-, Rechts- und Demokratietheorie).
Anhand der Begriffs- und Realgeschichte des Parteiensystems und seiner
logischen Grundlage weist er nach, dass der pluralistische Parteibegriff den so
genannten totalitären keineswegs überwindet, sondern die Partei selber und als
solche in den dürren Funktionalismus des warenproduzierenden Systems auflöst
und damit ganz gegen die Absichten der pluralistischen Demokraten das Ende der
politischen Partei heraufbeschwört, deren Totengräber jede weitere reflektierte
Gesellschaftskritik zu sein hat. Zusammen mit der politischen Funktionssphäre
überhaupt erlischt auch der bereits aufs äußerste reduzierte Mechanismus der
Parteipolitik. Das »Ziel«, die totale Warenform und Verrechtlichung, ist
negativ-krisenhaft erreicht, und die Parteimenschen laufen ins Leere, weil es
in dieser Form und innerhalb ihres Horizonts nichts mehr zu »verwirklichen«
gibt.

In seinem zweiten
Beitrag
Der Zusammenbruch des Realismus wendet Robert Kurz diese Lehre auf das
Spektrum der links-grünen Politikaster an, frei nach dem berühmten Gorbi-Wort:
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Im Zusammenhang mit einer
strukturellen Analyse des Verhältnisses von Politik und Emanzipationsbewegungen
und einer Skizze der Metamorphosen dieses Verhältnisses seit 1968 werden die
innere Identität und die komplementäre Beziehung von »Fundis« bzw.
Altlinksradikalen und »Realos« herausgearbeitet. Auf den Zusammenbruch des begriffslos
gewordenen und in einen »invertierten Nationalismus« abgeglittenen
Linksradikalismus, so die Prognose, wird der Zusammenbruch der Realpolitik
folgen. Dieser kann sich jedoch nicht mehr bloß in der ideologischen Sphäre
vollziehen, sondern die vermeintliche sozial-ökologische Reformpolitik wird
sich unter Legitimationsverlust in einen integralen Bestandteil des
demokratischen Notstandsterrors gegen Mensch und Natur verwandeln.

Der Essay von Christian Neugebauer (Wien) schließlich,
»Wider die Kultur und die Aliens der Modernisierung: Afrika«, befindet sich
zwar durchaus im thematischen Zusammenhang dieses Heftes; er fällt aber (wie
der Leser sicher unschwer feststellen kann) aus der Terminologie und Diktion
der Krisis-Gruppe heraus. Unter der Bezeichnung »hygienisches Denken« und
anhand eines Artikels von Peter Klein aus Krisis Nr. 11 kritisiert Neugebauer
explizit einen bestimmten theoretischen Zungenschlag und eine quasi
hegelianische »Haltung« zur weltgesellschaftlichen Wirklichkeit, wie er sie in
bestimmten Krisis-Texten angelegt sieht. Wir haben diesen Beitrag aus
zwei Gründen aufgenommen. Zum einen, weil wir eine »Öffnung« inhaltlicher Art
anstreben, d.h. den Blick über den begrenzten Horizont unserer eigenen
Erlebensweise von Weltmarkt, negativer Vergesellschaftung und abstrakter
Individualität hinaus richten wollen. Die abstrakte Gültigkeit der
theoretischen Begriffe einer flächendeckend gewordenen planetarischen Form
ändert nichts daran, dass diese Gültigkeit weiterhin unter völlig verschiedenen
Bedingungen stattfindet; beides darf nicht gegeneinander ausgespielt werden,
und es kann keine privilegierte (westeuropäische) Ausgangsbasis für die
Reflexion und Kritik des Ganzen geben. Insofern teilen wir weitgehend
Neugebauers Forderung, »der Welt zuzuhören«, wenn dies nicht auf einen
begriffslosen Eklektizismus von Meinungen und Bewegungen hinausläuft. Und die
kritische Darstellung des Verhältnisses von Universalismus, Partikularismus und
implizitem Rassismus am Beispiel Afrikas halten wir für interessant genug, um
sie unseren Leserinnen und Lesern mitzuteilen.

Zum andern aber
streben wir auch eine diskursive »Öffnung« an, ohne freilich unseren
»undemokratischen« Anspruch auf unbeirrte Fortsetzung des eigenen Weges
aufzugeben. So uninteressant ein Diskurs mit den aussterbenden marxistischen
Dinosauriern des »Arbeits«- und »Klassenkampf«-Fetischismus wäre, die von
neueren Theoriebildungen grundsätzlich ebenso unbeleckt sind wie von der
empirischen gesellschaftlichen Entwicklung, so wichtig erscheint uns dieser
Diskurs mit einer Gesellschaftskritik, die sich der postmodernen vermeintlichen
Auflösung der »Großtheorien« und des Imperialismus der abstrakten Theorie überhaupt
stellt, dabei aber gleichzeitig die den gesellschaftlichen Modus verändernde
Praxis einklagt (im Unterschied zur affirmativen Realpolitik).

Was wir aber leider
nicht teilen können, ist Neugebauers Vertrauen auf die »Dekonstruktion« (wobei
freilich erst zu klären wäre, was darunter genau zu verstehen ist und wie
dieser Begriff auch affirmativ gewendet werden kann); ebenso wenig das
Vertrauen in die Begriffe von Menschenrecht und Demokratie, die es nur zu
»interpretieren« gelte. Wir glauben nicht, dass wir schon deswegen arrogant
sind, weil wir an der theoretischen Kritik von Kategorien festhalten (die nie
bloße Begriffe, sondern immer auch Realkategorien des warenproduzierenden
Systems darstellen), auch wenn diese Kategorien zu scheinbaren Selbstverständlichkeiten
geronnen sind. Und wir werden es uns nicht ausreden lassen, dass im Begriff der
Demokratie unentrinnbar derjenige der Herrschaft steckt, auch und gerade
wenn diese Herrschaft einen subjektlosen Systemcharakter angenommen hat.
Sowenig sich eine Maschinenpistole in eine Kaffeetasse »umdefinieren« lässt, ebenso
wenig lassen sich die Kategorien der warenförmigen Vergesellschaftung
emanzipatorisch »umdefinieren«: weder der »Wert«, noch die Politik, noch die
Demokratie. Hier sind wir wieder bei demselben Problem wie bei der Beckschen
»Neuerfindung des Politischen«.

Deswegen verachten
wir natürlich nicht diejenigen Menschen, die aus der falschen Unmittelbarkeit
heraus ihren Ansatz praktischer Kritikbewegung mit diesen tradierten Kategorien
zu legitimieren versuchen. Es ist auch nicht zu verkennen, daß es mittlerweile
so etwas wie eine affirmative oder sogar mit der »Rechtstendenz« kompatible
Abwendung von der Menschenrechtsdiskussion gibt, sei es im Sinne »ökonomischer
Interessen«, sei es im Sinne eines schlichten Verschontbleibenwollens von dem
Leid und von der Grausamkeit globalen »Marktwirtschaftens«. Und es gibt auch
eine Tendenz zur »Dekonstruktion« von Begriffen, die sich in scholastischen
oder bloß artistischen Übungen verliert und die nichts anderes als eine elaborierte
Flucht vor der Krisenwirklichkeit ist. Aber der berechtigte Verweis auf solche
Erscheinungen scheint uns kein Argument dagegen zu sein, die emanzipatorische
Kritik der Demokratie auf eine andere Weise zu leisten, deren Inhalt den Unterschied
zu affirmativen Formen der Demokratie- und Menschenrechtskritik unmittelbar
einsichtig macht.

Wenn die kritische
Theorie überhaupt noch einen Beruf hat, dann würde sie diesen verfehlen und
sozusagen ihre Pflicht missachten, wenn sie sich nicht an der Kritik der
falschen (bzw. historisch falsch gewordenen) Legitimationsbegriffe abarbeiten
würde, die stets die destruktive und krisenhafte Realität der Warengesellschaft
mit der Anrufung ihres ideologischen Idealzustands bekämpfen. Gerade diese
Konstellation macht den affirmativen Bogen zurück in den bürgerlichen
Heimathafen, unter Preisgabe der Emanzipation, legitimatorisch möglich. In den aufklärerischen
Kategorien von Vernunft, Demokratie und Rechtsform wird ein Durchbrechen der
warenförmigen, zum Systemterror sich wandelnden Vergesellschaftung nicht
möglich sein, denn diese Kategorien sind nicht bloß zufällig historisch
zusammen mit der Totalisierung der Warenform entstanden, sondern sie gehören
ihr auch wesenhaft an. Wenn aus dieser Erkenntnis, die für uns bereits
unhintergehbar ist, eine Spannung zwischen Theoriebildung und Basisbewegungen
resultiert, dann muss diese unserer Meinung nach produktiv aufgelöst und
ausgetragen, nicht aber zugedeckt und ignoriert werden. Sofern es sich gerade
nicht um eine selbstgenügsame akademische Karrieretheorie handelt, kann der
Widerspruch auch nicht einfach als ein äußerer Widerspruch von »Theorie« und
»Praxis« gefasst werden, sondern vielmehr als ein Widerspruch innerhalb der
umfassenden historischen Praxis selbst, deren Teil die »theoretische Praxis« (Althusser)
ist.

Dennoch verweist
Neugebauers Kritik auf ein tiefes Problem. Denn die radikale Kritik als
theoretische (deren Anteil an der Praxis kein unmittelbarer sein kann)
steht ja tatsächlich in der Gefahr, auch auf ihrem eigenen Terrain die
abstrakte Warenförmigkeit zu reproduzieren. Und das heißt auch: die
Getrenntheit, die als schmerzhafte Erfahrung Neugebauers Essay durchzieht.
Paradoxerweise kann ja auch die Vernunftkritik noch in der Form abstrakter
Vernünftigkeit formuliert werden, »von außen«, von einem unausgewiesenen
Standpunkt aus. Ein Hirn aber, das in einer Nährflüssigkeit auf dem Mars
schwimmt und dabei irdische Begriffe kritisch entfaltet, wird die irdische
Praxis niemals erreichen können. Die Paradoxie des warenförmigen Ursprungs der
gesellschaftstheoretischen Abstraktionen selber steht hier zur Debatte (Adornos
»Negative Dialektik«« ist voll von diesem Problem). Die Theorie muss also
selber aufgehoben werden. Aber wie? Sie muss praktisch werden, aber ohne sich
bloß an die Unmittelbarkeit der Praxis zu verlieren. »Hygienisches Denken« ist
eine gute Metapher für die eine große Gefahr, die der kritischen Theorie droht.
Aber Neugebauer scheint uns möglicherweise der anderen großen Gefahr zu
erliegen, die darin besteht, die kritische Reflexion an den zentralen
Legitimationsbegriffen der Basisbewegungen (Demokratie, Menschenrechte) Halt
machen zu lassen; gerade dadurch aber wird vielleicht ihre Selbstaufhebung am
sichersten verhindert.

Uns scheint es eher
so, dass der Demokratiebegriff selber eine historisch gewordene
»Wirklichkeitsmetaphysik« anzeigt, eine falsche Essenz, die sich als Herrschaft
entpuppt. Diesen und überhaupt die aufklärerischen Begriffe der bürgerlichen
Moderne zu »dekonstruieren« (nicht im Sinne eines bloß spielerischen
Verkleidens und ewigen Umdefinierens, sondern als Zurückführen auf ihren
historischen, nicht-essentiellen Charakter), hätte etwas Befreiendes an sich
und würde eine Scheidung möglich machen, die keine »hygienische« ist, nämlich
die Scheidung von jener permanenten Grausamkeit und Unterdrückung, die sich
Demokratie nicht bloß nennt, sondern dies auch ist, und deren sämtliche
Repräsentanten noch in ihren übelsten Gestalten sich eben keineswegs bloß aus
Gründen der arglistigen Täuschung die »Gemeinschaft der Demokraten« schimpfen
können. Die Begriffe sind nie bloß willkürliche und so oder so »umdefinierbare«
oder instrumentalisierbare, sondern sie gehören einer negativen historischen
Wirklichkeit an, die selber keineswegs durch begriffliches »Definieren«
entstanden ist.

Auch im Begriff der
»Gleichheit« z.B. liegt der Herrschaftscharakter; es ist als Abstraktion (und
Realabstraktion) ein an sich formaler Begriff, der auf die abstrakte
Allgemeinheit der Warenform verweist. Was sollte denn eine »konkrete
Gleichheit« sein? Blaue Unterhosen für alle? Die eigentlich gemeinte Intention,
jenseits aller Formabstraktion die anderen Menschen und ihr Lebenwollen ernst
zu nehmen, wäre vielleicht in Neugebauers Begriff der Anerkennung besser
aufgehoben, wäre diese gegenseitige Anerkennung in der Form der »Gleichheit«
und des »Rechts« nicht immer schon die gegenseitige Anerkennung als
Geldsubjekte, als zahlungs- und nur dadurch rechtsfähige Subjekte. Diese Art
der Anerkennung schließt den Begriff des Nicht-Menschen, weil nicht zahlungs-
und damit nicht rechtsfähigen Ausgegrenzten nicht aus, sondern vielmehr ein.
Eine gegenseitige sinnlich-menschliche Anerkennung ohne jeden Vorbehalt, und
diese ist ja gemeint, wäre also nur jenseits der Warenform, damit aber auch
jenseits der Rechtsform und der »Gleichheit« möglich. In dieser aber kann sich
die Falle von Universalismus und Partikularismus immer nur wiederholen. Die vor
200 Jahren erhobene Freiheitsfahne ist längst zum Zeichen der Unterdrückung
durch die totale Form geworden und die darauf gestickten Begriffe zum ideellen
Gefängnis emanzipatorischen Denkens und Handelns.

Einverstanden, wir
müssen uns trauen, wieder große Geschichten zu erzählen, und das Durchhalten
der Kritik an der warenförmigen Zivilisation der Moderne ist eine große
Geschichte. Einverstanden, es gibt keine »Wahrheit als Essenz«, die nur
entdeckt zu werden bräuchte – aber es gibt die negative Wahrheit des
fetischistischen Formterrors, zu dem auch Rechtsform, Politikform und Demokratie
gehören. Es geht um die Befreiung von dieser negativen, heute sich selbst
zerstörenden Wahrheit, deren »Essenz« die abstrakte Arbeit als
Selbstzweck-System ist. Die »erkenntnistheoretische Allmachtsphantasie« lauert
in den Formen selbst, die bisher für die Ideale der Emanzipation galten. Das
Terrain, das wir durch die Kritik der warenförmigen, aufklärerischen
Emanzipationsvorstellung hindurch betreten, ist tatsächlich ein unbekanntes.
Und dieses Betreten kann eben nicht bloß in der Theorie stattfinden. Die
Aufhebung des reinen Begriffs unter Erhaltung seiner kritischen Funktion ist
kein bloß vernünftiges Projekt mehr. Aber auch darin ist Neugebauer recht zu
geben, dass dieses Problem in der eigenen Lebenspraxis und in der Entfaltung
praktischer Kritik erscheinen muss, wenn die Theorie nicht zum »hygienischen
Denken« werden soll.

Diese Überlegungen
führen zur Frage nach der Zukunft der
Krisis. Wir wollen keine »Öffnung« nach dem Muster der
eklektischen »Buchbindersynthese«, denn zusammenhangloser Pluralismus führt
ebenso wenig weiter wie endlose Dinosaurier-Debatten um den sterbenden
Marxismus. »Öffnung« im oben angedeuteten Sinne aber hieße, den Versuch
weitergehender Vermittlungen als bisher zu wagen, nicht nur hinsichtlich
produktiver Diskurse, sondern auch als Auseinandersetzung um eine neue
Praxislegitimation
. Natürlich ist keine neue Praxis aus der Theorie
»abzuleiten«. Aber unsere weitere Theoriebildung wird sich, ohne inhaltlich und
begrifflich nachzugeben, der Frage ihrer praktischen Vermittlung ebenso stellen
müssen, wie sie sich darum bemühen muss, »der Welt zuzuhören«, d.h. danach
Ausschau zu halten, wo und wie die Praxis von Basisbewegungen und Initiativen
auch ihrerseits der theoretischen Kritik entgegenkommt. Das Ergebnis sollte
nicht passive Hinnahme und Hingabe, sondern kritische Auseinandersetzung sein.
Gegenwärtig bemühen wir uns um ein neues Konzept der Krisis, das nach
Möglichkeit auch häufigeres Erscheinen einschließen soll. Wir würden uns über
kritische Stellungnahmen oder Vorschläge unserer Leserinnen und Leser freuen.

Ernst Lohoff und Robert
Kurz
für die Redaktion

Aus dem Editorial der krisis 14, 1994

 

Gegen Arbeitsontologie und „Simulation“

Kann es eine
Stabilisierung innerhalb des Zusammenbruchs geben? Wenn der Bezugsraum des
Zusammenbruchs groß genug ist, dann ja. Wie schon des Öfteren seit dem ersten
großen Börsenkrach 1987, der den neuen säkularen Krisenzyklus im Westen selbst
eingeleitet hat, ist auch heute wieder von einem neuen »Aufschwung« die Rede,
dessen Welle das unverbesserliche Münchner IFO-Institut bereits bis ins Jahr
2000 sich erheben sieht. Der nächste Einbruch kommt bestimmt, aber das Erdbeben
macht auch Pausen. Insofern wir es heute mit dem Zusammenbruchsprozess des
nunmehr strukturell vereinheitlichten warenproduzierenden Weltsystems zu tun
haben, macht dessen bisher nie dagewesene Größenordnung tatsächlich eine
ungleichmäßige Entwicklung möglich; mit regional äußerst unterschiedlichen und
sogar entgegengesetzten Verlaufsformen. Dies gilt sowohl für ganze Weltregionen
als auch für Regionen innerhalb der langsam sich auflösenden Nationalökonomien.
Die Länder der OECD als Kernregionen des Gesamtsystems haben zwar bereits die
größten Krisen- und Armutsschübe seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt, und sie
haben ihr assoziiertes Mitglied Jugoslawien auf eine bemerkenswerte Weise
verloren; aber das »business as usual« läuft weiter, solange der »fordistische
Speck« noch nicht abgeschmolzen, die spekulative Riesenblase des
Kasinokapitalismus nicht geplatzt und das wackelnde System des Staatskredits
und der internationalisierten Finanzmärkte nicht untergegangen ist. Und der
offizielle Berufsoptimismus der herrschenden Institutionen nähert sich zwar in
seiner Qualität immer mehr derjenigen, sagen wir: des russischen
Innenministeriums an; aber dennoch will die Mehrheit sich weiter prognostisch
auf den Arm nehmen lassen, und diese Haltung ist durch die Tatsachen noch nicht
mit letzter Konsequenz ad absurdum geführt.

Auch in einigen der
großen Zusammenbruchsregionen des Südens und Ostens hat das Erdbeben erst
einmal Pause gemacht. Mehr als zusammenbrechen und verelenden kann man eben
nicht. Obwohl diese Verelendung historisch beispiellos ist, wird sie nicht mehr
als Schock erlebt, sondern zunehmend unter die Rubrik »Exotisches« eingeordnet
oder aus der herrschenden Öffentlichkeit allmählich überhaupt ausgeblendet.
Hartnäckig strickt die neoliberale Marktideologie, die inzwischen praktisch in
allen Parteien direkt oder indirekt dominiert, an den angeblichen
Erfolgsmodellen in Lateinamerika (Chile, Argentinien, Mexiko), in
Ostmitteleuropa (Polen, Ungarn, Tschechien) und vor allem in Südostasien (China
und die »Tiger«-Staaten). Zwar kann es überhaupt keinen Zweifel daran geben, dass
die überwältigende Mehrzahl der Länder in Asien, Afrika, Lateinamerika und
Osteuropa »es« nicht geschafft hat und auch nie mehr schaffen wird; doch kann
diese schwelende Tatsache vorerst erfolgreich verdrängt werden. Und dass die
angeblichen Erfolgsmodelle für die Mehrzahl der dort lebenden Menschen keine
sind, dass sie überdies auf Raubbau, Sozial- und Ökodumping beruhen, dass sie
mittelfristig die Weltökonomie eher weiter destabilisieren (einseitiges
Exportwachstum, irreguläre Wechselkurse, neue Verschuldungsbomben) und dass
ihnen auch immanent enge strukturelle Grenzen gezogen sind (z.B.
Unfinanzierbarkeit der notwendigen Infrastrukturen für weiteres Wachstum, um
nur einen Faktor zu nennen): All dies wird ebenfalls verdrängt oder als
vorübergehendes »Anpassungsproblem« (eine Vokabel aus des Teufels Wörterbuch)
verharmlost.

Selbst die rapide
Ausbreitung anomischer Zustände wird allmählich, so gut es eben geht, in das
Kalkül einbezogen. Dann zahlt man eben Schutzgelder, solange man noch kann,
oder heuert selber eine Killertruppe an, und die Entführung oder Erschießung
von Mitarbeitern wird eben zum »Risikofaktor« für immer mehr Gebiete. Dass
immer neue Bürgerkriege über den Globus hinweg aufflammen, ist als Tatsache zum
»Sicherheitsproblem« herabgestuft, also in das gewöhnliche politische
Management überführt worden; ebenso der immer noch anwachsende Fundamentalismus
im »moslemischen Krisenbogen« von Pakistan bis Mauretanien, der im Pentagon
bereits als historischer Ersatzfeind hergerichtet wird. Der irrsinnige Drang, dass
alles irgendwie so weitergehen muss, wenn auch unter irgendwie veränderten
Bedingungen, verrät das erreichte Maß an Unzurechnungsfähigkeit. Aber wo ist
die öffentliche Instanz, die dem Kaiser sagt, dass er nackt dasteht? Alle
machen mit, aus Angst, aus irrer Hoffnung, aus struktureller Bösartigkeit.
Diese bereits hockentwickelte Verdrängungskunst muss sich natürlich auch nach
innen bewähren. Die OECD-Staaten, allen voran die BRD, verdrängen ihre
Armutspotentiale oder verleugnen sie geradezu; und absurderweise machen dabei
sogar die neuen Armen selber mit. Zumindest haben sie keine Stimme, und
nirgendwo hat sich eine gesellschaftliche Alternative auch nur ansatzweise zum
Diskurs oder gar zur Bewegung verdichtet. Die schwach dahinplätschernde
öffentliche Debatte um Wachstum, Arbeitsplätze und Ökologie hat den äußersten
Grad an Unglaubwürdigkeit erreicht; sie rechtfertigt sich nur noch durch die
immer wieder beschworene so genannte Alternativlosigkeit, die aus der
allgemeinen falschen Verarbeitung des staatssozialistischen Zusammenbruchs
herrührt und inzwischen nur noch die Denkfaulheit, Verweigerungshaltung und
Bunkermentalität des herrschenden Bewusstseins repräsentiert.

Dahinter steht weder
im Wissenschaftsbetrieb noch in Politik, Wirtschaft, Publizistik usw. mehr
irgendeine Globalanalyse, ebenso wenig ein kohärentes gesellschaftspolitisches
Konzept. Die »Schizophrenie der Interessen« schwankt wild zwischen Ökologie und
Ökonomie, Nationalstaat und Globalisierung, Neo-Interventionismus und
Deregulierung, »sozialem Frieden« und Sozialabbau, Ethik und Selbstbezogenheit.
Die Zivilisation des Geldes bröckelt weiter, auch wenn das säkulare Erdbeben
Pause macht. Sie wird nur noch zusammengehalten durch die irrationale Hoffnung
auf einen Tag und Nacht beschworenen säkularen Aufschwung des warenproduzierenden
Weltsystems, der nie mehr kommen wird. Das »positive Denken« wird immer
verbissener und pathologischer, je deutlicher sich diese negative Perspektive
enthüllt. Trotzdem kann unter den Mitte der 90er Jahre gegebenen Bedingungen
des säkularen Krisenprozesses weiterhin jede noch so verschwindende und
statistisch oder medial herausgeschminkte »positive« (im Sinne des Systems)
Teiltatsache zur Erfolgsmeldung hochstilisiert werden, bis zum praktischen
Beweis des Gegenteils, während die negativen Großtrends und die damit verbundenen
Katastrophen-Einschnitte einen perversen Unterhaltungswert für die
Noch-Zuschauer gewinnen; nicht unähnlich der »Schaulust« bei blutigen
Verkehrsunfällen.

Das ist nicht nur in
den relativ noch als »reich« geltenden globalen Zentren so, sondern auch in den
Zusammenbruchsregionen selbst. Überall gibt es Katastrophengewinnler der
brutalsten Art, auch wenn diese Figuren schon jenseits der modernen
Zivilisation stehen und nur im barbarischen Abglanz der kapitalistischen Rest-
und Scheinnormalität in den Zentren vorübergehend gedeihen können (z.B. die
entzückende Gilde der Händler mit menschlichen Organen). Über die
Milliardenmasse der globalen Verlierer, der neuen Armen, der Verelendeten und
Verhungernden, der Erniedrigten und Beleidigten, der ziellos Geflohenen und
Erschöpften aber hat sich eine Art dumpfer Verzweiflung und Resignation
gesenkt. Für sie gibt es kein Aufbegehren, keine Perspektive, keine Hoffnung
mehr: nur noch den Terror der Marktwirtschaft und ihrer
Zusammenbruchs-Konsequenzen.

Denn woher sollte
eine Perspektive, dem losgelassenen Spuk des totalen Marktes ein Ende zu
setzen, auch kommen? Der inzwischen selber zu 95 Prozent nur noch
marktbezogene, affirmative Pseudo-Realismus der Polit-Linken, so mancher
(ex-)linken Wissenschafts-Schranzen, Entwicklungs- und Reformtheoretiker, der
nur noch bedingt gesellschaftskritischen linken Publizistik usw. ist in ein
durch und durch peinliches und haltloses, hoffnungslos »unrealistisches«
Konzeptgeschwätz übergegangen, das der Lebenswirklichkeit einer globalen
Mehrheit gegenüber nur noch zynisch zu nennen ist. Der religiöse, ethnische,
rassistische Fundamentalismus andererseits, der vielfach in das von der
aufgeriebenen radikalen Linken hinterlassene gesellschaftspolitische Vakuum
eingerückt ist, hat sich längst praktisch erkennbar als Moment der
Barbarisierung enthüllt. Er setzt den Terror der Marktwirtschaft nur mit
anderen Mitteln fort und wird zunehmend als eines von vielen
Zusammenbruchs-Momenten ebenso stumm erlitten wie diese selbst. Ihm schließen sich
jene Elemente an (vor allem männliche Jugendliche), die ihre mangelnden
Möglichkeiten von Erfolg und Herrschaftsbeteiligung im Rahmen des totalen
Marktes durch Bandenbildung und offene Gewalt zu kompensieren suchen; die
ideologischen Masken sind dabei ziemlich durchsichtig. Die Kalaschnikow kann
auch jenseits jeder emanzipatorischen Erwägung subjektiv als Alternative zum
Billiglohn-Job bei McDonalds erlebt werden, genügend individuelle Energie und
Behauptungswillen vorausgesetzt. Die Konkurrenzenergie des Marktes schlägt dann
eben in kriminelle Energie um, mit der sie ohnehin schon immer eng verwandt
war. Keineswegs zufällig gehen vielerorts religiöse und ethnizistische
Fundamentalismen, ehemalige (bewaffnete) »Befreiungsbewegungen«,
Mafia-Großstrukturen und gewöhnliche Gewaltkriminalität immer mehr ineinander
über; es bilden sich Elemente einer »Plünderungsökonomie« aus, die natürlich
nicht weit tragen kann (vgl. dazu den Jugoslawien-Artikel von Ernst Lohoff in der
letzten »Krisis«).

