Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


2000 - 2003: An der Aufklärungskritik und dem neuen Weltordnungskrieg scheiden sich die Geister

 

Im Editorial der krisis 23, 2000, war u. a. zu lesen: "Schließlich weisen wir unsere Leserinnen und Leser noch einmal ganz besonders auf die vom "Kritischen Kreis" in Wien herausgegebene Vierteljahreszeitschrift "Streifzüge" hin, die interessante Beiträge aus einem breiten Spektrum von Wertkritik und kontroverse Debatten veröffentlicht." Im Folgenden einige Streifzüge zu den "Streifzügen":

 

"Alles Denken ... ist in seinen Formen durch die Gesellschaft determiniert, in der es stattfindet"

aus: "Streifzüge" 3/2000

 

Gesellschaftskritik als Erkenntniskritik

Anmerkungen zu der Frage, warum Kritik der Theorie bedarf

und wo deren Grenzen liegen

 

von Claus Peter Ortlieb

 

 

 

 

An die Wurzeln gehende Gesellschaftskritik sieht sich wegen ihrer extremen Minderheitsposition heute schnell in der Situation eines Menschen, der in eine Irrenanstalt geraten ist, deren Insassen erkennbar alle dem gleichen Wahn verfallen sind. Jeder Versuch, die Lage zu klären, führt unweigerlich dazu, selbst für verrückt gehalten zu werden. Normal ist schließlich immer die Mehrheit.

 

Der herrschende Wahn hält es für die natürlichste Sache der Welt, dass außerhalb der eigenen vier Wände alles in Geld auszudrücken und dieses gefälligst durch Arbeit zu verdienen sei. Wer daran Zweifel äußert, gilt zumindest als verschroben, Wertkritik bestenfalls als gut gemeinte Privatmarotte neben vielen anderen, die diese Gesellschaft hervorbringt.

 

Schon um der eigenen Selbstbehauptung willen, aber auch, um auf das herrschende Bewusstsein Einfluss nehmen und nicht so ohne weiteres als Spinner abgetan werden zu können, ist daher zu verdeutlichen, woher radikale Gesellschaftskritik ihre Urteile nimmt und worin sich "kritisches Denken" von "bürgerlichem Denken" unterscheidet. Davon handeln die folgenden, an Marx und die Marx-Interpretation von Moishe Postone 1 anknüpfenden Ausführungen.

 

Ihre schlichte Botschaft lautet: Alles Denken (ohne Ausnahme) ist in seinen Formen durch die Gesellschaft determiniert, in der es stattfindet. 2 Sofern sie sich auf frühere oder fremde, z. B. mittelalterliche, indianische oder ostasiatische Kulturen bezieht, ist diese Erkenntnis in den Kulturwissenschaften heute eine Selbstverständlichkeit. Aus noch aufzuhellenden Gründen liegt es dem bürgerlichen Denken jedoch fern, sie auch auf die eigene Gesellschaft anzuwenden. Tut man das, so folgt: Unser Denken, ob kritisch oder nicht, ist in seinen Formen durch die Warengesellschaft bestimmt. Die Besonderheit kritischen Denkens besteht nun darin, dass dieser Umstand mitbedacht, das Denken also stets auf die Warengesellschaft und ihre spezifischen Kategorien (Ware, Wert und nach neueren Erkenntnissen Arbeit) in kritischer Weise rückbezogen ist.

 

Es geht demnach um die scharfe Zurückweisung aller Versuche, mit ontologischen, einer angeblichen "Seinsbestimmung des Menschen" zugehörigen Begriffen zu operieren. An dieser Stelle ist eine Abgrenzung zur theoretischen Postmoderne erforderlich, die teilweise ähnlich verstanden wird, allerdings zu Unrecht: Via Sprachkritik gelingt es ihr zwar, die Selbstbegründungen des ontologischen Aufklärungsdenkens zu zerpflücken, aber daraus zieht sie die falschen Schlüsse, weil sie begriffliches Denken und Aufklärungsdenken nicht auseinander hält. Was ihr fehlt, ist gerade der Bezug auf die spezifische Form der Gesellschaft, in der gesprochen und gedacht wird, und deshalb trifft auch sie der Vorwurf der Ontologisierung.

 

Die hier vorgenommene Unterscheidung von bürgerlichem und kritischem Denken hat für jede (in diesem Sinne) kritische Gesellschaftstheorie Konsequenzen, die nicht nur erkenntnistheoretischer Art sind. Sie betreffen insbesondere die Frage, wo die Grenzen der Theorie liegen: Diese darf sich weder zu einer metaphysischen Interpretation der menschlichen Geschichte hinreißen lassen, indem sie ihr eine gesetzesförmige Dynamik unterstellt, die nur der bürgerlichen Gesellschaft eigen ist, noch ist sie in der Lage, postkapitalistische Gesellschaftsformen positiv zu bestimmen.

 

 

Politische Ökonomie ...

 

Das Marx'sche Hauptwerk lautet im Untertitel bekanntlich "Kritik der politischen Ökonomie", also Kritik einer bzw. der bürgerlichen Wissenschaft und erhebt damit einen erkenntniskritischen Anspruch. Marx erfüllt ihn, indem er zu zeigen versucht, dass die von ihm als solche erkannten Kategorien der kapitalistischen Tiefenstruktur (Ware, Wert, Arbeit, Kapital) sich in Oberflächenphänomenen (Preis, Lohn, Profit, Rente usw.) ausdrücken, die der Tiefenstruktur zu widersprechen scheinen und sie verschleiern, sodass andere Theorien, die an die vielfältigen Erscheinungsformen unvermittelt anknüpfen, ebenso wie das herrschende Alltagsbewusstsein das gesellschaftliche Verhältnis notwendig mystifizieren müssen, etwa so:

"Die Produkte der Erde - alles, was von ihrer Oberfläche durch die vereinte Anwendung von Arbeit, Maschinerie und Kapital gewonnen wird - werden unter drei Klassen der Gesellschaft verteilt, nämlich die Eigentümer des Bodens, die Eigentümer des Vermögens oder Kapitals, das zu seiner Bebauung notwendig ist, und die Arbeiter, durch deren Tätigkeit er bebaut wird. Die Anteile am Gesamtprodukt der Erde, die unter den Namen Rente, Profit und Lohn jeder dieser Klassen zufallen, werden jedoch in den verschiedenen Entwicklungsstufen der Gesellschaft sehr unterschiedlich sein ... Das Hauptproblem der Politischen Ökonomie besteht im Auffinden der Gesetze, welche diese Verteilung bestimmen." 3

 

Zu den grundlegenden Missverständnissen des Arbeiterbewegungs-Marxismus gehört die Auffassung, Marx habe sich dieser im Vorwort von Ricardos "Principles of Political Economy and Taxation" formulierten Fragestellung angenommen und nur eine bessere Antwort gefunden als der Fragesteller. In Ricardos Problemformulierung stecken jedoch bereits implizite Vorannahmen, die sich Marx keineswegs zu Eigen gemacht hat, wohl aber der Marxismus. Das betrifft insbesondere die Vorstellung von Arbeit und Wohlstand als transhistorischen, von der jeweiligen Gesellschaftsform unabhängig zu fassenden Begriffen. Als von der Gesellschaft abhängig und daher auch theoretisch klärungsbedürftig bleibt dann nur noch die Verteilung des durch Arbeit geschaffenen Wohlstands. Der Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft ist demgemäß ein Klassenwiderspruch, nämlich der zwischen arbeitender und Kapitalistenklasse, zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung (des Mehrwerts) und der daraus resultierenden Verteilung der Produkte. Als Lösung dieses Widerspruchs bietet es sich an, die Verteilung in die Hände des Staates als Vertreter des Allgemeinwohls zu legen, und schon ist der Sozialismus perfekt und der Übergang zum Kommunismus nur noch eine Frage der technischen Entwicklung.

 

Obwohl die politische Ökonomie auch 180 Jahre nach Ricardo über den bereits von ihm erreichten Stand nicht wesentlich hinausgekommen ist, zählen ihre linkskeynesianischen und neoricardianischen Vertreter heute immerhin noch zum reflektierteren Flügel der akademischen Volkswirtschaftslehre. Dazu gehört allerdings nicht viel angesichts der Verfallsform bürgerlicher Wissenschaft, die sich mit der "Neoklassik" als herrschender Lehre breit gemacht hat. Mit sich selbst genügenden mathematischen Modellen befasst, die bereits mit den Oberflächenerscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft kaum noch zu vermitteln sind, hat die auf "Ökonomik" reduzierte VWL inzwischen auch Ricardos Fragestellung eskamotiert und weiß nicht mehr zu sagen, wovon sie eigentlich redet und welche Probleme sie untersucht. 4 Darauf will ich hier aber nicht weiter eingehen.

 

... und ihre Kritik

 

Kritik der politischen Ökonomie ist etwas anderes als politische Ökonomie. Der Unterschied im Ansatz lässt sich zunächst einmal dadurch bezeichnen, dass alle auch von der politischen Ökonomie verwendeten Begriffe anders als in dieser als für die kapitalistische Gesellschaft spezifische kenntlich gemacht werden. Warenproduzierende Arbeit ist ebenso wenig transhistorisch wie ihre Produkte, die Waren. Dasselbe gilt für die kapitalistische Form des Reichtums, der sich im Wert ausdrückt. Alle diese Kategorien sind durch einen widersprüchlichen Doppelcharakter gekennzeichnet, durch den eine neue Art versachlichter gesellschaftlicher Beziehungen konstituiert und zugleich verschleiert werden:

"In der Warengesellschaft sind die Vergegenständlichungen von jemandes Arbeit die Mittel, um Güter zu erwerben, die andere produziert haben; jemand arbeitet, um an andere Produkte zu gelangen. Sein Produkt dient dann einem anderen als ein Gut, als Gebrauchswert. In diesem Sinne wird ein Produkt zur Ware: Es ist gleichzeitig ein Gebrauchswert für den anderen und ein Tauschmittel für den Produzenten. Dies bedeutet, dass jemandes Arbeit eine doppelte Funktion hat: Auf der einen Seite ist sie eine besondere Arbeit, die bestimmte Güter für andere produziert, doch auf der anderen Seite dient die Arbeit, unabhängig von ihrem besonderen Inhalt, dem Produzenten als das Mittel, um die Produkte anderer zu erwerben. Arbeit wird, in anderen Worten, zu einem eigenen Mittel des Erwerbs von Gütern in der Warengesellschaft. Die Besonderheit der Arbeit der Produzenten wird von den Produkten getrennt, die sie durch ihre Arbeit erwerben. Es gibt keinerlei inneren Zusammenhang zwischen der besonderen Art der verausgabten Arbeit und der besonderen Art der Produkte, die mit dieser Arbeit erworben werden.

 

Das ist völlig anders als in Gesellschaften, in denen Warenproduktion und Tausch nicht vorherrschen, in denen die gesellschaftliche Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte durch eine große Mannigfaltigkeit von Sitten, traditionellen Bindungen, offener Machtausübung oder - als Denkmöglichkeit - bewussten Entscheidungen bestimmt ist. In nichtkapitalistischen Gesellschaften wird die Arbeit auf der Basis offenkundiger gesellschaftlicher Beziehungen verteilt. In einer Gesellschaft jedoch, die durch die universelle Gültigkeit der Warenform gekennzeichnet ist, erwirbt ein Einzelner die von anderen produzierten Güter nicht auf dem Wege offener gesellschaftlicher Beziehungen. Stattdessen ersetzt die Arbeit selbst - entweder direkt oder ausgedrückt durch ihre Produkte - diese Beziehungen, indem sie als ein "objektives" Mittel dient, mit dem die Produkte anderer erworben werden. Die Arbeit selbst an Stelleoffener gesellschaftlicher Beziehungen konstituiert die gesellschaftliche Vermittlung. Damit tritt eine neue Form gegenseitiger Abhängigkeit auf: Niemand konsumiert, was er produziert, doch eigene Arbeit oder Arbeitsprodukte fungieren als notwendige Mittel, die Produkte anderer zu bekommen. Indem sie in dieser Weise als Mittel dienen, treten die Arbeit und ihre Produkte tatsächlich an die Stelle der manifesten gesellschaftlichen Beziehungen. In der Folge ist auch die Arbeit selbst nicht mehr durch offen erkennbare gesellschaftliche Beziehungen vermittelt, sondern durch sich selbst und ihre Vergegenständlichungen, sie wird selbstvermittelnd. Diese Form der gesellschaftlichen Vermittlung ist einzigartig: im Rahmen des Marx'schen Ansatzes ist sie ausreichend, die kapitalistische Gesellschaft von allen anderen existierenden Formen gesellschaftlichen Lebens zu unterscheiden, sodass diese im Vergleich zu jener als in ihren Merkmalen übereinstimmend gesehen werden können - sie können als "nichtkapitalistisch" betrachtet werden, worin auch immer sie sich sonst voneinander unterscheiden mögen." 5

 

Die spezifisch kapitalistische Form gesellschaftlicher Beziehungen, die als gesellschaftliche gar nicht mehr erfahren werden, hat nun vielfältige und widersprüchliche Konsequenzen für die daraus resultierenden Denkformen: Es entsteht eine scheinbare Distanz zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, die jenen erst als Einzelnen, als Subjekt konstituiert und zugleich die abstrakte Gleichheit der Subjekte als Warenproduzenten und -besitzer herstellt, damit aber auch objektive, abstrakte Denkformen, die allen Subjekten gemeinsam sind und die Theoriebildung erst ermöglichen. 6

 

In dieser Weise auf einem Schein beruhend, ist bürgerliches Denken von Anfang an mit einem "Geburtsfehler" behaftet, der es die eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse mystifizieren lässt: "Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. ... Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist." 7

 

Davon erfasst ist nicht nur das Alltagsbewusstsein, sondern auch die bürgerliche Wissenschaft in ihrer höchst entwickelten Gestalt: "Die späte wissenschaftliche Entdeckung, dass die Arbeitsprodukte, soweit sie Werte, bloß sachliche Ausdrücke der in ihrer Produktion verausgabten menschlichen Arbeit sind, macht Epoche in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, aber verscheucht keineswegs den gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen Charaktere der Arbeit. Was nur für diese besondre Produktionsform, die Warenproduktion, gültig ist, dass nämlich der spezifisch gesellschaftliche Charakter der voneinander unabhängigen Privatarbeiten in ihrer Gleichheit als menschliche Arbeit besteht und die Form des Wertcharakters der Arbeitsprodukte annimmt, erscheint, vor wie nach jener Entdeckung, den in den Verhältnissen der Warenproduktion Befangenen ebenso endgültig, als dass die wissenschaftliche Zersetzung der Luft in ihre Elemente die Luftform als eine physikalische Körperform fortbestehen lässt." 8

 

Kritik der politischen Ökonomie ist nun ebenfalls abstrakte Theorie, bewegt sich also in den Formen bürgerlichen Denkens. Indem sie aber diese Denkformen selbst zu ihrem Gegenstand macht, ihre Genese erhellt und sie ebenso wie die ihr zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse als spezifisch für die eine besondere Gesellschaftsform kenntlich macht, geht sie über bürgerliches Denken hinaus. Dessen Geburtsfehler ist damit zwar nicht behoben, doch werden immerhin die Fallen erkennbar, in denen es sich immer wieder verfangen muss, wovor natürlich auch seine Kritiker keineswegs gefeit sind.

 

So aber wird überhaupt erst eine Bedingung erfüllt, die notwendig ist, um über die bestehende Gesellschaftsform hinaus (nicht von ihr aus zurück) zu gehen, was im obigen Postone-Zitat beispielhaft verdeutlicht wird: Damit es auch nur denkmöglich wird, die Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte durch bewusste Entscheidungen zu organisieren, müssen einerseits die festen und unveränderlichen persönlichen Beziehungen aufgelöst, muss aber andererseits der Schleier gelüftet sein, der in der Warengesellschaft die versachlichten Beziehungen als gesellschaftliche nicht mehr erkennen lässt.

 

In der hier gebotenen Kürze lässt sich eine Kritik der politischen Ökonomie natürlich nicht umfassend darstellen. Insbesondere dürfte aufgefallen sein, dass die Kategorie des Kapitals, des sich selbst verwertenden Werts noch gar nicht vorgekommen ist, weil sie für die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen politischer Ökonomie und ihrer Kritik nicht benötigt wird. Es sollte allerdings klar sein, dass die vorausgesetzte universelle Gültigkeit der Warenform erst in einer voll entwickelten kapitalistischen Gesellschaft erreicht ist, in der auch die Arbeitskraft zur Ware und ihr Verkauf zur vorherrschenden Reproduktionsform geworden ist.

