Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen im Neuen Deutschland
am 15.10.2004

Robert Kurz

EINE WELT OHNE GELD

Das utopische Denken hat immer wieder mit der Idee gespielt, das Geld abzuschaffen. Aber dieses Denken griff regelmäßig zu kurz, weil das Geld nur die Oberfläche einer bestimmten gesellschaftlichen Form bildet. Das Geld ist, so Marx, die Erscheinung eines gesellschaftlichen Wesens, nämlich der "abstrakten Arbeit" und des Werts (der Verwertung). Wer aber bloß die oberflächliche Erscheinung abschaffen will, ohne das zu Grunde liegende Wesen anzutasten, der stiftet eher Unheil als Befreiung. Wenn nämlich in einem System der betriebswirtschaftlichen Warenproduktion dem Geld seine regulative Funktion genommen oder es gar ganz abgeschafft wird, dann kann an die Stelle der Geldfunktion nur eine totalitäre Bürokratie treten. In der jüngeren Geschichte hat das Regime von Pol Pot in dieser Hinsicht die grausigsten Konsequenzen verwirklicht; aber auch die sozialistischen und staatskapitalistischen Entwicklungsregimes hatten Elemente davon. Andere Formen der Abschaffung des Geldes, wie etwa die Tauschringe, müssen nicht nur auf alle Vorteile eines hohen Grades von Vergesellschaftung verzichten; sie können auch nur Surrogate des Geldes hervorbringen (Leistungszettel etc.) und müssen letztlich scheitern, wie es gerade wieder in Argentinien geschehen ist.

Im großen und ganzen scheint es so, als wäre die utopische Energie ohnehin erloschen. Unter der weltumspannenden Herrschaft des neoliberalen ökonomischen Radikalismus ist die Geldsubjektivität so unangefochten wie nie zuvor, bis hinein in die Elendsquartiere. Aber paradoxerweise beginnt der Kapitalismus nun selber in gewisser Weise das Geld als allgemeine Verkehrsform abzuschaffen. Nicht etwa in jenem oberflächlichen technologischen Sinne, daß an die Stelle des Papiergelds der geisterhafte elektronische Buchungsimpuls und die Internet-Geldabwicklung treten ("electronic banking"), wie früher das Papiergeld selber an die Stelle des Edelmetalls getreten war. Sondern in dem Sinne, daß immer mehr Menschen in der Krise der 3. industriellen Revolution aus der alltäglichen Geldwirtschaft großenteils herausfallen. In den abgekoppelten Weltregionen schrumpft der Geldkreislauf dramatisch. So kann es einem im Landesinneren von Brasilien passieren, daß schon das halbe Dorf bemüht werden muß, damit der Krämer einen Schein in der Größenordnung von umgerechnet 20 Euro wechseln kann. Die Hälfte der erwachsenen Südafrikaner hat kein Bankkonto. 2,8 Milliarden Menschen, nahezu die Hälfte der Menschheit, haben pro Tag weniger als 2 Dollar zur Verfügung.

Diese Tendenz ist längst in den Westen vorgedrungen. In den USA fallen immer mehr Vollzeitarbeiter unter die Armutsgrenze, während gleichzeitig fast schon als verdächtiges Subjekt gilt, wer statt mit Kreditkarte mit Dollarscheinen oder gar Münzen bezahlt. Und hierzulande wollen bekanntlich die Banken Sozialhilfeempfängern nur ungern ein Konto geben. In vielen westlichen Ländern hat sich eine neue Massenerscheinung ausgebreitet: Wer kein Konto hat, hat meistens auch keine Krankenversicherung, zunehmend auch kein Telefon mehr, vom Internet-Anschluß ganz zu schweigen. Bei den Billig-Discountern zählen Menschen ihre "Einkäufe" genau in Cent-Beträgen ab. Mitten in der scheinbar totalen elektronisierten Geldwirtschaft werden immer größere Teile der Gesellschaft "entmonetarisiert". Den gigantischen Verschuldungs-Blasen steht eine rasant wachsende Pfennigwirtschaft gegenüber.

Diese Seite der Krise des Geldes, die in Wirklichkeit eine Krise der "abstrakten Arbeit" ist, wird in der öffentlichen Debatte eher verdrängt. Aber die kapitalistische Krisenverwaltung reagiert auf die Ausdünnung des allgemeinen Geldverkehrs nicht viel anders als die staatssozialistischen Regimes und die totalitären Utopien, nämlich mit bürokratischer Schurigelung der unfreiwillig "entmonetarisierten" Menschen. Gleichzeitig werden in einem Klima der Geldangst rassistische und antisemitische Krisenideologien eines "guten, ehrlichen Geldes" für eine "gute, ehrliche Arbeit" ausgebrütet, statt zur emanzipatorischen Systemkritik überzugehen. Wer hätte das gedacht: Der Kapitalismus beginnt selber negativ-utopisch zu werden.