Das entscheidende
Kettenglied ist also heute die Lösung des Problems, wie eine neue
emanzipatorische Gesellschaftskritik zu entwickeln ist, die nur jenseits des
bisherigen Marxismus (und überhaupt aller »Ismen«), jenseits des herkömmlichen
»Linksseins« und jenseits des Sozialismus/Kommunismus im tradierten,
eingefleischten Sinne liegen kann. Ohne diese Bedingung wird es auch nirgendwo
mehr eine Gegenbewegung geben, denn der Selbstlauf des Zusammenbruchs erzeugt
spontan immer nur die Barbarei und den bloßen Zerfall (statt die bewusste
Aufhebung) der warenproduzierenden Zivilisation. Solange das Erdbeben des
Epochenbruchs es überhaupt noch zulässt, ist also nach wie vor die theoretische
Aufarbeitung angesagt, und weniger denn je ein Praktizismus der falschen
Unmittelbarkeit. Das ist auch weiterhin das Credo dieser Zeitschrift, auch wenn
alle Bemühungen im Verhältnis zur weltgesellschaftlichen Bedrohung als
lächerlich klein erscheinen mögen. An der theoretischen Aufgabe wird sich
grundsätzlich auch dann nichts ändern, wenn (wie des Öfteren »versprochen« oder
angekündigt) verstärkt versucht werden soll, über die reine Theoriesphäre
hinaus wieder Vermittlungen zur gesellschaftlichen Praxis, zu Bewegungsansätzen
und zu anderen Theoriebildungen (nicht zuletzt auch außerhalb Deutschlands)
herzustellen.

Daß dies alles
andere als leicht sein wird, war schon bei den ersten Versuchen zu merken. Dazu
gehörte z.B. die Teilnahme von Redaktionsmitgliedern der »Krisis« an dem
Europa-Kongreß »People’s
Economy – Wirtschaft von unten«
in Dessau und an anderen Konferenzen einschlägiger
Initiativen; außerdem gibt es diskursive Kontakte unterschiedlichster Art mit
Leuten in Österreich, der Schweiz, Brasilien und den USA (alles noch nicht ausgegoren);
nicht zuletzt sind auch die Erfahrungen mit einem eigenen Seminar zu erörtern,
das die »Krisis« zum Thema »Gibt es ein Leben jenseits der
Arbeitsgesellschaft?« im Dezember 1994 veranstaltet hat. Es ist sicher kaum
verwunderlich, dass die Ansätze alternativer Ökonomie heute trotz neuer Anläufe
(z. T. aus der Not der strukturellen Massenarbeitslosigkeit geboren) sich in
einem eher grauenhaften Zustand der gesellschafts-theoretischen und -kritischen
Reflexion befinden; nicht etwa bloß aus alter Theoriefeindlichkeit (die ja
selber noch ein reflexives Moment voraussetzt), sondern oft geradezu aus einem
»unschuldigen« Urzustand der völligen Theorielosigkeit und Theorieferne heraus.

Die
reflexionsfeindliche Bewusstseinsform des totalen Marktes, verstärkt durch den
Zusammenbruch des Staatssozialismus, hat offenbar in den 80er Jahren ein
ungeheures theoretisches Niemandsland hinterlassen, und es wird schwer sein,
mit den alternativen Bewegungsansätzen auf diesem Boden zu einer Vermittlung zu
kommen: Die praktischen Erfahrungen mit der Monstrosität des
Rentabilitätskriteriums und seiner »Härten« werden wohl keine Gewähr dafür
bieten, dass diese neuen Ansätze sich von der Subjektform der fetischistischen
Wertvergesellschaftung allmählich lösen können. Der »lag« zwischen
theoretischer Kritik und der (auch alternativen) Praxis des Geldes bleibt mit
Sicherheit noch länger bestehen. Anderes war nicht zu erwarten, und diese
Erfahrungen werden die »Krisis« natürlich nicht hindern, die angeknüpften
Beziehungen weiterzuführen und an der Konkretisierung einer radikalen Kritik
der Moderne und ihrer Wertökonomie weiterzuarbeiten.

Es zeigt sich aber, dass
die Vermutung nicht unrichtig war, eine Vermittlung mit neuen Praxisansätzen
werde sich nur im Zusammenhang mit einer gründlichen Aufarbeitung der (auch unbewussten)
»Hintergrundannahmen« und damit der Modernisierungsgeschichte samt ihren
ideologischen Theorien (den Marxismus an vorderer Stelle) leisten lassen. Die
»Stabilisierung innerhalb des Zusammenbruchs« bezieht sich nicht nur auf real
gegenläufige Prozesse in relativen und temporären Gewinner-Regionen; sie
bezieht sich auch nicht bloß auf die irrationale Hoffnung eines doch noch
kommenden säkularen Aufschwungs. Vielmehr ist es die eingebrannte warenlogische
Bewusstseins- und Subjektform selbst, die an der erscheinenden Geldform mit
einer derartigen Hartnäckigkeit klebt, dass der drohende Zusammenbruch dieser
Form nur noch abgewehrt und verdrängt werden kann: Die gesellschaftliche
Vermittlung durch das Geld ist ein Tabu, das alle früheren Bewusstseinsschranken
zu übertreffen scheint. Deswegen ist es fast zwangsläufig, dass in den
konzeptionellen Reaktionen auf die Krise des Geldes auch bei der
gesellschaftlichen Opposition und bei den Ansätzen einer Alternativ-Ökonomie
nicht die radikale Kritik der Waren- und Geldform den größten Anklang findet,
sondern viel eher das, was Marx treffend (in Bezug auf Proudhon) als
reform-ideologische »Geldpfuschereien« bezeichnet hat.

Auch bei einer
gewissen Einsicht in diese Bedingungsgründe muss es als verblüffend und fast
unglaublich erscheinen, in welchem Ausmaß eine gewissermaßen subtheoretische
und subkulturelle Wucherung von »freiwirtschaftlichen« Theoremen
anthroposophischer bis proudhonistischer Provenienz sich gegenwärtig.
ausbreitet. Ob in Ost- oder Westdeutschland, in der Schweiz oder Osterreich, ob
unter ehemaligen Marxisten, Anarchisten oder Autonomen, ob in der Alternativ-
oder der akademischen »Szene«, bei Künstlern und Hausfrauen, Grünen, PDS-Anhängern
oder Vogelschützern: Überall geistert die nicht bloß brettflache und ökonomisch
naive, sondern im Kern auch antisemitische »Geldtheorie« von Silvio Gesell und
seinen Nachfahren durch die Köpfe. Nicht die Aufhebung der Warenform, sondern
das »Brechen der Zinsknechtschaft« soll die Krise des Geldes und der
Wertvergesellschaftung lösen. Dass diese uralte Illusion, die nicht nur das
Wesen des warenproduzierenden Systems völlig verkennt, sondern auch durchaus
mörderische Konsequenzen implizieren kann, heute einen derartigen (von der
offiziellen Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen) Höhenflug erlebt, muss
alarmieren.

Es handelt sich hier
freilich bloß um ein Indiz. Welche Rolle das ekelhafte antisemitische Moment
dabei spielt, wird sich bei der Entpuppung dieses absurden »geldpfuscherischen«
Ansatzes noch herausstellen. In gewisser Weise handelt es sich um eine ideelle
Reaktionsform nicht bloß auf die Krise des Geldes überhaupt, sondern auch auf
das historische Versagen der anderen, etatistischen, geschichtsmächtig
gewordenen, sozialistisch-kommunistischen Groß-Geldpfuscherei. Wenn der
Versuch, die gesellschaftliche Warenform und damit das Geld unaufgehoben durch etatistische
Planung an die Kandare zu nehmen, historisch gescheitert ist, dann muss
zwangsläufig nicht nur der marktradikale Neoliberalismus einen Höhenflug
erleben, sondern auch – angesichts der unter diesem Zeichen erst recht
weitergehenden Krise – innerhalb der hilflos gewordenen Gesellschaftskritik die
nicht-etatistische, anarchoide, anthroposophisch-lebensreformerische, einer
gesellschaftspolitischen Bastlermentalität entsprechende Geldpfuscherei
ideologisch wiederkehren; vermutlich gerade auch in den »postkatastrophalen«
Gesellschaften Osteuropas bis zum Ural, und dort könnte sich die antisemitische
Komponente sogar schneller entpuppen als im Westen.

Deshalb ist die
aufkommende
Silvio-Gesellerei trotz ihrer ökonomischen
Unsinnigkeit von einem »linken« Standpunkt aus gar nicht zu widerlegen, der
selber bloß die dem früheren sozialistisch-kommunistischen Mainstream
entsprechende etatistische Illusion des »Arbeiterstaats« unaufgehoben weiter
mit sich herumschleppt, den untergegangenen Staatssozialismus trotz aller
Teilkritik weiterhin für eine versuchte historische »Alternative« zum
Kapitalismus hält und gerade aus dieser schwachen Position heraus mit
altmarxistischen Kategorien die »freiwirtschaftliche« Wirrköpfigkeit zu
kritisieren sucht. Beides ist in Wahrheit gleichermaßen ein hilfloses
Herumtigern hinter den Gitterstäben des warenförmigen Bewusstseins, das von der
Fixiertheit auf die Geldvermittlung nicht loskommt. Trotz aller vordergründigen
Bedeutung kann es sich bei der Kritik der Geselhanischen geldpfuscherischen
Utopie des »zinslosen Freigelds« nur um eine theoretische Marginalie handeln.
Denn die ideologische Wendung gegen die »Zinsknechtschaft« ist nur eine ganz
oberflächliche (geradezu im alten Sinne »kleinbürgerliche«) Erscheinungsform
der allgemeinen bürgerlichen Reaktionsweise auf die zunehmende Krise des
Geldes, die in der Vergesellschaftung der warenproduzierenden Moderne befangen
bleibt und auch noch in ganz anderer Weise als bloß in Gestalt
geldbastlerischer Konzepte bis tief in das subjektiv gesellschaftskritische Bewusstsein
hineinreicht. Wenn das historische Erdbeben zu einem neuen Schub ansetzt (der
sich in ganz unterschiedlichen Ereignissen bereits andeuten könnte, ob im
Tschetschenien-Krieg oder in der Krise der mexikanischen Finanzmärkte), wenn
also die relative »Stabilisierung innerhalb des Zusammenbruchs« sich nach der
objektiven Seite hin wieder auflöst und eine neue Katastrophen-Runde beginnt,
dann wird sich auch die Krise der theoretischen Reflexion weiter zuspitzen, und
die subjektiven Fluchten in die Grenzgebiete und Tiefenschichten des
Ware-Geld-Fetischismus werden umso bizarrere Regionen erreichen. Deshalb ist
nicht nur die Analyse des objektivierten Krisenprozesses voranzutreiben,
sondern auch das fetisch-konstituierte subjektive Bewusstsein verstärkt in
diese Analyse einzubeziehen, um ihm wenigstens innerhalb der im strategischen
Rückzug begriffenen Gesellschaftskritik die Ausflucht in jene Terrains zu
erschweren, in denen sich der Ware-Geld-Fetischismus auf eine oft nicht leicht
erkennbare Weise reproduziert.

Für diese
Auseinandersetzung könnten zwei Stichworte zentrale Bedeutung erlangen: nämlich
»Arbeit« und »Simulation«. Dass die Position der »Krisis« inzwischen in ihrer
fortentwickelten Gestalt für eine radikale Kritik der modernen
Arbeits-Ontologie steht und gerade dadurch den Arbeiterbewegungs-Marxismus
aufheben will, ist unseren Leserinnen und Lesern durch etliche mehr oder
weniger grundsätzliche Artikel bereits bekannt. Dieser gegen die »Arbeit« als solcher
gerichtete Aufhebungsdiskurs muss weitergeführt werden. Dabei ist sicherlich zu
differenzieren. Es geht ja nicht bloß ums Wort, sondern um die Sache. Auch wenn
die Abstraktion »Arbeit« keine ontologische, sondern eine historische, auf das warenproduzierende
System beschränkte Kategorie ist, so gehen in die Auseinandersetzung darüber
natürlich doch unterschiedliche Erfahrungen ein, nicht zuletzt durch den
Ost-West-Gegensatz.

Während der
ontologische »Arbeits«-Begriff für West-Marxisten ein ideologisches Heiligtum
im Hinterkopf war, vor dem jede/r das obligatorische Lichtlein entzünden
konnte, andererseits aber der reale Arbeitsprozess immer schon als
kapitalistisch bestimmter negiert werden musste, ist die Affirmation des »Arbeits«-Begriffs
im Osten wohl etwas komplizierter. Denn dort wurde das negative, abstrakte
Moment der real existierenden »Arbeit« ja gerade unter seinem sozialistischen
Vorzeichen praktisch erlebt (und entsprechend repressiv bzw. selbstrepressiv
internalisiert), während aber gleichzeitig »lebensweltliche« Momente in das
betriebliche Arbeitsleben eingingen, die eigentlich schon über die »Arbeit« und
ihre Ontologie hinauswiesen: Aber eben nicht als Teil der offiziellen
sozialistischen Wirklichkeit und als bewusst aufgenommene
Transformationsperspektive, sondern umgekehrt als Unterlaufen dieser
offiziellen Wirklichkeit, als Ausnutzen ihrer »Effizienz-Schwäche« (im Sinne
der Wertverwertung), als bloßes »Notprogramm von unten« usw.

Von dieser noch
ausstehenden Differenzierung abgesehen ist aber grundsätzlich davon auszugehen,
dass die »Arbeits«-Ontologie in jedweder Version zu den letzten ideologischen
und soziopsychischen Kasematten des warenproduzierenden Systems gehört, und die
Verteidigung dieser falschen Ontologie demzufolge selber ein Kopfmoment der
»Stabilisierung im Zusammenbruch«, eine hintere, tiefliegende
Verteidigungslinie des modernen bürgerlichen Weltverständnisses genannt werden muss.
Der ontologisierende, positive »Arbeits«-Begriff ist dabei sicherlich eine »old
fashioned« Version des warenförmigen Bewusstseins, bürgerliches Urgestein
sozusagen. Als solches ist er sowohl im marktradikalen Neoliberalismus als auch
in der Silvio-Gesellerei und im Marxismus gleichermaßen aufzufinden.

Diesen Bewusstseinsformen
eignet gemeinsam eine Verankerung im protestantischen Arbeitsfetischismus. Dazu
gehören Verkniffenheiten, Knickrigkeiten und Engherzigkeiten aller Art, vor
allem der Drang nach »Leistungsabrechnung«, Unterwerfung bzw.
Selbstunterwerfung unter eine »abstrakte Allgemeinheit« (welchen Namens auch
immer) und eine gewisse Lustfeindlichkeit (oder wenigstens Lustfremdheit). Vom
ontologischen »Arbeits«-Begriff leitet sich auch letztlich der Wahn der
»Identität« her, der für jegliche mörderische Interpretation anschlussfähig ist
(wenn auch den gutwilligen marxistischen Arbeitsontologen nicht bewusst). Die »Arbeits«-Ontologie
ist selber eine falsche soziopsychische »Identität«. Nicht zuletzt gehören dazu
auch die Zwangsheterosexualität, der Geschlechtsfetischismus und die offene
oder versteckte Abwehr radikalfeministischer Zumutungen (vgl. dazu das in »
Krisis« 12 vorgestellte Abspaltungstheorem von Roswitha Scholz). Das »Arbeits«-Syndrom
gehört durch und durch dem Systemterror der Wertvergesellschaftung an. Deswegen
ist es auch eine contradictio in adjecto, eine Aufhebung der Warenform
arbeitsontologisch begründen und herleiten zu wollen. Jegliche Ontologie der
Arbeit, und sei es eine solche mit dem Anspruch radikaler Kritik des warenproduzierenden
Systems, muss zurückmünden in die Ontologie von Wert, Ware und Geld; d.h.
verflachen zu einer verkürzten Kritik der kapitalistischen »Mehrwert«-Aneignung
innerhalb der Wert-Ontologie (womöglich in der Form einer ebenso utopischen wie
technokratischen »Arbeitszeit«-Wertrechnung, und natürlich gestützt auf marxphilologische
»Stellen«, wofür jetzt schon ein Register angelegt werden könnte).

Was hat aber mit
alledem die
„Simulation“ zu tun? Gewissermaßen
handelt es sich dabei um die (postmoderne) Kehrseite derselben bürgerlichen,
warenförmigen Medaille. Auch »Simulation« steht für ein ganzes Syndrom von
Theoremen, Ideologemen, »Haltungen« und Verhaltensweisen, die quasi
spiegelverkehrt zur »Arbeits«-Ontologie erscheinen. Theoretisch handelt es sich
dabei um Medienphilosophien (
Paul Virilio z.B., vor allem aber Jean Baudrillard), um poststrukturalistische und dekonstruktivistische
Ansätze, nicht zuletzt um einen damit vielfältig verwobenen und vielfach
wiedergekäuten
„Foucaultismus“, der in seinem Ursprungsland Frankreich und in den USA
schon wieder abzuflauen scheint, während er im deutschsprachigen Raum wohl erst
seinen Höhepunkt erreicht hat. Soll das, was »Simulation« gesellschaftlich ist
oder wofür sie steht, in einen politökonomischen Zusammenhang gebracht werden,
dann muss in erster Linie das »fiktive Kapital« (Kasinokapitalismus,
Staatskredit, Überziehungskredit) genannt werden. Die »ökonomische Basis«
(ironisch gesprochen) ist heiße Luft, substantielles Nichts, und darauf erhebt
sich das simulative Bewusstsein der millionenfachen letzten Mohikaner. »Simulation«,
das ist die Dauerparty (auch die scheintheoretische), das Leben aus zweiter
Hand (von Cyber-Sex und virtual reality bis zum perspektivlosen Geldeinkommen
der »neuen Erben«); der Zwangshedonismus vor allem: Damit ist das allzu
angestrengte, selber leistungs- und konkurrenzorientierte Moment an diesem so
genannten Hedonismus gemeint, der so lustbetont gar nicht ist, wie er sich
gewöhnlich gibt. Auch die Lust ist bloß simuliert. In gewisser Weise steht all
dies im Gegensatz zur old fashioned »Arbeits«-Ontologie, gewiss, aber ohne die
bürgerliche Formbestimmtheit im mindesten zu durchbrechen.

Dieses Syndrom des
ausflippenden warenförmigen Bewusstseins mag den protestantischen
Arbeitsfetisch äußerlich negieren, verfällt aber bloß seiner Kehrseite und
repräsentiert in seinem eigenen Zwangscharakter das von der Substanz abstrakter
Arbeit entkoppelte Kapital, das in das Sterbezimmer der Scheinakkumulation
eingefahren ist. Und wie es eine marginale, arbeitsontologische, old fashioned
Version scheinradikaler Kritik geben kann, so ist auch eine postmoderne Version
des Scheinradikalismus möglich, die von einem abstrakten Zwangshedonismus
geleitet bloß das »fiktive Kapital« statt der alten Arbeits-Substanz hinter
sich hat. Die »Wir wollen alles«-Ideologie der alten
Situationisten und Operaisten mag dabei in Randbereichen mitspielen, parallel zum
Ringelreihen der 90er Jahre oder vermischt damit. Unter den derart veränderten
gesellschaftlichen Zuständen würde ein unvermitteltes Zurückgreifen auf ältere
Ansätze radikaler Kritik, die das postmoderne Simulationsmoment noch
unentbunden mitenthalten haben, den Anspruch der radikalen Kritik verlieren.
Auch in dieser Hinsicht gilt, dass die Vergangenheit nicht wiederzukäuen,
sondern zu transformieren ist. Der grassierende bühnenreife Zwangshedonismus
seit den 80er Jahren droht heute auch dann affirmativ zu werden, wenn er sich
linksradikal ausstaffiert. Da wäre es doch viel hedonistischer, sich diesen
protestantischen Hochleistungs-Hedonismus nicht leisten zu müssen.

In doppelter Weise
lügt sich der simulative Zwangshedonismus in die Tasche. Im Grunde rechnet er
offensichtlich noch immer nicht ernsthaft damit, dass zwischen ihm und dem
Schlaraffenland noch die Kleinigkeit der kapitalistischen Form, der
Zusammenbruch und damit womöglich der Bürgerkrieg steht. Dass
linke Berufshedonisten seit Rostock ein
wenig Muffensausen haben, ändert nichts daran, dass sich einige von ihnen
weiterhin wie Kinder zur Realität negativer Vergesellschaftung verhalten. Für
ihresgleichen ist es immer noch unentschieden, ob die Knallerei draußen vom
Silvesterfeuerwerk oder von den ersten Einschlägen der Artillerie herrührt.
Auch wenn es um alles andere als um eine antikapitalistische Askese geht und
der Lust auch im Hier und Jetzt ihr Recht werden soll, kann das krisenhafte
Vermittlungsproblem dennoch nicht einfach ignoriert werden. Ein bloßer
»Anspruch« wirkt lächerlich hilflos, wenn das Problem der gesellschaftlichen
Transformation, ihrer Inhalte und Formen nicht geklärt, sondern bloß
eskamotiert wird.

Zum andern droht
sich der simulative Zwangshedonismus (soweit er radikaloppositionelle Ansprüche
vertritt) trotz eines begrüßenswerten Antirassismus insofern verantwortungslos
gegenüber den »anderen«, den Ausgegrenzten (global und im eigenen Umfeld), und
gegenüber der ökologischen Zukunft zu verhalten, als er die Frage der
Begrenzung und Verteilung der Ressourcen nicht oder nur schwach thematisiert:
also all das, was strukturell »hinter« Erscheinungen wie Rassismus, Ethnizismus,
Asylgesetzgebung usw. steht. Damit soll nicht unterstellt werden, dass hier
einfach offener Zynismus herrscht und keinerlei sozialökologische Reflexion
vorhanden wäre. Aber was soll das denn konkret heißen: »Wir wollen alles«? WER
kann WAS wollen, wenn alle Zusammenhänge wirklich einbezogen werden, wenn die
Waren nicht mehr schön verpackt und zusammenhangslos auf den Verkaufstischen
liegen? Auch in dieser Hinsicht fehlt die konkrete Vermittlung, die einsichtig
differenziert zwischen der Abwehr konservativer Verzichtsideologie und einem
abstrakten und unvermittelten »Habenwollen« (G. Jacob) des bloß enthemmten simulativen
Bewusstseins, das gar nicht mehr fähig und willens ist, die konkret-sinnlichen
Vermittlungen anders als bloß oberflächlich zu reflektieren.

Nur die virtual reality
der fiktiven Räume ist grenzenlos. Das entgrenzte Bewusstsein ist nichts
anderes als das letzte Stadium, der Todesprozess der gesellschaftlichen
Warenform. Das äußert sich innerhalb wie außerhalb der Gesellschaftskritik
wiederum in doppelter Weise. Erstens als Beliebigkeitsideologie: »anything goes«.
Diese Metapher führt bekanntlich schnurstracks zu »Rien ne va plus«. Der
neurasthenische Charakter der warenförmigen Beliebigkeit kann nicht in
Emanzipation münden. Der Yuppie, der Konsumidiot (und sei es der frisches Gras
verlangende), der Zapper, der Design-Fetischist: wo sollte hier jemals transzendierendes
Bewusstsein sichtbar werden? Eher noch wird die Kuh Arien singen. Die Bewusstseinsform
der Beliebigkeit hat keinen ideellen Überschuss, sie kann die Welt nur noch als
Supermarkt wahrnehmen. Der Beliebigkeitsmensch ist der Kreditkartenmensch,
dessen Reflexions- und Handlungsfähigkeit per definitionem in seiner Karte
steckt.

Wenn es richtig ist,
dass niemand in der Karikatur völlig aufgeht, die das totale Warensystem aus
ihm gemacht hat, dann bleibt immer noch die Frage, wo an den Menschen denn das
»Nichtidentische« (Adorno) zu suchen wäre: an der Beliebigkeitsmaske sicher
nicht. Es ist jedenfalls wenig Transzendierendes an Leuten zu entdecken, die
womöglich noch stolz darauf sind, dass sie sich auf nichts mehr konzentrieren
können; Leute also, die nicht einmal den Dingen mehr ihr Recht geben können,
nicht einmal im Konsum, und denen sich alles durch ihre Berührung – nicht in
Gold verwandelt wie noch dem König Midas, sondern bestenfalls in Pappe oder
Plastik. Ist es nicht arg abwegig, solche Verhaltens- und Bewusstseinsformen,
die gerade dasjenige repräsentieren, was an den Menschen in der totalen
Warenform aufgeht, mit radikaler Kritik verheiraten zu wollen? Droht der
Beliebigkeitsmensch nicht gerade durch die Beliebigkeit selber entweder zum
Opfer oder zum Täter einer neuen Barbarei zu werden? Oder jenem »Aufstand der
Dinge« zu erliegen, von dem schon vor langer Zeit der eher konservative
Schriftsteller Erich Kästner gesprochen hat, und sei es einem Aufstand der
gequälten Materie in Gestalt irgendeiner neuen Seuche, die dem
Abstraktionsterror der warenförmigen Welt-Manipulation entspringt?