 

Der dargestellte Unterschied im Ansatz zwischen bürgerlicher Wissenschaft (politische Ökonomie) und kritischer Gesellschaftstheorie (Kritik derselben) muss an dieser Stelle für den Versuch ausreichen, den erkenntnistheoretischen Rahmen der letzteren genauer zu fassen:

 

Erkenntnistheoretischer Rahmen

 

Unter allen gesellschaftlichen Fetischverhältnissen, die sich im Laufe der menschlichen Geschichte konstituieren konnten, ist das Kapitalverhältnis das einzige, das seine eigene Kritik hervorgebracht hat. Eine wie immer geartete "kritische Theorie" etwa des europäischen Mittelalters oder der alten chinesischen Gesellschaft gibt es nicht. Und auch die kritischen Auslassungen eines Platon oder Aristoteles an Entwicklungen ihrer Zeit wurden vom Standpunkt des Bestehenden aus formuliert, sie versuchten nur, eine bereits in Auflösung begriffene Gesellschaft im Namen eines vergangenen angeblich "Goldenen Zeitalters" zu bewahren. Kritik erfordert Distanz zu ihrem Objekt, Gesellschaftskritik daher Distanz des Einzelnen zu seiner Gesellschaft, wie sie erst die Warenform mit ihren versachlichten gesellschaftlichen Beziehungen hergestellt hat.

 

Kritische Gesellschaftstheorie hat die bürgerliche Gesellschaft zu ihrem Gegenstand, der zugleich ihren historischen Kontext und die Bedingung bildet, der sie ermöglicht. Sie ist insofern selbst Bestandteil ihres Untersuchungsobjekts. Die strikte Trennung von Subjekt und Objekt, wie sie etwa die Naturwissenschaften kennzeichnet, ist daher schon aus der Logik der Sache heraus nicht möglich. Das heißt aber auch, dass eine Gesellschaftstheorie, die kritisch sein will, selbstreflexiv sein muss. Eine Arbeitsteilung zwischen Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie kann es hier nicht geben.

 

Kritische Gesellschaftstheorie ist Kritik der bürgerlichen Gesellschaft mit deren eigenem Instrumentarium. Sie untersucht und erklärt die Realität, die Ideale und das Denken der kapitalistischen Gesellschaft und weist sie, damit aber zugleich sich selbst, als historisch spezifisch, an die besondere Gesellschaftsform gebunden aus. Der Standpunkt ihrer Kritik kann daher kein transhistorischer, ontologischer sein, ist doch Bestandteil ihrer Analyse gerade der Nachweis, dass es einen solchen Standpunkt, von wenigen biologischen Gegebenheiten einmal abgesehen, nicht gibt.

 

Es sind die immanenten Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft selbst, die radikale Kritik ermöglichen. Dabei geht es nicht einfach darum, die Realität dieser Gesellschaft mit ihren Idealen zu konfrontieren. Radikale, an die Wurzeln gehende Kritik weist vielmehr auch die bürgerlichen Ideale (etwa die von Freiheit und Gleichheit) als der Warenform verhaftet aus, von der sie gleichwohl notwendig negiert werden müssen.

 

Der widersprüchliche Doppelcharakter der kapitalistischen Basiskategorien treibt die Warengesellschaft seit ihren Anfängen in eine für diese Gesellschaftsform spezifische, blinde und über sie hinaus weisende historische Dynamik. Als ein Moment des "prozessierenden Widerspruchs", der das Kapital laut Marx ist, aber eben auch nur als solches, kann Gesellschaftskritik praktisch werden. Indem sie bestehende Verhältnisse nicht als naturgegeben hinnimmt, sondern als gesellschaftlich konstituierte und damit veränderbare kenntlich macht, indem sie den Kontext sozialer Bewegung analysiert und "das Mögliche im Gegebenen aufdeckt, kann sie helfen, gesellschaftliche Transformation bewusst zu gestalten". 9

 

Die im Folgenden getroffene Unterscheidung zwischen "bürgerlichem" und "kritischem" Denken bezieht sich auf die hier dargelegte Charakterisierung des letzteren. Sie bedeutet nicht, dass sich kritisches Denken außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft bewegt, eher im Gegenteil: Es geht um das Mitbedenken des eigenen Kontextes und damit des Bewusstseins auch der eigenen Begrenztheit (der des bürgerlichen Denkens sowieso). Kinder der bürgerlichen Gesellschaft sind wir alle, ob nun kritisch oder nicht.

 

Aufklärung und Postmoderne

 

Indem es die spezifisch bürgerliche "Vernunft" für eine allgemein-menschliche Eigenschaft

oder Fähigkeit hält, hat das Aufklärungsdenken es fertig gebracht, die bürgerliche Gesellschaft als höchstes und letztes Stadium menschlicher Geschichte und zugleich als der menschlichen Natur gemäß und letztlich in der Biologie begründet anzusehen und darin noch nicht einmal einen Widerspruch zu erkennen. Dieses Denken ist heute theoretisch unbedarft geworden, indem es auf Begründungen verzichtet, weil es keine mehr braucht. Es ist auch ohne sie fest im Alltagsverstand verankert: Wir leben vielleicht nicht in der besten aller Welten, aber in der einzig möglichen.

 

Wenn aber die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse der Naturzustand sind, dann müssen sie schon immer so gewesen sein, nur "weniger entwickelt". Hieraus speist sich die Idee des linearen Fortschritts, von der "Amöbe bis Einstein" (Popper 10) und darüber hinaus, nach immer demselben Muster: Der Kampf des Einzelnen ums Dasein, die Konkurrenz, die zur Höherentwicklung treibt, und wer oder was da nicht mitkommt, wird ausgemerzt. Das alles hat seine innere Logik, doch es ist eigentlich lächerlich leicht zu sehen, dass es sich um die Logik der bürgerlichen Gesellschaft handelt, einem historischen Spezifikum, dessen besondere Eigenschaften der gesamten Geschichte des Menschen und der Natur einfach angedichtet werden.

 

Auch dem bürgerlichen Denken ist nicht verborgen geblieben, dass seine ontologischen Selbstbegründungen nicht haltbar sind, deren "Dekonstruktion" heute schließlich in jedes Philosophie-Seminar gehört. So richtig und verdienstvoll aber die Erkenntnis etwa ist, dass Sprache nicht einfach Denken transportiert, sondern umgekehrt erst ermöglicht und prägt, so folgenlos muss sie bleiben, solange das Verhältnis von Sprechen und Denken zur basalen Struktur der Gesellschaft ungeklärt bleibt, in der gesprochen und gedacht wird. Arbeit, Ware und Wert lassen sich nicht als schlichte Diskursprodukte entziffern, soll ihre materielle, von den handelnden und sprechenden Individuen als quasi-naturgesetzlich erfahrene Gewalt nicht einfach vernachlässigt werden. Diskurse zum letzten Grund gesellschaftlicher Veränderung zu deklarieren, lässt die Frage nach ihrer Bewegungsrichtung heimlich verschwinden.

 

Aus der Unhaltbarkeit ontologischer Begründungen wird nun aber auf die Unmöglichkeit von Begründungen und präzisen Begriffsbildungen überhaupt geschlossen, auf die dann auch sogleich ganz verzichtet wird. Alles ist erlaubt, alle Kriterien für die Schlüssigkeit von Argumentationen entfallen, und eigentlich geht gar nichts mehr. Die solcherart erzeugte Beliebigkeit lässt sich nicht ob des damit verbundenen moralischen Verfalls bzw. Verfalls wissenschaftlicher Standards kritisieren, weil es eine höhere Moral, von dem eine solche Kritik möglich wäre, nicht gibt. Interessanter ist da schon die Frage nach den Gründen der Verfallserscheinungen. Kritisiert werden muss aber die Folgenlosigkeit einer "Theorie", die aller Möglichkeiten zu präzisen Begriffsbestimmungen beraubt, zahnlos wird. Im akademischen Betrieb stellt sich heute die Wahl zwischen substanzlosen Allmachtsphantasien ("Weltformel", "Künstliche Intelligenz", "genetische Neukonstruktion des Menschen") auf Seiten der nach wie vor dem Aufklärungsdenken verhafteten Natur- und selbstverschuldeten, aber nichtsdestoweniger realistischen Ohnmachtsgefühlen auf Seiten der postmodernen Kulturwissenschaften. Dazwischen, betriebsblind und ohnehin keinem wissenschaftlichen Credo mehr verpflichtet, die VWL.

 

Die theoretische Postmoderne beruht auf einem Fehlschluss, der dem ontologischen Denken geschuldet ist: Aus der Tatsache, dass Sprache und Denken notwendig der Gesellschaft verhaftet sind, in der sie stattfinden, folgt nur die Unmöglichkeit ontologischer Urteile, nicht aber die prinzipielle Undurchsichtigkeit des eigenen, selbst geschaffenen Kontextes in Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft, die allerdings erst einmal in den Blick genommen werden müsste.

 

 

Geschichtsmetaphysik

 

In seinen Blütezeiten gehörte der Arbeiterbewegungs-Marxismus zu den prächtigsten Vertretern des Aufklärungsdenkens, dessen Begriff eines linearen Fortschritts ihm geradezu auf den Leib geschrieben ist. Der kleine Unterschied besteht darin, dass der Kapitalismus nicht das letzte, sondern das vorvorletzte Stadium menschlicher Geschichte sei, danach folge noch Sozialismus und schließlich Kommunismus. In dieser deterministischen Dynamik des "dialektischen" oder "historischen Materialismus" findet der Kapitalismus seine positive Rolle als "notwendiges Durchgangsstadium" zur Herausbildung und Entwicklung von Produktivkräften und Produktionsmitteln, durch die die Menschheit schließlich reif würde für den Eintritt in den Sozialismus. Auch hier ist erkennbar, dass die kapitalistische Dynamik schlicht fortgeschrieben wird, ohne an ihren Grundbedingungen etwas ändern zu wollen. Die Kategorien der kapitalistischen Tiefenstruktur (Ware, Arbeit, Wert) werden ontologisiert.

 

Die auf den ersten Blick als radikal erscheinende Gegenposition, die den Kapitalismus einfach als "historischen Irrweg" kennzeichnet, 11 ist allerdings fast ebenso problematisch, im Rahmen kritischer Gesellschaftstheorie jedenfalls nicht zu begründen. Es müsste dazu ja eine Stelle benannt werden, an der die Menschheit sich noch auf dem "richtigen Weg" befand. Das aber ist nur von einem transhistorischen Standpunkt aus und mit Kriterien möglich, die von den spezifischen Gesellschaftsformen unabhängig, mithin ontologisch sind.

 

Es kommt hinzu, dass eine derartige Kennzeichnung dem widersprüchlichen Charakter der Warengesellschaft und den damit verbundenen Potenzialen in keiner Weise gerecht wird, womit aber radikale Kritik sich ihre Möglichkeiten selbst verbauen würde: Eine Theorie, die sich ihrer in der bürgerlichen Gesellschaft wurzelnden Bedingungen theoretisch entledigt, hebt sich selbst auf, ohne dass der Gegenstand ihrer Kritik bereits aufgehoben wäre. Es bleibt dann eigentlich nur noch Esoterik.

 

Kritische Gesellschaftstheorie muss sich der hier formulierten (zugegebenermaßen von mir konstruierten) Alternative schlicht verweigern. Sie entspringt schon als Fragestellung einer Geschichtsmetaphysik, die als solche bereits zu kritisieren ist.

 

Krisentheorie ...

 

Die Frage "Irrweg oder nicht" ist außertheoretisch, ihre Beantwortung hängt von der einer anderen Frage ab, die ebenfalls außertheoretisch ist, ob nämlich die Aufhebung der Warenform gelingt oder nicht. Beide Fragen sind übrigens völlig legitim, nur sind die möglichen Antworten darauf nicht theoretischer, sondern praktischer Natur. Zu untersuchen ist, welchen Beitrag kritische Gesellschaftstheorie leisten kann, zu den richtigen praktischen Antworten (Aufhebung gelungen / es war kein Irrweg) zu kommen.

 

Bekanntlich befinden wir uns noch immer im Strudel der kapitalistischen Dynamik, deren Widersprüche sich gerade im Zuge der mikroelektronischen Revolution krisenhaft zuspitzen. Die Frage nach dem Charakter der Krise ist theoretischer Art (soll heißen: der theoretischen Behandlung zugänglich; natürlich hat sie auch eine eminent praktische Tragweite) und für eine radikale Gesellschaftskritik von zentraler Bedeutung, und das aus verschiedenen Gründen.

 

Die Krisenerscheinungen sind allenthalben mit Händen zu greifen, gleichwohl werden sie nicht als Erscheinungen einer fundamentalen Krise des warenproduzierenden Systems verstanden, sondern vom Alltagsbewusstsein durch abenteuerliche bis mörderische Konstruktionen ("Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg und drücken die Löhne") und von der VWL mit individuellem oder institutionellem Fehlverhalten ("Marktgesetze nicht beachtet") begründet. Am absonderlichsten ist, dass auch die Restbestände des Marxismus nichts mehr davon wissen oder wissen wollen, dass "die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion das Kapital selbst (ist)", 12 auch wenn es natürlich eine andere Frage ist, ob diese Schranke jetzt erreicht wird. Verdrängungsmechanismen ist mit theoretischer Einsicht allein nur schwer beizukommen, ohne sie in diesem Falle aber überhaupt nicht, und schon deswegen ist die marxsche Zusammenbruchsdiagnose genauer zu analysieren und mit der heutigen Situation in Beziehung zu setzen.

 

Die weißen Flecken auf der theoretischen Landkarte, die es hier ganz offensichtlich gibt, haben wesentlich damit zu tun, dass die historisch kurze, lebensgeschichtlich gesehen aber lange Phase des Fordismus den aus marxistischer Sicht zentralen Widerspruch zwischen Produktion und Distribution durch die Eingriffe des (faschistischen, staatskapitalistischen oder keynesianischen) Staates anscheinend aufgelöst hat, damit aber die widersprüchliche kapitalistische Dynamik gleich ganz aus der Theorie hat verschwinden lassen, welche sich dann einer hermetischen, widerspruchsfreien Totalität gegenübersieht, der theoretisch nicht mehr beizukommen ist. Es bleibt nur noch die heroische, da theoretisch nicht mehr gedeckte Hoffnung auf die Revolution in der "politischen Sphäre" bei gleichzeitig unveränderter "ökonomischer Basis":

"Zwei entgegengesetzte Momente, der Übergang zur staatlichen Kontrolle und die Befreiung von ihr, sind im Begriff der sozialen Umwälzung in eins gefasst. Sie bewirkt, was auch ohne Spontaneität geschehen wird: die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die planmäßige Leitung der Produktion, die Naturbeherrschung ins Ungemessene. Und sie bewirkt, was ohne aktive Resistenz und stets erneute Anstrengung der Freiheit nie eintritt: das Ende der Ausbeutung." 13

 

Doch woher soll die soziale Umwälzung kommen? Ihre Möglichkeit gründet hier nicht mehr in bestehenden Widersprüchen, sondern ist nur noch als Sprung aus der Geschichte denkbar. Die theoretischen Schwächen einer solchen Position rühren aus der vom traditionellen Marxismus übernommenen Ontologisierung der Arbeit, die nur als Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur, nicht aber als widersprüchliche Basis warenförmiger Beziehungen verstanden wird. Die Arbeit kommt zu sich selbst, allerdings nicht - wie in der Vorstellung des Arbeiterbewegungs-Marxismus - als Quelle der Emanzipation, und der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit bleibt auch nach dem Kapitalismus unaufgehoben. 14

 

Nach dem Ende des Fordismus und indem der Kapitalismus selbst die Arbeit obsolet macht, ist natürlich viel leichter zu sehen, dass es sich schwerlich um eine transhistorische, aller menschlichen Gesellschaft zu Grunde liegende Kategorie handeln kann. Dass nun aber ausgerechnet diese eine, besondere Gesellschaftsform, die auf Arbeit basiert, dabei ist sie abzuschaffen, macht die Krise aus, mit der wir es zu tun haben. 15

 

... und Aufhebungsperspektiven

 

Die Einschätzung des Charakters der Krise bestimmt deren Verlauf und Ausgang. Erst wer die Alternative vor Augen hat, nämlich die einer Gesellschaft von Arbeits- und Warensubjekten ohne Arbeit und Waren, kann auf die für das herrschende Bewusstsein völlig verrückte Idee kommen, es müsse jetzt um die Aufhebung der Warenform selbst gehen. Die wenigen, die so weit sind, ob nun theoretisch begründet oder nicht (eher letzteres), rufen nach positiven Perspektiven. Das ist verständlich, lässt Theorie aber an ihre Grenzen stoßen.

 

"Die Aufgaben, die gelöst werden müssen, sind von geradezu ergreifender Schlichtheit. Es geht erstens darum, die real und in überreichem Maße vorhandenen Ressourcen an Naturstoffen, Betriebsmitteln und nicht zuletzt menschlichen Fähigkeiten so einzusetzen, dass allen Menschen ein gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet wird. Unnötig der Hinweis, dass dies längst mit Leichtigkeit möglich wäre, würde die Organisationsform der Gesellschaft diesen elementaren Anspruch nicht systematisch verhindern. Zweitens gilt es, die katastrophale Fehlleitung der Ressourcen, soweit sie überhaupt kapitalistisch mobilisiert werden, in sinnlose Pyramidenprojekte und Zerstörungsproduktionen zu stoppen. Unnötig zu sagen, dass auch diese ebenso offensichtliche wie gemeingefährliche "Fehlallokation" durch nichts anderes als die herrschende Gesellschaftsordnung verursacht ist. Und drittens schließlich ist es erst recht von elementarem Interesse, den durch die Produktivkräfte der Mikroelektronik gewaltig angeschwollenen gesellschaftlichen Zeitfonds in eine ebenso große Muße für alle zu übersetzen statt in "Massenarbeitslosigkeit" einerseits und verschärfte Arbeitshetze andererseits." 16

 

So geht es, ist aber beinahe schon alles, was Theorie auf einer allgemeinen Ebene sagen kann. Kritische Gesellschaftstheorie ist Theorie und Kritik der Warengesellschaft, eine Theorie (in diesem Sinne) einer postkapitalistischen Gesellschaft kann es nicht geben. Gesellschaftstheorie setzt den blind gesetzesförmigen, versachlichten und abstrakten Zusammenhang der gesellschaftlichen Beziehungen voraus, der doch gerade aufgehoben und durch bewusste Entscheidungen (und nicht durch neue Gesetzmäßigkeiten) ersetzt werden soll. Mehr als "das Mögliche im Gegebenen aufzudecken" (Postone) kann Theorie nicht leisten, der Rest ist eine Praxis, die mit der Warenform auch deren Kritik aufhebt. Wertkritik, wenn sie denn erfolgreich sein sollte, ist in diesem Sinne selbstaufhebend, denn "alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen." 17 Dass sie auseinander fallen, ist eben ein Spezifikum der Warengesellschaft.

 

Was auf der allgemeinen Ebene geht, ist natürlich auch in jedem konkreten Einzelfall möglich. Es dürfte kaum noch Ressourcen oder Produktionsverfahren geben, die nicht um der Ausnutzung von "Kostenvorteilen" willen desorganisiert werden. Erinnert sei hier nur an die irrsinnigen Materialflüsse und Transporte, die heute zur Herstellung auch nur des bekannten Bechers Joghurt 18 als betriebswirtschaftlich erforderlich gelten, von komplexeren Produkten, deren Einzelteile in rund um den Globus verteilten Orten hergestellt werden, ganz zu schweigen. Um aufzudecken, was ohne die Restriktionen der Rentabilität möglich wäre, bedarf es des Sachverstands im Einzelfall und der schlichten theoretischen Einsicht, dass Betriebswirtschaft keine Naturwissenschaft, also die Gesetze des Marktes keine Naturgesetze sind.

 

Der Zweck derartiger Untersuchungen dürfte angesichts der realen gesellschaftlichen Situation zurzeit allerdings weniger in der Ausgestaltung der Aufhebung als im Nachweis ihrer Notwendigkeit liegen. Hier liegt deutlich der Schwerpunkt theoretischer Anstrengungen, er kann gar nicht in der Entwicklung positiver Utopien der neuen Gesellschaft liegen.

 

Davon betroffen ist das Verhältnis theoretischer Bemühungen zu Initiativen, die ihre eigenen Aktivitäten als praktische Schritte zur Aufhebung der Warenform verstehen. Für die Theorie sind sie interessant, weil sie einen Beitrag leisten, das "Mögliche im Bestehenden" auszuloten, kritische Gesellschaftstheorie kann sich aber auf derartige Initiativen nicht positiv beziehen, sie ist ihrer Natur nach negativ auf die bestehende Gesellschaft bezogen, könnte also allenfalls aufzeigen, in welcher Hinsicht die Warenform nach wie vor nicht aufgehoben ist. So etwas kann die persönlichen Beziehungen belasten, was sich nur durch ein klareres Verständnis der Rolle von Theorie vermeiden ließe. Den Segen für nicht warenförmige Beziehungen kann Theorie nicht erteilen, das müssen die Beteiligten gegebenenfalls auch ohne sie schon selber tun. 19

 

 

 

1 M. Postone: Time, labor, and social domination. A reinterpretation of Marx's critical theory, Cambridge 1996

2 Oder knapper ausgedrückt: "Das Sein bestimmt das Bewusstsein." Diese nicht besonders neue Einsicht scheint mir allerdings auch von denjenigen, die sie propagieren, leicht vergessen zu werden.

3 D. Ricardo: Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung, Marburg 1994, Vorwort

4 Wer es nicht glauben mag, werfe einen unvoreingenommenen Blick in die Einleitung eines beliebig herausgegriffenen Standardlehrbuchs der VWL.

5 Postone 1996, S. 149/150, Übersetzung C.P.O.

6 Auf eine weitere Voraussetzung theoretischen Denkens soll zumindest hingewiesen werden. Bei R. Scholz:

Das Geschlecht des Kapitalismus, Bad Honnef 2000 heißt es (S. 115), dass die mit der Wertvergesellschaftung

unlösbar verbundene Abspaltung des Weiblichen "eine Vorbedingung dafür (ist), dass das Lebensweltliche, das

Kontingente, das Nicht-Analytische, aber auch begrifflich nicht Erfassbare vernachlässigt wurde und in den

männlich dominierten Bereichen von Wissenschaft, Ökonomie und Politik in der Moderne weithin unterbelichtet

blieb." Die Abspaltung des privaten, als weiblich konnotierten Bereichs ist geradezu konstitutiv für die westliche

Wissenschaft und führt im Extremfall zu Auffassungen, alles was sich nicht naturwissenschaftlich fassen lässt,

für nicht verhandelbar zu erklären (vgl. C. P. Ortlieb: Bewusstlose Objektivität, Krisis 21/22, 15 - 51). Dieser

Strang wird hier nicht weiter verfolgt, sollte aber immer beachtet werden: "Theorie" ist nicht dasselbe wie "Denken".

7 MEW 23, S. 86-87

8 MEW 23, S. 88, Hervorhebung C.P.O.

9 Postone 1996, S.. 89

10 Vgl. K. Popper: Objektive Erkenntnis, Hamburg 1973, S. 288 ff. Popper schlägt allen Ernstes eine "darwinistische Theorie des Erkenntnisfortschritts" vor, in der er bereits Amöben Hypothesen über ihre Umwelt bilden lässt: "Während also das tierische und das vorwissenschaftliche Wissen hauptsächlich dadurch wächst, dass diejenigen, die untüchtige Hypothesen haben, selbst ausgemerzt werden, lässt die wissenschaftliche Kritik oft unsere Theorien an unserer Stelle sterben; sie merzt dann unsere falschen Vorstellungen aus, ehe wir selbst ihretwegen ausgemerzt werden."

11 Am häufigsten anzutreffen ist diese Position in Gestalt einer verkürzten Wissenschafts- und Technikkritik, die vom Kapitalismus abstrahiert, als habe der mit seiner wissenschaftlich-technischen Produktionsweise gar nichts zu tun. Also zurück ins Mittelalter, aber bitteschön warenförmig!

12 MEW 25, S. 260

13 M. Horkheimer: Autoritärer Staat, Gesammelte Schriften, Band 5, S. 307, Frankfurt 1997

14 vgl. die ausführliche Auseinandersetzung von Postone 1996, S. 90 - 120 mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule.

15 Werttheoretiker, die gleichwohl von der Lebensfähigkeit des Kapitalismus überzeugt sind, hätten eigentlich

die Begründungspflicht, zumindest anzudeuten, worin denn wohl die neue kapitalistische Regulation unter den

Bedingungen der mikroelektronischen Revolution bestehen könnte. Was ich vorfinde (aber vielleicht habe ich

etwas übersehen), sind allgemeine Hinweise darauf, dass der Kapitalismus immer schon krisenhaft gewesen sei, ohne deswegen bisher zusammengebrochen zu sein, was natürlich richtig ist, woraus aber nichts weiter folgt. Die zurzeit in den Streifzügen (zuletzt 2/2000, S. 4 - 8) tobende Polemik zwischen Michael Heinrich und Norbert Trenkle ist dafür ein Beispiel. Heinrich bezieht eine gewisse scheinbare Stärke einzig daraus, dass er sich letztlich auf eine akademische bzw. philologische Frage zurückzieht: Ob nämlich Marx nur in den "Grundrissen" oder auch im "Kapital" zusammenbruchstheoretisch argumentiert habe. Auch wenn sie von einem Denker des Kalibers eines Karl Marx stammen, so heißt es 130 Jahre alte Texte doch wohl ein wenig zu überfordern, von ihnen die Klärung aller heute anstehenden Fragen zu erwarten.

16 R. Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus, Frankfurt 1999, S. 782

17 MEW 25, S. 825

18 vgl. Zeitmagazin 29.1.93. Ein anderes Beispiel: Die "frischen Nordseekrabben", die man in Hamburg in jedem Fischladen bekommt, machen auf dem Weg von der Nordsee zum Verbraucher einen kleinen Umweg über Nordafrika, wo sie "gepuhlt" werden, wie der Norddeutsche sagt. Die VWL kann das natürlich nur positiv sehen: Nordafrika verschafft sich eben durch einen "komparativen Kostenvorteil" seinen Anteil am Weltmarkt. Aber auch damit wird es durch den Einsatz von Maschinen demnächst vorbei sein.

19 vgl. die in ähnliche Richtung gehenden Überlegungen von F. Schandl: Bewegungsversuche auf Glatteis. Zum

Verhältnis von Theorie und Praxis, Streifzüge 2/2000, S. 8 - 12, in denen er für eine "konstruktive Distanz"

zwischen Theorie und Praxis plädiert, zum Vorteil beider.

 

 

 

Muss es denn immer "zu Büchern oder ... Buchprojekten ausufern"? - Geht’s vielleicht auch etwas "offener"? - Kriselt’s bei der Krisis?

"Zum anderen soll die Krisis eine offenere Form als bisher erhalten und (wieder mehr) Zeitschrift werden ... über den Kommentarteil hinaus die theoretische Entwicklung stärker als bisher in der Form von Debatten zu organisieren, also die Krisis insgesamt zu einem Forum wertkritischer oder auf die Wertkritik bezogener Auseinandersetzungen weiterzuentwickeln."

 

Dass in einer fetischistischen Gesellschaft die Ergebnisse des Handelns sich hinter dem Rücken der handelnden Menschen herstellen, gilt leider auch für die Kritiker dieses Zustandes. Es wäre allerdings wohl reichlich übertrieben, das erneut verspätete Erscheinen dieser Krisis-Nummer unmittelbar auf den Fetischzusammenhang zurückführen zu wollen. Denn immerhin bewegen wir uns hier ja auf einer Ebene, auf der Binnenbewusstheit durchaus nicht ausgeschlossen ist. Ein Blick auf die Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen beweist jedenfalls: Die Herausgabe einer Zeitschrift zu einem angekündigten Zeitpunkt ist prinzipiell kein Ding der Unmöglichkeit. Andererseits folgt die theoretische Produktion aber auch ihrer eigenen Logik, die sich nicht immer dem Publikationsrhythmus fügen will. In diesem Fall war es der geplante Schwerpunkt zum Thema "Krieg und Gewalt", der unserer Planung einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Wie unsere arg auf die Geduldsprobe gestellten Leserinnen und Leser feststellen werden, ist zu dem Thema nur ein einziger Beitrag in dieser Nummer enthalten: der Aufsatz von Franz Schandl Der postmoderne Kreuzzug. Von einem Schwerpunkt kann also schwerlich die Rede sein.

Das liegt nicht daran, dass sich die für die Wahl des zentralen Themas ausschlaggebenden Überlegungen in der Zwischenzeit als gegenstandslos erwiesen hätten. Allein der Fortgang in der postjugoslawischen Zerfallsreihe in Mazedonien und Entsendung von NATO-Truppen böten reichlich Anlass und Stoff, die Frage nach dem Charakter und den Bedingungen des Krieges im krisenkapitalistischen Zeitalter zu stellen. Es ist gerade die polit-ökonomische Unmöglichkeit einer nationalstaatlichen Neuzusammensetzung - nicht nur in dieser Region -, die eine mehr als bloß vorübergehende und prekäre Stabilisierung verhindert. Daran wird zugleich deutlich, dass die Weltwarengesellschaft mittlerweile zunehmend von Zwangsintegration auf soziale Desintegration umschaltet. Wenig kündet so deutlich davon wie der neue Archetypus des Flüchtlings der dritten und vierten Generation. Schon das letzte Jahrhundert galt als das Jahrhundert der Flüchtlinge. Mit dem Kollaps nachholender Staatsbildung stieg aber nicht nur die Zahl derjenigen sprunghaft an, die in diese im Gefolge der nationalen Formierungsprozesse entstandene negative Sozialkategorie fallen; zugleich verliert sie zusehends ihren transitorischen Charakter.

Nicht nur der Entwicklung auf den realen Konfliktschauplätzen dieser Welt wegen gehört die Problematik "Krieg und Gewalt" auf die wertkritische Tagesordnung, auch die aktuelle gesellschaftliche Debatte hebt sie auf die Agenda. Die Anwendung militärischer Mittel, in den 80er Jahren dank atomaren Patts und Nuklear-Pazifismus und vor dem Hintergrund der Nazivergangenheit zumindest hierzulande mehr oder minder Anathema, erlebt ihre sukzessive Rehabilitierung. Seit dem 2. Golfkrieg predigen Autoren wie Karl Otto Hondrich, Cora Stephan und andere Ex-Linke der einst friedensbewegten links-liberalen Öffentlichkeit, was deren Gros nur zu gerne hört: es gelte den Krieg zu "enttabuisieren". Dieser falsche Abschied vom 80er-Jahre-Pazifismus läuft auf nichts anderes als auf ein zivilgesellschaftstheoretisch eingekleidetes Bekenntnis zum staatlichen Gewalt(anwendungs)monopol des Nordens im Weltmaßstab hinaus. Das neue gemeingefährliche Völker- und Menschenrechts-Kriegertum, das die Erinnerung an Auschwitz zur Legitimierung rot- grüner Beteiligung am Weltpolizistentum missbraucht, schreit aber geradezu nach einer Gegenposition, die sich auch theoretisch ausweisen kann. Eine radikal sich gerierende Linke, die mit ihren Analyserastern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stecken geblieben ist, überall immer nur die Konstellation des Zweiten Weltkriegs zu erkennen vermag und sich deshalb darauf fixiert hat, Fischer, Scharping und Co. als die Reinkarnation des ewigen deutschen Unwesens zu "entlarven", ist dazu indes außerstande.

Dass wir mit dieser Ausgabe der Krisis vorerst noch keinen Beitrag zur Schließung dieser Lücke leisten, liegt daran, dass gleich zwei der geplanten Aufsätze unter der Hand zu Büchern ausgeufert sind. Als solche sollen sie nun auch erscheinen. Der Text von Robert Kurz "Demokratischer Weltordnungskrieg. Die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung" kommt noch im Herbst dieses Jahres in der edition krisis heraus (Umfang ca. 160 Seiten). Ernst Lohoffs Untersuchung über die Metamorphosen des Krieges in der Geschichte der Warengesellschaft und über seine Rolle im Aufstiegs- und Zerfallsprozess der nationalstaatlichen Ordnung wird voraussichtlich Ende nächsten Jahres zur Publikationsreife gelangen.

 

Die Schwierigkeiten, den geplanten Themenschwerpunkt mit dem anvisierten

Publikationsrhythmus zu synchronisieren, haben uns allerdings noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass die bisher für die Krisis charakteristische theoretische Produktionsweise sich immer schwerer mit dem Anspruch verträgt, eine Zeitschrift im wirklichen Sinne des Wortes zu sein. Tatsächlich ist ja die Krisis schon immer weniger eine Zeitschrift gewesen, als eher das Publikationsorgan einer theoretisch arbeitenden Gruppe, die die Produkte ihrer Tätigkeit in "Jahrbüchern" zusammenfasste (manchmal waren es auch Halbjahresbücher). Damit im Zusammenhang stand auch der Versuch, inhaltlich und positionell möglichst kompakte und in sich abgeschlossene Themenblöcke zu präsentieren, die sich meist um einen oder zwei weit ausholende und umfangreiche Grundsatzartikel gruppierten. In letzter Zeit ist diese Art der Schwerpunktkonzeption freilich immer weniger geglückt. Immer öfter sind geplante Aufsätze zu Büchern oder zu (teilweise immer noch unfertigen) Buchprojekten ausgeufert. Dazu gehört übrigens auch die in Krisis 21/22 begonnene Auseinandersetzung mit Lacan, die von Robert Bösch ursprünglich als ein zweiteiliger Artikel konzipiert war. Unter der Hand hat das Projekt nun einen solchen Umfang angenommen, dass es mittlerweile leider völlig unmöglich geworden ist, es noch auf Artikelform herunterzubrechen.