Zweitens erscheint
diese Haltung als Verkehrung der ästhetischen Kritik. Dass die Trennung von
Kunst und Leben, wie sie die Moderne hervorgebracht hat, wieder aufgehoben
werden solle, war schon eine Forderung der Frühromantik. Damit kann sich auch
eine »fundamentale Wertkritik« grundsätzlich einverstanden erklären: Die
»Sphärentrennung« durch die warenförmige Vergesellschaftung der Moderne, die
alle Lebensäußerungen zu getrennten Funktionssphären des Verwertungsprozesses
degradiert, sie in bloße »Subsysteme« verwandelt, muss Gegenstand radikaler
Kritik werden. Insofern auch »Ende der Kunst« oder »Aufhebung der Kunst«. Aber
wie herum soll das denn gehen? Dass zusammen mit der Entästhetisierung, Verhäßlichung
und Unbewohnbarkeit der Welt durch die totale Ware-Geld-Beziehung »daneben«,
neben der Lebenswelt, als gesonderter und abgegrenzter Bereich, das
»Kunstschöne« entstand (und sofort selber Warenform annahm, Preise und
Spekulationspreise): Nach welcher Richtung soll dieser Zustand aufgelöst
werden? Denn auch dies kann vermittelt oder wiederum in falscher
Unmittelbarkeit geschehen. Das Problem ist auf eine einfache Formel zu bringen:
Auflösung der Ästhetik (Kunst usw.) in die Lebenswelt – oder umgekehrt
Auflösung der Lebenswelt in die Ästhetik? So ähnlich hat das
Günther Jacob (Autor von Spex,
Konkret, Edition ID-Archiv etc.) einmal formuliert. Das erstere wäre die
durchaus nicht leichte Vermittlung durch die theoretische und praktische Kritik
der Warenform hindurch, das letztere dagegen der hoffnungslose Versuch, in der simulativen
Scheinwelt die existentiellen Probleme verschwinden zu lassen, die
unaufgehobene Krisenrealität durch Ästhetisierung schmerzunempfindlich zu
machen: kompatibel mit der herrschenden Warenform (solange noch ein wenig
Spielgeld in der Tasche klimpert) und übrigens auch anschlussfähig für eine
Ästhetisierung des Schreckens, die noch nicht einmal mehr Schauder erregen
kann, sondern als Pullover- und Wäschereklame von Benetton dem »Weltbanalen«
(Erich Kästner) verfällt. Statt »Aufhebung« also »Warenästhetik« (W F. Haug).

»Arbeit« und
»Simulation« (im weitesten Sinne von Beliebigkeit, ideellem Recycling, falscher
Ästhetisierung, »Leere der Zeichen« bis zum Behäbigwerden sogar des
Hakenkreuzes) sind also die beiden Seiten derselben warenförmigen Medaille.
Beide Seiten befinden sich in keinem guten Zustand mehr. Es ist notwendig, sich
dieser falschen, systemimmanenten Alternative zu verweigern. Die
Arbeitsfetischisten werden diese Position wegen postmoderner Unzucht anklagen,
die Simulations-Fans sie des Konservatismus zeihen. Die zwangshedonistische Neo-Neo-Linke
ist nicht unbedingt besser als die arbeitsontologische des bemoosten Marxismus
oder die demokratisch langweilige der habermasianischen Realos; und sie droht
Teil des allgemeinen Simulationstheaters unter dem Zeichen des fiktiven
Kapitals zu werden: »Linksradikalismus auf dem Laufsteg« womöglich? Der ganze
alte marxistische Plunder bleibt dabei völlig unaufgehoben und unaufgearbeitet.
Aber das ist ja bloß die nicht mehr ganz neue underwear, darüber trägt man den
modernsten, linksradikal aufgemotzten foucaultistischen und dekonstruktivistischen
Designer-Trendanzug.

Damit soll die »Foucaultistische Linke«
ebenso wenig wie der
Dekonstruktivismus als
theoretisches Feindbild aufgebaut werden; im Gegenteil ist es durchaus möglich,
aus diesem Kontext heraus zu einer Kritik der Wertvergesellschaftung zu
gelangen. Aber die brauchbaren Ansätze des Dekonstruktivismus bleiben
verschenkt, wenn sie nicht dazu genutzt werden, in den für manche vielleicht
sauren Apfel einer »Dekonstruktion des Marxismus« zu beißen: d.h. mit Hilfe (nicht
nur, aber auch) der Dekonstruktion zu einer »Aufhebung des Marxismus« zu
gelangen, zu einer Reformulierung radikaler Gesellschaftskritik, zu einer
konkreten Durchdringung der modernen Fetisch-Konstitution. Dieses Potential
könnte im dekonstruktivistischen Ansatz schlummern, aber es wird nicht erweckt,
solange dieses Denken der »Simulation« verhaftet bleibt. Im Extremfall wird
diese Verkürzung bloß darauf hinauslaufen, das Schlechte und Katastrophale der
gesellschaftlichen Wirklichkeit dadurch eskamotieren zu wollen, dass man aus
dem Designer-Biedermeier heraus mit scheinradikalem (und heimlich auf
Markterfolg erpichten) Gestus bloß die Wirklichkeit dieser Wirklichkeit
anzweifelt, solange man noch nicht selber »wirklich« blutet.

Zuviel der Polemik?
Vielleicht handelt es sich eher um Notwehr aus einer Position heraus, die
zwischen dem versteinerten Altmarxismus bzw. dessen zum Realismus verelendeten
Verfallsgestalt einerseits und der dekonstruktivistischen Modesimulation
andererseits eingeklemmt zu werden droht. Deswegen soll keineswegs jede und
jeder von vornherein abgestempelt werden, jede Überlegung von anderen sofort in
einer vermeintlich passenden Schublade verschwinden. Es geht durchaus auch um
Differenzierung, und gerade dem dekonstruktivistischen Moment soll sein Recht
gelassen werden, aber eben nur in Verbindung mit einer expliziten Kritik der
Warenform und einer durchzuhaltenden Aufhebungsperspektive. Deshalb gilt es,
sowohl gegen die »Arbeit« als auch gegen die »Simulation« Maßstäbe für die Auseinandersetzung
zu entwickeln. In diesem Sinne sind auch die Aufsätze dieser 15. Ausgabe der »
Krisis« zu verstehen.

Roswitha Scholz bemüht sich in ihrem
Essay
Die Maske des roten Todes, die oben angedeutete
Fragestellung anhand der aktuellen Entwicklung im feministischen
Theorie-Spektrum aufzuwerfen. Dabei geht es ihr weniger um eine
innertheoretische Auseinandersetzung, als vielmehr um den Versuch, den
zeitgeschichtlichen Hintergrund der dekonstruktivistischen Mode zu erhellen,
die einschlägigen theoretischen Ansätze (vor allem der US-Autorin Judith
Butler) in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen bzw.
Erscheinungsformen des Massenbewusstseins zu bringen und die Gründe für das
noch anhaltende begierige Aufgreifen dekonstruktivistischer Konzepte kritisch
zu beleuchten. Nach eigenem Bekunden und nach Diskussionen außerhalb der
»Krisis«-Redaktion würde die Autorin den Text heute etwas anders schreiben, da
sie befürchtet, dass ihre zugespitzte Kritik am postmodernen Hedonismus
womöglich als konservativen Tendenzen zuträglich missverstanden werden könnte.
Auch in der »Krisis«-Redaktion ist dieser Essay keineswegs unumstritten. Die
Frage ist eben, ob im dekonstruktivistischen Ansatz trotz seiner immanenten
Gefährdungen nicht wie so oft in der Theoriegeschichte auch noch andere,
kritische und emanzipatorische Entwicklungsmöglichkeiten enthalten sind, indem
er die »Künstlichkeit« der geschlechtlichen Zwangsidentitäten als Problem
aufwirft, ohne freilich zur gesellschaftlichen Formbestimmung durchzudringen.

Der zweite größere
Aufsatz, der ein in gewissem Sinne verwandtes Problem behandelt, nämlich die
Ästhetik, nähert sich seinem Gegenstand in ganz anderer Weise und auf einer
anderen Ebene.
Anselm Jappe setzt sich in
seinem Text
„Sic transit gloria artis –
Theorien über das Ende der Kunst bei Theodor W Adorno und Guy Debord“
mit der Krise der
(künstlerischen) Avantgarde auseinander, der durch den Sog der
Wertvergesellschaftung jene kritische Funktion entzogen worden ist, die sie
noch um die Jahrhundertwende zu besitzen schien: freilich auch damals nur im
Sinne der »Formzertrümmerung« auf dem Weg der negativen Wertvergesellschaftung
selbst. Jappe zeigt dabei, wie Adorno und der in Deutschland wenig rezipierte Debord
(der dafür in Frankreich und Italien umso größeren Einfluß hatte) trotz
unterschiedlichster Auffassungen und Resultate denselben Vorgang mit einer
ähnlichen Intention beschreiben: »Kulturindustrie« (Adorno) bzw. »Spektakel« (Debord)
vollenden in sich die warenförmig gesetzte Entfremdung. Dass Adorno gerade in
der Getrenntheit der Kunst eine letzte Protest- und Kritikmöglichkeit gegen die
»Sozialpartnerschaft zur Barbarei« sieht, und sich damit zur Passivität
verdammt, während Debord umgekehrt verlangt, die bereits tote Kunst müsse ins
Leben aufgehoben werden, und sich damit der Gefahr aussetzt, die reale
Aufhebung durch eine ästhetisch simulierte zu ersetzen (was für einige Aktionen
der Situationisten wohl auch zutrifft): Dieses aufscheinende Dilemma verweist
auf die Schwierigkeit der Aufgabe. Dass jedenfalls eine radikale
Gesellschaftskritik auch heute nicht auf das politisch-ökonomische Moment
beschränkt sein kann, sondern das Asthetische einbeziehen muss, zeigt der Text
von Jappe gerade durch seinen Rückgriff auf die Kunstdebatte seit den 50er
Jahren. Freilich geht es nicht um eine Ästhetisierung der Ökonomie, sondern um
ihre Abschaffung – und gerade dadurch um die Aufhebung einer ästhetischen
Sonderexistenz. Die Schärfe dieses Gegensatzes ist heute vielleicht deutlicher
sichtbar als in den 50er und 60er Jahren.

Unfreiwillig ist
dieser Aufsatz ein Nachruf geworden: Ende November 1994 hat sich Guy Debord das
Leben genommen. Daß in Deutschland lediglich in der »taz« ein noch dazu eher
herablassender Nachruf erschien, der in keiner Weise der Bedeutung Debords
gerecht wird, gibt der theoretischen Auseinandersetzung, wie sie Jappe hier in
der »Krisis« vorlegt, einen zusätzlichen Rang.

Zwei weitere
Aufsätze der vorliegenden »Krisis«-Ausgabe befassen sich mehr mit dem anderen
Pol unseres Gegenstands der Kritik, also mit der »Arbeit« und ihrer falschen,
fetischistischen Ontologie.
Robert Kurz erweitert in seinem Aufsatz Postmarxismus und Arbeitsfetisch seine in früheren
Texten bereits angelegte Kritik der Arbeits-Ontologie durch eine explizite
Auseinandersetzung mit dem »doppelten Marx«: Marx als immanenter
Modernisierungstheoretiker einerseits und als radikaler Meta-Kritiker der
Moderne andererseits. Dieser Widerspruch im Zentrum der Kritik der Politischen
Ökonomie läßt sich exemplarisch an der Ambivalenz des Marxschen »Arbeits«-Begriffs
entfalten. Einerseits affirmiert und ontologisiert Marx die »Arbeit«, weil er
sich nur dadurch mit der Arbeiterbewegung als historischer
Modernisierungsbewegung vermitteln kann, andererseits legt er selber (und
stellenweise sogar explizit) einen Bruch mit der Arbeitsontologie nahe. Dieser
Widerspruch ist kein Produkt »falschen Denkens«, sondern ein Resultat der
historischen Ungleichzeitigkeit innerhalb der Marxschen Theorie selbst, die
erst heute aufgelöst werden kann.

Der hier vorliegende
Text überschneidet sich geringfügig mit dem Referat
Der doppelte Marx, das der Verfasser im Wintersemester 1993 beim Kasseler Symposium
»Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis« gehalten hat und das in einem
Sammelband zu diesem Symposium Anfang 1995 erscheinen soll; außerdem enthält
der Text längere Passagen, die aus dem Beitrag

„Fetisch Arbeit“
für den Sammelband »Der Marxismus in seinem Zeitalter« (Reclam Leipzig,
1994) aus Platzgründen gestrichen werden mussten. In den Schlußteil wurde eine
überarbeitete Argumentation aus einer im »Krisis«-Rundbrief Anfang 1994
erschienenen internen Polemik aufgenommen. Die Intention war, die umstrittene
Position einer grundsätzlichen Kritik der »Arbeits«-Ontologie im Marxschen
Kontext kohärenter darzustellen, als es bei den beschränkten
Publikationsmöglichkeiten anderswo möglich sein konnte.

Den Gedanken vom
»doppelten Marx« greift
Udo Winkel in seinem Text über Rosa Luxemburg unter dem Titel Marx hat uns im Voraus überholt wieder auf. Er zeigt, dass Rosa Luxemburg zu den wenigen TheoretikerInnen
des Arbeiterbewegungs-Marxismus gehört hat, in deren Denken das Problem von
Immanenz und Transzendenz aufscheint, das in der doppelbödigen Marxschen
Theorie enthalten ist. Rosa Luxemburg ist dabei so weit gegangen, die
zukünftige Aufhebung der Politischen Ökonomie als solcher zu propagieren: Ein
Gedanke, dem die Marxisten nicht folgen konnten und für den sie ebenso
gerüffelt wurde wie für ihre berühmte Zusammenbruchstheorie, die in
Wirklichkeit auch heute noch (oder vielmehr überhaupt erst heute) interessante
Momente enthält. Rosa Luxemburg wurde nach ihrem Tod für den Staatssozialismus
jeglicher Couleur zur Galionsfigur und Märtyrerin, praktisch war sie zu
Lebzeiten immer ein Ärgernis und theoretisch blieb sie es über den Tod hinaus:
»Die Genossin Luxemburg bringt alles durcheinander«, so hieß es immer wieder
von denen, die nicht so weit denken konnten. Der Text von Udo Winkel ist aus
einem Referat hervorgegangen, das der Autor zum 1. Mai 1994 gehalten hat.

Auf ein mehr
empirisches Gebiet führt der Artikel
„Die globale Gesamtfabrik – ein irres Unternehmen“ von Norbert Trenkle. Dieser Text befasst
sich mit der Analyse des kapitalistischen Globalisierungsprozesses und seiner
inneren Widersprüche. Die globale Gesamtfabrik bringt nicht nur neue
Krisenpotentiale hervor, sie ist auch weit davon entfernt, zu einer
Entflechtung und Dezentralisierung der Reproduktion zu führen, wie es die
Apologetik des Öfteren behauptet. Im Gegenteil handelt es sich um eine neue
Qualität der Kapitalkonzentration über die Grenzen der alten Nationalökonomien
hinweg. Die andere Frage ist, ob und wie die neuen Technologien, die Träger der
Globalisierung sind, nicht in Widerspruch zu ihrer Formbestimmtheit durch das warenproduzierende
System treten; vor allem aber: Inwieweit sie für eine nicht mehr warenförmige
Reproduktion nutzbar zu machen sind und erst in diesem Zusammenhang wirklich
ihr Potential für eine Dezentralisierung entfalten können.

Der Text von Norbert
Trenkle leitet damit über zu einer Fragestellung, wie sie für die »Krisis« in
Zukunft stärkeres Gewicht bekommen soll: Wie kann eine Aufhebung der Warenform
im Makro- wie im Mikrobereich der Gesellschaft konkret gedacht werden –
jenseits aller falschen Allgemeinheits-Zumutungen (d.h. nicht mehr als
vermeintliche »Verwirklichung« eines neuen »Prinzips« abstrakter
Allgemeinheit)? Diese von Adorno in der »Negativen Dialektik« streckenweise vorausgedachte
Herangehensweise an eine wirkliche Aufhebung der Warenform lässt sich erst
unter den heutigen neuen Krisenbedingungen konkretisieren. Es ist geplant,
einige der nach kritischer Diskussion überarbeiteten einschlägigen Beiträge
des erwähnten »Krisis«-Seminars vom Dezember 1994 in den kommenden Ausgaben der
»Krisis« zu veröffentlichen
. Vielleicht ist es möglich, darüber eine
breitere und kontroverse Debatte zur »Aufhebungs-«-und »Praxis«-Frage zu
eröffnen, die sich nicht mehr aus den Beständen des »kalten Krieges« im
arbeitsontologischen alten Marxismus munitioniert. (…)

Robert Kurz für die »Krisis«-Redaktion,
Mitte Januar 1995

Aus dem Editorial der krisis 15

 

„Die Krise der Finanzmärkte
und des Staatskredits sind nicht auf die Leichtfertigkeit und Bösartigkeit »der
Spekulanten« zurückzuführen, sondern auf die innere Schranke des Marktsystems
selber“

Unter dem virtuellen
röhrenden Hirsch an der Wand versucht es sich die postmoderne Spießbürgerei
gemütlich zu machen. Das Leben geht weiter. Am Ende doch keine Debatten mehr,
die ernst genommen werden müssten. Es ist angesagt, zur eigenen Langweiligkeit
zu stehen. Und das Leben kann so schön sein, so voller verspielter Chancen und
unwichtiger Möglichkeiten. Inmitten des ureigenen Müllhaufens von
Sekundärkitsch darf das Gefühl aufkommen, dass man eigentlich schon wieder Stil
hat. Man lernt wieder mal ständig neue Leute kennen, die auch nichts zu sagen
haben und gerade deswegen so nett sind. Der Urlaub, die Kräuter für die
Atemwege, die leichte Lektüre, Sex nach dem therapeutischen Lehrplan, der
Computer, dies und das. Und wenn einem gar nichts mehr einfällt, wird z.B. weiß
geheiratet, so gelegentlich hie und da. Die Krise, ein halbvergessenes
Kindermärchen, kommt sowieso nicht mehr; und wenn, dann für die anderen und
anderswo, wo sie vielleicht irgendwie schon da ist, als Medienereignis, das man
sich anschaut oder auch nicht.

Hinter dieser
idyllischen Fassade lauert die nackte Angst. Wenn eine Gesellschaft, die
unübersehbar zerfällt und in der sich die Armut voranfrißt wie ein
Flächenbrand, über alle sozialen Schichten hinweg eine Art brütende ideelle
Gesamtkleinbürgerei hervorbringt, die das geistige und kulturelle Klima
einlullt und systematisch vermieft, dann muss die kollektive
Verdrängungsleistung bereits so groß sein, dass nur noch eine explosive Lösung
der angestauten und bis zum Zerreißen gespannten Widersprüche möglich ist.

In welchem Zustand
und mit welchem Bewusstsein der postmoderne Gesamtspießbürger aller Alters- und
Besitzstandsklassen freilich aus dem Traum von der rosaroten Idylle erwachen
wird, steht auf einem anderen Blatt. Vermutlich im Zustand der absoluten
Schamlosigkeit, die jetzt noch durch diverse spät- und post-ideologische
Feigenblätter verhüllt wird. Die nahezu verallgemeinerte hedonistische
Ideologie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Zugang zu den falschen
Bedürfnissen durch die engen Schleusen der »Arbeitsplätze« und der allseitigen
Konkurrenz führt. Je größer die abstrakte Erfolgsgeilheit, desto schlimmer die
reale Erfolglosigkeit. Die Scheinhedonisten der postmodernen Neo-Spießbürgerei
sind in Wahrheit bereit und willens, sich halb zu Tode zu buckeln, bloß um sich
für fünf Minuten mit dem Champagnerkelch in der Hand sehen lassen zu können.
Diese an sich schon gemeingefährliche Situation wird dadurch verschärft, daß
sie mit einer dumpfen Ahnung vom kreditär simulierten Charakter der eigenen
finanziellen Existenz durchdrungen ist. Dabei handelt es sich keineswegs bloß
um die persönliche Verschuldung bei den Banken, die allmählich nicht mehr
augenzwinkernd ironisiert, sondern als drückende Bürde erlebt wird. Ebenso
wenig ist es allein die Tatsache der schon vorhandenen und selbst durch ein
Wachstum von drei oder vier Prozent nicht mehr abzubauenden strukturellen
Massenarbeitslosigkeit, die Panikgefühle hochkommen lässt; nicht zuletzt
angesichts der einschneidenden Leistungskürzungen, die nun auch von rot-grünen
Verwaltungskoalitionen durchgezogen werden. Vor allem ist es die sich
verdichtende Ahnung, dass die noch vorhandenen »Arbeitsplätze« und sonstigen
Einkommensquellen als solche von internationalen Verschuldungsprozessen abhängig
sind, die Angst macht. Wenn Millionen von Existenzen direkt oder indirekt am
Tropf des Staatskredits und/oder von Bilanzierungen des derivativen
Spekulationskapitals hängen, dann muss die Drohung eines Entwertungskrachs
Schrecken erregen.

Dass ein Ereignis
dieser Art trotz aller Entwarnungen seit 1987 weiter heranreift, lässt sich
sogar an einem gewissen Stimmungsumschwung innerhalb des Massenbewusstseins und
der Öffentlichkeit ablesen. Obwohl der Kausalzusammenhang auf der Hand liegt,
dass eine Krise der Finanzmärkte und des Staatskredits nicht auf die
Leichtfertigkeit und Bösartigkeit »der Spekulanten« zurückzuführen ist, sondern
auf die innere Schranke des Marktsystems selber, schwelgt der gemeine
Menschenverstand neuerdings in Hasstiraden gegen die Personage der zu Ende
gehenden kasinokapitalistischen Ära. »Der Spekulant« ist zur Unperson Nummer
eins geworden. Mit gespielter Entrüstung und künstlicher Aufregung,
arbeitsgesellschaftliche Ehrbarkeit heuchelnd, registriert die bürgerliche
Öffentlichkeit von den Stammtischen bis zu den Wochenzeitungen, wie ein
deutscher Immobilienkönig untertaucht und um den Globus gejagt wird, wie der 29-jährige
Broker Nick Leeson eine ehrwürdige englische Bank ruiniert und in Frankfurter
Abschiebehaft wieder auftaucht, wie sogar Tennisliebling Steffi Graf in
Finanzverdacht gerät und der Patriarch des urdeutschen Tennisclans aus dem
Luxuskitsch des Grafschen Hochsicherheitstrakts am Neckar heraus verhaftet
wird. Der Stoff, aus dem die Träume der postmodernen Regenbogenpresse, aber
auch die Alpträume des postmodernen Geldspießers sind. Dass die Pleitiers,
Groß-Steuerhinterzieher, abgestürzten Spekulanten und Finanzskandaleure
reihenweise in den Knast wandern, ist auch ein Beitrag zum keineswegs
unbegründeten gesellschaftlichen Angstpotential. Denn was hier sichtbar wird,
ist die Spitze des berühmten Eisbergs. Das sind nicht mehr schaurig-schöne
Klatschgeschichten aus dem Reich der windigen 80er-Jahre-Hochfinanz, mit denen
noch ein Donald Trump sein Publikum erfreute, sondern die Vorboten einer schon
lange befürchteten globalen Finanzkrise.

Weil diese
Finanzkrise ans eigene Leder zu gehen droht, wird schon vor dem wieder
glaubhafter gewordenen Serienkrach nach den Schuldigen gesucht. Und weil das
marktwirtschaftliche System alias Kapitalismus als solches kein Krisengrund
sein darf, sucht man die Ursache der zunehmenden Probleme des Finanzsektors
kurzerhand in der bleichen Subjektivität der Finanzakteure, denen das Phantasma
eines angeblich lebensprallen Realkapitalismus gegenübergestellt wird. Die
Systemrepräsentanten stellen sich dumm, und das Arbeitsplatzvolk stimmt in die
schrillen Töne der Vorsänger nur allzu bereitwillig ein. Bundesbankpräsident
Tietmeyer mochte es kaum glauben, dass »die Zocker« eine vermeintlich »gesunde«
Realwirtschaft derart durcheinander bringen können, wie es die abermalige
internationale Währungskrise seit Anfang 1995 deutlich gemacht hat; und
Porsche-Chef Wiedeking tobte, es »gehe einfach nicht an, dass „Gambler“
über den Absatz deutscher Produkte im Ausland entschieden« (Spiegel 11/95). Es
ist ganz offenkundig, dass die irrationale Gesamtreaktion, die in der Luft
liegt, unterschwellig und strukturell antisemitische Züge trägt. Der
Antisemitismus war und ist im 20. Jahrhundert die idealtypische Reaktionsweise
des arbeitsgesellschaftlichen Geldspießers quer durch alle Klassen und sozialen
Schichten auf eine große Krise des Geldes. Und da die Logik und Zwangsstruktur
der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft nicht aufgehoben ist, kann in dieser
Hinsicht keine Entwarnung mehr gegeben werden, auch wenn das antisemitische
Potential heute in einem ganz anderen Bedingungszusammenhang steht als in den
20er und 30er Jahren.

Das ideologische
Grundmuster des antisemitischen Syndroms besteht wohl darin, dass die moderne
bürgerliche Arbeitsgesellschaft und warenförmige Realökonomie für »im Kern
gesund« erklärt wird, ganz im obigen Sinne des Bundesbankpräsidenten und des
Porsche-Managers. Auch das Geld als solches wird für gut und notwendig
gehalten, wenn es »ehrlich« und »reell« gehandhabt wird (insofern passt
durchaus sogar noch die monetaristische Doktrin in den weiten Mantel des
Syndroms hinein). Diese Grundversicherung und Selbstvergewisserung, dass es
eine unerschütterliche arbeitsgesellschaftliche und warenförmige Normalität »an
sich« und ontologisch verankert gebe, wirkt entlastend für ein Bewusstsein, das
die Krise und Kritik der eigenen warenförmigen Subjektivität als unerträglich
erlebt. Wenn dennoch erschütternde Krisenwirkungen fühlbar werden, und wenn diese
auf der Ebene des Geldes in Erscheinung treten, dann müssen kriminelle,
bösartige Geldmanipulateure am Werk gewesen sein, von denen die »eigentliche«
gute und reelle Normalität von Arbeit und Geld sabotiert wird. Womöglich
handelt es sich um eine große, international verzweigte Verschwörung; und
tatsächlich haben paranoide Verschwörungstheorien gegenwärtig wieder starke
Konjunktur, vorzugsweise in der massenhaft gewordenen weitläufigen
Esoterik-Szene.

So ist bei einer
möglicherweise bevorstehenden globalen Krise der Finanzmärkte mit
anschließender Depression der Weltwirtschaft eine arbeitswahnsinnige
Spekulanten- und Verschwörungshetze großen Maßstabs denkbar, die in einen
offenen neuen Antisemitismus münden und diesen nicht mehr (wie gegenwärtig noch
das Spekulanten-Lamento in der »offiziellen« Öffentlichkeit) nur indirekt als
durchgehenden Beigeschmack enthalten könnte. Ob offen oder untergründig: das
antisemitische Syndrom dient stets dazu, eine bewußtseinsmäßig entlastende
Scheinerklärung der Krise zu liefern und dabei in der gegebenen und aggressiv affirmierten
gesellschaftlichen Form von Arbeit und Geld verharren zu können. Diese
irrationale Scheinerklärung wird dann mit einem ganzen Spektrum von
Feindbildern, Aggressionshandlungen und Mobilisierungen vom Alltag bis in die
politische Sphäre (und bis in »postpolitische« Verlaufsformen einer neuen
Barbarei hinein) verbunden.

Eine Gegenposition
kann heute weniger denn je von einem traditionellen »linken Standpunkt« aus
eingenommen werden. Sowohl historisch als auch aktuell besteht die crux des
Arbeiterbewegungs-Marxismus darin, dass er nie eine konsequente Kritik des
antisemitischen Syndroms liefern konnte, weil er immer selber an die Kategorien
des modernen warenproduzierenden Systems gefesselt blieb. Zum einen beschränkt
sich seine Vorstellung einer gesellschaftlichen Alternative weitgehend auf eine
andere (etatistisch überformte) Moderation derselben Grundformen von Arbeit und
Geld, die auch dem nicht-marxistischen bürgerlichen Bewusstsein als unaufhebbare
ontologische Normalität erscheinen. So gibt es eine untergründige
Überschneidung von Marxismus und Antisemitismus, die in der falschen Ontologie
der »Arbeit« verborgen enthalten ist. Und in dieser (un)heimlichen
Verwandtschaft liegt vielleicht auch der Grund dafür, dass selbst der auf
antisemitische Töne sonst immer hellhörige Teil der Linken die allgemeine
Spekulantenhetze gegenwärtig merkwürdigerweise fast unkommentiert lässt;
womöglich deswegen, weil man sich in diesem Punkt mit dem arbeitsontologischen
Massenbewusstsein unbewusst immer schon kompatibel fühlt, ohne die Konsequenzen
jemals zu Ende gedacht zu haben.

Zum andern aber
neigt aufgrund einer nur halb verarbeiteten historischen Erfahrung gerade in
Deutschland der Marxismus dazu, sich angesichts drohender Krisen und eines
aufkommenden Antisemitismus auf die Positionen der »westlichen Demokratie«
zurückzuziehen (im Grunde genommen eine Orientierung an der längst obsolet
gewordenen Konstellation des 2. Weltkriegs), ohne den inneren Zusammenhang von
gesellschaftlicher Warenform, Krise und westlicher Demokratie konsequent
aufrollen zu können. Der linke Rückzug auf eine abstrakte »Prowestlichkeit«
bzw. auf die ideologischen Grundillusionen des Westens aus mangelnder
Aufhebungspotenz gegenüber Warenform und Arbeitsgesellschaft ist auch deswegen
obsolet, weil er fast zwangsläufig dazu führt, eine oberflächliche Kritik des
Antisemitismus auf die spezifisch deutsche Geschichte einzugrenzen. Ob in der
Fundi-Version einer anachronistischen »4.Reich-Debatte« oder in der
Realo-Version eines Abfeierns der unseligen Vereinigungs-BRD als zivile
westliche Marktdemokratie, die als solche gegen die Gespenster der
Vergangenheit verteidigt werden müsse: in beiden Fällen wird unterschlagen,
dass der neue Antisemitismus nicht nur das ureigene Produkt der warenförmigen
westlichen Demokratie ist, sondern heute auch keine spezifisch deutsche
Durchschlagskraft mehr entwickelt; stattdessen wird er zusammen mit der
Globalisierung der Marktökonomie und des Kreditsystems zusehends ein manifest
internationales Phänomen quer durch alle Länder und Kulturen.

Es hängt zweifellos
von der Stärke und gesellschaftlichen Wirkung der drohenden Finanzkrise ab, zu
welcher Steigerung das neue antisemitische Syndrom fähig ist. Ob es diese objektive
Krise gibt oder nicht, und ob (und in welcher Form) sie akut bevorsteht oder
nicht, dies kann allerdings keineswegs durch den ideologischen Abwehrzauber von
Anti-Krisen-Beschwörungen, sondern nur akkumulationstheoretisch und
realanalytisch geklärt werden. Dasselbe gilt für die Reichweite und den
Stellenwert einer solchen Finanzkrise, ob sie nämlich nur zyklischen Charakter
besitzt oder eine Etappe im Zusammenbruchsprozess des modernen warenproduzierenden
Systems überhaupt ist; bekanntlich ein Reizthema für alle alt-linksradialen Pamphletisten
und akademischen Simulanten wissenschaftlicher Seriosität, die den radikal
krisentheoretischen Ansatz der KRISIS nach Kräften als illusionär und
tatsachenfremd zu verreißen suchen.

Die Kritiker
unserer bisherigen Überlegungen zum Schrumpfen und zur historischen
Selbstzerstörung der kapitalistischen Wertsubstanz machen es sich allerdings
für gewöhnlich recht einfach. Sie argumentieren meist im schlimmsten Sinne des
Wortes empiristisch
. Jeder kurzfristige
Konjunkturaufschwung und jeder Sonderboom in dem einen oder anderen Land gelten
gleich als Beleg dafür, dass es sich bei der absoluten Schranke des warenproduzierenden
Systems um ein Hirngespinst handeln muss. Eine besondere Rolle spielt dabei die
Fama vom »pazifischen Zeitalter« und von den Erfolgen des Neoliberalismus in
Lateinamerika. Alle Marktwirtschaftsapologeten, aber auch die letzten Mohikaner
eines politizistischen Antikrisen-Marxismus (wie z.B. die
Ex-Fundis Rainer Trampert
und Thomas Ebermann
) werden nicht müde, von
den vermeintlichen Erfolgsstories der ostasiatischen Tigerländer auf die
Jugendfrische des kapitalistischen Weltsystems zu schließen.

Diese Argumentation
lässt sich sogar empirisch unschwer aushebeln. Ein Blick auf die globalen
Kapitalkreisläufe zeigt, dass die Weltmarktposition z.B. von Südkorea oder
Taiwan auf tönernen Füßen steht. Es ist absehbar, dass diese »Vorbilder« ein
ähnlich hartes Schicksal ereilen wird, wie es dem kürzlich gestrauchelten
lateinamerikanischen neoliberalen »Musterschüler« Mexiko widerfuhr. Als die
Druckfahnen noch nicht trocken waren, auf denen
Trampert/Ebermann in der Zeitschrift »Konkret« Anfang 1995 gegen die
»Krisis« polemisierten, dass »dem Kapitalismus die Arbeit nicht ausgehe«, was
man am »Spitzenreiter Mexiko« mit einem 70-prozentigen Arbeitsplatzzuwachs
sehen könne, brach auch schon das kreditfinanzierte mexikanische Kartenhaus
zusammen und musste in der Größenordnung von 50 Milliarden Dollar international
gestützt werden; die Inflation kehrte zurück und schlagartig verschwanden mehr
als eine Million Arbeitsplätze.

Schon in empirischer
Hinsicht kommt es also darauf an, die Zusammenhänge zu prüfen, statt sich der
johlenden Euphorie der Finanzmärkte oder dem achselzuckenden Alltagsverständnis
der kruden Tatsachenmenschen anzuschließen. Interessanter und bedeutender als
das krisenignorante Abwinken von Notenbankern, Neoliberalen und Altmarxisten
erscheint uns in dieser Hinsicht die Auffassung eines international und
insbesondere
im
angelsächsischen Raum seit vielen Jahrzehnten so

renommierten Experten wie Günter Reimann, der die jüngste
mexikanische Finanzkrise als Auftakt nicht nur zu einer ganzen Serie von
»Fällen« derselben Art in Lateinamerika, Osteuropa und Asien sieht (Löcher, die
dann nicht mehr derart mit Dollars gestopft werden können wie im »Fall
Mexiko«), sondern der darüber hinaus auch eine Kettenreaktion für möglich hält,
die selbst die USA, die BRD und Japan zur Preisgabe der
Währungs-Konvertibilität zwingen und damit eine große Krise des globalen
Finanzsystems heraufbeschwören könnte. In einem der KRISIS vorliegenden
Manuskript Reimanns heißt es dazu: „Eine Währungskrise…wird sich als
der Weg in eine Entschuldungskrise erweisen. Sie wird mit einer Revision des
Weltwährungssystems, die die Pläne von Maastricht durchkreuzen wird,
enden…Zentralbanken und Weltwährungsautoritäten sind gezwungen, den
Zusammenbruch des Weltwährungssystems, das sie aufgebaut haben,
handlungsunfähig anzusehen“
.

All dies muss dem
zusammenhanglosen falschen Unmittelbarkeitsdenken bis zum kruden praktischen
Beweis des Gegenteils als unglaubwürdig und irrelevant erscheinen. Umso mehr
gilt dies natürlich für die theoretische Reflexion, die über den empirischen
Ist-Zustand hinausgeht. Es gibt einen Hauptfeind des kritischen Denkens, und das
ist der immer kürzer werdende Zeithorizont des totalen Marktes, dem zunehmend
auch die ehemaligen Gesellschaftskritiker erliegen. So sperrt sich schon die
ganze Herangehensweise einer krisentheoretischen Reflexion, ja sogar einer
weiter gespannten Realanalyse den heute üblichen Wahrnehmungsgewohnheiten. In
einer Zeit, in der sich die Realität zu einem einzigen gigantischen
Nachrichten-Clip, einem Sammelsurium von (meist unerfreulichen) beziehungslos
nebeneinander stehenden Einzelfakten aufzulösen scheint, mutet die
Beschäftigung mit säkularen Entwicklungslinien nicht nur anachronistisch an;
die auf das Medien-Stakkato konditionierten Wirklichkeits-Konsumenten sind gar
nicht mehr in der Lage, ein solches Denken überhaupt nachzuvollziehen. Jede
Überlegung, die sich nicht in ein oder zwei Wenn-dann-Beziehungen auflöst und
neben Assoziationsvermögen und Kurzzeitgedächtnis auch noch andere Fähigkeiten
des menschlichen Gehirns in Anspruch nimmt, gilt in der Ära des
zusammenhanglosen Denkens bereits als »Metaphysik« und wird als unverdauliche
»Großtheorie« abgelehnt. Das herrschende Bewusstsein hat einfach kein Sensorium
für historische Entwicklungen und größere Zusammenhänge, es kennt nur »Events«
und kann daher mit einem Ansatz, dem genau diese längerfristige Perspektive
zugrunde liegt, per se nichts anfangen.

Das geistige Klima
und das Alltagserleben wird zunehmend vom »rasenden Stillstand« (
Paul Virilio) geprägt; im
ökonomischen Bereich lässt sich aber besonders gut studieren, wie dieser
Zustand der gesellschaftlichen und sozialen Wirklichkeit seinen Stempel
aufdrückt. Während früher die Wirtschaftssubjekte wenigstens noch mittelfristig
dachten und auf einen mehrjährigen Konjunkturzyklus orientierte Strategien
verfolgten, bestimmt heute die Geschwindigkeit, mit der Buchungsimpulse den
Globus umrunden, den Horizont der Beteiligten. David Vice von der Northern
Telecom feiert diese Entwicklung als die »Nanosekundenkultur der 90er Jahre«.
Dem ehemaligen japanischen stellvertretenden Finanzminister Toyoo Gyohten und dem
früheren amerikanischen Zentralbankchef Paul Volcker wird angesichts dieser
Beschleunigung dagegen schwindelig. Die Tatsache selber ist aber unstrittig,
und eine Anekdote aus dem gemeinsamen Buch »Changing Fortunes« der beiden
Ex-Verantwortungsträger bringt sie gut auf den Punkt: »Kürzlich sprach ich (es
berichtet Toyoo Gyohten) mit einem der erfolgreichsten japanischen
Devisenhändler. Ich fragte ihn, welche Faktoren er beim Kauf und Verkauf
berücksichtigt. Er antwortete: „Viele Faktoren, manche davon sehr
kurzfristig, einige mittelfristig und andere langfristig.“ Ich fand es
sehr interessant, dass er auch langfristig dachte, und wollte wissen, was er
darunter verstand. Er zögerte kurz und sagte dann vollkommen ernst:
„Vielleicht zehn Minuten.“ Mit diesem Tempo bewegt sich heutzutage
der Markt« (zit. nach: Wirtschaftswoche vom 23.2.95).

Atemlosigkeit und an
völlige Blindheit grenzende Kurzsichtigkeit kennzeichnen aber nicht nur die
ökonomische Praxis unserer Tage, auch die ökonomische Analyse wurde längst von
diesem Trend erfasst. Fixiert auf kurzfristige betriebswirtschaftliche Gewinne,
Chartanalysen und konjukturpolitische Ad-hoc-Maßnahmen, reicht ihr Horizont
über den laufenden Zyklus nicht hinaus, während die Theorie nur noch mit
mathematisierten zeitlosen und irrealen »Modellen« operiert. Dieser heutige
Endzustand hat eine lange Vorgeschichte. Bei der Enthistorisierung und Entdimensionalisierung
der Gesellschaftswissenschaften spielte die Wirtschaftswissenschaft
traditionell eine Vorreiterrolle, und die Ökonomen unserer Tage setzen sie nur
konsequent fort.

Mit Werner Sombart starb bereits 1941 der letzte namhafte
Wirtschaftstheoretiker
, dessen Werk die
Wirtschaftsgeschichte als ein integrales Moment einschloss. Seitdem führt sie
ein abgespaltenes und unbeachtetes Dasein neben der eigentlichen,

modellplatonisch orientierten VWL-Disziplin. Mit dem Sinn für die
geschichtliche Entwicklung kam der ökonomischen Theorie gleichzeitig auch der
Sinn für qualitative Fragestellungen abhanden. Sie hörte auf, nach dem Inhalt
und der Bestimmung ökonomischer Kategorien zu fragen. Das zusammenhanglose,
unhistorische Denken ist gleichzeitig begriffsloses Denken, und die Entwicklung
der ökonomischen Theorie in den letzten hundert Jahren war im Wesentlichen die
Entwicklung dieser Begriffslosigkeit. Zu Beginn des Jahrhunderts wurde im
Streit um die »subjektive Wertlehre« die für die Herausbildung der politischen
Ökonomie grundlegende Kategorie des »Werts« zum letzten Mal thematisiert. Mit
der Etablierung der Grenznutzentheorie wurde jedoch alsbald nicht allein die
klassische Werttheorie als »esoterisch« ad acta gelegt; spätestens mit Vilfredo
Pareto erlosch diese ganze Art grundsätzlicher Reflexion. Im selben Maße, wie
die Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaft voranschritt, interessierte
sich niemand mehr dafür, was die Größen, mit denen da so fleißig gerechnet
wird, eigentlich zu bedeuten haben. An die Stelle der ökonomischen Kategorien
und des Streits um deren genaue Bestimmung traten krude Funktionsdefinitionen.

Der wertkritische
Ansatz, wie ihn die »Krisis« vertritt, fügt sich diesem Trend natürlich nicht.
Das Bemühen, den strukturellen Kontext ausfindig zu machen, der die diversen
Einzelphänomene zu einer warengesellschaftlichen Gesamt-Krisenrealität
zusammenschließt, wäre unmöglich in Angriff zu nehmen, ohne auch der
historischen Dynamik kapitalistischer Entwicklung nachzuspüren. Die Kritik des
Kerns warenförmiger Vergesellschaftung bringt die historische Dimension
automatisch mit ins Blickfeld.

Eine insofern streng
historische Ausrichtung der Wertkritik erscheint auf den ersten Blick
möglicherweise als Widerspruch zu der kategorialen Orientierung. Realiter
handelt es sich dabei aber nur um die beiden Seiten derselben Medaille. Weil
der wertkritsche Ansatz Kategorien wie Wert, »Arbeit«, Staat usw. nicht
einfach als mehr oder minder gelungene Denkabstraktionen behandelt, mit deren
Hilfe sich reale Erscheinungen katalogisieren lassen, sondern diese Kategorien
als strukturierende Realabstraktionen begreift, muss er den geschichtlichen
Wandel bis auf die Ebene der Kategorien selber zurückverfolgen. Die historische
Entwicklung lässt sich weder vor dem Hintergrund eines unveränderlichen
Kategoriensystems fassen noch unmittelbar empirisch. Nicht nur metahistorisch,
sondern auch binnenhistorisch im Kontext der kapitalistischen
Durchsetzungsgeschichte unterliegen die Realkategorien und demzufolge auch die
darauf bezogenen theoretischen Begriffe dem Wandel und der Ausformung. Sie
keimen, entfalten sich und sterben, und nur eine Theorie, die imstande ist, mit
quasi verflüssigten Kategorien zu operieren, wird den historischen Prozess als
solchen enträtseln können. Wenn heute die gesellschaftliche Wirklichkeit das
werttheoretische Bezugssystem zu sprengen beginnt, dann ist dafür nicht das
Ungenügen der Werttheorie verantwortlich zu machen, wie jene Marxisten
annehmen, die sich heute von der Marxschen Arbeitswertlehre verabschieden.
Statt der Werttheorie wird vielmehr die Realkategorie Wert obsolet, und deren
Krise gewinnt überhaupt erst vom wertkritischen Standpunkt aus Konturen.

Bei der Umsetzung
ihres gleichermaßen kategorial wie historisch ausgerichteten
Forschungsprogramms hat die »Krisis« allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten
zu kämpfen. Das gilt insbesondere für die Fortsetzung der Kritik der
politischen Ökonomie im engeren Sinne und die Analyse der Weltmarktbewegung. Da
die ökonomischen Wissenschaften die begriffliche Ebene schon seit Jahrzehnten
geräumt haben und zentrale Fragen wie die Bestimmung von produktiver und unproduktiver
Arbeit, des Werts, der Funktionen des Geldes usw. kaum noch gestellt werden,
ist es nicht möglich, die eigene Begriffsbildung in kritischer Abgrenzung zu
entfalten. Die begriffliche Entwicklung wird mangels Widerpart (denn der
Altmarxismus taugt dazu nicht mehr in einem produktiven Sinne) scheinbar zur
Kopfgeburt, die sich an keinem vorausgesetzten präsenten Vorverständnis
abarbeiten kann, sondern bestenfalls archäologische Anknüpfungspunkte findet.
Die Widersprüche des warenproduzierenden Weltsystems lassen sich nicht
plausibel machen, ohne die kategorialen Grundlagen zu entwickeln; das
analytische Resultat wiederum macht erst nachvollziehbar, warum zunächst
anachronistisch anmutende Begriffe wie »Wert«, »produktive Arbeit« usw.
überhaupt noch verwendet werden können.

Diese Grundkalamität
lässt sich auf der Ebene des Geldes verdeutlichen. In den letzten 150 Jahren
erlebte das Geld- und Währungssystem mehr als eine Revolution. Seitdem die metallistisch
orientierten Geldtheoretiker, erschlagen von der Scheinevidenz der
Geldschöpfung im 20. Jahrhundert, weitgehend verstummt sind, hat kein Ökonom
mehr diese Umwälzungen zum Anlass genommen, einen Gedanken an das Wesen des
Geldes und seine historischen Veränderungen zu verschwenden. Die
Wirtschaftswissenschaft hält sich stattdessen unverdrossen an ein doppeltes
Dogma. Zum einen gilt ihr Geld als ein rein »technisches Hilfsmittel des
Wirtschaftsverkehrs«, als »eine Spielmarke ohne Eigenbedeutung« (
Joseph Schumpeter), und
von daher taugt es in ihrer Sicht gar nicht als Gegenstand ernsthafter
wissenschaftlicher Beschäftigung; zum anderen behandelt sie den Mammon als die
natürlichste und unverrückbarste Einrichtung der Welt. Alle substantiellen
Veränderungen in der Welt des Monetären erscheinen auf dieser Folie ex definitione
als rein finanztechnische Innovationen, die die Grundstruktur kapitalistischer
Vergesellschaftung nicht affizieren.

Die theoretische
Lage ebenso wie die unserer Meinung nach weiterhin brisante Lage der
Finanzmärkte, das drohende furiose Ende des Kasinokapitalismus und ein
Zeitgeist, der sich verschwörungstheoretisch und antisemitisch aufzuladen
beginnt, werden daher von der »Krisis« zum Anlass genommen, sich nicht nur
erneut mit der Krisen- und Akkumulationstheorie zu beschäftigen, sondern auch
Bezüge zur aktuellen Entwicklung wie zur Geschichte des Finanz- und
Kreditsystems, des Weltwährungssystems und des spekulativen Prozesses
herzustellen. Gleichzeitig sollen die »Politische Ökonomie des Antisemitismus«
und die zeitgeistigen Reaktionsbildungen auf die flackernde Krise des Geldes
untersucht und kritisiert werden.

In seinem
einleitenden Text
Die Himmelfahrt des Geldes versucht Robert Kurz die bisherige
einschlägige »Krisis«-Argumentation weiterzuentwickeln. Er knüpft dabei an
die Beiträge der vor nunmehr sechs Jahren erschienenen Nr.
6 unserer Zeitschrift
an, insbesondere an den dort von
Ernst Lohoff in dem Artikel Staatskonsum und Staatsbankrott – Profitrate und Profitmasse entwickelten
Ansatz. Dieser Ansatz wird jetzt über die damalige Auseinandersetzung mit dem Keynesianismus
hinaus auf der Ebene des Verhältnisses von Realakkumulation und Kreditsystem
überhaupt dargestellt
. Gezeigt wird, wie
sich über die bloß zyklische Bewegung hinaus in Gestalt der »tertiären
Revolution« die vom Kapitalismus selber notwendig hervorgebrachte, im
kapitalistischen Sinne unproduktive Arbeit schon seit dem 1. Weltkrieg zum
strukturellen Krisenfaktor entwickelt hat. Dieses Problem der Krisentheorie,
das von Marx historisch noch nicht gestellt werden konnte, wird erst in dem
Maße virulent, wie mit dem Erlöschen der fordistischen Akkumulation auch die
produktive Zufuhr für die Expansion des Kreditsystems nicht mehr ausreichend
geliefert werden kann. Das Resultat war die Ära des Kasinokapitalismus, die
seit den 80er Jahren andauert und die Unausweichlichkeit eines
»Entwertungsschocks« nahelegt, der in Gestalt deflationärer und/oder
hyperinflationärer Prozesse auch die kapitalistischen Kernländer ereilen wird.

In seinem Beitrag Die harte Landung des
Dollar – Von der Pax Americana zum Weltmarkt ohne Weltgeld
führt Ernst Lohoff diese Untersuchung
auf der Ebene des Weltwährungssystems fort. Die Grundthese, dass die
Weltmarktgesellschaft aus ihrer eigenen Logik heraus das Medium zerstört, in
dem sie sich einzig und allein darstellen und bewegen kann, wird im Durchgang
durch die Nachkriegsgeschichte des Dollar erläutert. Die vielleicht
überraschende These, dass die Vollendung des Weltmarkts mit der Existenz eines
Weltgeldes unvereinbar ist, ergibt sich aus der Unvereinbarkeit von
Nationalökonomie und unmittelbarem Weltkapital, ein Widerspruch, der heute
herangereift zu sein scheint.

Roswitha Scholz leitet mit ihrem
Essay
Die Metamorphosen des teutonischen Yuppie zu den zeitgeistigen
Konsequenzen einer drohenden Finanzkrise über. Dabei wird zum einen die
konsumhedonistische »Risiko«-, Zapper- und Lotto-Kultur der kurzen
kasinokapitalistischen Ära samt ihrem jüngsten Katzenjammer einer kritischen
Analyse unterzogen. Zum andern nimmt die Autorin aber auch die affirmativen und
selbstaffirmativen Bezüge sowohl der altmarxistischen als auch der
hedonistischen Linken auf diese Ära ins Visier und versucht zu zeigen, dass das
antisemitische Potential der High-tech- und Konsum-Gesellschaft ebenso wie die
gegenwärtig zu beobachtende gemeingefährliche Metamorphose der inzwischen in
das Stadium der Verbiesterung eingetretenen »Gute-Laune-Menschen« sträflich
unterschätzt wird. In diesem Zusammenhang kritisiert Scholz auch frühere
Aussagen und Beiträge der »Krisis«, in denen die (richtige) Kritik der
anachronistischen altmarxistischen »4. Reich«-Kampagne ihrer Meinung nach mit
einer (falschen) teilweisen Entwarnung hinsichtlich des antisemitischen
Syndroms verbunden wurde.

Die untergründigen
historischen und erkenntnistheoretischen Bezüge von Arbeiterbewegungs-Marxismus
und Antisemitismus leuchtet
Robert Bösch (Zürich) in seinem Aufsatz Unheimliche Verwandtschaft – Marxismus-Leninismus und Antisemitismus aus. Er zeigt, wie ein verkürzter Kapitalbegriff in
Verbindung mit der marxistischen Arbeitsontologie und einem kruden
Materialismus zu Interpretationen führte, die diesen Marxismus nicht nur
grundsätzlich anfällig für einschlägige Stereotype gemacht, sondern in der
positiven Rezeption der »nationalen Befreiungsbewegungen« insbesondere im
arabischen Raum sogar offenen Antisemitismus im marxistischen Gewand
hervorgebracht hat.

In seinem
abschließenden zweiten Beitrag
„Politische Ökonomie des Antisemitismus – Die Verkleinbürgerung der Postmoderne und die Wiederkehr
der Geldutopie von Silvio Gesell«
setzt sich Robert Kurz nicht nur polemisch mit dem aufkommenden Neo-Gesellianismus
und den historischen Wurzeln dieser Ideologie auseinander, sondern versucht an
den Essay von Roswitha Scholz anknüpfend auch die aktuellen gesellschaftlichen
und ökonomischen Gründe für die Wiederbelebung dieses theoretischen Leichnams
der 20er Jahre herauszufinden. Auch dabei kann der gegenüber den strukturell
und potentiell antisemitischen Geldutopien Proudhonscher Provenienz
notwendigerweise verkürzt argumentierende Altmarxismus nicht ungeschoren
bleiben.

Wenn man so will,
kann die vorliegende Ausgabe der KRISIS als
Hommage an zwei jüngst verstorbene führende Theoretiker aus ganz
verschiedenen Lagern des Arbeiterbewegungs-Marxismus
verstanden werden. Mit dem Tod von Ernest Mandel und Wolfgang Harich ist auch fühlbar eine Epoche der linken Theoriegeschichte
zu Ende gegangen.

Dass Ernest Mandel auf die Krisis-Theorie, soweit er sie noch zur Kenntnis
genommen hat, eher allergisch reagierte, war kaum verwunderlich. Dennoch
gehörte auch er zu unseren Lehrern in der nunmehr schon weit zurückliegenden
»linken Geschichte« seit 1968. Wie dem Trotzkismus im allgemeinen muss es
Ernest Mandel im besonderen zugestanden werden, dass seine Theorie über die
parteikommunistischen und sozialdemokratischen Bornierungen hinausging und
deshalb auch weiterhin Anregungen enthält, die ihrer »Aufhebung« harren.
Mit Wolfgang Harich konnten wir noch persönlich in Verbindung treten. Obwohl
die KRISIS mit dem »nationalkommunistischen« Gedanken grundsätzlich nichts
anfangen kann, hat
Wolfgang Harich ungeachtet aller Differenzen und im Unterschied zu
manchen Ex-Mandarinen der Theorie das oft verleugnete »Neue« und
Weitertreibende am Ansatz der KRISIS vorurteilsfrei erkannt und auch mit
überraschender Energie propagiert. Wir sind ihm dafür dankbar. Nicht nur sein
immenses philosophisches Wissen hat uns imponiert, sondern auch der Kampfgeist,
mit dem er bis zuletzt seine Sache gegen die vergangene DDR und noch mehr gegen
die leider gegenwärtige BRD verfochten hat.