 

Der Grund für diese Art von "Unfällen" ist sicherlich nicht zuletzt darin zu suchen, dass eine bestimmte Phase wertkritischer Theorieentwicklung nun schon seit einigen Jahren als beendet gelten kann: die sukzessive Herausarbeitung aus dem Marxismus. In der Abstoßung von diesem altehrwürdigen und weitgehend in sich kohärenten gesellschaftskritischen Denkgebäude und im Bruch mit seinen Essentials, wie etwa der Heiligkeit der Arbeit oder des Klassenkampfs, ergab sich selber wieder eine weitgehende Kohärenz der Kritik, aus der sich zugleich ex negativo immer auch eine ganz neue theoretische Perspektive erschließen ließ. In dem Maße jedoch, wie es darum geht, diese Perspektive selbst weiter zu verfolgen, also die Wertkritik weiter zu entfalten und auf den verschiedensten Ebenen der Analyse und des Diskurses zu konkretisieren, wird das Terrain sehr viel unübersichtlicher. Es bedarf eines neuen, größeren Rahmens, der nicht mehr quasi vorgefunden, sondern überhaupt erst einmal hergestellt werden muss.

Natürlich ist die Kritik des Marxismus keineswegs in jeder Hinsicht abgeschlossen. Es gibt da noch eine ganze Menge nachzuarbeiten. Ihren Status als allgegenwärtiges Leitmotiv aber hat diese Auseinandersetzung längst für uns verloren und damit steht eben auch die merkwürdige, auf diesen besonderen Inhalt zugeschnittene und durch ihn vorstrukturierte Darstellungsform zur Disposition. Nicht nur das "Chamäleon des Krieges" (Clausewitz) lädt aufgrund seiner langen Geschichte und der engen Verzahnung von zivilen und militärischen Aspekten in der kapitalistischen Gesamtentwicklung dazu ein, große Bögen zu schlagen - und damit zu einer über die Aufsatzform hinauswuchernden Darstellungsweise. Soll der Anspruch nicht fallen gelassen werden, die Warengesellschaft als Ganze theoretisch zu durchdringen und zu kritisieren, stellen sich ganz ähnliche Schwierigkeiten bei jedem anderen, neu zu erschließenden Themenfeld ebenso. Darauf aber wollen wir uns zukünftig in der Form unserer theoretischen Publizistik besser einstellen.

Das heißt zum einen, bestimmte weit ausholende Darstellungen von vorneherein

als Monographien zu planen, statt mit aller Gewalt zu versuchen, sie in das Prokrustesbett eines Zeitschriftenartikels zu pressen. Zum anderen soll die Krisis eine offenere Form als bisher erhalten und (wieder mehr) Zeitschrift werden. Mammutbeiträge vom Typus Auf-sechzig-Seiten-die-Welt-neu-Erklären werden nur noch ausnahmsweise einen Platz finden, dafür sollen aber neben den theoretischen Artikeln und Essays nun Diskussionsbeiträge und Kommentare zu diesen Artikeln, zu fortlaufenden Themenschwerpunkten und zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten ein höheres Gewicht erhalten. Mit der Einführung des Kommentarteils in der Nummer 21/22 haben wir diese Richtung ja bereits eingeschlagen, allerdings wurde er bisher - wir müssen es zugeben - redaktionell etwas vernachlässigt. Außerdem halten wir es für dringend notwendig, auch über den Kommentarteil hinaus die theoretische Entwicklung stärker als bisher in der Form von Debatten zu organisieren, also die Krisis insgesamt zu einem Forum wertkritischer oder auf die Wertkritik bezogener Auseinandersetzungen weiterzuentwickeln.

 

Der Anspruch ist nicht ganz neu. Und obwohl das Spektrum der Beiträge in der Krisis in den letzten Jahren durchaus größer geworden ist, können wir nicht behaupten, ihn bisher wirklich eingelöst zu haben. Das lag zum einen sicher daran, dass eine breitere wertkritische Debatte zunächst überhaupt gar nicht existierte -und auch jetzt existiert sie nur in Ansätzen. Zum anderen standen wir uns aber mit unserer eingeschliffenen publizistischen und redaktionellen Vorgehensweise teilweise auch selbst im Wege. Im Grunde genommen war die bisherige Redaktion als Gruppe von Autoren, die primär ihre eigene Publizistik organisierte, zu einer darüber hinausgehenden redaktionellen Tätigkeit nur sehr bedingt in der Lage. Als Konsequenz daraus haben wir nun eine neue Redaktion gebildet, die nicht mehr identisch mit der Gruppe der bisherigen "Nürnberger Stammautoren" ist und der es eher gelingen dürfte, die anstehenden theoretischen Auseinandersetzungen und Debatten in der Krisis zu organisieren und zu strukturieren. Dies ist also die letzte Ausgabe, die noch von der alten Redaktion betreut wurde. Niemand sollte aber befürchten, dass nun die "Stammautoren" desertieren oder sich nur noch darauf konzentrieren, Bücher zu schreiben. Auch an den für die nächste Zeit vorgesehenen thematischen Schwerpunkten ändert sich dadurch nichts: sie reichen von der Kritik der Aufklärung und der Subjektform über eine Vertiefung der Krisen- und Werttheorie bis hin zu einer neuerlichen Beschäftigung mit der "ökologischen Frage" -um nur die wichtigsten zu nennen. Die nächste Ausgabe, das können wir jetzt schon ankündigen, wird den Schwerpunkt auf das Verhältnis von Theorie und Praxis legen.

 

KRISIS 24 (2001)
Franz Schandl: Der postmoderne Kreuzzug. Schlaglichter und Zusätze einer möglichen Kritik -- Peter Klein: Das Wesen des Rechts. Ein Versuch zur Rehabilitierung der Rechtsphilosophie und ihrer Kritik -- Anselm Jappe: Gene, Werte, Bauernaufstände -- Rezensionen | Kommentare | Glossen

 

Diese Ausgabe der Krisis wird durch den ursprünglich für den Schwerpunkt

konzipierten Beitrag von Franz Schandl Der postmoderne Kreuzzug eröffnet. In 20

Paragraphen kreist der Autor das noch schwer fassbare, weil relativ neue Problem des "postmodernen Krieges" essayistisch ein, ohne damit den Anspruch zu erheben, es umfassend zu analysieren. Sein Verfahren bezeichnet er als eines von "Schlaglichtern und Zusätzen". Der postmoderne Krieg wird als Verfallsform des modernen, nationalstaatlichen und politischen Krieges verstanden, wie ihn zuerst Clausewitz theoretisch auf den Punkt gebracht hat. Mit dem Zerfall der Staatlichkeit zerfällt auch diese Form der Kriegsführung. Sie wird tendenziell poststaatlich, postnational und postpolitisch. Charakteristisch für sie ist nicht ihre Bestimmtheit, sondern ihre Unbestimmtheit. Anything goes gilt auch für den Krieg. Selbst die Dualität von Krieg und Frieden verliert zunehmend ihre Geltung, wo sich Banden in wechselnden Koalitionen bekämpfen, die Fronten verschwimmen und formale Kriegserklärungen unterbleiben. Und auch die Kriege des Nordens gegen unbotmäßige "Schurkenstaaten", die man euphemistisch lieber Strafaktionen oder besser noch Friedensmissionen nennt, haben einen anderen Charakter als jene aus der Zeit des Kalten Krieges. Es sind Kreuzzüge im Namen von Freiheit und Demokratie, die immer weniger strategische Ziele verfolgen. Das macht die Kriegspolitik des Nordens nicht weniger gefährlich. Im Gegenteil. Sie ist Ausdruck eines zunehmend blindwütigen Fundamentalismus der Menschenrechte, der ungerührt über Leichen geht - "Menschen verletzen ist erlaubt, Menschenrechte zu verletzen nicht." (Schandl) - und zu dessen wichtigsten Stichwortgebern Huntington gehört (siehe auch Krisis 20). Zwar wäre das, was dieser schreibt, fast lächerlich zu nennen, doch dahinter steht die geballte militärische Potenz des Nordens.

 

Schandls Beitrag geht aber über die politischen Aspekte des Krieges hinaus. In den Paragraphen "Schwanz und Krieg" und "Ermannen!" wirft er ein Schlaglicht auf den Zusammenhang zwischen patriarchaler Männlichkeit und Kriegertum. Durchgängig reflektiert er auch die Rolle der Medien in den postmodernen Kreuzzügen: "Es sind vor allem die halluzinogenen Massenmedien, die die Politik fortwährend in jedes militärische Abenteuer hineintreiben wollen. Im Ranking des Hetzens hat die zivile Gesellschaft in vielen Fällen die Staats- und Militärapparate weit hinter sich gelassen. Ideologie-Offiziere des Nordens treiben sich mehr in den NGOs als in den Generalstäben herum." Und schließlich setzt sich der Autor mit dem Wiedererstarken des Identitätswahns auseinander, dessen Hintergrund gerade

das Brüchigwerden der Identitäten ist. Dem stellt er die Perspektive gegenüber, die

Menschen zu "entvolken" und zu "entnationalisieren": "Wie man heute keinen Goten und Vandalen nachweint, so wird man einstens auch keinen Deutschen und Österreichern, aber auch keinen Franzosen oder Amerikanern nachtrauern. Nationen sind vergänglich, gleiches gilt für den Singular. Kritische Theorie und emanzipatorische Praxis haben dieser Vergänglichkeit nachzuhelfen."

 

Bei dem Beitrag Das Wesen des Rechts von Peter Klein handelt es sich um die

Auskoppelung aus einem längerfristig angelegten Projekt zur Demokratiekritik, das den Arbeitstitel "Die Herrschaft der Beliebigkeit" trägt. Der Verfasser unternimmt damit zum zweiten Mal den Versuch, den Prozess der Demokratisierung grundsätzlich vom wertkritischen Standpunkt aus darzustellen. Ein erster Anlauf, der das Thema vom Phänomen der politischen Partei her in Angriff nahm, erwies sich als undurchführbar und musste abgebrochen werden (vgl. Krisis 14: Pars pro toto).

 

Der zentrale Gedanke, der in dieser Kritik entwickelt wird, lässt sich folgendermaßen

zusammenfassen: Der Prozess der Demokratisierung, wie er in den vergangenen zweihundert Jahren stattgefunden hat, ist die Inbesitznahme der beteiligten Menschen durch die gesellschaftliche Form des Rechts, also die Verrechtlichung aller menschlichen Beziehungen. Dem Rechtssystem wiederum liegt eine zur "Objektivität" des Werts bzw. der Wertform sich komplementär verhaltende "Subjektform" zu Grunde, nämlich diejenige des vereinzelten bzw. abstrakten Individuums, das seine "Würde" darin hat (und sieht), dass ihm von eben diesem Rechtssystem die Betätigung des freien Willens zugebilligt wird, wie er in allen Vertragsbeziehungen - vornehmlich Kauf und Verkauf - zum Einsatz kommt. Der freie Wille ist auch diejenige Kategorie, von der die Kantsche Rechtsphilosophie ihren Ausgang nimmt. Kant weist nach, dass die prinzipielle Anerkennung dieser Subjektform nur im Rechtszustand gewährleistet ist, dass der freie Wille logisch notwendig nach einem Gesellschaftszustand verlangt, der unpersönlich regiert wird: von Gesetzen, die dem theoretischen Gesetzesbegriff (nämlich der "reinen Form der Allgemeinheit überhaupt") möglichst nahe kommen sollten. Dieser Zustand aber ist der Staat.

 

Die Auseinandersetzung mit Kants Rechtsphilosophie steht im Mittelpunkt des Gesamtprojekts, nicht jedoch in dem des hier veröffentlichten Abschnitts, der diese Auseinandersetzung allererst vorbereiten soll. Im Untertitel kommt dies zum Ausdruck. Eine "Rehabilitierung der Rechtsphilosophie" hält der Autor für nötig, weil der in den Gesellschaftswissenschaften herrschende Positivismus das entsprechende Reflexionsniveau, bei dem die Rechtsform noch selbst zur Debatte steht, längst ad acta gelegt hat. Die Situation ist hier ganz ähnlich derjenigen, die mit dem Fortschreiten des Kapitalismus auch im Bereich der Politischen Ökonomie eingetreten ist. Schon Marx hat ja darauf hingewiesen, dass die "Vulgärökonomen" schon bald nach Adam Smith (übrigens ein Zeitgenosse von Kant) damit aufgehört haben zu fragen, welcher gesellschaftliche - und damit historisch beschränkte, historisch endliche - Inhalt sich in der Wert- bzw. Warenform der Produktion überhaupt geltend macht. Diese als eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzte Kategorie (des Werts bzw. der Ware) ist die von ihrem Standpunkt aus nicht kritisierbare Grundlage aller Volkswirtschaftslehre. Und der Rechtsform ergeht es in den modernen rechtswissenschaftlichen Disziplinen genauso. Das Unverständnis gegenüber der "philosophischen Etappe der Verrechtlichung" äußert sich darin, dass man die Frage nach dem "Wesen des Rechts" teils für überholt erklärt, teils politizistisch uminterpretiert.

Außerstande, die Institutionen Recht und Staat grundsätzlich in Frage zu stellen, biegt der Positivismus die entsprechenden philosophischen Untersuchungen des 17. und 18. Jahrhunderts so hin, als hätten sie sich auf den wahren oder richtigen Inhalt des Rechts gerichtet. Unvermittelt wird dann die Brücke zur Ära des politischen Totalitarismus und seiner "staatlich verordneten Einheitsideologie" geschlagen. Die Frage, wie die Rechtsform selber richtig zu denken sei, fällt unter den Tisch. Das landläufige Verständnis Rousseaus als des Befürworters einer bestimmten Sorte von Staat, nämlich der so genannten "totalitären Demokratie" bzw. des "Sozialismus", ist die Probe aufs Exempel. In der vorliegenden Untersuchung wird Rousseau gegen diese Interpretation in Schutz genommen - ohne dass er dadurch harmloser aussähe. Der Verfasser zeigt, dass man die Rousseausche Position durchaus mit dem Etikett des Totalitarismus versehen kann, dass aber der Inhalt dieses Totalitarismus, da er den freien Willen des vereinzelten Individuums mit umfasst, viel weiter reicht, als es den Befürwortern der pluralistischen Demokratie lieb ist. Rousseau (wie dann auch Kant) steht für jenen Totalitarismus, der mit dem Rechtszustand selbst gesetzt ist, für jenen Totalitarismus, der die Menschen an den illusionären Zustand einer "persönlichen Freiheit" ausliefert, in welchem sie "selbstverantwortlich" (nämlich voneinander isoliert und ein jeder für sich) mit den "objektiven Anforderungen" zurechtkommen müssen, die der globalisierte Markt ihnen zumutet. Die "Rehabilitierung der Rechtsphilosophie" ist also ihre Anerkennung und Kenntlichmachung als eine gefährliche Gegnerin. Sie dient dazu, dem Recht und der ihm zu Grunde liegenden Subjektform den Krieg erklären zu können.

 

Den über weite Strecken der Entwicklung "links" besetzten Glauben an die Demokratie bezeichnet der Verfasser als "illusorische Begleiterscheinung" der Verrechtlichung. Er rührt daher, dass die politischen Kollektivsubjekte - Volk, Nation, Klasse -, die im Verlauf der Demokratisierungsgeschichte zur "politischen Macht" gelangten bzw. strebten, mit der Hoffnung auf ein tatsächliches Verfügen über den gemeinsamen Lebenszusammenhang verbunden wurden. In Wirklichkeit bahnten sie aber nur - in der Auseinandersetzung mit den vormodernen Abhängigkeitsverhältnissen - der Kantschen "Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt" den Weg. Die Herstellung dieser abstrakten Allgemeinheit, die alle Gesellschaftsmitglieder als Staatsbürger in die gleiche "Subjektform des Wertes" bannt, erfolgte entlang der bekannten politischen Ideologien: des Liberalismus/Sozialismus einerseits (= Aufstiegsphase des demokratischen Glaubens), des Totalitarismus/Pluralismus andererseits (= Verfallsphase des demokratischen Glaubens). Mit der Darstellung dieser "Geschichte der Verrechtlichung" soll das Projekt abgeschlossen werden.

Außer dem hier veröffentlichten Abschnitt liegt noch die ca. 20 Seiten umfassende "Einleitung" in das Gesamtprojekt vor, die Interessenten gerne als Kopie über die Redaktionsadresse beziehen können (Unkostenbeitrag in Briefmarken: 4 DM bzw. 2 Euro).