Robert
Kurz
und Ernst Lohoff für
die Redaktion der Krisis

Aus dem Editorial der krisis 16/17,
August 1995

Annäherung
an die Frage nach der Aufhebung der Warengesellschaft

So
manche Leser werden, wenn sie diese Ausgabe der »Krisis« aufschlagen und ihr
Schwerpunktthema registrieren, erst einmal mit Skepsis reagieren. Die Kritik
von »Arbeit«, Wertform und Warengesellschaft (kurz »Wertkritik«) mag ja als
aparte Beschäftigung eines geschmäcklerischen Theorieclubs interessant
erscheinen, und womöglich kann man sich damit interessant machen und Punkte
sammeln im allgemeinen Selbstdarstellungs- und Selbstwert-Theater. Die Frage
nach der Aufhebung der Warengesellschaft jedoch ernsthaft als lebenspraktische
und mit Bezug auf soziale und gewerkschaftliche Bewegungen zu stellen, mutet
doch reichlich utopisch und weltfremd an, und es scheint sich der Verdacht
aufzudrängen, dass der Versuch, das Problem der Überwindung der herrschenden
Vergesellschaftungsform im Kontext »unmittelbarer« gesellschaftlicher Probleme
aufzurollen, nur eine Reise in Richtung Wolkenkuckucksheim bedeuten kann.

Dieses Misstrauen ist leicht zu erklären. Angesichts der realen Entwicklung
können die krisentheoretischen Überlegungen, die für gewöhnlich als der
eigentliche Gegenstand des wertkritischen »Krisis«-Ansatzes betrachtet werden,
sich immer auf eine gewisse Evidenz stützen. Die These, die Warengesellschaft
sei drauf und dran, ihre eigenen Grundlagen unwiederbringlich zu zerstören, lässt
sich zwar durch bloßen Rekurs auf die Empirie nicht beweisen; die
Krisenwirklichkeit liefert aber immerhin reichlich Anknüpfungspunkte, um diese
Argumentation als plausibel oder zumindest als denkmöglich erscheinen zu
lassen. Bei der Beschäftigung mit dem Problem einer tatsächlichen und positiven
Aufhebung des modernen warenproduzierenden Systems zeigt sich die
gesellschaftliche Realität hingegen nicht so hilfreich.

Solange sich die
theoretische Kritik der Warenform z.B. mit der Misere der Politik
auseinandersetzt oder sich der Kritik des Subjektbegriffs und der
Geschlechterbeziehung widmet, versteht sich zumindest die Existenz des
Forschungsgegenstands von selber. Beim Versuch, eine Perspektive der
Systemaufhebung zu umreißen, ist nicht einmal das der Fall. Die neue
Systemkrise hat zwar die traditionellen Oppositionsbewegungen paralysiert und
die alten antikapitalistischen Konzepte über den Haufen geworfen. Mit den alten
Antworten auf die Frage, wie denn die kapitalistische Vergesellschaftungsform
zu überwinden sei, scheint sich jedoch erst einmal die Aufhebungsperspektive
überhaupt verflüchtigt zu haben. Der laufende gesellschaftspolitische Diskurs
behandelt jedenfalls die Unüberwindbarkeit der Geld- und Warenlogik als
selbstverständliches Axiom, das keinerlei Begründung mehr nötig hat; und selbst
im linken Antikapitalismus spielt die Idee einer anderen
Vergesellschaftungsform (und die Debatte um deren Konkretisierung bzw.
gesellschaftliche Mobilisierung) schon lange keinerlei Rolle mehr.

Noch jeder Obskurant,
der sein Schlafzimmer von Außerirdischen belagert wähnt, kann derzeit mit
Talk-Show-Terminen rechnen und wird vom werten Publikum ernst genommen; wer
hingegen einen Gedanken auf ein so absonderliches Phantasma wie die emanzipative
Überwindung der Warenproduktion und gar die Aufhebung des heiligen Geldes und
des ebenso heiligen demokratischen Staates verschwendet, scheint sich der
Lächerlichkeit preiszugeben und muss sich womöglich Fragen nach seinem
Geisteszustand gefallen lassen.
Die Wertkritik kommt nicht umhin, diese affirmative Grundstimmung des
herrschenden Bewusstseins (das noch den möglichen eigenen Untergang als
kitzelndes Denkspiel betrachtet, ohne sich in seinem destruktiven Tun stören zu
lassen) zur Kenntnis zu nehmen und damit zu rechnen. Sie kann es sich
allerdings nicht leisten, davor zu kapitulieren und das Aufhebungsproblem ad
acta zu legen. Theorie kann sich nicht an Demoskopie halten, und eine
gesellschaftskritische Theorie am allerwenigsten. Würde die Wertkritik an
diesem Punkt dem Zeitgeist nachgeben, die Überwindungsperspektive fahren lassen
und zur blanken Katastrophentheorie mutieren, so hätte sie damit ihre eigene
Grundlage zerstört und würde restlos zerfallen. Das gilt nicht nur der
vortheoretischen gesellschaftskritischen Intention wegen, sondern auch rein
theorieimmanent. Das krisentheoretische Moment der Wertkritik ist isoliert vom
Aufhebungsgedanken gar nicht denkbar.

Diese Einschätzung
mag irritieren. Jedenfalls steht sie in einem eklatanten Gegensatz zu einer
gängigen Wahrnehmung der Wertkritik. Nicht nur viele Kritiker, sondern auch
wohlwollende Rezipienten vollziehen genau dieses Auseinanderdividieren von
Krisen- und Aufhebungsperspektive. Abgelöst von der Denkmöglichkeit einer
praktischen Aufhebung des wertförmigen Zusammenhangs erscheint das Insistieren
auf die Krise und absolute Schranke der Wertvergesellschaftung als pure
Untergangstheorie mit Gruseleffekt. Soweit unsere Analyse auf dem Markt der
Meinungen eine Nische erobern konnte, wurde sie eben unter diesem Vorzeichen
wahrgenommen, also getrennt vom eigentlichen theoretischen Ansatz der
Wertkritik. Das betrifft auch einen Großteil der Publikationsmöglichkeiten
außerhalb der »Krisis«: Wenn von uns Beiträge angefordert werden, dann mit
Vorliebe solche in Richtung Katastrophenanalyse.

Die für die
wertkritische Theoriebildung in den letzten Jahren zentralen Probleme
(Demokratiekritik, Geschlechterverhältnis, Subjektkonstitution usw.) treffen
dagegen vergleichsweise auf eine eher bescheidene Nachfrage, und die
Orientierung auch der Krisenanalysen auf eine Aufhebung von Warenform und Staat
wird am liebsten mit Höflichkeit übergangen. Die heraufziehende Krisenepoche,
so macht es den Eindruck, erzeugt nicht nur Weltuntergangspropheten, sondern
vor allem auch das Bedürfnis nach ihnen, und die Wertkritik kann sich dem nicht
so ohne weiteres entziehen. Soweit publizistische Aufmerksamkeit erregt wird,
verdankt sich diese in erster Linie der untergründigen »Apokalypse Now«-Stimmung,
die nach Futter giert. Insbesondere die Bücher von Robert Kurz wurden als eine
gelungene Synthese von Realanalyse und Horror-Roman (relativ) populär, die
bestens zum heraufziehenden Millennium passt. Der Kontext dagegen, in dem diese
Analysen stehen, bleibt systematisch ausgeblendet.

So wenig sich dieser
Rezeptionshintergrund wegleugnen lässt, so wenig darf er mit dem theoretischen
Ansatz selber verwechselt werden. Die Wertkritik drängt aus ihrer eigenen Logik
heraus zur Aufhebungsfrage. Sie kündet weder vom Weltuntergang noch vom
unaufhaltsamen Zerfall jeder Vergesellschaftung, sondern versucht stattdessen
die Unhaltbarkeit einer ganz besonderen, historisch begrenzten
Vergesellschaftungsform aufzuzeigen und deren sukzessive Erosion
nachzuzeichnen. Genau diese historische Dimension der Kritik verleiht den
krisenanalytischen Kategorien überhaupt erst ihre Trennschärfe. Eine historisch
verortbare Formation ist aber immer zugleich auch eine prinzipiell
überwindbare. Eine Krisentheorie, die das Gefüge der totalisierten Warenform
nicht als ein System ontologischer Bestimmungen gelten lässt, sondern deren
immanente Widersprüchlichkeit und Unhaltbarkeit herausarbeitet, kann die von
ihr analysierte Entwicklung gar nicht als eine fatale historische
Endlosschleife begreifen, in der kapitalistische Herrschaft sich ad infinitum
reproduziert, ohne ihre Ausgangsannahmen zu dementieren. Wer die Ontologie von
Arbeit und Wert verwirft, hat die Möglichkeit einer Vergesellschaftung jenseits
dieser Kategorien implizit bereits unterstellt. Wenn dieser Zusammenhang in der
Auseinandersetzung mit der Wertkritik bislang weitgehend ausgeblendet blieb, so
natürlich vor allem deshalb, weil er sich der Zeitgeistkonjunktur und den
landläufigen Wahrnehmungsrastern sperrt. Das gesellschaftliche Makroklima
wirkt, auch auf den Einzugsbereich einer neuen Gesellschaftskritik, ob wir
wollen oder nicht. Die landläufige Lesart mag die innere Kohärenz des Ansatzes
zerstören und von der Wertkritik nur mehr eine Karikatur übrig lassen: Solange
der Traum von der Aufhebung der bestehenden Gesellschaftsform per se als das
anachronistische Hirngespinst einiger unverbesserlicher Alt-68er gehandelt
wird, liegt es vielleicht nahe, das aufhebungstheoretische Moment der
wertkritischen Argumentation ebenfalls unter diese Kategorie zu subsumieren, um
es augenzwinkernd beiseite zu schieben.

Dieser eingefahrene
Mechanismus lässt sich nicht so ohne weiteres außer Kraft setzen. Darüber
sollte man allerdings nicht übersehen, dass die »Krisis« an der einseitig
krisentheoretischen Umdeutung der wertkritischen Position nicht ganz unschuldig
ist. Wenn viele, die auf diesen Versuch einer Transformation radikaler
Gesellschaftskritik stoßen, der Aufhebungsseite ungefähr so viel Beachtung
schenken wie beim Kotelettessen dem längst abgenagten Knochen, dann reflektiert
das auch die Schwerpunktsetzung unserer bisherigen Publikationen. Zehn Jahre
lang haben wir uns vornehmlich darauf konzentriert, die objektiven Schranken
(nicht nur in ökonomischer Hinsicht) deutlich zu machen, an denen die
Fortschreibung von Marktwirtschaft und Demokratie zerschellen muss. Die Frage,
wie eine (immer schon als möglich unterstellte) systemüberwindende Praxis im
neuen Kontext zu denken sei, trat dagegen in den Hintergrund, und die
Antworten, soweit sie erkennbar waren, blieben im Vergleich zur
Krisenprognostik reichlich blass.

Die vorliegende
Ausgabe der »Krisis« soll helfen, die Lücke ein wenig zu verkleinern. Bei der
schon öfter in Aussicht gestellten Annäherung an das Aufhebungsproblem stellt
sich allerdings eine grundsätzliche theorieimmanente Schwierigkeit. Das Problem
der Emanzipation vom Wert unterscheidet sich von allen anderen
Erkenntnisfeldern einer Kritik an der modernen bürgerlichen Form. Das Spezifische
des Gegenstands erzwingt also auch eine spezifische Herangehensweise. Die
Aufhebung lässt sich weder als die unmittelbare Fortsetzung der Krisentheorie
noch in Analogie dazu denken.

Die altlinken ebenso
wie die bürgerlichen Gegner der Wertkritik zeihen den Ansatz der »Krisis«
regelmäßig des »Objektivismus«. Sie werfen der krisentheoretisch
ausformulierten Wertkritik vor, dass sie mit ihrer streng begrifflichen und
logischen Orientierung dem bunten Ensemble gesellschaftlicher Wirklichkeit
Gewalt antue und es einem deterministischen Schema gemäß zurechtstutze. Dieser
Vorwurf trifft durchaus etwas Richtiges, er richtet sich allerdings an den
völlig falschen Adressaten. Die Kritiker merken gar nicht, dass sie selbst es
sind, die gerade mit ihrer Weigerung, die real objektivierende Potenz der
Wertvergesellschaftung ernst zu nehmen, diese in Wahrheit beschönigen und der
radikalen Kritik entziehen. Die wertkritisch vermittelte Subjekt-, Demokratie-
und Ökonomiekritik orientiert sich zwar tatsächlich in gewisser Weise an einem
abstrakten Reduktionismus, aber negativ. Dieser Reduktionismus hat also seinen
Ursprung nicht in der wertkritischen Methodik, sondern im praktischen
Reduktions- und Abstraktionsprozess, den die herrschende
Vergesellschaftungsform tagtäglich real vollzieht und der ja gerade Gegenstand
der Kritik ist.

Was an der
wertkritischen Theorie als angeblich objektivistisch inkriminiert wird, ist
nichts anderes als die Reflexion auf das in Soziologie und VWL ebenso wie im
altmarxistischen Mainstream ausgeblendete Diktat des Werts, d.h. die
(historisch zunehmende) Zwangssubsumtion der gesellschaftlichen Prozesse unter
eine subjektlose Realabstraktion. Die Gewalt der Reduktion geht also nicht vom
wertkritischen Gedanken aus, der wertkritische Gedanke decouvriert vielmehr die
reduktionistische Gewalt der bürgerlichen Realität. Wenn die Wertkritik die
bürgerliche Gesellschaft als einen Quasi-Naturgegenstand behandeln kann und muss,
dann nur deshalb, weil sie es mit einer objektivierten Verkehrsform zu tun hat,
die tatsächlich absurderweise zu einer Art zweiten Natur geronnen ist. Indem
die Kritik dieses Verhältnisses die Verkehrung einer gesellschaftlichen
Beziehung zu einer dem Wollen und Begehren der Menschen vorgeschalteten Größe
bis zu Ende denkt, bezieht sie sich in allen ihren Analysen immer schon negatorisch
auf ihren Erkenntnisgegenstand und dessen »Objektivität«, statt die
Warengesellschaft wie die vorgeblichen linken Subjekt-Emphatiker oder
Realo-Pragmatiker als ein Ensemble positiver Fakten anzuerkennen.

Der feine, aber
gravierende Unterschied zwischen Objektivismus in einem affirmativen Sinne und
radikaler Kritik des herrschenden Realobjektivismus bestimmt nachhaltig den
Status des wertkritischen Aufhebungsdenkens. Es ist der Unterschied zwischen denen,
die sich unter Ignoranz der real objektivierenden Warenform Befreiung auf dem
Boden dieser Form in die Tasche lügen wollen, und denen, die sagen, was real
ist, um diesen Zustand ernsthaft angreifen zu können. Weil es sich bei der
modernen Warengesellschaft um die höchste und letzte Form fetischistisch verfasster
Gesellschaftlichkeit handelt, ist ihre Aufhebung identisch mit dem Ausbruch aus
der Zwangsgesetzlichkeit einer zweiten Natur überhaupt.

Es wäre aber ein
Widerspruch in sich, wollte man die Überwindung des realen Determinismus selber
deterministisch denken. Wer die katastrophische Eigendynamik in den
ökonomischen wie in den subjekttheoretischen Aspekten der totalisierten
Warenform noch so detailliert und geduldig untersucht, wird aus diesen Analysen
nie auch nur ansatzweise so etwas wie eine Aufhebungsbewegung extrapolieren
können. Wenn es jemals einen Übergang zu einer bewussten Vergesellschaftung
geben soll, dann kann er nicht dem Selbstlauf der Krisendynamik entspringen; er
fällt vielmehr mit dem bewussten, willentlichen Ausstieg aus dem automatischen Prozess
in eins.

Auf den ersten Blick
scheint die Aufhebungsfrage damit in ein nicht mehr zugängliches Ungewisses zu
entschwinden. Wer darauf beharrt, dass der Ausbruch aus dem subjektlosen Krisenprozess
nicht als dessen logisches Zwangsresultat zu denken ist, so scheint es, kann
eine Vergesellschaftung jenseits des warenförmigen Universums zwar noch als
abstrakte Denkmöglichkeit festhalten; er ist aber nicht mehr imstande, diese
Möglichkeit in irgendeiner Weise programmatisch und sozusagen operationell zu
antizipieren. Bei näherem Hinsehen führt dieser Schluss allerdings in die Irre.
Sowenig der historische Schritt von einer bewusstlosen zu einer bewussten
Gesellschaftlichkeit die bloße Fortentwicklung schon in der determinierten
Logik enthaltener Tendenzen sein kann, sowenig ist er voraussetzungslos. Wer
eine Schwelle überschreitet, steht dabei zwangsläufig immer mit einem Bein auf
dem Boden dessen, was er hinter sich lässt, und kann sich nicht beziehungslos
und gleichgültig dazu verhalten.

Als bestimmte
Negation der leer laufenden Wertmaschinerie taucht die postwertförmige,
postmonetäre Gesellschaft nicht als deus ex machina plötzlich aus dem Nichts
auf. Ebenso wenig kann sie das Resultat eines pur empirischen, begriffs- und
bestimmungslosen trial-and-error-Prozesses sein. Sie kann vielmehr nur als die
konkrete Antwort auf das von der Krisengesellschaft geheckte immanente
Widerspruchspotential entstehen. Die nach-warenförmige Gesellschaft kommt als die
gewendete Krise zur Welt und bleibt in ihrer Durchsetzungsbewegung mit dem
vermittelt, was sie da wendet. Von daher ist es durchaus möglich, von der
wertkritischen Krisenanalyse ausgehend heute schon die Konfliktfelder grob zu
umreißen, auf denen sich über den arbeitsgesellschaftlichen Wahn hinausweisende
Bewegungsansätze herausbilden können; und es lässt sich auch in etwa die
Stoßrichtung angeben, der solche Strömungen folgen werden.

Die Wertkritik ist
keine Theorie, die auf ewige Gültigkeit Anspruch erheben könnte. Sie wird im
unmittelbarsten Sinne des Wortes mit dem Verlust des Gegenstands ihrer Kritik
selber gegenstandslos. Sie erreicht die Grenze ihres Gültigkeitsbereiches dort,
wo die Menschen die Wertlogik sprengen. Dieses Sprengen als solches lässt sich
theoretisch weder vollziehen noch vorwegnehmen. Die Bedingungen und
Voraussetzungen dafür sind hingegen sehr wohl heute schon einer konkreten
Bestimmung zugänglich; diese Konkretisierung ist sogar selber ein Moment der
notwendigen Voraussetzung.

Wenn die »Krisis«
sich dieser Aufgabe zu stellen versucht, dann weniger deshalb, weil es sich
dabei um eine interessante intellektuelle Fingerübung handelt, und auch nicht
deshalb, weil der theoretische Ansatz vervollständigt werden soll. Es geht
vielmehr darum, dass Überlegungen zur Antipolitik und Antiökonomie einer neuen
Transformationsgeschichte zumindest mittelfristig auch eine gewisse praktische
Bedeutung zukommen könnte. Gerade in einer Zeit, in der sich der Zerfall der
globalisierten warengesellschaftlichen Ordnung längst mit Händen greifen lässt,
könnte angesichts der Lähmung des oppositionellen Denkens und der dauernd
beschworenen Alternativlosigkeit der herrschenden Ordnung schon der Versuch,
die Frage der Alternative jenseits von Warenform, Markt und Staat nicht mehr
bloß metaphorisch aufzuwerfen, als eine Art Katalysator der praktischen Kritik
wirken. Die Funkstille der sozialen Opposition ist sicherlich nicht darauf
zurückzuführen, dass das Bedürfnis, die herrschende Ordnung zu überwinden,
spurlos entschwunden wäre. Der diffuse Wunsch hat nur keine formulierte
Zielbestimmung und kein Bezugssystem emanzipatorischen Denkens mehr, in dem er
reale Gestalt annehmen könnte.

Eine Neuformulierung
der Ziele sozialer Emanzipation ist freilich immer nur negatorisch gegenüber
dem Istzustand nicht nur der Krisengesellschaft, sondern auch ihrer nicht mehr
zureichenden alten Kritik möglich. Wir beginnen daher mit zwei Artikeln, die,
obzwar auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, erst einmal negativ das
Aufhebungsfeld analysieren.

Robert Kurz setzt sich in seinem
Essay
Die letzten Gefechte mit
dem Abstieg der sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen nach dem Zweiten
Weltkrieg auseinander. Anhand des Pariser Mai 1968, des Pariser Dezember 1995
und des »Bündnis für Arbeit« in der BRD wird das Ausbrennen des alten
Klassenkampfes samt seiner intellektuellen Begleitmusik skizziert und die Frage
nach einem neuen Begriff sozialer Bewegung aufgeworfen, der nicht mehr bloß den
immanenten Gegensatz der warenförmigen Funktionssubjekte widerspiegelt.

Ernst Lohoff versucht in
seinem Beitrag
Determinismus und Emanzipation zunächst einmal die Gleichzeitigkeit
von Systemkrise und Paralyse der Systemopposition zu erklären, um dann die
grundsätzliche Differenz zwischen den traditionellen antikapitalistischen
Bewegungen in der Durchsetzungsphase der Warengesellschaft und einer künftigen
Aufhebungsbewegung zu umreißen. Die eher auf einer metatheoretisch-geschichts-philosophischen
Ebene angesiedelten Überlegungen konzentrieren sich dabei auf den Vorwurf des
Objektivismus gegenüber der Wertkritik.

Norbert Trenkle stellt in seinem
Artikel
Weltgesellschaft
ohne Geld
einige
Überlegungen zu einer gesellschaftlichen Reproduktion jenseits von Markt und
Staat an. Er kritisiert das gängige Argument, das Geld sei als Medium
gesellschaftlicher Synthesis unverzichtbar und zeigt, dass gerade unter
Bedingungen hoch entwickelter Produktivkraft neue Formen direkter
Vergesellschaftung nicht nur möglich, sondern vor allem auch notwendig werden.
In diesem Zusammenhang fragt der Autor zum einen nach positiven
Anknüpfungspunkten in den Konzepten zur Dezentralisierung von Stoffkreisläufen
im Umfeld der Ökologie- und Sustainability-Debatte. Zum anderen setzt er sich
mit den obsolet gewordenen marxistischen Planungsvorstellungen auseinander,
die, weil sie sich immer schon in den Kategorien von Arbeitsmengen, Ware und
Geld bewegten, notwendigerweise autoritär-zentralistischen Charakter annehmen mussten.
Dagegen wird der Gedanke einer enthierarchisierten vernetzten Planung gesetzt,
deren Ausgangs- und Bezugspunkt konsequenterweise weder die Einzelnen in ihrer
Unmittelbarkeit als »Konsumenten« noch die Einzelbetriebe als »unmittelbare
Produzenten« sein können, sondern stattdessen kommunitär organisierte, lokale
Grundeinheiten eines dezentralisierten Gesellschaftszusammenhangs.

In seinem zweiten
Beitrag versucht
Ernst Lohoff, Kriterien für das Problem einer gesellschaftlichen
Vermittlung der Aufhebungsfrage zu entwickeln. In einem »postpolitischen
Streifzug« wird dabei die Formel vom
Ende des
politischen Zeitalters
konkretisiert. Dieser Streifzug führt zu einigen
unmittelbar praktischen gesellschaftlichen Problemfeldern, an denen sich
angesichts der Krise der Arbeitsgesellschaft und des Steuer(ungs)staates
Ansätze einer Aufhebungsbewegung herausbilden könnten. Im Mittelpunkt steht die
Frage, welche Handlungsspielräume sich einer oppositionellen Bewegung gerade in
der Konfrontation mit dem Doppelversagen von monetärer und etatistischer
Regulation eröffnen könnten, wenn sie die Fixierung auf die zerfallende arbeitsgesellschaftlich-etatistische
Normalität aufgibt und sich stattdessen auf gesellschaftliche
Selbstorganisation orientiert.

Heinz Weinhausen setzt sich in seinem
Artikel
Sphärenklänge mit André Gorz auseinander,
einem der wichtigsten Theoretiker der Alternativbewegung in den 80er Jahren.
Dabei wird gezeigt, dass die »dualwirtschaftliche« Konzeption eines
Zurückdrängens der Warenbeziehungen zugunsten »autonomer Tätigkeiten«
einerseits durchaus Ansatzpunkte für eine neue systemoppositionelle
Orientierung in der Krise der Warengesellschaft birgt. Dies vor allem auch
deshalb, weil
Gorz im Gegensatz zum traditionellen Marxismus nicht die »Befreiung in
der Arbeit« sondern die »Befreiung von der Arbeit« einklagt. Allerdings
unterschätzt Gorz andererseits den fundamentalen Charakter der »Krise der
Arbeitsgesellschaft«, wenn er sich der Illusion hingibt, die »autonome Sphäre«
könnte friedlich und dauerhaft mit einem »heteronomen warenförmigen Sektor« koexistieren.

Auf einer ganz
anderen Ebene liegt der Artikel
Dimensionen des Mülls von Franz Schandl. Er untersucht den
Zusammenhang zwischen Müllerzeugung und warenproduzierendem System auf einer
sehr grundsätzlichen Ebene und will auf diese Weise größere begriffliche
Klarheit in die weitgehend empiristisch orientierte ökologische Diskussion
bringen. Es geht darum, »den Müll anhand der gesellschaftlichen Grundfragen
abzuhandeln bzw. umgekehrt die gesellschaftlichen Grundfragen anhand des Mülls
zu erklären«. Vor diesem Hintergrund setzt Schandl sich mit den verschiedenen
Konzepten kapitalistischer »Müllbeseitigung« auseinander, die hilflos bleiben
müssen, weil sie an das Grundproblem einer Produktion um der Produktion willen
nicht rühren. Die Müllberge wachsen weiter und die Abfallwirtschaft wird zu
einer der wenigen Wachstumsbranchen
.