Mit dem Artikel Gene, Werte, Bauernaufstände eröffnet Anselm Jappe die Debatte

auf einem brisanten und für die wertkritische Auseinandersetzung neuen Themenfeld. Seine Kritik der Gentechnologie hebt sich vom laufenden pastoral muffelnden Ethik-Diskurs insofern ganz grundsätzlich ab, als sie diese per se als Enteignungstechnologie kenntlich macht, statt bloß vor Auswüchsen bei ihrer Anwendung zu warnen. Der Autor zeigt, dass die Gentechnik die äußerste Konsequenz des modernen, warengesellschaftlichen Naturverständnisses und -verhältnisses ist, weil in ihr das Prinzip des Reductio ad unum, also das Prinzip des Werts, auf die Spitze getrieben wird. Alle Formen des Lebens, ob es sich nun um Pflanzen, Tiere oder Menschen handelt, werden wie ein und dasselbe undifferenzierte genetische Material behandelt, von allen qualitativen Unterschieden und Besonderheiten wird also radikal abstrahiert. Jappe thematisiert dabei, anders als die auf das Phantom eines genetisch optimierten Übermenschen fixierten Kritiker, die bloß in negativer Besetzung selber dem Machbarkeitswahn der Betreiber aufsitzen, die immanenten Grenzen naturwissenschaftlicher Weltbemächtigung. Desaströse Perspektiven ergeben sich weniger daraus, dass die gentechnologischen Hirngespinste der Betreiber eins zu eins Wirklichkeit werden könnten. Vielmehr ist die in der Gentechnik materialisierte Form der Naturbeherrschung dazu angetan, das zu zerstören, dessen sie sich zu bemächtigen glaubt. Das biologische Erbe taugt nicht zur Ware, die Natur lässt sich in ihrer Komplexität nicht auf die ärmliche gentechnologische Eindimensionalität reduzieren, und wo diese Reduktion gesellschaftliche Praxis wird, bedeutet dies letztlich statt "produktiver Zerstörung" (Schumpeter) im Sinne des Kapitals blanke Zerstörung.

 

Nicht nur weil er mit seiner Analyse ein für die Krisis neues Feld erschließt und damit gleichzeitig einen Gegenakzent zu der reichlich handzahmen einschlägigen Debatte setzt, ist Anselm Jappes Beitrag brisant. Zugleich wirft er damit die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Produktivkraftentwicklung und gesellschaftlicher Emanzipation erneut auf. Seine Auflösung dieser Frage wird wahrscheinlich unter unseren Leserinnen und Lesern kaum weniger kontrovers diskutiert werden als im Kreis der Krisis-Autoren. Wir verstehen den Beitrag dementsprechend als Einstieg in eine Debatte, die wir in den nächsten Ausgaben auf jeden Fall weiterführen werden.

Der Kommentar- und Debattenteil wird mit einem Beitrag von Ernst Lohoff zur Energetik der Warengesellschaft und zur politischen Ökonomie der Atomenergienutzung eröffnet. Ein Auslaufmodell eigener Art wurde ursprünglich als Eingangsreferat für die Bundeskonferenz der Anti-AKW-Bewegung im März 2000 verfasst und ist für diese Ausgabe der Krisis leicht überarbeitet und aktualisiert worden. In seinen Thesen Objektivismus und Subjektivismus in der Soziologie setzt sich Udo Winkel mit einer grundlegenden Problematik bürgerlicher Gesellschafts- und Sozialwissenschaft auseinander: ihrem Schwanken zwischen den beiden Polen der "ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit", dem abstrakten Individuum auf der einen und seinem verdinglichten gesellschaftlichen Zusammenhang auf der anderen Seite. Warenform und Rechtsform von ANTI, einem Redakteur von karoshi, ist die Rezension des Buches mit gleichnamigem Titel von Andreas Harms. Es handelt sich dabei um einen Beitrag zur Kritik des Rechtsbegriffs anhand einer Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte der Rechtstheorie von Eugen Paschukanis. Eine weitere Rezension ist der Artikel von Gerd Bedszent Kein Kaffeekränzchen mit dem Kanzler, in dem das von Bernd Gehrke und Wolfgang Rüddenklau herausgegebene Buch ... das war doch nicht unsere Alternative besprochen wird. Zehn Jahre nach der "Wende" ziehen ehemalige DDR-Oppositionelle dort Bilanz. Anschließend stellt Anselm Jappe in seinem Beitrag Wert ohne Arbeit? die französische Theoriezeitschrift Temps critiques vor. Diese Zeitschrift ist eine der wenigen in Frankreich, die einen (im weiteren Sinne) wertkritischen Bezugsrahmen besitzt, und verdient schon aus diesem Grund Beachtung. Der Artikel Gesellschaftliches Marodieren von Franz Schandl verfolgt die Frage, was eine Gesellschaft macht, wenn sie an die Grenzen ihrer Entwicklung stößt. Seine These dazu lautet: Sie verfällt nicht in Wohlgefallen, sondern wird noch einmal all ihre destruktiven Kräfte entfalten. Als wichtiges Symptom dafür kann die zunehmende Bedeutung des Bandenwesens im Zerfallsprozess der Warengesellschaft gelten. Als letzten Beitrag dokumentieren wir noch ein Thesenpapier von Ernst Lohoff und Norbert Trenkle Was heißt da Krisis-Zusammenhang?, das für das letzte Krisis-Seminar verfasst wurde. Ziel des Papiers war es, einen Prozess der Reflexion des ziemlich heterogenen Zusammenhangs, der sich um die Krisis gruppiert, über sich selbst anzuregen. Gerade angesichts einer immer weiteren Ausdifferenzierung der Wertkritik und ihres wachsenden Einflusses auf den gesellschaftskritischen Diskurs halten wir eine solche Selbstreflexion für dringend notwendig. Deshalb wollen wir die ursprünglich eher für den "internen Gebrauch" gedachten Thesen auch unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten.

 

Abschließend noch ein Hinweis auf zwei neuere Bücher von Krisis-Autoren: "Übersetzungen - Studien zu Herbert Marcuse" (Ventil Verlag) von Roger Behrens und "MARX lesen" (Eichborn Verlag) von Robert Kurz.

Ernst Lohoff und Norbert Trenkle für die Redaktion

 

PS: Der Satz dieser Krisis war gerade beendet, als der Irrationalismus des Waren produzierenden Weltsystems in New York und Washington auf sich selbst zurückschlug. Die Nummer noch einmal "aufzuschnüren", dafür war es zu spät. Für Analysen der aktuellen Entwicklungen müssen wir unsere Leserinnen und Leser daher vorerst auf unsere Homepage sowie auf Artikel von Krisis-Autoren in anderen Zeitschriften verweisen (u. a. ein Text von R. Kurz in Konkret 11/01). Erinnert sei außerdem an die gerade hochaktuelle Huntington-Kritik in Krisis 20.

 

Aus dem Editorial der krisis 24, 2001

 

 

 

Robert Kurz hat unter dem Titel "MARX lesen" die aus seiner wertkritischen Sicht wichtigsten Texte von Marx für das 21. Jahrhundert herausgegeben und kommentiert. Neben einem einleitenden Artikel - "Zur Einführung: Die Schicksale Des Marxismus - Marx lesen im 21. Jahrhundert" - sind in acht Kapiteln die folgenden Themenkomplexe behandelt:

1. Die kapitalistische Produktiosnweise als irrationaler Selbstzweck
2. Kritik und Krise der Arbeitsgesellschaft
3. Kritik der Nation, des Staates, des Rechts, der Politik und der Demokratie
4. Der hässliche Kapitalismus und seine Barbarei
5. Mechanik und historische Tendenz der Krisen
6. Globalisierung und Fusionitis des Kapitals
7. Zinstragendes Kapital, spekulative Seifenblasen und die Krise des Geldes
8. Kriterien für die Überwindung des Kapitalismus


Den einzelnen Kapiteln zu den Originaltexten von Marx sind jeweils kommentierende Einleitungen von Robert Kurz vorangestellt.



Robert Kurz: MARX lesen. Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert

Vorwort

Obwohl die Auflagen seiner Bücher an die Verbreitung der Bibel heranreichen, ist Karl Marx heute aus den Buchhandlungen fast ganz verschwunden. Eine Marx-Auswahl fehlt daher und könnte doch nützlich sein., vielleicht nicht zuletzt für eine junge Generation in Ost und West, die mit keiner Marx-Lektüre und keiner Marx-Diskussion mehr aufgewachsen ist, sich aber endlich einmal selber mit dem authentischen Marxschen Denken auseinandersetzen will, das angeblich beinahe die Weltgeschichte ruiniert hätte. Es hat schon viele Editionen Marxscher Texte gegeben, wobei meistens ein Verständnis stille Voraussetzung war, das Marx mit dem 'Marxismus' der sozialistischen Arbeiter- und Staatsparteien identifizierte. Heute ist dieser Sozialismus ebenso mausetot wie die Arbeiterbewegung. Die Formeln des 'Standpunkts der Arbeit' und des 'Klassenkampfs' sind altertümlich geworden; sie lösen keine positiven oder negativen Leidenschaften mehr aus und können nur noch zum Gähnen verlocken.

Aber dabei handelt es sich lediglich um eine bestimmte Lesart der Marxschen Theorie und um einen bestimmten Strang seiner Argumentation, der in der Tat an eine jetzt vergangene (wenngleich noch ganz und gar unbegriffene) Epoche gebunden und daher heute nichts als Theoriegeschichte ist. Das ist allerdings bloß der halbe Marx. Den wenigsten ist heute noch bekannt, dass Marx von sich selbst gesagt hat: 'Ich bin kein Marxist'. Und es gibt den in der Versenkung verschwundenen und ganz unausgeleuchteten Ansatz radikal kritischer Theorie eines 'anderen' Marx, der dem 'Arbeiterbewegungsmarxismus' ebenso fremd und unheimlich geblieben ist wie den sozialistischen Rechtfertigungsideologen in den Jahrzehnten des Kalten Krieges. Bis jetzt ist noch nicht versucht worden, eine Edition speziell dieses unbekannten Marx und seiner ganz anderen Kapitalismuskritik gewissermaßen aus seinen hinterlassenen erheblichen Textmassen herauszupräparieren. Solange sich die Marx-Rezeption im Wesentlichen auf den Kontext der bisherigen Modernisierungsgeschichte beschränkte, bestand dazu auch gar keine Veranlassung. Im Gegenteil hat man hüben wie drüben nur allzu gern alles an der Marxschen Theorie verdrängt oder versteckt gelassen, was sich für die Erfordernisse der politischen Auseinandersetzung und der Legitimation von Interessenpositionen als zu sperrig erwies. Es ist jedoch gerade dieses im Dunkel getauchte Alter ego des ganzen, sozusagen janusköpfigen Marx, das für die Zukunft noch bedeutend werden kann.

Die Marx-Texte des vorliegenden Lesebuchs sind deshalb bewusst aus dem Zusammenhang mit der arbeiterbewegungsmarxistisch kompatiblen Textmasse herausgeschnitten. So wird vielleicht der Vorwurf nicht ausbleiben, die Texte, wie sie hier vorliegen, seien eben aus dem Zusammenhang gerissen. Deshalb gleich vorweg das Geständnis: genau darin besteht auch die Absicht, nämlich die aus der offiziellen Debatte weitgehend herausgehaltene 'andere', viel radikalere Kapitalismuskritik des unbekannten Marx aus dem Zusammenhang des gegenstandslos gewordenen Partei- und Arbeiterbewegungs-Marx herauszureißen, kenntlich zu machen und damit zuzuspitzen.

Natürlich kann dies nur unvollkommen und ansatzweise gelingen; auch kann kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Manchmal lässt es sich einfach nicht vermeiden, dass der 'öffiziöse Marx' auch in dieser Auswahl erscheint, seine Ausdrucksweise zweideutig, unvollständig oder widersprüchlich wirkt. Umgekehrt, wer ein Interesse am ganzen, in seiner Widersprüchlichkeit unverkürzten Marx hat und eine 'wissenschaftlich'-philologische Lektüre bevorzugt, der sei auf die herkömmlichen Marx-Editionen verwiesen, insbesondere auf die berühmten 'blauen Bände' der MEW (Marx-Engels-Werke) der ehemaligen DDR (ein Tipp für junge Wissbegierige: mal nachfragen, was die 68er "Realo"-Väter und -Mütter - oder sind es schon die Großeltern? - so alles im Keller deponiert haben), oder gleich auf das allerdings noch lange nicht abgeschlossene Jahrhundertprojekt der MEGA (Marx-Engels Gesamtausgabe), das trotz Desinteresses der 'Siegerideologen' mit internationaler Unterstützung weitergeführt werden kann. Lesebücher zur Einführung dagegen sind heute mehr als dünn gesät, und sie genügen vor allem nicht den Erfordernissen einer qualitativ neuen Marx-Renaissance für das 21. jahrhundert.

Deshalb ist die hier vorliegende Auswahl für Leserinnen und Leser gedacht, die weniger ein akademisches, philologisches Interesse an Marx haben, sondern ihn als kritischen Theoretiker kennen lernen wollen, der auch nach dem Ende der Arbeiterbewegung und Realsozialismus noch etwas zu sagen hat - und vielleicht jetzt erst das Entscheidende. Auch wenn diese Texte und ihre Argumentationen Mosaiksteinchen sind - es ist immer noch der originäre Marx, der hier spricht. Freilich nicht mehr so sehr der Marx des "Klassenkampfs", sondern der Marx einer Kritik an der Irrationalität des modernen warenproduzierenden Systems, nicht mehr der "Klassentheoretiker", sondern der "negative Systemtheoretiker". Und natürlich ist von vornherein klar, dass ein solches Lesebuch keine "heiligen Schriften" mehr präsentiert. Man muss es endlich einmal zugeben: Marx ist nicht nur widersprüchlich und ein "doppelter Marx", er kann auch ein unglaublicher Langweiler sein. Über weite Textstrecken entwickelt er mit äußerster Umständlichkeit Argumentationen, die man viel kürzer und klarer formulieren könnte. Und oft verbeißt er sich derart in eine langatmige Polemik gegen längst vergessene kleine Lichter, dass man ihm zurufen möchte: Nun mach mal ein Ende, der Gegner liegt doch längst am Boden. Diese eigentümliche Weitschweifigkeit, Redundanz und Verbissenheit ist vielleicht einer Ahnung geschuldet, dass seine Theorie auf etwas verweist, was uneingelöst bleiben musste und bis heute noch unentbunden in der Hülle des 19. Jahrhunderts schlummert. Gerade dort aber, wo Marx’ Kritik explizit über seine Epoche hinausweist, verändert sich sogar sein Stil: er wird messerscharf, apodiktisch, wuchtig, unwiderstehlich, eben weil er an uneingestandene Tabugrenzen der Moderne rührt und sich darüber hinwegsetzt. Es sind diese Formulierungen des Zur-Sprache-Bringens von innerkapitalistisch Unsagbarem, die noch Herzklopfen verursachen, weil sie auch nach 150 Jahren im wahrsten Sinne des Wortes "unerhört" klingen und das Selbstverständliche, Verinnerlichte in Frage stellen.

Natürlich muss die kritische Theorie des 21. Jahrhunderts über Marx hinausgehen. Dass ist zwar schon oft gesagt worden. Aber im Zuge eines positiven Bezugs auf die bisherige Modernisierungsgeschichte entpuppte sich dieses vollmundige Postulat regelmäßig als ein kläglicher Rückfall hinter Marx, als Versuch, seine kritische Theorie mit positivistischer Methodologie zu verballhornen, sie in die Volkswirtschaftslehre einzugemeinden, die Kritik der politischen Ökonomie durch eine positive "marxistische" Politökonomie zu ersetzen und an die Erfordernisse parlamentarischer Politik anzupassen, mit einem Wort: jede Erinnerung an den "anderen" Marx loszuwerden und sich mit allzu bescheidenen alternativen Konzepten mitten im Kapitalismus pudelwohl (oder im Staatskapitalismus elend) zu fühlen. Um überhaupt jemals über Marx hinauszukommen, ist es dagegen unabdingbar, gerade an die verpönte und mit verlegenem Gestammel weggeschobene Seite seiner Theorie anzuknüpfen. Um Marx wirklich überwinden zu können, muss man auf seinen Schultern stehen können, statt ihm bloß den Buckel runterzurutschen.

Es gibt längst Hinweise darauf, wo es nach Marx weitergehen muss. So ist das Geschlechterverhältnis ein wesentlicher Aspekt kapitalistischer Vergesellschaftung, zu dem 'der Mann Marx' wenig oder nichts gesagt hat. Im Zusammenhang damit wird eine kritische Theorie zu entwickeln sein, wie heute kapitalistische Individuen und ihre Subjektivität hergestellt werden. Auch die Kritik an der Zerstörung der Naturgrundlagen durch die betriebswirtschaftliche Externalisierung von Kosten, bei Marx immerhin schon kurz angedeutet, harrt ihres konsequenten begrifflichen und analytischen Bezugs auf die Formen kapitalistischer Rationalität. Das Ausbrennen der 'Arbeitsgesellschaft' und die damit verbundene Krise des Geldes, wie sie in großen Weltregionen bereits das dramatische Ende der Moderne eingeläutet hat, setzen das Weiterdenken der noch längst nicht erledigten Marxschen Krisentheorie auf die Tagesordnung. Es wird immer offensichtlicher, dass die großen Fragen der kommenden Jahre und Jahrzehnte zwar jenseits des 'Marxismus' von Arbeiterbewegung und Staatssozialismus liegen, aber trotzdem innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformen niemals zu bewältigen sein werden. Der Anschluss an die verdrängte radikale Kritik des 'anderen' Marx kann sich gerade in dieser Hinsicht als fruchtbar erweisen.