Ernst Lohoff für die Redaktion der Krisis

Aus dem Editorial der krisis 18, März
1996

„Antiökonomie“
und „Antipolitik“

Anders
als der postmoderne Dekonstruktivismus hat die wertkritische Begriffskritik
keine Affinität zu einem Standpunkt der Beliebigkeit. Ihr Ausgangspunkt ist die
gegenwärtige Krise und Unhaltbarkeit der herrschenden gesellschaftlichen
Realkategorien und deren notwendige Aufhebung. Insofern bietet die bisherige
Theoriebildungspraxis kaum Anlass für die Befürchtung, die fortgesetzte
wertkritische Begriffskritik könne schließlich ins geistige Niemandsland und in
die Sprachlosigkeit führen. Dennoch hat das Misstrauen gegen ein
bedingungsloses »heiteres Begriffeknacken« noch in anderer Hinsicht durchaus
seine Berechtigung. Muss, wie oben angedeutet, Wertkritik ihrem Wesen nach beim
Blick auf die Warengesellschaft zwischen Innen- und Außenperspektive
oszillieren, so gehört die Begriffskritik eindeutig der Außenperspektive an.
Würde Wertkritik sich allein auf die Aufgabe fortgesetzter
Begriffsdekonstruktion konzentrieren, dann stellte sie damit die Dialektik, der
sie als Kritik ihre Existenz verdankt, letztlich still. Damit schlüge
Historisierung aber in Quasi-Ethnologisierung um. Die Wertkritik verkäme zu
einer merkwürdigen Geheimlehre, deren Anhänger daraus ihr Selbstbewusstsein
ziehen, dass sie sich gegenüber den Alltagswilden der Warengesellschaft als
eine Art Völkerkundlerverein im Stil des 19. Jahrhunderts inszenieren.

Ihre
kritische Intention kann sich die Wertkritik nur bewahren, indem sie sich gegen
eine solche einseitige Auflösung sperrt und dagegen auch die Innenperspektive
geltend macht. Die vorliegende Ausgabe der Krisis folgt dieser Orientierung,
indem sie zum einen, wie schon die beiden vorhergehenden Nummern, vorzugsweise
»exoterische« Themen behandelt; zum anderen werden »esoterisch«-antiontologische
Fragen von vornherein realanalytisch gewendet.

Besonders
deutlich wird dies vielleicht an
Ernst Lohoffs Skizze über Aufstieg und Fall des Nationalstaats Der Tod des sterblichen
Gottes
. Die
neuere historisierende Kritik an der Nation, die nationale Identität als ein
modernes Phänomen entlarvt hat, setzt der Autor weitgehend voraus. Er versucht
in seinem Gang durch die Durchsetzungsgeschichte des Nationalstaats
klarzulegen, welchem historischen Bedingungszusammenhang dieses Realkonstrukt
in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten seine Wirksamkeit verdankte. Dabei
bleibt er bei der Frage nach den Voraussetzungen für den globalen Siegeszug des
nationalstaatlichen Modells aber nicht stehen, sondern macht den nächsten
logischen Schritt und untersucht die heute aufscheinenden historischen Grenzen
des Nationalstaats. Damit kehrt er zum anti-ontologischen Ausgangspunkt zurück,
der aufgehoben ist in der Analyse des realen Zerfallsprozesses der
nationalstaatlichen Ordnung.

Robert
Kurz
leitet
mit seinem Thesen-Artikel
Antiökonomie und Antipolitik den Themenblock zur Frage von Aufhebungsbewegung und
Aufhebungsökonomie ein, der die einschlägigen Essays der vorherigen
Krisis-Ausgabe fortsetzt. Wir wollen uns keineswegs von jetzt an auf dieser
Ebene eingraben und erst recht geht es nicht darum, plötzlich unvermittelt
»praktisch zu werden«, wie uns einige Kritiker schon vorgeworfen haben, denen
»die ganze Richtung nicht passt«. Zu einer Weiterentwicklung der Wertkritik
gehört es aber mit Sicherheit, für eine Aufhebung des warenproduzierenden
Systems theoretische Bestimmungen zu finden und auch in dieser Hinsicht die
Kategorien des Arbeiterbewegungs-Marxismus kritisch zu transformieren.

Wie
sich diese Entwicklung einer neuen Theorie für die Aufhebung der wertförmigen
Reproduktion gesellschaftspraktisch vermittelt, ist eine ganz andere Frage, die
sicherlich nicht aus dem Stand und mit der geringen Reichweite weniger Personen
gelöst werden kann. Es ist ja auch nicht unser Ziel, mit irgendeiner
alternativen Schweinezucht anzufangen, sondern hinsichtlich der bisherigen
»sozialistischen« Zielbestimmung mit allen ihren (unaufgearbeiteten)
Implikationen theoretisch zu intervenieren und in der sozialökonomischen
Aufhebungsfrage das Marxsche Theoriesystem ganz genauso historisch zu entzerren
wie auf anderen Ebenen der Theoriebildung. Wenn die ontologisierte »Arbeit«
nicht mehr der historische Hebel und die etatistische »Planung« in
unaufgehobenen Warenkategorien nicht mehr der ökonomische Zielhorizont sein
können, dann müssen sich aus der Kritik dieser altmarxistischen
Vorstellungswelt auch veränderte Zielsetzungen und Wege der Transformation
bestimmen lassen.

In
seinem Beitrag versucht
Robert Kurz, die Frage des »Herankommens« an eine sozialökonomische
Aufhebung der wertförmigen Reproduktion zu entwickeln und in Beziehung zur
systemimmanenten sozialen Auseinandersetzung zu bringen
. Zentraler Punkt
dabei ist die Frage der
»Keimform« und ihres
Verhältnisses zur »Politik«. In Abgrenzung sowohl von etatistischen Modellen
als auch von alternativökonomischen Konzepten kleiner Warenproduktion wird die
Frage der Entkopplung bestimmter Reproduktionsbereiche von der Warenform als
solcher erörtert. Wie ist auf der Höhe der mikroelektronischen Produktivkräfte
ein Übergang zu befreiten sozialen Zonen denkbar, in denen Momente autonomer
Reproduktion ohne lokalistische Bornierung entwickelt werden können? Wie können
sich diese Ansätze mit einer gesamtgesellschaftlichen Zielsetzung und
gleichzeitig mit systemimmanenten sozialen Abwehrkämpfen in der
kapitalistischen Krise vermitteln? Die alten Probleme des Verhältnisses von
»Reform und Revolution«, von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, von
alternativen Reproduktionsformen und »Machtfrage« erscheinen auf der
historischen Stufenleiter einer anzustrebenden Aufhebungsbewegung gegen die
Wertökonomie in neuer Gestalt, für die noch keine Begriffe gefunden sind. Der
Beitrag will keine abschließenden Antworten geben, sondern die Problemfelder
umreißen, um überhaupt Voraussetzungen für eine weitergehende
Auseinandersetzung zu schaffen.

In
seinem anschließenden umfangreichen Artikel
„Der Dritte Sektor“
gibt Volker Hildebrandt einen Überblick über die einschlägige akademische und
politische Debatte zu diesem Thema. Es zeigt sich, wie stark die Konzepte des
»Dritten Sektors« noch warenlogischen Kategorien verhaftet sind, ökonomisch
illusionäre Programme vertreten und sogar klammheimliche Affinitäten zu
barbarischen Verarbeitungsformen der kapitalistischen Krise hervorbringen
können. Hildebrandt unterzieht insbesondere die Ansätze des US-amerikanischen
Autors Jeremy Rifkin, des deutschen PDS-Theoretikers Joachim Bischoff und von
Autoren aus dem gewerkschaftlichen Spektrum einer ausführlichen Kritik.
Gleichzeitig versucht er aber auch, die transzendierenden Momente in der
Debatte über den »Dritten Sektor« herauszufiltern und die notwendige
Auseinandersetzung in eine »dialogische Form« zu bringen. Die dabei angerissene
Kritik an einer selbstgenügsamen Einigelung der wertkritischen Position wird
sicherlich ebenso wenig unwidersprochen bleiben, wie die Forderung nach
normativen Setzungen einer emanzipatorischen Ethik. Hildebrandt eröffnet damit
eine Diskussion über mögliche Dilemmata einer Aufhebungsbewegung, die aufgelöst
werden müssen.

Gaston Valdivias Beitrag »Zeit« ist Geld und Geld
ist »Zeit«
setzt
sich mit dem modernen Zeitverständnis und dem merkwürdigen Paradoxon
auseinander, dass eine Gesellschaft, die ständig »Zeit spart«, permanent unter
»Zeitknappheit« leidet. In einem kurzen historischen Durchgang zeigt der Autor,
wie absonderlich die moderne Vorstellung von der »Zeit« als homogener und
quantifizierbarer Substanz ist und setzt sich mit der gesellschaftlichen Praxis
und ihrer historischen Genese auseinander, die diese Art von Zeitwahrnehmung
konstituiert. Der zweite Teil des Aufsatzes widmet sich der merkwürdigen
Dialektik von Rationalisierung und Ökonomisierung der »Zeit« und der
zunehmenden »Zeitverknappung«. Er zeigt, wie ein wachsender Anteil der in
dieser Gesellschaft verausgabten »Zeit« einzig und allein zur Aufrechterhaltung
der Logik des warenproduzierenden Systems dient und insofern von einem
emanzipatorischen Standpunkt aus geradezu »verschwendet« wird.

Ernst Lohoff für die Redaktion

PS: Aus dem Krisis-Zusammenhang
gibt es einige Neuigkeiten zu berichten. Erstens führt der Förderverein Krisis
jetzt in einem festen halbjährlichen Rhythmus thematisch vielfältiger als
bisher angelegte Seminare durch. Zweitens wurde, wie schon lange geplant, jetzt
endlich das »Institut für kritische Gesellschaftstheorie« gegründet. Drittens ist
in Ergänzung zur Krisis eine zweite Zeitschrift mit dem Namen
Karoshi gegründet
worden, die ab Frühjahr 1997 erscheinen soll. Und viertens schließlich ist die
Krisis jetzt sowohl im Internet mit einer eigenen Homepage als auch im CL-Netz
mit einem Diskussions- und Informationsbrett präsent. Nähere Informationen zu
all diesen Punkten finden sich im Anschluss an das Editorial und auf den
letzten Seiten dieser Krisis-Ausgabe.

Aus dem Editorial der krisis 19, 1997

Wider den „Zeitgeist“ – das zahnlose Theoretisieren

Inhalt
Krisis 20 -21/22

KRISIS
20 (1998)

Ingolf Ahlers: Der Westen in Not: planetarische Politik und globale
Kulturkämpfe im Zeitalter des Neoliberalismus

Robert Kurz: Weinkenner aller Länder vereinigt euch! Postmodernismus,
Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise
Roger Behrens: Die Politik der zweiten
Haut. Versuche über den Körper
. Anselm Jappe: Politik des Spektakels –
Spektakel der Politik. Zur Aktualität der Theorie von Guy Debord
Clemens Nachtmann: Wenn der Weltgeist dreimal klingelt. Zur
Geschichtsmetaphysik der Krisis-Gruppe
Ernst Lohoff: Hello Mr. Postman.
Kritik als Affirmation. Eine Replik auf die Krisis-Kritik von Clemens Nachtmann

KRISIS
21/22 (1998)

Kritik der Postmoderne
Claus Peter Ortlieb: Bewusstlose Objektivität. Aspekte einer Kritik der mathematischen NaturwissenschaftErnst Lohoff: Zur Dialektik von Mangel und ÜberflussRoswitha Scholz: Die Verwilderung des Patriarchats in der Postmoderne Moishe Postone: Dekonstruktion als
Gesellschaftskritik
. Derrida über Marx und
die Neue Weltordnung
Robert Bösch: Über eine Theorie des Mangels. Zur Psychoanalyse von Jacques
Lacan (Teil 1)
Rezensionen | Kommentare
| Glossen

Die moderne Warengesellschaft zeichnet sich durch eine
ungeheure Fähigkeit aus, ihr eigenes durch und durch von Absurditäten und
eklatanten Widersprüchen geprägtes Universum als einzig denkbare, quasi
natürliche Ordnung erscheinen zu lassen und ihre aporetischen Denkfiguren als
die menschlichen schlechthin. Unsere Sprache spiegelt diese enorme, im Laufe
der kapitalistischen Entwicklung beständig gewachsene Suggestionsmacht wider;
schlimmer noch, sie ist über weite Strecken zu deren omnipräsenten Exekutor
verkommen. Schon die faschistischen und realsozialistischen Sprachregelungen
haben die Grenze zwischen bezeichnendem Sprechen und offener Lüge verwischt.
Verglichen mit dem am allgegenwärtigen Vorbild der Reklame geformten
marktdemokratischen Jargon blieben sie dank ihrer Zentrierung auf die
politische Sphäre allerdings noch primitiv, leicht durchschaubar und von
beschränkter Reichweite. und so erweist sich auch in dieser Hinsicht der
Totalitarismus der Ware als der eigentliche.

Die wuchernde Ausbreitung von Suggestivbegriffen
indiziert vielleicht am deutlichsten, wie sehr die totale Fixierung auf die
gesellschaftliche Form, die in der Krise weniger ihr Ende als vielmehr ihre
Vollendung findet, aus der Sprache, dem zentralen Medium der Aneignung von
sozialer Wirklichkeit, ein Mittel der Erkenntnisvermeidung gemacht hat. In der
öffentlichen Diskussion wimmelt es mittlerweile von Schlagworten, die allein
die Legitimierung und euphemistische Zurechtinterpretation der
Krisenwirklichkeit zum Inhalt haben und dabei keinerlei Widerspruch zu lassen
wollen. Die bürgerlichen Prinzipienbegriffe haben sich mit ihrer Durchsetzung
und Verallgemeinerung in sakrosankte Leerformeln verwandelt. Wollte jemand auf
die Idee verfallen, sich gegen hehre Ideale wie »Gerechtigkeit«, »Demokratie«,
»Freiheit« und »Menschenrechte« zu positionieren, hätte er sich damit quasi
automatisch entweder als Verrückter oder im immanenten Umkehrschluss als
Befürworter von Unfreiheit, Menschenrechtsverletzungen, diktatorischen
Herrschaftsformen und Blutvergießen, also als eine Art von bekennendem
Unmenschen entlarvt. In den letzten Jahren ist aber eine ganze Batterie tief
unterhalb dieser Ebene angesiedelter, neugeprägter Sprechblasen in einen
ähnlich sakrosankten Status aufgerückt. Wer sich beispielsweise mit der
»Globalisierung« nicht anfreunden mag oder die Opfer der »Sachzwanglogik«
beklagt, könnte, so suggerieren diese Begriffe, ebenso gut die Gefahr von
Treppenstürzen zum Anlassnehmen, für die Abschaffung der Schwerkraft
einzutreten. Und wer etwa »Flexibilität« nicht als conditio humana
freudestrahlend begrüßt, decouvriert sich damit bereits als miesepetriger
Ewiggestriger, als jemand, der sich nicht nur dem »Geist der neuen Zeit« sperrt,
sondern »unser aller Zukunft« insgesamt gefährdet.

Zu
diesen grundsätzlich positiv konnotierten neototalitären Newcomer-Begriffen gehört
auch das auf den ersten Blick so unschuldig wirkende Wörtchen »Öffnung«. Vor
zwanzig Jahren kam das Adjektiv »offen« meist nur im Zusammenhang mit Türen
oder Fenstern vor und wurde, übertragen auf den zwischenmenschlichen Verkehr,
für gewöhnlich als eine höfliche Umschreibung für grobes Verhalten verstanden,
als die Neigung, Mitmenschen mit wenig einfühlsamen Äußerungen vor den Kopf zu
stoßen. Heute bekennt man sich in Werbung wie Politik unisono zur »Offenheit«,
sich öffnen ist Weg und Ziel in jeder Psychogruppe, und auch wer sein
Humankapital zu Markte trägt, tut gut daran, seine besondere Qualifizierung in
dieser Sache gebührend herauszustellen. Selbst die Erbverwalter der
Restbestände von Gesellschaftskritik wollen da nicht abseits stehen. Nicht nur
Fritz Haug rief schon vor
Jahr und Tag einen »
pluralen Marxismus« aus; die Linke wird gar nicht oder »offen« sein, so lautete
die offizielle oder inoffizielle Devise sämtlicher Sammlungsversuche der
letzten Jahre.

Ob sich Gesellschaftskritik einen Gefallen tut, wenn sie
in das allgemeine Öffnungsgesumme einstimmt, darf allerdings nicht nur aufgrund
der mit dem inflationären Gebrauch einhergehenden Entwertung des Begriffs
bezweifelt werden. Wie in ähnlichen Fällen, so geht auch die flächenbrandartige
Ausbreitung des Öffnungs-Vokabulars mit einer Bedeutungsverkehrung im Sinne des
Orwellschen Neusprechs einher. Der Terminus verweist nicht, wie er nahe zu
legen versucht, auf die Bereitschaft zu »herrschaftsfreier Kommunikation«,
sondern auf so etwas wie eine freiwillige Zwangsöffnung, also auf die durch
Akzeptanz verdoppelte Unterwerfung unter das allgegenwärtige warengesellschaftliche
Diktat.

Was seinen populärpsychologischen Gebrauch angeht, so ist
der Sündenfall nicht erst bei jenen an betriebswirtschaftlich optimierter
Vernutzung von Humankapital orientierten Anwendern zu suchen, die alle
Errungenschaften der neuen Offenheitskultur pfeilschnell in allgemeines Produktivitäts-Mobbing
ummünzen; die Kritik an persönlichen Schwerfälligkeiten und Hemmungen war
vielmehr von vornherein Vehikel einer unbedingten Affirmation der sich aus dem
sozialen Kontext heraus abstraktifizierenden Monade. Das universelle
Offenheitsgebot zielte stets darauf ab, genau jene Vorurteilslosigkeit und
pseudosouveräne Unverklemmtheit als allgemeines Lebensprinzip zu propagieren,
mit der sich das Warensubjekt idealiter den ach so vielfältigen Möglichkeiten einer
zur Vielzahl von Konsumangeboten zerstückelten Wirklichkeit überantwortet.
Allzeit offen ist selbstverständlich nur, wer sich niemals auf irgendetwas oder
irgendjemanden wirklich einlässt. außer auf die Zwänge der Warengesellschaft.
Offenheit meint also im Klartext die Offenheit gegenüber den Zumutungen eines
totalitären Systems. Sie ist nur dessen subjektive Seite und steht damit gerade
für jene hermetische Selbstabschottung, mit der sich das spätbürgerliche Bewusstsein
vor der Vorstellung einer anderen Daseinsweise in Sicherheit bringt.

Wechselt man das Bedeutungsfeld und versucht die
erstaunliche politische Laufbahn der Öffnungsideologie nachzuzeichnen, so
erweisen sich auch hier Öffnung und Emanzipation weit eher als Gegensätze denn
als Synonyme. Schon die Premiere des Begriffs in diesem Kontext, Mitte des 19.
Jahrhunderts, war ein Euphemismus für Zwang und Gewalt. Er bezeichnete damals
die mit der militärischen Brechstange vollzogene Erschließung Ostasiens für den
westlichen Handel, also den Opiumkrieg der Briten in China sowie die Aktionen
der amerikanischen Kriegsmarine unter Commodore Perry, die der mehr als 200-jährigen,
administrativ abgesicherten Abschottung Japans ein Ende setzten. Als Ende der
80er Jahre dieses Jahrhunderts im Gefolge von Glasnost und Perestroika die
Öffnungsrhetorik eine Renaissance erlebte, hatte zwar die Wucht »friedlicher«
kapitalistischer Konkurrenz den Rekurs auf militärisch-imperiale Lösungen
überflüssig gemacht; nichtsdestoweniger war auch die Offensivkapitulation des
maroden Realsozialismus vor der übermächtigen Marktlogik erst recht ein katastrophisch-gewaltsamer
Prozess. Die Form der »freiwilligen« Übergabe erleichterte es lediglich
Protagonisten und Zuschauern, die alte Lüge beim zweiten Durchlauf zu
perfektionieren, indem sie das Scheitern des Versuchs etatistischer Überlistung
des Wertdiktats zu seinem Gegenteil umdeuteten: der Erschließung neuer und viel
versprechender marktdemokratischer Entwicklungsperspektiven.

Sowohl das suizidale Exempel der Sowjetunion und ihrer
ost- und mitteleuropäischer Satelliten als auch die dazugehörige verrückte
Selbstwahrnehmung der Abriss-Reformer macht mittlerweile allenthalben Schule,
auch im Westen. Das bildet den Hintergrund für die Verallgemeinerung des
Öffnungsgeschwätzes. Je mehr die Krise der warengesellschaftlichen Form auf die
Zentren übergreift, je fester der Belagerungsring um die atomisierten
Warensubjekte und je enger ihre Spielräume und die des abgerüsteten
Regulationsstaats, desto eifriger bemüht sich ein delirierender Zeitgeist, den
beschleunigt voranschreitenden gesellschaftlichen Desintegrationsprozess zu
einem weiten Feld neuer »Chancen« schönzureden. Die mit der völligen Entgrenzung
des Kapitalismus einhergehenden sozialen Verwerfungen und die Vernichtungslogik
globaler Konkurrenz wird zu einer Sammlung von »Risiken« entwirklicht .
»Risiken«, für die natürlich letztlich die Inflexibilität der Opfer
verantwortlich sein soll.

Die Zuckergussvariante
der verlogenen Öffnungsrethorik präsentieren »zukunftsorientierte«
Modesoziologen vom Schlage eines
Ulrich Beck: Wenn der Osten seine Mauern hat fallen lassen, dann
müsse auch der Westen die Gunst der Stunde nutzen, sich von überlebten Dogmen
verabschieden und in das Projekt einer »zweiten Moderne« eintreten. Worin der praktische
Gehalt dieser antidogmatisch sich gerierenden Aufbruchs-Schwadronade allein
bestehen kann, liegt trotz aller wolkigen Formulierungen allerdings auf der
Hand. Die sich den Warensubjekten als Warensubjekten bietenden ach so
vielfältigen und bunten Möglichkeiten reduzieren sich allesamt auf das Eine und
Gleiche: dem eigenen Herausfallen aus der Konkurrenz durch das Herausdrängen
der Konkurrenten zuvorzukommen und die Auswirkungen der kapitalistischen Krise
so gut es geht zu externalisieren. Die »zweite Moderne« kommt als prekäres
liberales Apartheidsregime zu sich. Schon heute demonstrieren im
gewerkschaftlichen und rot-grünen Spektrum Heerscharen von superkonformen
»Querdenkern« ihre Weltoffenheit und antidogmatische Haltung allein in der
Bereitschaft, im Zuge der Standortkonkurrenz allen Öko- und Sozialsstaatsballast
über Bord zu werfen und zugleich die Abschottung gegenüber zudringlichen
Elends-Immigranten zu perfektionieren. Und dies ist selbstverständlich keine
vorübergehende Verirrung, sondern verweist auf die unausgesprochene Quintessenz
der Sache. Die neue Offenheit steht für offene Repression. Die neue Toleranz
ist die Toleranz gegenüber den mörderischen Konsequenzen des
Krisenkapitalismus.

Dass der Zeitgeist, wenn er »Offenheit« predigt, damit
die präventive (Selbst)entwaff-nung jedes denkbaren Herdes von Widerständigkeit
meint, gilt nicht allein für Politik und Alltagsleben, sondern auch für die
theoretische Sphäre. Nach dem prekären Endsieg der Warenform hängt die
Wertschätzung von Theorien nicht mehr von ihrer analytischen Kraft ab,
anerkannt wird vielmehr nur garantiert zahnloses Theoretisieren. Theorie hat
nicht kohärent und richtig zu sein, sondern vornehmlich offen für andere
Ansätze, und vor allem muss sie es um jeden Preis vermeiden, in den Geruch
einer »Großtheorie« zu geraten. Der Positivismus hat schon seit jeher jeden
Versuch, über die Einzelfaktenhuberei hinauszugehen und größere Zusammenhänge
herzustellen, konsequent als »unwissenschaftliches Unterfangen« abgestraft.
Mittlerweile hat sich diese Abwehrhaltung auf der ganzen Linie durchgesetzt.
Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Wertkritik
regelmäßig heftige Abwehrreaktionen hervorruft. Auf dem akademischen
Donnerbalken und seinen Verlängerungen ist für ein Denken, das sich nicht damit
begnügen will, sein Theoriehäuflein neben andere Theoriehäuflein zu setzen,
sondern den Anspruch erhebt, über sich selber hinauszuweisen, in der Tat kein
Platz. Ebenso wenig kann verblüffen, dass die Wertkritik-Allergiker für diese
Unverträglichkeit mit Vorliebe den angeblich monokausalen Charakter und den Hermetismus
der Wertkritik verantwortlich machen.

Dieser gebetsmühlenhaft wiederholte Anwurf stellt die
Sache indes auf den Kopf. Wenn behauptet wird, Wertkritik liefe darauf hinaus,
die soziale Wirklichkeit aus einem Punkt zu deduzieren, und sie würde von daher
jedes anders geartete Theoretisieren letztlich für gegenstandslos erklären,
dann löscht diese Behauptung den grundlegenden Unterschied zwischen radikaler
Kritik und positiver Theorie einfach aus und verwechselt das Sichtbarmachen
eines Skandals mit dem Skandal selbst. Wertkritik postuliert keineswegs, die
soziale Wirklichkeit würde bruch- und restlos in den Prinzipien der Wertlogik
aufgehen; sie kritisiert vielmehr die herrschende Realabstraktion gerade
deshalb, weil ihr das Streben, diese Unmöglichkeit in der und gegen die
Wirklichkeit durchzusetzen, inhärent ist; weil sie nichts anderes als die
versuchte Realisation dieser Unmöglichkeit sein kann! Wertkritik lässt sich nicht
als die »große Erzählung« der Eigenbewegung eines selbstgenügsamen Prinzips
lesen als genuine Krisentheorie insistiert sie vielmehr darauf, dass die omnipräsente
Herrschaft des abstrakten gesellschaftlichen Mediums nur als eklatierender
Selbstwiderspruch zu sich kommen kann, der sich in seinem historischen Werdegang
immer von dem nährte, was er zerstörte. Eine Theorie, die sich in dieser Form
radikal negatorisch auf eine negative Totalität bezieht, würde sich aber ad
absurdum führen, wollte sie die Zwangssubsumtion der gesellschaftlichen
Wirklichkeit unter die prozessierende Realabstraktion des Werts an sich selber
wiederholen und den Status einer Universaltheorie Hegelscher Prägung anstreben.

Die Kritik am gewaltsamen Real-Universalismus des Werts hat
. so man sie konsequent weiterdenkt und nicht eng ökonomiekritisch fasst, auch weit
reichende Implikationen für die Fragestellungen von Theorieansätzen anderer
Herkunft (kulturtheoretische, feministische, psychoanalytische usw.). Vor allem
wo sich die Problemfelder überlappen, muss Wertkritik daher bestrebt sein, sich
mit diesen Denktraditionen in Beziehung zu setzen und an deren Erkenntnisstand
zu partizipieren. Dieses In-Beziehung-Setzen hat aber weder etwas mit
Eklektizismus zu tun noch mit einem ableitungstheoretisch begründeten
Eingemeindungsversuch, der jede kritische Regung sich selber gleich machen
will.

Am Anfang ihrer Entwicklung konnte sich Wertkritik nur in
entschiedener Abgrenzung überhaupt als eigene Position konstituieren, indem sie
gegen das omnipräsente altlinke und bürgerliche Weltbild die Zentralität des Werts
für das Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft als ceterum censeo geltend
machte und in der Reformulierung einer um die Kritik des Warenfetischs
zentrierten Kritik der politischen Ökonomie und des demokratischen Staats ihren
wesentlichen Inhalt fand. So unerlässlich diese Engführung zunächst war, so
wenig sollte und wollte Wertkritik dabei Halt machen. Was als eine
(selbst)kritische Aufarbeitung der marxistischen Theorietradition entstanden
ist, als Versuch den durch das Marxsche Werk gesetzten Rahmen neu zu füllen,
darf es sich nicht selbstgenügsam in diesem Rahmen bequem machen. Ihn zu
überschreiten bedeutet aber notwendig das kritische Hindurchgehen durch
marxismusferne Theoriestränge unterschiedlicher Provenienz. Freilich, dass
dieses Vorhaben aus der Logik unserer eigenen Theorieentwicklung angesagt ist,
beseitigt nicht die enormen Schwierigkeiten, die mit seiner praktischen
Umsetzung verbunden sind. Bis zum heutigen Tag hat unsere Suche nach
entsprechenden Vermittlungen etwas Vorläufiges, Tastendes, teilweise eher
Programmatisches und ist insgesamt nochweit von dem Konkretionsniveau entfernt,
das die Krisis auf ihren traditionellen Arbeitsgebieten erreicht hat; was nicht
zuletzt auch daran liegt, daß eine Kritik des abstrakten Universalismus, die
Totalität konsequent als negative Totalität denkt, nur wenige theoretische
Vorbilder und Vorläufer hat. So gesehen ist es nicht weiter verwunderlich, wenn
das Spezifische an unserem theoretischen Vermittlungsprogramm häufig genug
übersehen und es stattdessen innerhalb der tradierten Dichotomie von positivem
Systemdenken und pluralistisch-gleichgültigem Nebeneinander verortet wird.

Sicherlich hat dieses Missverstehen auch etwas mit subjektivem
Unverständnis und Unwillen zu tun und mit der Unlust, sich aus den gewohnten
Bahnen des Denkens drängen zu lassen. Dies darf indes nicht von der
gesamtgesellschaftlichen Großwetterlage ablenken, in der solche
Interpretationen wie die Pilze aus dem Boden schießen. Wenn die Zeichen der
Zeit allenthalben auf»Öffnung« stehen, was liegt da näher als die widersinnige
Vorstellung eines »wertkritischen Pluralismus«? Und wenn große Teile der
akademischen und außerakademischen Linken mit jahrelanger Verspätung (aber
gerade deshalb umso hektischer) dem längst abgefahrenen Zug des Dekonstruktivismus
und des Poststrukturalismus hinterherlaufen, dann erscheint es ihnen wohl als
selbstverständlich, auch die Wertkritik müsse sich an dieser stolpern den
Verfolgungsjagd beteiligen und sich begierig mit Versatzstücke des
postmodernistischen Denkens ausstaffieren. Nun ist es natürlich nicht
überflüssig, sich mit diesen momentan hegemonialen Strömungen sowohl in ihrem
theoretischen Gehalt, aber auch als Indiz einer gesellschaftlichen
Grundstimmung auseinanderzusetzen; und möglicherweise kann das in mancher
Hinsicht auch befruchtend sein. Dies setzt indes ein kritisches Durcharbeiten
voraus, also gerade Distanz, und keine aus einem Anschlussbedürfnis geborene
Bereitschaft zu voreiligem Identifizieren. Wer sich keine Rechenschaft darüber
ablegt, wie weit Wertkritik und postmodernistische Positionen (soweit man bei
letzteren überhaupt von Positionen sprechen kann) auseinander liegen, wird die
Kritik am warengesellschaftlichen Totalitarismus nicht fortentwickeln können,
sondern nur das erreichte Reflexionsniveau zugunsten einer vordergründigen
Scheinkompatibilität aufgeben.

Nur
auf den allerersten Blick nämlich ähnelt der antimetaphysische Gestus von
Derrida & Co., ihr
Verwerfen des Totalitätsdenkens, unserer Totalitätskritik, und ist Begriffsdekonstruktion
ein der Begriffskritikverwandtes Unternehmen. Näher besehen erweist sich das
genaue Gegenteil. Wo wir die negative Totalität des Werts in ihrer
gewalttätigen Zerrissenheit, ihrer Krisenhaftigkeit und Unhaltbarkeit radikal
kritisieren, eskamotiert der Postmodernismus (ein Ismus mit vielen Varianten)
sie nur, indem er sie zu einer überholten metaphysischen Vorstellung
verharmlost. Keineswegs thematisiert er das begriffliche Denken als von der
Realabstraktion durchherrschtes, vielmehr lässt er umgekehrt den
warengesellschaftlichen Zwangsuniversalismus in »essentialistischen« Diskursen
verschwinden, die er dann in einem unendlichen und unendlich öden
Wiederholungszwang »dekonstruiert«. Indem die Wirklichkeit so in einer
überstrapazierten Sprachtheorie ertränkt wird, verliert sich das Problem
gesellschaftlicher Objektivierung (und damit auch das ihrer Kritik) im Nirwana
von unabgeleitetem Meinen und Diskurspositivismus. Während Wertkritik nach dem
historischen Bedingungszusammenhang fragt, der Abstraktionen wie Arbeit, Staat,
Recht etc. erzeugt hat, verwirft die »Dekonstruktion« diese Problemstellung als
anachronistisch.

Daher markiert das postmoderne Antitotalitätsdenken nicht
eine geistige Gegenbewegung zur Diktatur des bürgerlichen Formprinzips, sondern
steht für den Versuch, diese am Ende ihres historischen Durchsetzungsprozesses
unsichtbar und somit auch unangreifbar zu machen und für eine scheinbare
Sistierung der Dialektik von Form und Inhalt in der Simulation. Die bürgerliche
Ideologie kann in ihrer postmodernen Verfallsform den Zwang zum begrifflichen
Denken nur verwerfen und theoretische Kohärenz als totalitäre Gewalt
denunzieren, weil die Warengesellschaft nicht mehr, wie noch in ihrer
Aufstiegsperiode, auf die Verdopplung der Realabstraktionen in den
theoretischen Denkprinzipien verwiesen ist. Denn die erdrückende Übermacht des
scheinbar alternativlosen Faktischen hat mit der Durchsetzungsemphase auch das theoretisch-prinzipienhafte
Denken überflüssig gemacht, das nun abgeschlafft um sich selbst kreist und an
den eigenen Aporien irre wird. So sanktioniert der postmodernistische Diskurs
die Herrschaft des Warenfetischs, weil in seinen Termini festgeschrieben ist, dass
von ihr nicht mehr gesprochen werden kann.

Wenn Begriffskritik, der Versuch, die Herrschaft des
Werts aufzuspüren und kenntlich zu machen. und Begriffsdekonstruktion . das
groß angelegte Unternehmen der Spurenverwischung . von einigen
Öffnungsliebhabern mit wertkritischem Anspruch als artverwandt betrachtet
werden, entbehrt das weder der Ironie noch einer gewissen Logik. Auf dem Boden
der wertkritischen Binnendiskussion mag die traumwandlerische Sicherheit, mit
der aus der Vielzahl denkbarer vermittlungsfähiger Theorielinien ausgerechnet
das genaue Gegenteil von Wertkritik zu deren naheliegenster »Ergänzung«
auserkoren wird, lediglich als groteskes Missverständnis erscheinen, und damit
als Indiz für reichlich vorhandenen Klärungsbedarf; betrachtet man diese
Verkehrung von außen und bezieht den postmodernen Gegenstand der Zuneigung mit
ein, so zeigt sie doch etwas mehr an. Die Verwechslung von Feuer und Wasser
dokumentiert nicht nur die weite Verbreitung von Bruchstücken des
postmodernistischen Diskurses, sondern macht diese Strömung auch als die
geistige Avant-

garde
des unbedingten Pluralismus und des allgemeinen Öffnungs- und Zwangsabrüstungs-wahns
kenntlich. In Dekonstruktivismus und Poststrukturalismus wird der allgemeine
Pluralismus so pluralistisch, dass selbst noch der Kontrapunkt als eine weitere
mögliche und beliebige Variante im unendlichen »Spiel der Bedeutungen« wahrgenommen
werden kann.

Der
Positivismus hat schon lange der Entwirklichung der Wirklichkeit weidlich vorgearbeitet,
indem er diese in strikt getrennte Erkenntnisgegenstände zerlegte; er blieb
dabei aber insofern auf halbem Wege stehen, als er sich immerhin noch dem Zwang
zur Widerspruchsfreiheit und dem Kohärenzgebot verpflichtet fühlte und jede
Aussage, die nicht unmittelbar mit beobachtbaren Fakten in Einklang zu bringen
war, für falsifiziert erklärte. Für den Krisen- und Simulationskapitalismus
unserer Tage reicht dieser Schutz vor dem Einbruch der Wirklichkeit in die
Wahrnehmung nicht mehr aus. Dazu bedarf es einer radikalisierten und verallgemeinerten
Begriffsund Maßstabslosigkeit, eines Positivismus in der zweiten Potenz. Kein
Zufall ist es, dass ausgerechnet
Ex-Linke wie Derrida und Lyotard, indem sie ihre marxistische Vergangenheit entsorgten
und zu einem »antiessentialistischen« Feldzug aufbrachen, die Grundlagen
hierfür legten. Denn die Linke hatte zeitlebens die Funktion einer Avantgarde
der Warengesellschaft inne. Offenbar kommt sie selbst noch im Todeskampf und in
ihrer Selbstverabschiedung von dieser Rolle nicht los.

Noch
absurder als die Uraufführung im Frankreich der siebziger Jahre ist freilich
die Begeisterung, mit der Teile der deutschen Restlinken dieses Spektakel in
mehr oder weniger gelungenen Schulaufführungen neuerdings imitieren. In der
Rolle der Avantgarde wirken sie ungefähr so glaubwürdig wie die kommunistischen
Sekten der Nach-68er in ihrer Inszenierung des arbeiterbewegten Proletkults.
Dennoch war wohl eine gewisse Ausstrahlung dieses Schauspiels auch auf den um
die Krisis gruppierten Diskussionszusammenhang, der ja nicht hinter den sieben
Bergen liegt, kaum zu vermeiden. Dies wäre nicht weiter problematisch und
einfach zum Gegenstand inhaltlicher Auseinandersetzungen zu machen, wenn nicht
die Neigung, das Unversöhnliche zu versöhnen, also Wertkritik und
postmodernistische Ideologie zusammen zu werfen, das in der letzten Nummer
angekündigte Projekt einer zweiten, die Krisis ergänzenden Zeitschrift
wesentlich geprägt hätte. Zwar ist
Karoshi keine durch und durch postmodernistische Postille
geworden, aber sie stellt doch (wie die beiden bisher erschienenen Nummern und
mehr noch die zwischen den beiden Redaktionen geführten Diskussionen deutlich
gezeigt haben) einen Versuch dar, erstens bestimmte, mit dem herrschenden
Zeitgeist inkompatible Momente der Wertkritik zu eskamotieren (insbesondere die
Krisentheorie, die Kritik der entwickelten warenförmigen Subjektivität und die
Aufhebungsfrage) und sie zweitens stattdessen mit poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen
Elementen eklektizistisch »anzureichern«. Da ein solches, dem Postmodernismus
gegenüber »offenes« Gebilde mit Wertkritik nicht mehr allzu viel zu tun hat und
eine notwendige Kritik an dieser zeitgeistigen Strömung nicht etwa vorbereitet,
sondern blockiert, da außerdem alle Versuche, dies produktiv zu diskutieren,
vorerst gescheitert sind, halten wir es für notwendig, zwischen beiden
Projekten einen deutlichen Trennungsstrich zu ziehen. Wir möchten hiermit also unzweideutig
klarstellen, dass wir als ehemalige Muttergesellschaft jegliche Haftung und
Gewährleistung für die Produkte von
Karoshi ablehnen und diese Zeitschrift nicht mehr vom
Förderverein Krisis herausgegeben wird. Vielleicht ist mit einer gewissen
Distanz und nach einer theoretischen Klärung innerhalb von
Karoshi eine
fruchtbare Auseinandersetzung eher möglich.

Wenn dieses Zeitschriften-Experiment gemessen an unseren
Intentionen einen wenig glücklichen Verlauf genommen hat, dann verweist dies
auch auf die grundsätzlichen Schwierigkeiten einer Erweiterung des
Bezugsrahmens wertkritischer Theoriebildung und des daran beteiligten
Personenkreises. Vielleicht haben wir uns bisher selbst darüber nicht
hinreichend Rechenschaft abgelegt. Klar ist natürlich, dass die Krisis nie zu
einer Buchbindersynthese im Stile der gängigen akademischen, aber auch vieler außerakademischer
Theoriezeitschriften übergehen und einfach Beiträge unterschiedlicher Herkunft
unverbunden nebeneinander stellen wird. Andererseits kann ein In-Beziehung-Treten
zu anderen theoretischen Ansätzen auch nicht bedeuten, dass jeder einzelne Artikel
immer durchgängig explizite Bezüge zur bisherigen wertkritischen Theoriebildung
herstellen muss. Die Spannung unaufgelöster Fragestellungen und Differenzen,
nicht unmittelbar kompatibler Perspektiven und Begrifflichkeiten muss also
ausgehalten werden. Allerdings bedarf es gleichzeitig einer fortlaufenden
Diskussion über die veröffentlichten Texte und einer flankierenden metatheoretischen
Selbstverständigung. Sonst wird die Krisis nur mit Zusatzmaterial angereichert,
nicht aber die Kritik am warengesellschaftlichen Totalitarismus
weiterentwickelt.

Wir
wissen selbst, dass wir diesen nicht ganz bescheidenen Anspruch bisher nur sehr
ansatzweise einlösen konnten. Immerhin sind wir aber doch in den letzten zwei
bis drei Jahren ein paar Schritte weitergekommen, nicht zuletzt, weil es uns
gelungen ist, den Kreis der Autorinnen und Autoren stetig zu vergrößern und
einen kontinuierlichen Diskussionsprozess zwischen ihnen anzustoßen. Die
vorliegende Nummer der Krisis spiegelt dies in mancher Hinsicht wider. Sie vereint
thematisch recht unterschiedlich akzentuierte Beiträge mit verschiedenen
theoretischen Perspektiven, die jedoch allesamt im Kontext einer Kritik der
Warengesellschaft angesiedelt sind.

Der
Westen in Not
von Ingolf Ahlers setzt sich
ausführlich mit dem aggressiven NeoKulturalismus von Samuel Huntington (The Clash
of Civilisation) und dessen theoretischen sowie zeithistorischen Hintergründen
auseinander. Er zeigt detailliert, dass dieser einerseits theoriegeschichtlich
und machtpolitisch eine Verlängerung der Ideologie des Kalten Krieges ist.
Andererseits reflektiert der Wechsel vom »Kampf der Systeme« zum »Kampf der
Kulturen« nicht bloß äußerlich den Verlust des systemstabilisierenden
Feindbilds im Osten, sondern steht für einen fundamentalen ideologischen und
politischen Umbruch im Westen selbst. Argumentativ steht Huntingtons Buch, wie Ahlers
nachweist, auf ausgesprochen schwachen Füßen. Wenn es dennoch nicht nur in den
USA, sondern auch in Europa oft geradezu begeistert rezipiert wird, dann ist
dies ein alarmierendes Signal dafür, wie weit kulturalistische, rassistische,
biologistische und sozialdarwinistische Denkraster mittlerweile auch in
akademischen und so genannten politisch seriösen Krisen wieder hoffähig
geworden sind.

Mit
seiner Polemik
Weinkenner aller Länder vereinigt euch! Postmodernismus,
Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise eröffnet
Robert Kurz die
Auseinandersetzung der Krisis mit dem linken Postmodernismus und seine
kulturalistischen Illusionen. Dabei geht es zunächst um die sozialen Grundlagen
und Zusammenhänge, die den postmodernen und dekonstruktivistischen Theoremen
erst ihre modische Popularität verliehen haben. So hat sich im Kontext des aus
der strukturellen Überakkumulation entstandenen Kasinokapitalismus seit den
80er Jahren ein ästhetisierender und selbstästhetisierender Sozialcharakter und
Sozialisationstypus herausgebildet, der als »Ware auf zwei Beinen« jeden Inhalt
in Design umformt und warenästhetisch entschärft. Aus dieser Entfaltung des
postmodernen »dezentrierten Subjekts« entsteht eine Zerstörung aller sozialen Beziehungsfähigkeit,
die mit umfassender Entsolidarisierung einhergeht und die Konkurrenz ebenso wie
die Krise ästhetisch maskiert. Indem die postmoderne Linke diesem Sozialisationstypus
in seinem postmodernen So-Sein »positive Eigenschaften« abzugewinnen und diese
in »emanzipatorische Potentiale« umzulügen versucht, nimmt sie eine
kulturpositivistisch-affirmative Position ein. Statt einer Weiterentwicklung
zur radikalen Wert- und Fetischkritik zeigt sich so eine kulturalistische
Karikatur auf den Arbeiterbewegungs-Marxismus und seine Aporien, wobei in
Übereinstimmung mit neoliberalen und altmarxistischen Positionen die Krise als
absolute Schranke der Wertvergesellschaftung eskamotiert und die wertkritische
Krisentheorie ideologisch denunziert werden muss (der zweite Teil dieses
Aufsatzes erscheint in der nächsten Krisis).

Roger
Behrens
thematisiert
in seinem Beitrag
Die Politik der zweiten Haut
die Hassliebe des modernen bürgerlichen
Individuums zum Körper, die sich in seiner Verleugnung und Funktionalisierung
für den Verwertungsprozess ebenso ausdrückt wie in einer fetischistischen Sorge
um ihn: zwei Spielarten der Verdinglichung, zwei Seiten einer Medaille. Der
neuerliche Körperkult in der Popkultur der 90er Jahre vereint diese beiden
Momente, insofern er die Exzessivität im Umgang mit dem Körper aus dem Arbeitsprozess
radikal in die Freizeit verlängert. Darin erfährt nicht nur der Körper eine
weitere warenökonomische Zurichtung, zugleich und vielleicht vorrangig wird
auch der dazugehörige Geist unter Kontrolle gebracht. Der Zwang, ein
vermeintlich reflektiertes Verhältnis zu seinem Körper zu haben, richtet sich
gegen Reflexion insgesamt. Behrens kritisiert vor diesem Hintergrund die
popkulturelle »Körperpolitik«, die zwar den Körper massiv und aufwendig
inszeniert, aber darin nicht nur von den somatischen Regungen abstrahiert,
sondern auch jeden gesellschaftlichen Bezug durchstreicht. Eine Kritik am
kapitalistischen Gesundheitssystem und einen Protest gegen den Abbau der
öffentlichen medizinischen Versorgung etwa sucht man bei den Ravern der Love
Parade vergeblich. Die popkulturelle »Körperpolitik« ist eine »Politik der
zweiten Haut«, die den Körper eigentlich außen vor lässt.

Anselm
Jappe
setzt
sich in seinem Artikel
Politik des Spektakels . Spektakel der Politik mit der Spektakularisierung
und dem unwiderruflichen Niedergang der Politik auseinander. Er wendet sich
gegen jene, die darin eine bedauerliche »Fehlentwicklung« sehen, die rückgängig
gemacht werden könnte. Das Spektakel stellt keine oberflächliche Verzerrung
einer »an sich« positiven Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft dar und ist auch
weit mehr als banale Propaganda, welche die Dinge anders aussehen lässt, als
sie in Wirklichkeit sind. Es ist vielmehr integrales Moment und wesentliches
Produkt der entwickelten Warengesellschaft. Jappe polemisiert damit auch gegen
die jüngsten Versuche,
Guy Debord, Autor der Gesellschaft des Spektakels,
medientheoretisch und kulturalistisch zu vereinnahmen und so als radikalen
Gesellschaftskritiker zu neutralisieren. Er zeigt, dass Debords Spektakelkritik
auch dreißig Jahre nach ihrem Erscheinen nichts an Schärfe und an Aktualität
verloren hat. Keinesfalls ist sie kompatibel mit der postmodernistischen
Auslöschung der Wirklichkeit in der Simulation und im »Diskurs«. Dagegen sind
Spektakelkritik und Wertkritik durchaus verwandt, wenn auch die Differenzen
nicht übersehen werden dürfen, wie Jappe an einigen zentralen Punkten zeigt.

Den Abschluss
dieser Krisis bildet eine Kontroverse zwischen

Clemens Nachtmann
und Ernst Lohoff, die auf ein
Streitgespräch bei dem Krisis-Seminar im Herbst 1996 zurückgeht. Wir drucken
hier noch einmal das leicht überarbeitete Referat von Clemens Nachtmann ab (das
ebenso wie der Seminarbeitrag von Ernst Lohoff bereits in der Zeitschrift
Bahamas 21/ 1996 erschienen ist), zusammen mit einer von Ernst Lohoff verfassten
Replik. Die Kontroverse wird in den nächsten Nummern der Krisis fortgesetzt. In
Wenn der Weltgeist dreimal klingelt wirft Clemens Nachtmann der Krisis im Allgemeinen
und Lohoff im besonderen eine schlechte Geschichtsmetaphysik vor. Einerseits
beschrieben wir die kapitalistische Binnengeschichte als einen im strikten
Sinne determinierten Prozess ohne jegliche emanzipatorische
Ausbruchsmöglichkeit und würden damit diesen bloß verdoppeln, statt ihn zu
kritisieren. Andererseits würden wir aber in der heutigen Krisensituation naiv
irgendwelchen Subjekten und Bewegungen ein ihnen selbst noch unbewusstes und
lediglich wachzuküssendes Bewusstsein andichten. Damit falle die Krisis auf das
von ihr selbst immer wieder kritisierte Politikastertum zurück und verschließe
im Übrigen auch die Augen vor den xenophoben, nationalistischen und tendenziell
antisemitischen Zügen des deutschen Ökologismus. Zugleich vertritt Nachtmann
die These, Wertkritik bzw. radikale Gesellschaftskritik überhaupt dürfe nie
»positiv« werden, wenn sie sich nicht selbst aufgeben wolle.

Ernst Lohoff antwortet darauf in
seiner Gegen-Polemik
Hello Mr. Postman. Kritik als Affirmation. Für ihn verweisen
die Anwürfe Nachtmanns weniger auf Ungereimtheiten in der Krisis-Position, als
vielmehr auf die basalen Schwächen postlinker kritischer Kritik. Wenn Nachtmann
etwa den Versuch, die Aufhebungsproblematik theoretisch näher zum umreißen, als
Politikastertum denunziert, so sei dies von einem wertkritischen Standpunkt aus
schlicht absurd. Erklärbar sei diese Gleichsetzung nur daraus, dass Nachtmann
zwar zu Recht den Glauben an ein revolutionäres Subjekt a priori verloren habe,
sich aber, gefangen in den altmarxistischen, soziologistischen Rastern selber,
das Denken an Befreiung offenbar grundsätzlich nur als die Beschwörung eines
solchen Subjekts vorstellen kann und dass er deshalb die Frage nach der
Aufhebbarkeit der bestehenden Verhältnisse tabuisieren muss. Eine derartige
Gesellschaftskritik, die die Kraft der reinen Negation beschwört, um sich in
reiner Ideologiekritik zu üben, bleibe in jeder Hinsicht zahnlos. Kritik, die
ihren Namen verdiene, müsse im Sinne der alten Formel Spinozas negatio est determinatio
bestimmte Kritik sein. Woran Nachtmann Anstoß nehme und was er mit
»Positivwerden« pejorativ übersetze, sei nichts anderes, als eben diese jeder
tragfähigen Kritik inhärente Bestimmtheit. Nachtmanns Determinismusvorwurf
sucht Lohoff ähnlich zu wenden. Dass die Krisis sich angeblich naiv
hoffnungsfroh auf die prognostizierte Krisensituation verlasse, mute nur
stimmig an, wenn man Krisentheorie und die Konstituierung eines
gesellschaftlichen Gegenbewusstseins als ein und denselben Gegenstand behandle.
Das entspricht zweifellos der marxistischen Tradition, der gemäß die Krise des
Kapitals identisch sein soll mit einer Vermehrung der proletarischen Massen und
deren wachsender Bewusstheit; es gehöre aber zu den Leistungen von Wertkritik, diesen
Kurzschluss zu kritisieren, statt ihn selber fortzuschreiben.

Abschließend
möchten wir uns noch bei unseren Leserinnen und Lesern für die erneute
Verspätung bei der Herausgabe der Krisis entschuldigen, die einer leider nicht
besonders guten Planung unserer Aktivitäten geschuldet ist. Immerhin können wir
angesichts des erweiterten Kreises von Autorinnen und Autoren und aufgrund der
Tatsache, daß bereits eine Reihe von Artikeln für die kommenden Nummern fast
fertig sind, Krisis 21 auf jeden Fall für den Frühherbst 1998 versprechen und
hoffen, auch in Zukunft endlich den lange versprochenen schnelleren Herausgabe-Rhythmus
einhalten zu können. Ab der nächsten Ausgabe wollen wir die Krisis außerdem um
einen »redaktionellen Teil« erweitern, der kürzere Diskussionsbeiträge,
Kommentare, Glossen, Buchbesprechungen etc. enthalten soll. Damit wollen wir
ein zusätzliches Forum für eine flüssigere und breitere theoretische und
publizistische Auseinandersetzung schaffen.

Ernst Lohoff und Norbert Trenkle für die Redaktion der Krisis

Aus dem Editorial der krisis 20, 1998

Kritik der Postmoderne

Radikale Gesellschaftskritik ist heute in einem doppelten
Sinne unpopulär. Zum einen ist sie auf absehbare Zeit an die Sphäre der Theorie
gebunden, muss sich also einer Sprache und Begrifflichkeit bedienen, die nicht
für jede und jeden unmittelbar zugänglich sind und die erarbeitet sein wollen.
Zum anderen stößt der Inhalt, den sie präsentiert, auf und zugleich ab.