Das vorliegende Lesebuch wendet sich daher als erste Hilfe an alle, die auf diese erratische Gestalt trotz ihrer antiquierten Vollbärtigkeit wieder neugierig geworden sind und die noch einmal etwas Neues vom alten Marx lernen wollen. Es kann ein Wiedereinstieg für die Älteren sein, denen das Bedürfnis nach theoretischer Reflexion noch nicht ganz abhanden gekommen ist und die sich, vielleicht zögernd, doch noch zu einer kritischen Aufarbeitung ihrer "marxistischen" Vergangenheiten und Jugendsünden entschließen möchten, anstatt es einfach zu entsorgen. Und es kann ein Einstieg sein für die Jüngeren und Jüngsten, von denen unsereins wenig weiß, die sich aber ganz unbelastet von irgendwelchen marxistischen Vergangenheiten ganz frisch und historisch unschuldig eine radikale Kritik aneignen können, die womöglich ihrem wirklichen Lebensgefühl mehr entspricht als die Angebote des kapitalistischen Medienbetriebs.

Der Mensch hat immer noch den Fehler, dass er denken kann. Und so ist diese Edition auch mit der vagen Hoffnung verbunden, dass sie geistige Nahrung liefert für eine soziale Bewegung, die noch verborgen im Schoß der näheren Zukunft schlummert. Es ist die Hoffnung, dass es bereits heute jede Menge Menschen gibt, die trotz allen Geredes von der "Alternativlosigkeit" der herrschenden Weltordnung den Kapitalismus mit seinen verrückten Anforderungen bis oben hin satt haben.

 

 

Zur Einführung

 

Die Schicksale des Marxismus -

Marx lesen im 21. Jahrhundert

 

 

Totgesagte leben länger. Karl Marx wurde als kritischer und wirkmächtiger Theoretiker schon mehr als einmal totgesagt, und jedes Mal ist er dem historischen und theoretischen Tod von der Schippe gesprungen. Das hat einen einfachen Grund: Die Marxsche Theorie kann in Frieden nur sterben zusammen mit ihrem Gegenstand, der kapitalistischen Produktionsweise. Dieses gesellschaftliche System ist »objektiv« zynisch, strotzt geradezu von derart unverschämten Verhaltenszumutungen an die Menschen, erzeugt zusammen mit einem obszönen und geschmacklosen Reichtum derartige Massenarmut und ist in seiner blindwütigen Dynamik von solch unerhörten Katastrophenpotenzen gezeichnet, dass seine schiere Weiterexistenz unvermeidlich stets von neuem Motive und Gedanken radikaler Kritik hervor- treiben muss. Und das A und 0 dieser Kritik ist nun einmal die kritische Theorie jenes Karl Marx, der schon vor fast 150 Jahren die destruktive Logik des kapitalistischen Akkumulationsprozesses in ihren Grundzügen unüber- troffen analysiert hat.

Aber wie für jedes theoretische Denken, das über das Verfallsdatum eines bestimmten Zeitgeistes hinausreicht, gilt auch für das Marxsche Werk: es bedarf immer einer jeweils neuen Annäherung, die neue Seiten entdeckt und alte Interpretationen verwirft. Und nicht nur Interpretationen, sondern auch bestimmte zeitgebundene Elemente dieser Theorie selbst. Jeder Theoretiker hat mehr gedacht, als er selber wusste, und eine widerspruchsfreie Theorie wäre nicht ernsthaft eine Theorie zu nennen. So haben nicht nur einzelne Bücher ihre Schicksale, sondern auch große Theorien. Es entwickelt sich immer ein Spannungsverhältnis zwischen einer Theorie und ihren Rezipienten, Anhängern wie Gegnern, in dem sich der innere Widerspruch der Theorie entfaltet und damit erst Erkenntnis befördert.

 

Marx und der postmoderne Abgesang auf die »Großtheorie«

 

Statt sich dem Problem der historischen Prozesshaftigkeit von Gesellschaftstheorie am Ende des 20. Jahrhunderts neu zu stellen, möchte das so genannte postmoderne Denken die Dialektik von Theoriebildung, Rezeption und Kritik einfach stillstellen. Gerade die Marxsche Theorie wird nicht mehr anhand ihrer Inhalte überprüft, in ihren historischen Bedingungen analysiert und damit weiterentwickelt, sondern a priori in ihrem Anspruch als so genannte »Großtheorie« verworfen. Diese falsche Bescheidenheit, die das große Ganze der kapitalistischen Vergesellschaftungsformen nicht mehr als solches in den Blick nimmt, sondern bloß verdrängt, fällt unter das Niveau gesellschaftstheoretischer Reflexion überhaupt. Die Vogel-Strauß-Politik eines derart freiwillig reduzierten und abgerüsteten Denkens verkennt, dass die Problematik so genannter Großtheorien und Großbegriffe nicht von ihrem realen gesellschaftlichen Gegenstand zu trennen ist. Die Anmaßung, das Ganze erfassen zu wollen, wird durch die gesellschaftliche Realität geradezu provoziert. Das negative Ganze des Kapitalismus hört in seiner Realexistenz nicht zu wirken auf, bloß weil es begrifflich ignoriert wird und weil wir nicht mehr hinschauen sollen: »Die Totalität vergisst euch nicht«, wie zu Recht der englische Literaturtheoretiker Terry Eagleton höhnte.

Die postmoderne Kritik der Großtheorie, von vielen Ex-Marxisten dankbar als vermeintlich entlastende Denkfigur aufgenommen, verweist nicht so sehr auf ein affirmatives, apologetisches Denken im herkömmlichen Sinne, sondern eher auf die Verzweiflung einer Gesellschaftskritik, die aus der Bahn geworfen ist und vor einer Aufgabe zurückscheut, die ihr bisheriges Fassungsvermögen übersteigt. Es handelt sich um ein Ausweichmanöver, das nur vorübergehenden Charakter haben kann; das kritische Denken wird unerbittlich wieder zurückgeführt zu der Hürde, die es zu überspringen hat. Und diese Hürde ist offenbar vor allem deswegen so schwer zu nehmen, weil das bisherige marxistische Denken dabei auch über seinen eigenen Schatten springen muss. Man könnte diese etwas seltsam klingende Metapher auch durch eine andere ersetzen: Der Marxismus hat eine Leiche im Keller, die nicht länger versteckt gehalten werden kann. Mit anderen Worten: Der Widerspruch zwischen der Marxschen Theorie und ihrer Rezeption durch die alte Arbeiterbewegung sind ebenso wie die Widersprüche innerhalb der Marxschen Theorie selbst am Ende des 20. Jahrhunderts so weit herangereift, dass die Reaktivierung dieser Theorie, ihre erneute Aktualisierung, nicht mehr in der bisherigen Weise zu haben ist.

 
Nach dem Jahrhundert der Arbeiterbewegung

 

Wenn der voreilig totgesagte Marx in der Vergangenheit immer wieder quicklebendig auf der Matte stand, dann fanden diese Auferstehungen jedes Mal im Binnenraum einer Epoche statt, die man das »Jahrhundert der Arbeiterbewegung« nennen könnte. Es scheint heute evident, dass diese Geschichte abgeschlossen ist. Ihre Motive, theoretischen Reflexionen und sozialen Handlungsmuster sind in gewisser Weise unwahr geworden. Sie haben ihre Zugkraft verloren, das Leben ist aus ihnen entwichen, und sie bieten sich uns dar wie unter Glas. Dieser Marxismus ist nur noch ein langweiliges Museumsobjekt. Aber damit ist noch lange nicht geklärt, warum das so ist. Die eilige Abwendung der ehemaligen Anhänger hat daher etwas Verlogenes an sich, der voreilige Triumphalismus der ehemaligen Gegner etwas Albernes. Denn mit dem unbegriffenen Ende einer unaufgearbeiteten Epoche haben sich die in dieser Geschichte herangereiften Probleme ja nicht in Wohlgefallen aufgelöst, sondern im Gegenteil auf eine neue, noch unerkannte Weise dramatisch zugespitzt. Fast scheint es so, als wäre diese vergangene Epoche nur das Verpuppungsstadium oder die Inkubations- zeit einer qualitativ neuen weltgesellschaftlichen Großkrise gewesen, deren Natur man in theoretischer Hinsicht auch nur mit entsprechenden Groß- begriffen und in praktischer Hinsicht nur mit einer entsprechend grundsätzlichen gesellschaftlichen Umwälzung beikommen kann. Die allenthalben grassierende, alle möglichen Versatzstücke vermengende Religion eines marktwirtschaftlich-demokratischen »Pragmatismus« wirkt angesichts der realen Lage wie der Versuch, auf Aids mit Klosterfrau Melissengeist oder auf die Explosion eines Atomreaktors mit einem Löschzug der freiwilligen Feuerwehr zu reagieren.

Verräterisch ist, dass der Zentral begriff dieser pragmatischen Quacksalber-Philosophie von Wissenschaft,

Politik und Management, nämlich die rituelle Beschwörungsformel der »Modernisierung«, kaum weniger

unglaubwürdig, leer, tot und museal erscheint als die Großbegriffe des alten Arbeiterbewegungsmarxismus. Das

Ende der Kritik ist auch das Ende der Reflexion, und im reflexionslos dahinwurstelnden postmodernen

Kapitalismus hat das Mantra »Modernisierung« den Stellenwert einer hohlen Götzenbeschwörung angenommen.

Der Begriff der Modernisierung ist nicht nur ebenso unwahr geworden wie die Begriffe des Arbeiterstandpunkts

oder des Klassenkampfes. Dieser beiden gemeinsame Bedeutungsverlust verweist auch auf ein gemeinsames

Wesen und einen gemeinsamen historischen Ort des alten Marxismus und der kapitalistischen Welt. Es ist die

verborgene innere Identität der verbissenen Kontrahenten; die immer dann zum Vorschein kommt, wenn sich

der immanente Konflikt allein deswegen überlebt hat, weil das gemeinsame Bezugssystem brüchig wird. So

gesehen kann nicht der Marxismus als integrales Moment der Modernisierung tot sein und gleichzeitig der

Kapitalismus lebendig und unbeirrt eben diese Modernisierung endlos fortsetzen. Vielmehr kann es sich dann

nur um einen Schein leben in einem Zwischenreich handeln, also um eine Art Zombie- Veranstaltung ohne

wirkliches Leben im Leib.

 

Darauf deutet auch der technologische Reduktionismus dieses von allen ursprünglich sozialen, gesellschaftsanalytischen und ökonomiekritischen Inhalten abgelösten Modernisierungsbegriffs hin; Wenn der Zugriff auf Internet und Biotechnologie schon alles sein soll, dann ist das gar nichts, weil Naturwissenschaft und Technologie nicht für sich stehen und keinen isolierten Fortschritt hervorbringen können, sondern immer nur im Kontext einer gesellschaftlichen, sozialökonomischen Entwicklung wirksam sind, die frühere Zustände überwindet. Eine bloß noch technologische Modernisierung, die den Status quo der gesellschaftlichen Ordnung nicht mehr antasten will und mit Marktwirtschaft und Demokratie das Ende der Metamorphose gesellschaftlicher Formen gekommen sieht, disqualifiziert sich selbst.

Solche Überlegungen geben schon einen Fingerzeig, auf welche Weise das Ende des Arbeiterbewegungsmarxismus einzuordnen wäre. Wenn die neue, in ihren Konturen allmählich deutlich werdende Weltkrise des 21. Jahrhunderts gerade darin besteht, dass die gemeinsamen Grundlagen der bisherigen Modernisierungsgeschichte obsolet werden, dann ist damit gleichzeitig gesagt, dass sich der Marxismus der politischen und gewerkschaftlichen Linken samt seiner theoretischen Reflexion selber noch innerhalb der kapitalistischen Formen bewegt hat. Seine Kapitalismuskritik bezog sich also nicht auf das logische und historische Ganze dieser Produktionsweise, sondern immer nur auf bestimmte, jeweils durchlaufene und zu überwindende Entwicklungsstufen. Insofern war die marxistische Bewegung der Arbeiterklasse in ihrem Jahrhundert noch gar nicht der Totengräber des Kapitalismus (so die bekannte Marxsche Metapher), sondern ganz im Gegenteil die vorwärtstreibende innere Unruhe, der Lebensmotor und gewissermaßen der Entwicklungshelfer kapitalistischer Vergesellschaftung. Das marxistische »Noch nicht« im Sinne des Philosophen Ernst Bloch bezog sich daher gegen dessen Intention in Wahrheit keineswegs auf die Emanzipation vom Kapitalismus, von seinen repressiven Formen und Grundzumutungen, sondern vielmehr auf die positive Anerkennung im Kapitalismus und auf einen Fortschritt zur Modernisierung in der kapitalistischen Hülle. Das »Noch nicht« bezeichnete die innere Spannung des Kapitalismus selbst, aber eben noch nicht den Blick darüber hinaus, der erst an seinen historischen Grenzen möglich wird.

 

Die innere Ungleichzeitigkeit des Kapitalismus

 

Die Perspektive der immanenten »Ungleichzeitigkeit« in der Herausbildung des modernen gesellschaftlichen Systems lässt sich auf verschiedenen Ebenen darstellen. So war die noch junge kapitalistische Produktionsweise in jenem Zeitraum des 19. Jahrhunderts, der die Lebensspanne von Karl Marx (1818-1883) ausmachte, auf eine bestimmte Weise in Bezug auf sich selber ungleichzeitig: Einerseits hatte sie ihre eigene Logik schon so weit entfaltet, dass diese in ihren Grundzügen sichtbar und damit abstrakt erkennbar geworden war, andererseits waren die spezifisch kapitalistischen Formen noch vielfältig vermischt mit vorkapitalistischen Verhältnissen in verschiedenen Stadien des Verfalls und der noch lange nicht abgeschlossenen Transformation. Wenn sogar das theoretische Bewusstsein dieser gärenden, sich ständig wandelnden Gesellschaft den jeweiligen Zustand des Transformationsprozesses mit dem »Kapitalismus als solchem« verwechseln konnte, so musste natürlich erst recht das praktische, unvermeidlich in die Tageserfordernisse verstrickte Bewusstsein den Kapitalismus gleichsetzen mit den un- mittelbaren gesellschaftlichen Erscheinungsformen, denen indes in vieler Hinsicht noch die Schlacken vormoderner Restbestände anhafteten. Wie der Kapitalismus auf diese Weise gerade auch für die jeweils herrschenden Interessen und deren Apologeten als identisch mit einem Stadium seiner noch unausgegorenen Entwicklung erschien (die patriarchalischen Honoratioren- und Clan-Kapitalisten des frühen 19. Jahrhunderts etwa könnten sich kaum in den heutigen Dotcom-Kapitalisten der Globalisierung wieder erkennen), so musste umgekehrt für die fortschrittlichen, über das jeweilige Stadium hinausdrängenden Kräfte die Abstoßung von diesem Zustand den Namen einer Kapitalismuskritik annehmen, auch wenn es in Wahrheit bloß um die Fortentwicklung des Kapitalismus selber ging.

Der Begriff der Modernisierung war daher nicht so eindimensional wie heute, sondern mit einer Art innerkapitalistischen Kritik (man könnte auch sagen: einer fortschreitenden inneren Selbstkritik des noch unfertigen Kapitalismus) aufgeladen. Dies umso mehr, als es sich dabei um einen scheinbar sehr klar bestimmbaren Interessenkampf handelte. Einerseits neigten die selber noch mit vormodernen Denk- und Verhaltensmustern ausgestatteten Kapitalisten-Subjekte des 18. und 19. Jahrhunderts dazu, die von ihnen genutzten Lohnarbeiter paternalistisch und mit autoritären Herrenallüren wie persönlich Abhängige zu behandeln, obwohl es sich bei der »freien Lohnarbeit« der Form nach um Rechtsverträge unter Gleichen handeln musste. Andererseits klagten die Lohnarbeiter und ihre zunächst staatlich unterdrückten Organisationengenau diesen Charakter rechtsgleicher Vertragsverhältnisse gegen den vordergründig persönlichen Herrschaftscharakter des empirisch noch nicht seinem logischen Begriff entsprechenden Kapitalverhältnisses ein. Genau deshalb aber wurde der Klassenkampf zum Motor der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte, und die Kapitalismuskritik gegenüber den persönlichen Eigentümer-Kapitalisten entsprach in Wahrheit nur der reinen Logik des Kapitalismus selber, nämlich der Logik eines Systems strikter formaler Egalität von abstrakten Individuen, die gewissermaßen als Atome eines ihnen gegenüber verselbständigten ökonomischen Prozesses gesetzt sind.

Außer den paternalistischen persönlichen Herrschaftsallüren und den Resten ständischer Sozialverhältnisse gab es aber auch noch andere Momente der inneren Ungleichzeitigkeit, so etwa vormoderne kulturelle Muster, die sich gegenüber der abstrakten betriebswirtschaftlichen Fließ- zeit, dem abstrakten Arbeitstag, dem vereinheitlichten politisch-ökonomischen Regelwerk, der Normierung des Alltags und der Dinge, der funktionalistischen Reduktion der Ästhetik usw. in vieler Hinsicht sperrig zeigten. Auch unabhängig vom Klassenkampf und der damit verbundenen immanenten Kapitalismuskritik war der kapitalistische Systemzusammenhang noch nicht ausgereift, zumal selbst in den entwickeltsten kapitalistischen Ländern (allen voran England) die kapitalistische Produktionsweise noch keineswegs alle Produktionszweige vollständig erfasst hatte und die gesellschaftlichen Sphären außerhalb der unmittelbaren betriebswirtschaftlichen Produktion (Staat, Familie, Kulturleben, außerökonomische Korporationen etc.) weder ausreichend auf die kapitalistischen Bedürfnisse zugeschnitten noch durchgehend nach dem Bild kapitalistischer Rationalität umgeformt waren.

 

Die Arbeiterbewegung in der »nachholenden Modernisierung« des 19. Jahrhunderts

 

In einer anderen Hinsicht stellte sich die Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung auch als eine äußere dar. Ein großer Teil der Erde war noch so gut wie gar nicht der Logik dieser Produktionsweise unterworfen worden, noch nicht einmal in der oberflächlichen kolonialistischen Form.. Ein erheblicher Teil der kolonialen Annexionen fand erst im 19. Jahrhundert statt, und selbst die einmal eroberten Länder und Weltregionen waren natürlich in den Strukturen ihrer gesellschaftlichen Reproduktion bei weitem nicht derart kapitalistisch durchdrungen wie die Mutterländer. Als Rohstoffreservoire und eher marginale Absatzgebiete konnten sie nur teilweise in den kapitalistischen Prozess einbezogen werden, während das Leben im großen Hinterland, das nur punktuell politisch-militärisch beherrscht war, noch weitgehend in vorkapitalistischen Formen verharrte.

Vor allem aber gab es auch innerhalb Europas selber ein gewaltiges Entwicklungsgefälle. Obwohl der Kapitalismus eine lange Vorgeschichte hinter sich hatte, konnte am Ende des 18. Jahrhunderts nur das bereits ansatzweise industrialisierte England ein modernes kapitalistisches Land genannt werden, dem gegenüber die Entwicklung auf dem Kontinent relativ zurückgeblieben war. Innerhalb des kontinentalen Europa wiederum war der westliche Teil (insbesondere Frankreich und Holland) im Verhältnis zu Mittel- und Südeuropa weiter fortgeschritten. In Deutschland war noch nicht einmal die Voraussetzung einer einheitlichen Nationalökonomie und eines dazugehörigen Nationalstaats herausgebildet. So stand das 19. Jahr hundert in Europa und im Kreis jener Länder, die man bereits vage als kapitalistische zu bezeichnen begann, ganz wesentlich im Zeichen einer Aufholjagd. Diese erste nachholende Modernisierung bildete (in der Konkurrenz mit England und Frankreich) geradezu ein Paradigma, das am nachhaltigsten die Entwicklung in Deutschland und in Italien prägt. In Asien kam dann noch Japan hinzu, auf der anderen Seite des Atlantiks mauserten sich die USA sprunghaft zu einem eigenständigen Fokus industriekapitalistischer Entwicklung.

Erst dieser Prozess nachholender Modernisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ jenes widersprüchliche globale Zentrum von relativ wenigen Ländern entstehen, die seither in wechselnden Konstellationen und durch verheerende Weltkriege hindurch die kapitalistische Welt dominieren: Was sich nach dem Zweiten Weltkrieg als exklusiver Club der OECD konstituierte, in jüngster Zeit als »G7« regelmäßige globale Gipfelkonferenzen veranstaltet und als Triade (mit den Zentren EU, Japan und USA)figuriert, besteht immer noch aus genau jenem Zentralkomplex von Staaten und Nationalökonomien, die das Ergebnis des angelsächsisch-westeuropäischen »Vorlaufs« und der anschließenden nachholenden Modernisierung Deutschlands, Italiens und Japans im 19. Jahrhundert waren.

Es konnte nicht ausbleiben, dass neben der grundsätzlichen inneren auch diese äußere, nationalstaatlich-nationalökonomische Ungleichzeitigkeit den immanenten Antikapitalismus der alten Arbeiterbewegung be- stimmte. Wo in dieser oder jener Hinsicht ein Entwicklungsrückstand zu anderen kapitalistischen Nationen bestand... machte sie sich dieses Problem positiv zu eigen, und wo dieses Gefälle besonders stark war, nahm diese Identifikation auch einen besonders ausgeprägten Charakter an. In Deutschland gehörten die marxistische Sozialdemokratie und die Gewerkschaften zu den vehementesten Verfechtern der nationalen Vereinigung. Wurde diese nationalstaatliche Einheit auch letzten Endes durch den preußischen Militärstaat unter Ägide des Kanzlers Bismarck »von oben« und im Rahmen eines anachronistischen Kaiserreichs vollzogen, so ist der deutschen Sozialdemokratie doch bis heute ein besonders finsterer bürgerlicher Patriotismus erhalten geblieben. In den Konkurrenzverhältnissen, wie sie die Konstellation der. nachholenden Modernisierung im 19. Jahrhundert kennzeichneten, nahmen schließlich alle Arbeiterparteien den nationalökonomischen und nationalstaatlichen Standpunkt »ihres« Landes ein, eine Orientierung, die bekanntlich dazu führte. dass sich die »befreundeten« nationalen Arbeiterbewegungen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs wieder begegnen sollten. Dieses Einschwenken auf die Position der nationalökonomischen Konkurrenz in der äußeren Ungleichzeitigkeit unter dem Eindruck der nachholenden Modernisierung stand in einem Verhältnis logischer Notwendigkeit zur avantgardistischen Rolle der Arbeiterbewegung hinsichtlich der. inneren Ungleichzeitigkeit des kapitalistischen Systems: Die soziale Opposition nach innen und der nationale Konformismus nach außen waren in Wahrheit gar nicht so gegensätzlich, wie es zunächst vielleicht scheinen mochte.

 

Der exoterische und der esoterische Marx

 

In diesem Spannungsfeld innerer und äußerer Ungleichzeitigkeit des Kapitalismus im 19. jahrhundert ist die Entstehungsgeschichte der Marxschen Theorie angesiedelt. Marx, selber ein Dissident des bürgerlichen Liberalismus, konnte gar nicht anders, als dieser Spannung Rechnung zu tragen. Oberflächlich betrachtet spiegelt Marx’ Wirken den inneren und äußeren Widerspruch des Kapitalismus seiner Zeit in doppelter Weise. Zum einen war Marx (neben Friedrich Engels) die herausragende Figur des sozialen Seitenwechsels avantgardistischer Intellektueller, die in der Kritik der be- sonders in Kontinentaleuropa strukturell rückständigen Regierungsformen von den gemäßigt oppositionellen liberalen Bourgeois zur proletarischen Opposition der beginnenden Arbeiterbewegung übergingen. Wenn man freilich den Charakter dieser Bewegung als immanenten Entwicklungsmotor des Kapitalismus selbst versteht, dann war dieser Seitenwechsel keineswegs so sensationell und historisch einschneidend, wie es die marxistische Hagiographie immer hingestellt hat. Der bloße Wechsel des Klassenstandpunkts blieb im Gegensatz zum Selbstbewusstsein der Akteure ganz im Rahmen der kapitalistischen Logik und war vor allem von der Enttäuschung über die mangelnde immanente Fortschrittlichkeit der empirischen, dem damaligen Status quo allzu sehr verhafteten, allzu konservativen Kapitalistenklasse bestimmt.

Die Grundfigur des daraus resultierenden dissidenten Denkens bestand in der Idee, die von der »besitzenden Klasse« des aufsteigenden Kapitalismus nur halbherzig und schleppend durchgeführten, großenteils sogar liegen gelassenen »bürgerlichen Aufgaben« der weiteren kapitalistischen Entwicklung (Ausdifferenzierung der bürgerlichen Rechtsverhältnisse, Homogenisierung des sozialen Raumes, Modernisierung der familialen und kulturellen Strukturen etc.) gewissermaßen der jungen Arbeiterbewegung zu übertragen, ein gerade bei Marx immer wieder anklingendes Motiv, insofern machte die Theorie aber nur bewusst, was ohnehin als wesentlicher Impuls der Arbeiterbewegung durch ihren Kampf um Anerkennung im Kapitalismus bereits angelegt war. Und soweit die Marxsche Theorie diesem Impuls wissenschaftlichen Ausdruck verlieh, konnte sie eben zum gesellschaftstheoretischen Sprachrohr oder zur wissenschaftlichen Repräsentanz der Arbeiterbewegung als jenem inneren Entwicklungsmotor des Kapitalismus werden.

Verstärkt wurde diese Rolfe der Marxschen Theorie auch noch dadurch, dass Marx als Deutscher gleichzeitig aus der Perspektive der spezifisch deutschen kapitalistischen »Unterentwicklung« schrieb. »Uns quält«, heißt es schon im Vorwort zur ersten Auflage des »Kapital«, »gleich dem ganzen übrigen kontinentalen Westeuropa, nicht nur die Entwicklung der kapitalistischen Produktion, sondern auch der Mangel ihrer Entwicklung. Neben den modernen Notständen drückt uns eine ganze Reihe vererbter Notstände, entspringend aus der Fortvegetation altertümlicher, überlebter Produktionsweisen, mit ihrem Gefolge von zeitwidrigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Wir leiden nicht nur von den Lebenden, sondern auch von den Toten. Le mort saisit le vif! « ... In solchen Aussagen wird deutlich, wie sehr der Dissident Marx dem liberalen Fortschrittsbegriff und dem historischen Entwicklungsschema der Hegeischen Philosophie verhaftet war, das er lediglich aus einer rein geistesgeschichtlichen Fassung auf die Geschichte der ökonomischen Produktionsweisen übertragen oder, wie er selbst es ausdrückte, »vom Kopf auf die Füße gestellt« hatte. Der Kapitalismus war aus dieser Sicht historisch einfach »dran«, und um ihn regelgerecht abschaffen zu können, musste man ihn als historisch notwendige Produktionsweise im Namen einer Entwicklung der Produktivkräfte erst einmal einführen, aufpäppeln, weiterentwickeln und gewissermaßen seinem Begriff annähern. Zu umgehen sei er jedenfalls nicht, so Marx in jenem Vorwort, denn es handle sich um mit »eherner Notwendigkeit sich durchsetzende« Tendenzen: »Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft. «. In seinem positiven theoretischen und in gewisser Hinsicht geschichtsphilosophischen Bezug sowohl auf die innere wie auf die äußere Ungleichzeitigkeit des Kapitalismus im 19. Jahrhundert kann Marx als reflektierter Mödernisierungstheoretiker und gerade dadurch als »Cheftheoretiker«der modernen Arbeiterbewegung gelesen werden. In dieser Lesart haben wir es mit dem vertrauten Marx des »Klassenkampfs«, des »ökonomischen Interesses«, des »Arbeiterstandpunkts«, des »historischen Materialismus« usw. zu tun. Ginge die Marxsche Theorie darin auf, dann würde sie sich nur der sozialen Akzentsetzung nach, nur durch ihre spezifische Terminologie und durch ihren geschichtstheoretischen Unterbau von anderen Modernisierungstheorien unterscheiden. In diesem Sinne wäre das Programm einer bloß immanenten, auf die verschiedenen Ebenen der Ungleichzeitigkeit bezogenen Kapitalismuskritik heute abgearbeitet und damit auch Marx erledigt.

Aber in die Marxsche Theorie’ ist auch ein ganz anderer Argumentationsstrang eingezogen, der über den Horizont seiner Zeit weit hinausreicht. Dabei handelt es sich um eine viel tiefer gehende Kapitalismuskritik, die auch im logischen und historischen Sinne diesen Namen verdient, weil sie die kapitalistische Produktionsweise grundsätzlich in ihren elementaren politisch-ökonomischen Formen kritisiert, die alle sozialen Gruppen, Klassen und Schichten übergreifen und das gemeinsame Bezugssystem der innerkapitalistischen sozialen Konflikte bilden. Diese zweite und eigentliche Ebene der Marxschen Kapitalismuskritik gilt nicht mehr bloß einem bestimmten Modus oder einer bestimmten Entwicklungsstufe oder bestimmten Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Formzusammenhangs, sie ist nicht bloß akzidentiell oder phänomenologisch, sondern sie betrifft das Wesen oder den Kern der Sache; sie bezieht sich nicht auf negative Eigenschaften oder Mängel, sondern sie ist kategorisch oder kategorial, d.h., sie verwirft die grundlegenden Wesensbestimmungen des Kapitalismus.

Dabei handelt es sich ja nicht um bloße Bestimmungen des (theoretischen, wissenschaftlichen) Denkens, sondern um Realkategorien der gesellschaftlichen Reproduktion und Lebensweise, die dann als Begriffe in der Theorie (z. B. in der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre) wieder erscheinen. Deswegen lässt sich der Untertitel des Marxschen »Kapital«, nämlich die »Kritik der politischen Ökonomie«, auch doppelt verstehen: einmal als Kritik der vor oder unabhängig von jeder Theorie existierenden realen, objektiven Verhältnisse in ihren elementaren sozialökonomischen Beziehungs- formen, zum andern als Kritik der damit verbundenen und daraus hervor- gehenden Denk- und Bewusstseinsformen sowohl des »Alltagsverstands« als auch der Ideologie und der Wissenschaft.

Es ist ziemlich leicht, die elementaren kapitalistischen Kategorien zu benennen, aber es ist ziemlich schwer, sie einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen. Die Abstraktion »Arbeit«, der ökonomische »Wert«, die gesellschaftliche Darstellung der Produkte als »Waren«, die allgemeine Geldform, die Vermittlung durch »Märkte«, die Zusammenfassung dieser Märkte in »Nationalökonomien« mit. bestimmten Geldeinheiten (Währungen), die »Arbeitsmärkte« als Voraussetzung einer derart flächendeckenden Waren-, Geld- und Marktwirtschaft, der Staat als »abstraktes Gemeinwesen«, die Form des abstrakt-allgemeinen »Rechts« (der juristischen Kodifizierung) aller persönlichen und sozialen Beziehungen und als Form der gesellschaftlichen Subjektivität, die ausentwickelte, reine Staatsform der »Demokratie«, die irrationale, kulturell-symbolische Verkleidung der nationalökonomisch-staatlichen Kohärenz als »Nation« - alle diese Grundkategorien moderner kapitalistischer Vergesellschaftung, einerseits durch blinde historische Prozesse hindurch herausgebildet, wurden den Menschen andererseits in einem mehrhundertjährigen Prozess der Pädagogisierung, Gewöhnung und Verinnerlichung von den jeweiligen (selber in Bezug auf das Ganze bewusstlosen) Protagonisten und Machthabern aufoktroyiert mit dem Ergebnis, dass diese Kategorien schon bald geradezu als unüberwindbare anthropologische Konstanten erschienen, die jeder Kritik spotten.

Es war allerdings eine reife Leistung der bürgerlichen Aufklärungsphilosophie und der dazugehörigen Wirtschaftstheorie des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts, dass es ihr gelang, den vorher nie dagewesenen gesellschaftlichen Formzusammenhang des Kapitalismus als im Prinzip schon immer existierende Naturgesetzlichkeit des menschlichen Zusammenlebens zu verkaufen. Diese eigentlich ewigen Kategorien seien, so hieß es, in der Vergangenheit lediglich fehlerhaft und unvollständig angewendet worden, weil das nötige Verständnis (die durch Aufklärung erweckte Vernunft) gefehlt habe. Nachdem aber nunmehr diese Vernunft glücklicherweise endlich gefunden sei, habe die Geschichte der Irrtümer ein Ende, und die Menschheit könne in Befolgung der eigentlich schon immer vorhandenen und gültigen Prinzipien der Gesellschaft schlechthin (sprich: des Kapitalismus) einer glorreichen Zukunft entgegengehen.

Hegel modifizierte dieses Konstrukt auf raffinierte Weise, indem er die bei den Aufklärern noch als Fehler und Irrtümer figurierenden vormodernen Gesellschaftszustände ebenso viele »notwendige Entwicklungsstufen« umdefinierte, die natürlich allesamt nur den Sinn gehabt hätten, auf die wunderbare Moderne als Gipfel- und Endpunkt der menschlichen Entwicklung zuzulaufen. Dass Hegel dieses Stadium ausgerechnet in der konstitutionellen preußischen Monarchie erreicht sah, zeigt natürlich, wie sehr auch er die Moderne oder den Kapitalismus (der bei ihm freilich nicht so heißt, sondern wesentlich hochtrabendere Namen trägt, z. B. den des »Weltgeistes«) als Ziel der Geschichte mit dem unausgereiften Ist-Zustand seiner Zeit verwechselte.