Dieser zweite Gesichtspunkt ist zweifellos entscheidender
als der erste. Das werte Zeitgeistpublikum hält weniger deshalb einen
Sicherheitsabstand zur Wertkritik, weil es bei solchem esoterischen Zeug nur
Bahnhof verstehen würde, sondern weil es bei aller sprachlichen und
begrifflichen Distanz nur allzu deutlich kapiert, dass hier genau das gesagt
wird, was es garantiert nicht hören mag. Nicht die Distanz zum Alltagsleben
macht Gesellschaftskritik, die diesen Namen verdient, für den verhausschweinten
Massengeschmack ungenießbar, sondern ihre weit reichenden Implikationen für
eben dieses. Das warengesellschaftliche Bewusstsein, positiv und damit
sadomasochistisch auf die herrschende negative Vergesellschaftung fixiert, hält
seinen eigenen erbärmlichen Bezugsrahmen für den menschlichen schlechthin und muss
von daher jedes negative Denken als blanken Nihilismus entschieden ablehnen.

Es wäre illusionär und fatal, angesichts dieser tief
verankerten Aversion auf eine „aufklärerische“ Wirkung des Krisenprozesses zu
setzen und darauf zu vertrauen, radikale Kritik würde schon im Gefolge der sich
bestätigenden Krisenanalyse an Boden gewinnen. Eher schon dürfte das Gegenteil
der Fall sein. Das warengesellschaftliche Bewusstsein kann den
sozial-ökonomischen Krisenprozess schließlich nurals unvorhersehbare soziale
Naturkatastrophe und jede krisentheoretische Diagnose als Weltuntergangsprophetismus
wahrnehmen. Dementsprechend muss es die Verheerungen zunächst leugnen, dann
relativieren, um schließlich in eine Rette-sich-wer-kann-Panik zu verfallen. In
keinem dieser Stadien ist es aufnahmewillig für die grundsätzliche Kritik und
In-Frage-Stellung des warengesellschaftlichen Bezugsrahmens. Dass Kassandra recht
behält, macht sie weder beliebter noch glaubwürdiger; der Spott über abgedrehte
Untergangsphantasien verschwindet im letzten Stadium höchstens, um Mordgelüsten
Platz zu machen.

Wer seine gesamte Fähigkeit zur Autosuggestion einsetzen muss,
um den aufsteigenden Brandgeruch nicht wahrzunehmen, hat aus verständlichen
Gründen wenig übrig für Nörgler, die ihn nacheinander mit folgenden vier
Neuigkeiten beglücken: (1) Du hast es dir ausgerechnet auf einem Elektroherd
bequem gemacht; (2) die Herdplatte, auf der du sitzt, brennt auf höchster
Stufe; (3) der Schwelbrand hat sich gerade bis zu deinen Unterhosen
durchgefressen; (4) er ist streng genommen gar kein Schwelbrand mehr. Keine
noch so schmerzhafte Verbrennung macht das Warensubjekt automatisch für die
gleichzeitige Botschaft empfänglich, es könne auch ein Leben jenseits der
Herdplatte, die ihm die Welt bedeutet, geben.

Die
aktuelle gesellschaftliche Entwicklung ist leider dazu angetan, diese
Einschätzung zu bestätigen. Was den objektiven Krisenprozess betrifft, so
erleben wir gerade eine dramatische Zuspitzung. Die spekulativ hinausgezögerte
Strukturkrise der Warengesellschaft tritt derzeit auch in den Zentren des
kapitalistischen Weltsystems in eine akute Phase. In der jüngeren Vergangenheit
haben Krisis-Autoren mehr als einmal behauptet, das wundersame Zeitalter
des kasinokapitalistischen Reichrechnens und der Prosperitäts-Simulation neige
sich bereits seinem Ende zu. Mittlerweile erscheint diese Aussage eher als
euphemistisch. Bei aller Schwierigkeit, auf Grundlage einer strukturellen
ökonomischen Analyse den kurzfristigen Krisenverlauf richtig einzuschätzen, lässt
sich heute wohl konstatieren, dass der Einsturz des spekulativen
Weltkartenhauses bereits begonnen hat. Die Hoffnungsträger eines vermeintlichen
postfordistischen Akkumulationsschubs in Südostasien sind allesamt schon am
Boden zerstört und werden, zusammen mit den Überresten der anderen emerging markets
von Russland bis Lateinamerika, in den emergency rooms des IWF nur mehr notbeatmet.
Aber auch in der Triade wird man wohl bald wieder kalauern können: Gestern
standen wir noch am Rande des Abgrunds – heute sind wir schon einen Schritt
weiter. Der große Entwertungsschub ist im pazifischen Raum eingeleitet; die
Folgen dürften, trotz möglicher kurzfristiger Verzögerungseffekte, im Laufe des
nächsten Jahres auch in den USA und in der EU auf breiter Front spürbar werden.

Auch
die Verlaufsform, die der Crash nehmen wird, zeichnet sich zumindest in groben
Umrissen bereits ab. Um die bankrotte japanische Kreditmaschine, von der die Weltkonjunktur
abhängt, vor dem unmittelbaren Zusammenbruch zu retten und die rasante
weltweite Talfahrt der Aktienmärkte vorläufig zu stoppen, musste im Oktober
1998 der hochverschuldete japanische Staat die unabsehbaren Verluste der Banken
übernehmen. Das läuft de facto auf die Begleichung der faulen Kredite durch
hemmungslose staatliche Geldschöpfung hinaus. Aus Angst vor dem unvermeidlichen
realwirtschaftlichen Rückschlag reißender Kreditketten schlägt also Japan den
gleichen Weg ein wie Russland unter dem neuen Ministerpräsidenten Primakow. Es
ist wohl nur ein Frage der Zeit, bis der Rest der ehrenwerten G7-Gesellschaft
diesem Vorbild folgend zur Vergesellschaftung der anstehenden
Entwertungsverluste übergeht. Offenbar findet das Revival der 70er Jahre auf
einem Gebiet seine Fortsetzung, von dem man es am allerwenigsten erwartet
hatte. Die „Stagflation“ (also das Nebeneinander von beschleunigter
Geldentwertung und Rezession), die das Ende des fordistischen Booms markierte,
kehrt nach dem kasinokapitalistischen Intermezzo, und durch dieses um ein
Mehrfaches potenziert, wieder. Politische „Regulation“ reduziert sich im Crash
darauf, das Mischungsverhältnis in der Entwertung des (Geld)kapitals und
des Geldmediums zu bestimmen.

Das
Krachen des Finanzüberbaus, das Ende des ewigen spekulations-konjunkturellen Frühlings,
geht nicht zufällig mit einer Veränderung des Zeitgeistklimas einher. Der
Postmodernismus, die Ideologie des Virtuellen, haucht fast zeitgleich mit dem
Absturz des kasinokapitalistischen Traumreichs seine Seele aus. Kaum ein Blatt
mit ein wenig intellektuellem Anspruch verzichtet derzeit auf den
entsprechenden Nachruf. Selbst die biedere Zeit, die in den letzten 50
Jahren – wahrscheinlich aus Prinzip – noch jede Entwicklung verschlafen hat,
verkündet mittlerweile das Ende der Postmoderne. All diese Abgesänge markieren
indes keineswegs eine produktive Ent-Täuschung, sondern lediglich den Wechsel
des vorherrschenden Simulationsmodells. Wurden eben noch mit Begeisterung alle
von der Moderne „erfundenen“ Handlungssubjekte und Prinzipien „dekonstruiert“,
um sich freudig einem amorphen, dem Vorbild des totalen Marktes nachgebildeten
„Diskurs“ überantworten zu können, so kippt jetzt die Stimmung ins Gegenteil. Die
verrotteten Großsubjekte und metaphysischen Prinzipien werden wieder auf die
ideologische Bühne gerollt und sollen bitte schön die Sache wieder ins Lot
bringen.

Selbst Vordenker der Postmoderne wie Derrida entdecken
plötzlich wieder die Unentbehrlichkeit der demokratischen Werte und beweisen
damit nur, wie oberflächlich ihre Kritik geblieben ist und wie wenig sie je
über den Horizont der herrschenden Vergesellschaftung hinausgeblickt haben.
Hätten sie es ernst gemeint mit ihrem Angriff auf den abstrakten
Universalismus, dessen warengesellschaftliche Verortung sie mit ihrem
diskurstheoretischen Zugriff nie begreifen konnten, dann müssten sie jetzt den
freundlichen Applaus der zivilgesellschaftlichen Gemeinde für ihre Rückkehr in
den Heimathafen empört und angewidert zurückweisen. So aber wächst wieder
zusammen, was zusammengehört und nie wirklich getrennt war. Habermasianer und
andere brave Demokraten sind erleichtert, dass es ja doch nicht so gemeint war
mit der „Dekonstruktion“ ihrer geliebten Prinzipien (war halt nur so’ne Idee)
und die Postmodernisten lassen, angesichts der brenzligen sozialen Lage, die
selbst sie (!) mittlerweile wahrgenommen haben, die Finger von der Simulation
radikaler Kritik.

Der
zwischen unaufgearbeitetem Traditionsmarxismus und postmodernistischem Kulturalismus
schlingernde Soziologe
Bourdieu („kulturelles Kapital“) gibt die neue Marschrichtung an:
Die Politik, deren nationalökonomischer Bezugsrahmen doch längst zerschlagen
ist, soll Superman spielen, sich gegen Globalisierungs- und Krisenlogik stemmen
und den entfesselten Markt wieder an die Kette legen. Die soziale Krise wird
dem angeblich bloß ideologisch motivierten neoliberalen Rückzug des Staates
zugeschrieben und die ökonomische dem unkontrollierten Treiben an den Finanzmärkten.
Dementsprechend werden nun die alten etatistischen Rezepte wieder ausgegraben
und populistisch mit einigen gemeingefährlichen, spekulantenhetzerischen
Zutaten angereichert. Dass die Postmoderne die modernen Zwangsprinzipien zu
Spielmarken umgelogen hat, statt sie zu kritisieren, fällt nun auf sie selber
zurück. Das Verabschiedete verabschiedet die voreiligen Verabschieder und kehrt
als Untotes wieder.

Diese ideologische Remobilisierung der
warengesellschaftlichen Politikillusion, durch abermalige Akzentverschiebung
innerhalb der immanent unaufhebbaren Dualität von Markt und Staat, findet
breiten Publikumszuspruch westlich und östlich des Rheins. Nachdem sich
hierzulande der nette Begriff „Politikverdrossenheit“ schon als stehende
Redewendung eingebürgert hatte, erlebten wir plötzlich, nach einen zum
„Jahrhundertwahlkampf“ aufgebauschten Medienspektakel, eine längst ungewohnt
hohe Wahlbeteiligung. Heerscharen von einstigen Skeptikern pilgerten zu den
Urnen, um einen Mann zum Bundeskanzler zu machen, der außer der Macht und dem
Machergestus keine Programm hat und gerade deshalb eine eindeutig
Doppelbotschaft verkörpert: Wir blasen den Staub aus 16 Jahren Kohlregierung
weg, damit alles so bleibt, wie es ist.

Es hat sicherlich eine gewisse Logik, wenn die
Rückwendung zur Politik zunächst einmal den klassischen Parteien des Staates,
nämlich den sozialdemokratischen, zugute kommt. Doch selbstverständlich hat
diese Verschiebung im Spiel der politischen Kräfte nichts mit einem „Linksruck“
im Sinne der 70er-Jahre-Reformära gemein. Dass Tony Blair und nun Gerhard
Schröder in dem Maße mehrheitsfähig wurden, wie sie sich auf eine neoliberale
Wirtschafts- und Standortpolitik einschworen, ist kein Schönheitsfehler,
sondern zeigt nur an, für welche Funktion sie stehen. Sie sind angetreten, das
Primat der Ökonomie, an dem keiner mehr zu rütteln wagt, auch in Krisenzeiten
durchzusetzen, indem sie das Arbeits-Lager in toto zusammenfassen und generalmobilmachen.
Die Marschrichtung ist so eindeutig, dass selbst Konservative, die vor Jahren
noch den Sieg einer rot-grünen Koalition mit dem Untergang des Abendlandes
identifizierten, heute nichts mehr gegen das Trio infernale
Schröder-Fischer-Lafontaine einzuwenden haben. Sogar die FAZ (vom 30.9.98) gab
rasch Entwarnung: „Früher haben die Akteure und ihre Anhänger, die sich heute
anschicken, eine neue Regierung zu bilden, gerne von einem rot-grünen Projekt
geredet. Nichts davon ist übrig geblieben… In der Wirtschaftspolitik kündigt
Schröder mit seinen Stabilitätsbedingungen an, dass für ihn die Zeiten vorbei
sind, in denen darüber gestritten werden konnte, was Vorrang habe: die Ökologie
oder die Ökonomie. Der künftige Kanzler verkündet ein Schluss mit lustig“

Wenn
übereifrige „Realisten“ meinen, die Bündnis-Grünen vor möglichen RestIllusionen
warnen zu müssen, dann rennen sie damit nur offene Türen ein. Die rot-grüne
Fangemeinde hat das anti-utopistische Dogma, das Michael Winter (Süddeutsche
Zeitung
vom 30.9.98) ihr zum Zwecke der endgültigen Liquidierung jeder
gesellschaftskritischen Anwandlung ins Stammbuch schreiben will, längst
verinnerlicht: „Wir wissen […], dass niemand auf die Zukunft zählen kann, dass
alle Philosophien veralten und dass keine Form der Gesellschaft, wie ideal wir
sie uns auch immer denken mögen, Milch, Honig und Gerechtigkeit für alle
haben wird. Unter solchen Voraussetzungen ist der Glaube an die Möglichkeit
eines neuen Anfangs Wahnwitz.“

Hier spricht einer aus, was alle längst wissen, aber doch
nur allzu gerne verdrängen möchten: Die Warengesellschaft mutiert auch
hierzulande zu einem sozialen Apartheidsregime, ganz gleich, welches
Politspektakel auf der Bühne der medialen Inszenierung auch aufgeführt werden
mag. Doch gerade die katastrophische Zuspitzung der Systemzwänge weckt
infantile Regressionswünsche und nährt die nostalgische Stimmung eines kurzen, faschingshaften
70er-Jahre-Revivals. Nicht zufällig ist es die in jenen Jahren politisch
sozialisierte Generation, die nun an die Macht gelangt. Ihre Aufgabe wird es
sein, die zunehmend brutalere Krisenverwaltung mit einer sozial-ökologischen
Rhetorik für ihre Klientel der Neuen Mitte materiell und moralisch annehmbarer
zu machen; eine Rhetorik, die deshalb so substanzlos sein darf, weil niemand
mehr ernsthaft daran glaubt, aber viele ein wenig glauben wollen, sie könnten
daran glauben.

Ob es der rot-grünen Regierung gelingt, diese Simulation
der Simulation von Politik in einer für das breite Publikum einigermaßen
akzeptablen Form auf die Bühne zu bringen und potentiellen Protest gegen den
voraussehbaren sozialen Aderlass dadurch zu entschärfen, bleibt natürlich
offen. Versuchen wird sie es jedenfalls müssen. Und es ist natürlich kein
Zufall, dass das vielbeschworene „Bündnis für Arbeit“ eine zentrale Rolle dabei
spielt. Denn das unaufhaltsame Abschmelzen der Arbeitssubstanz untergräbt nicht
nur die ökonomischen Grundlagen des warenproduzierenden Systems, sondern rührt
gleichzeitig auch an sein innerstes Selbstverständnis und an die Identität des
bürgerlichen Subjekts. Gerade in ihrer manifesten Krise gewinnt die Arbeit
deshalb als gemeinsamer ideologischer und politik-inszenatorischer Bezugspunkt
aller Parteien, Strömungen und Interessengruppen geradezu schicksalhafte
Bedeutung. Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit sei der „Schlüssel zur Lösung
aller gesellschaftlicher Probleme“, lautet die als Versprechen verpackte
Drohung des gesamtdemokratischen Arbeits-Lagers an all jene, die Arbeitsplätze
nicht für die „schönsten Plätze in Deutschland“ (sozialdemokratisches
Wahlplakat) halten.

Radikale
Gesellschaftskritik würde jämmerlich versagen, wollte sie angesichts dieser
Konstellation nicht versuchen, offensiv in die öffentliche Debatte
einzugreifen. Wenn sie mehr sein will als eine intellektuell anspruchsvolle l’art-pour-l’art
Übung, dann steht die Wertkritik gerade heute vor der Aufgabe, die für ihre
Position konstitutive Kritik der Arbeit über die Sphäre der Theorie im engeren
Sinne hinaus zu vermitteln. Es versteht sich von selber, dass Vermittlung in
diesem Zusammenhang nicht in irgendeinem diplomatischen Sinne verstanden werden
kann, etwa als höfliche und formgerechte Beteiligung an der laufenden
Gespensterdebatte über simulative „Lösungen“ der Krise der Arbeit. Dem sich
darin ausdrückenden regressiven Bedürfnis, den fundamentalen Charakter und den
barbarischen Gehalt der Krise zu verdrängen und die Warengesellschaft um jeden
Preis und mit aller Gewalt fortzuschreiben, dürfen keine Zugeständnisse gemacht
werden. In diesem Sinne muss Wertkritik bewusst unpopulär sein und bleiben. Nur
dann kann es ihr vielleicht gelingen, zu einem Bezugspunkt für den durchaus
auch vorhandenen Unmut, Ekel und Verweigerungswillen eines bisher
marginalisierten Protestpotentials zu werden, das die Herrschaft von Ökonomie
und Arbeit und deren inszenatorische Verlängerung als Terror empfindet.

Eine
solche Vermittlung von radikaler Kritik, die nur sehr bedingt in der
Theoriezeitschrift
Krisis geleistet werden
kann und sich daher primär anderer Medien bedienen muss, macht selbstredend
eine Fortführung und Vertiefung der theoretischen

Auseinandersetzung
mit den herrschenden Verhältnissen keinesfalls überflüssig. Dazu gehört auch
und nicht zuletzt die Aufarbeitung der Postmoderne, die nicht dadurch bereits
erledigt und abgehakt ist, dass allenthalben Nachrufe auf sie erscheinen; umso
mehr, als diese größtenteils nicht den Willen zu einer aufhebenden Kritik
erkennen lassen, sondern bloß ein nochmaliges Recycling der ausgeleierten
Prinzipien der Aufklärung intendieren und insofern auch keinesfalls über ihren
Gegenstand hinweg sind, sondern nur eine weitere Schleife der zunehmend öden
Selbstbespiegelungsspirale der Moderne einleiten.

Die
Kritik der Postmoderne als Zeitgeisterscheinung und als theoretischer Reflex
der auslaufenden kasinokapitalistischen Simulationsperiode wird uns also noch
eine Weile beschäftigen müssen.
Ihr ist
auch der Schwerpunkt dieser Krisis-Ausgabe gewidmet, der durch den
Artikel
Die Verwilderung des Patriarchats von Roswitha Scholz eingeleitet wird. Die Autorin analysiert den Zusammenhang zwischen den mit
Neoliberalismus und Globalisierung einhergehenden sozialökonomischen
Veränderungen und dem Geschlechterverhältnis in den 80er und 90er Jahren. Im
Gegensatz zu Positionen, die das Ende des Patriarchats gekommen sehen, zeigt
sie, dass dieses keinesfalls aufgehoben, sondern viel eher in eine Phase der
Verwilderung eingetreten ist. Den neuen gesellschaftlichen Anforderungen
entsprechend bilden sich Flexi-Zwangsidentitäten heraus, die sich für Frauen
und Männer jeweils anders darstellen, also keinesfalls geschlechtsneutral sind.
Ihre Thesen entwickelt Scholz in der Auseinandersetzung mit prominenten
feministischen Theorieansätzen und Handlungskonzepten, die auf
unterschiedliche, ihrer Herkunft und Orientierung entsprechende Weise die
schlechte postmoderne Realität affirmieren oder verdrängen.

Mit Dekonstruktion als
Gesellschaftskritik
legt Moishe Postone eine ausführliche Besprechung und Kritik von J. Derridas Marx Gespenster vor. Postone, der eine der KrisisPosition in vieler Hinsicht eng verwandte Interpretation
von Wertkritik vertritt, referiert zunächst die zentralen Aussagen des Buches,
das den Versuch einer dekonstruktivistischen Aneignung der Marxschen Theorie
darstellt. Anschließend zeigt er, dass dieses Unternehmen im Wesentlichen misslingt,
weil Derrida Marx nur durch die Brille des orthodoxen Marxismus wahrnimmt und
deshalb den heute noch gültigen Kern seiner Kritik verfehlt. Derrida
unterstellt Marx einen unhistorischen, „präsentistischen“ Standpunkt und eine
teleologisch-affirmative Konzeption von geschichtlicher Dynamik. Er missversteht
völlig den historisch-spezifischen und selbstreflexiven Charakter der Marxschen
Kritik, die darauf zielt, die Möglichkeiten einer Aufhebung der verdinglichten
gesellschaftlichen Verhältnisse im geschichtlich Gewordenen sichtbar zu machen.
Demgegenüber fällt Derrida in den klassischen philosophischen Dualismus von
Geschichte (Notwendigkeit) und Ereignis (Kontingenz) zurück. Weder seine eigene
Kritik an der „neuen Weltordnung“ noch seinen emanzipatorischen Anspruch kann
er so auf eine theoretisch befriedigende Weise begründen. Postones Artikel
erschien zuerst in der US-amerikanischen Zeitschrift History and Theory 3/98.

Ein
sehr grundlegender Beitrag zur Kritik der poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen
Theorie ist
Robert Böschs zweiteilige Auseinandersetzung mit J. Lacan Über eine Theorie des
Mangels
. Der
erste Teil dieses Textes (der zweite Teil erscheint in der nächsten Krisis-Ausgabe)
setzt sich ausführlich mit den theoretischen und insbesondere philosophischen
Grundlagen und Implikationen der Lacanschen Psychoanalyse auseinander. Bösch
zeigt, dass Lacan keinesfalls zu Freud „zurückkehrt“, wie er selbst von sich
behauptet, sondern in erster Linie Heidegger in eine psychoanalytische Sprache
übersetzt. Sein Angriff auf die Subjektillusion, der den Kern seines
theoretischen und therapeutischen Konzepts ausmacht, ist daher auch alles
andere als emanzipatorisch zu verstehen. Vielmehr reproduziert er den
Heideggerschen Gestus der Einwilligung ins schlecht Faktische als „Eigentlichkeit“
zielt also auf das Sich-Abfinden mit der Ohnmacht gegenüber den vorausgesetzten
(und nicht thematisierten) warengesellschaftlichen Verhältnissen. Die inneren
Widersprüche des Freudschen Ansatzes löst Lacan einseitig und unhistorisch auf
und beraubt diesen so seines potentiell über die bürgerlichen Verhältnisse
hinausweisenden Gehalts.

Dem
Schwerpunkt zur Kritik der Postmoderne vorangestellt sind zwei Beiträge von
Claus Peter Ortlieb
und Ernst Lohoff. Der Artikel Bewusstlose Objektivität beschäftigt sich mit einem Problemfeld, das in der
bisherigen theoretischen Arbeit der Krisis kaum eine Rolle gespielt hat.
Während Erkenntniskritik in unserer bisherigen Diskussion immer nur auf das Alltagsbewußtsein
einerseits und auf das geisteswissenschaftliche Denken andererseits bezogen
wurde, gilt Ortliebs Augenmerk den Naturwissenschaften. Sein Beitrag widerlegt
die naive, dennoch gerade unter Sozialwissenschaftlern weit verbreitete
Vorstellung, bei mathematisierbarer Erkenntnis handle es sich um objektives,
empirisch gesättigtes und wertfreies Wissen. Stattdessen kreist er die
warenformspezifischen Voraussetzungen dieser Erkenntnisweise näher ein.

In
seinem Aufsatz
Zur Dialektik von Mangel und Überfluß versucht Ernst Lohoff die Kritik an der kapitalistischen Reichtumsvorstellung
begrifflich-historisch zu fundieren. Er rekurriert dabei auf den
Knappheitsbegriff der Volkswirtschaftslehre, um ihn sogleich gegen diese selbst
zu wenden. Während die Ökonomen „Knappheit“ als Naturbedingung ontologisieren,
dechiffriert Lohoff sie als das paradoxe Formprinzip einer auf dem Wert
beruhenden Gesellschaft. Diese kann Reichtum nur als knappen Reichtum erzeugen.
Reichtum hat in der Ware also verrückterweise sein eigenes Gegenteil zum
Inhalt.

***

Anzumerken
bleibt noch ein Mangel dieser Krisis-Ausgabe: Der zweite Teil der Polemik
gegen den linken Postmodernismus und seine kulturalistischen Illusionen
Weinkenner aller Länder, vereinigt euch! von Robert Kurz hat leider keinen
Platz mehr gefunden. Er ist im Laufe des Schreibens so sehr angewachsen, dass
er das Fassungsvermögen dieser ohnehin schon als Doppelnummer konzipierten Krisis
hoffnungslos gesprengt hätte. Der komplette Text wird daher nun im Frühjahr
1999 voraussichtlich in der Berliner „Edition Tiamat“ als Buch erscheinen.

Eine
Anreicherung der
Krisis stellt dagegen die Rubrik Rezensionen, Kommentare und Glossen dar, mit der wir
wie angekündigt in dieser Ausgabe beginnen. Sie erweitert den Rahmen unserer
Zeitschrift für andere Formen publizistischer und theoretischer
Auseinandersetzung als den „schwerfälligen“ Grundsatzartikel. Das können
Buchbesprechungen, Kommentierungen aktueller gesellschaftlicher Ereignisse und
Debatten, thesenartige Anmerkungen zu Krisis-Artikeln oder zu
Gegenständen der wertkritischen Diskussion, Polemiken gegen den Zeitgeist und
dergleichen mehr sein. Dieses Mal enthält die neue Rubrik vier Texte: Den
Artikel
Brothers
in Arms
von
Norbert Trenkle, ein Beitrag zur sehr
heftig geführten Diskussion über den Postmodernismus in der Wochenzeitung Jungle
World
, der dort nur in einer gekürzten Version veröffentlicht wurde; zwei
Rezensionen von
Roger Behrens über das neueste Buch von Richard Sennett Der flexible Mensch und über die
Neuauflage von Peter Bulthaups
Zur
gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften
; und schließlich
einige Thesen zur Medienkritik von
Franz Schandl mit dem Titel Information und Entformation.

Ernst Lohoff und Norbert Trenkle für
die Redaktion der Krisis

Aus dem Editorial der krisis 21/22,
1998

{Dies ist die erste Hälfte der „Kleinen Geschichte des
wertkritischen Theoriebildungsprozesses“ (Version 2.0 vom 13. Fenruari 2005),
die sozusagen ein „work in progress“ ist. Sie wird fortlaufend (auch
Fehler im bereits veröffentlichten Teil korrigierend) weitergeführt um die
Abschnitte:

Das Jahr 1999ein Jahr ohne
krisisaber
wegweisenden Publikationen
“ – „2000 – 2003: An der Aufklärungskritik und dem neuen Weltordnungskrieg
scheiden sich die Geister
“ – „2004: Der „coup“ und die Spaltung derkrisis“ – „Ausblick: Mit „Exit“ geht’s weiter„]