So kam es also, dass die moderne Philosophie im allgemeinen und die Volkswirtschaftslehre (später auch die ausdifferenzierten akademischen Disziplinen von Soziologie, Politikwissenschaft etc.) im besonderen den völlig neuartigen kategorialen Zusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft als angeblich natürliche Prinzipien des Zusammenlebens und des Wirtschaftens auf die gesamte Menschheitsgeschichte projizierten. Auch heute noch gilt es trotz aller Kritik an einer ahistorischen, unspezifischen Betrachtungsweise zumindest in den Wirtschaftswissenschaften als ausgemacht, dass schon der erste Faustkeil, den ein Vormensch aus dem Stein geschlagen hat, Kapital gewesen sei und einen Preis auf einem Markt von Subjekten des Warentauschs erzielt haben müsse. Marx blieb zwar in geschichtsphilosophischer Hinsicht Hegel verhaftet; aber er machte sich doch nicht nur weidlich lustig über diese haarsträubenden Anachronismen der Volkswirtschaftslehre und er »historisierte« nicht nur explizit oder implizit die modernen kapitalistischen Kategorien, sondern er bestimmte sie auch grundsätzlich als Formen einer zutiefst irrationalen, destruktiven und letztlich selbstzerstörerischen Form der Gesellschaft.

Aber diese radikale Kritik ist eben vermengt und verschränkt mit jener Analyse der inneren und äußeren Ungleichzeitigkeit des Kapitalismus und jener Repräsentanz der bloß auf Anerkennung »im« Kapitalismus orientierten Arbeiterklasse, so dass Marx teils in seiner Ausdrucksweise, teils auch im Inhalt seiner Argumentation auf Schritt und Tritt zwischen einer grundsätzlichen kategorischen Kritik einerseits und einer »positivistischen« (oder als solche lesbaren) Darstellung andererseits schwankt, ja im Hinblick auf viele zentrale Begriffe und Argumentationen offensichtlich in sich widersprüchlich wird. Insofern also muss man vom »doppelten Marx« sprechen, und zwar genau in Bezug auf dieses Verhältnis von positivistischer Immanenz und kategorialer Transzendenz in seiner Theoriebildung. Dabei haben wir es einmal mit einem »exoterischen« (nach außen gewandten, gut rezipierbaren) und einmal mit einem »esoterischen« (kategorisch denkenden, schwer zugänglichen) Marx zu tun. Der exoterische Marx ist der positiv auf die immanente Entwicklung des Kapitalismus bezogene, der esoterische Marx dagegen der auf die kategorische Kritik des Kapitalismus bezogene Theoretiker.

 

Marx und die Arbeiterbewegung: keine Liebesheirat

 

Für Marx selber und seine Rezipienten in der Arbeiterbewegung waren diese beiden ineinander verschlungenen Momente jedoch nicht auseinander zuhalten. Obwohl Marx schon früh die Politik als Form einer bloß äußerlichen und abstrakten, vom Verwertungsprozess des Kapitals abhängigen Gesellschaftlichkeit erkannt hatte, bildete er sich doch ein, die Arbeiterbewegung könne gerade auf dem Weg des politischen (staatsbezogenen) Kampfes über die bloß immanente Interessenvertretung hinausgetrieben werden zu jener noch unscharfen und das kapitalistisch konstituierte Bewusstsein übersteigenden kategorischen Kritik, deren Erfüllung er selber gelegentlich als »Traum«, als »ungeheuerlichen Zweck« oder als Tat eines »enormen Bewusstseins« bezeichnete.

Die Arbeiterbewegung und ihre großenteils biederen politischen Repräsentanten konnten ihrerseits mit der implizit oder explizit aufscheinenden kategorischen Kritik so gut wie gar nichts anfangen. Ein wenig heuchlerisch schob man das Problem gern auf eine bloße Schwerverständlichkeit der theoretischen Ausdrucksweise und machte sich absichtlich dem »großen Denker« gegenüber klein, aber nur um klammheimlich den schlichten AIItagsverstand des geldverdienenden Arbeitsmenschen gegen die »graue Theorie« und ihre unpraktischen, nutzlosen »Spintisierereien« in Anschlag zu bringen. Vor diesem Hintergrund erschienen jene angeblich unverständlichen Ausführungen von Marx zur grundsätzlichen Kritik der kapitalistischen Formen vielen sonst durchaus wohlwollenden Rezipienten auch als eine Art »Hegelianischer Flausen« oder geradezu als »philosophischer Quatsch«. In Wahrheit verbirgt das abstrakt ontologische und erkenntnis- theoretische, scheinbar praxisferne Räsonnement der modernen Philosophie in seiner terminologischen Verkleidung eben die Reflexion über die kapitalistischen Denkformen, die zugleich gesellschaftliche Praxisformen sind.

Während Marx wider sein eigenes besseres Wissen in der über den bloß gewerkschaftlichen täglichen Interessenkampf hinausgehenden politischen Form der Arbeiterbewegung das Vehikel einer grundsätzlichen Formkritik (und damit paradoxerweise auch der politischen Form selber) erkennen wollte, wurde für die Arbeiterbewegung diese politische Form gerade umgekehrt zum Vehikel dafür, die gewissermaßen nur aus den Augenwinkeln betrachtete und geradezu angstbesetzte kategoriale Formkritik sachte zu umgehen, um statt dessen die (letztlich erfolgreiche) Anerkennung im Kapitalismus als Subjekt der Arbeit und auf den Arbeitsmärkten zu erstreiten. So täuschte man sich wechselseitig, und Marx wurde nicht nur in seiner exoterischen Eigenschaft zum wissenschaftlichen Repräsentanten der Arbeiterbewegung, sondern gleichzeitig in seiner esoterischen Eigenschaft zum ewig unzufriedenen theoretischen Grummler und Grantler, Nörgler und abkanzelnden Schulmeister im Hintergrund, ein getreues Spiegelbild seines eigenen inneren Widerspruchs im Verhältnis zur geschichtlichen Bewegung der Arbeiterklasse in den Kapitalismus hinein statt aus ihm heraus.

Die aus diesem äußerst zwiespältigen Verhältnis notwendig resultieren- de Spannung führte ziemlich bald dazu, dass die Widersprüchlichkeit der Theorie in ihre Kanonisierung und Dogmatisierung umschlug, wie es sich stets verhält, wenn die eigene legitimatorische Weitsicht einen blinden Fleck enthält, der nicht zur Sprache kommen darf. Marx hatte zwar ironisch bemerkt, dass er »kein Marxist«sei, was ihm aber nichts nutzte. Denn die Umwandlung und damit Bannung des theoretischen Widerspruchs in die Ideologie eines »Ismus« war die einzige Möglichkeit, seine Theorie auf eine Rezeption zurechtzustutzen, die den Bedürfnissen der Arbeiterbewegung entsprach. Und diese Ideologisierung machte mit Marx das, was jedem ungleichzeitigen Denker geschieht, der in seiner Zeit und ihr doch voraus ist: Er wurde nur deswegen als exoterischer Marx bis zum Dogma erhöht, um als esoterischer Marx erniedrigt und hintenherum getreten zu werden. Am angestrengtesten durch die »marxistischen« Parteiideologen und akademischen Gelehrten von Karl Kautsky bis Oskar Negt. Vielleicht auf keinen Denker der Moderne trifft so sehr der Spruch des polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec zu wie auf Marx: »Sie haben ihn durch ein Denkmal gesteinigt.«

 
Der Marxismus und die nachholende Modernisierung im 20. Jahrhundert

 

Diese Steinigung des esoterischen Marx setzte sich nach seinem Tod über mehr als ein Jahrhundert hinweg fort. Denn das »kurze« zwanzigste Jahr- hundert, bestimmt durch die historischen Daten Von 1914 und 1989, erlebte nicht den Durchbruch der kategorischen Kritik in der Marxschen Theorie und damit eine neue Qualität gesellschaftskritischer Reflexion, sondern ganz im Gegenteil den abermaligen Aufstieg und schließlichen Absturz des exoterischen, positiv-immanenten Modernisierungs-Marx auf einer neuen Ebene der historischen Ungleichzeitigkeit im Kapitalismus. Denn das 20. Jahrhundert bildete - trotz der beiden Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise (1929-33) - noch nicht das Säkulum der Krisenreife und Transformation des Kapitalismus, sondern statt dessen wesentlich die Epoche einer zweiten großen Welle der »nachholenden Modernisierung«. Jetzt erst traten die großen Weltregionen der kapitalistischen Peripherie, die über- wiegende Mehrzahl der Menschheit, wie von Marx schon Jahrzehnte zuvor prophezeit, in die kapitalistische Weltgeschichte ein.

 

Diese zweite nachholende Modernisierung differenzierte sich wiederum in zwei miteinander verschränkte Bewegungen: zum einen in die Heraufkunft des östlichen Staatssozialismus (vulgo Staatskapitalismus), der es zu Ansätzen eines eigenen Weltsystems brachte, zum andern in die südliche nationale Befreiungsbewegung der kolonialen Länder, deren Entkolonisierung und bürgerlich-nationalstaatliche Unabhängigkeit erst seit dem Ende des Jahrhunderts abgeschlossen ist (endgültig mit der Rückgabe Hongkongs an China). Der Urknall dieser Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts war die große russische Oktoberrevolution am Ende des Ersten Weltkriegs, gefolgt von der chinesischen Revolution im Zuge des Zweiten Weltkriegs und den großen antikolonialen Befreiungskriegen (Algerien, Vietnam, südliches Afrika) in den Nachkriegsjahrzehnten.

Es konnte nicht ausbleiben, dass der exoterische Marx, dessen immanente Modernisierungstheorie in der westlichen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung schon ein wenig verblasst und mit Versatzstücken der positivistischen bürgerlichen Wissenschaften vermengt worden war, in der zweiten historischen Welle der nachholenden Modernisierung auch seinen zweiten Frühling erlebte. Denn indem die peripheren Regionen in den globalen Horizont des Kapitalismus eintraten, konnten sie nicht bloß auf die beschränkten eigenen Kulturtraditionen etc. zurückgreifen. Sie benötigten vielmehr eine universelle westliche Theorie als legitimatorischen Hintergrund, die gleichzeitig als universelle, auf die kapitalistische Weltgeschichte bezogene Legitimationstheorie einen historisch oppositionellen Charakter tragen musste, um für die Konkurrenz der nachholenden Peripherie mit den etablierten Zentren des Kapitals instrumentalisiert werden zu können.

Der exoterische Marx wurde also von Theoretikern wie Lenin, Stalin und Mao Zedong erneut aufgegriffen und diesmal zurechtfrisiert für die Bedürfnisse der neuen historischen Aufholjagd an der kapitalistischen Peripherie. Diese Bedürfnisse unterschieden sich insofern von denen der westlichen Arbeiterbewegung, als es nicht einfach um die Anerkennung der Lohnabhängigen in einem bereits etablierten Kapitalismus ging, sondern um die nach- holende Etablierung der kapitalistischen Gesellschaftskategorien selbst, und zwar weit über die Erfordernisse jenes ähnlichen Prozesses der nachholen- den Modernisierung Deutschlands., Italiens und Japans im 19. Jahrhundert hinaus. Denn erstens war der Rückstand im Grad moderner kapitalistischer Vergesellschaftung viel größer als innerhalb des früheren europäischen Gefälles, zweitens musste die »Aufholjagd« in viel kürzerer Zeit und auf einem viel höheren Entwicklungsniveau des Weltkapitals durchgezogen werden, und drittens konnte dies nur in einer prekären Konkurrenz zu einem bereits global dominierenden Kreis von hoch entwickelten und hochgerüsteten kapitalistischen Zentralmächten geschehen.

In diesem Kontext erlebte die Marxsche Theorie eine nochmalige Verbiegung und Reduktion. Die esoterischen Momente der kategorischen Kritik erschienen nicht einmal mehr als abgehobene philosophische Reflexion jenseits der praktischen Erfordernisse, sondern verschwanden auf dem Weg von Lenin zu den Theoretikern der nationalen Befreiung nahezu vollständig aus der Diskussion. Der soziale Bezug zu einer Arbeiterbewegung blieb zwar formal erhalten, reduzierte sich aber praktisch auf relativ kleine Gruppen und gewerkschaftliche Organisationen im Kontext einer noch dünnen Industrialisierung. Die marxistischen Arbeiterparteien der Peripherie wurden selber zu bürokratischen Maschinen der »nachholenden Inwertsetzung« von Gesellschaften, die noch nicht von der kapitalistischen ökonomischen Form durchdrungen waren. Sie waren nicht bloß Repräsentanten der inneren Unruhe oder der weiteren rechts- und sozialstaatlichen Ausdifferenzierung des Kapitalismus wie ihre westlichen Bruder- und Schwesterparteien, sondern mussten überdies (bei Lenin noch einigermaßen bewusst) selber in einem abstrakt-gesamtgesellschaftlichen Sinne »Bourgeoisie spielen«, weil die soziale Bourgeoisie der peripheren Länder einfach zu mickrig für diese Aufgabe war. Die Identifikation dieses peripheren Marxismus mit der jeweiligen (in den Exkolonien meistens erst frisch erfundenen und völlig synthetischen) Nation nahm daher einen noch intensiveren Charakter an als im Westen.

Die Paradoxie dieses legitimationsideologischen Marxismus der zweiten nachholenden Modernisierung überstieg noch bei weitem diejenige der westlichen Arbeiterparteien, denn es handelte sich ja um das nur aus der besonderen historischen Konstellation erklärbare Amalgam eines »antikapitalistischen Entwicklungskapitalismus« oder direkten Staatskapitalismus, der im Spannungsfeld einer besonders krassen äußeren Ungleichzeitigkeit den Widerspruch der Marxschen Theorie auch besonders krass ausdrücken musste. Vordergründig erschien und gab sich diese zweite Rezeption des exoterischen Marx wesentlich radikaler als die erste, aber eben nicht deswegen, weil sie die verborgene kategorische Kritik des Kapitalismus mobilisiert hätte und damit zur Wurzel des historischen Verhältnisses vorgedrungen wäre, sondern ganz im Gegenteil, weil sie einer härteren Belastung der innerkapitalistischen Ungleichzeitigkeit ausgesetzt war. Als Staatsbürokratien mussten die marxistischen Arbeiterparteien nicht nur die bürgerlichen Aufgaben in einem viel emphatischeren Sinne übernehmen als einst im Westen, ja sogar paradoxerweise die Arbeiterklasse als Menschenmaterial des Verwertungsprozesses selber erst im großen gesellschaftlichen Maßstab hervorbringen! Wenn sich diese Hardcore-Version des exoterischen Marxismus als radikal darstellte, dann handelte es sich in Wahrheit weniger um eine Radikalität der theoretischen und praktischen Kritik als vielmehr um eine notgedrungene Militanz der Konkurrenz in der innerkapitalistischen Selbstbehauptung gegenüber den westlichen Zentren, die sich daher auch einer entsprechend martialisch ausgerichteten kulturell-symbolischen Darstellung befleißigte und im Zeichen der Revolutionskriege und nationalen Befreiungskriege des 20. Jahrhunderts den Insignien der Arbeit, Hammer und Sichel, die stilisierte Kalaschnikow hinzufügte.

Ohne dass der dabei aufscheinende Problemzusammenhang mit den Mitteln der Marxschen Modernisierungstheorie auf den Begriff gebracht werden konnte, führte diese bloß relative Differenz innerhalb der Marx- Rezeption zum großen Schisma der marxistischen Weltbewegung. Diese Spaltung, vordergründig durch den scheinbaren Gegensatz von östlich- südlicher Radikalität und gemäßigtem westlichen Reformismus bedingt, reflektierte in Wirklichkeit nur den Unterschied im Grad der Ungleichzeitigkeit und Unabgeschlossenheit der kapitalistischen Durchdringung: In der älteren Schicht des westlichen Entwicklungswegs ging es um die bloße Anerkennung innerhalb des bereits ausgeformten modernen Staates, in der jüngeren östlich-südlichen Schicht um die Eroberung der Staatsmacht zwecks Installation einer modernen Staatsmaschine als Träger staatskapitalistischer Industrialisierung. Es ist verständlich, dass die an diese Konstellation gebundene Form einer scheinbaren (auf die staatliche Machtfrage zentrierten) Radikalisierung der Marxschen Theorie in den westlichen Zentren nur eine ideologische Minorität mobilisieren konnte; der Kommunismus (als Etikettierung des neuen staatskapitalistischen Modernisierungsschubs) blieb im Westen ein bloßer Ableger, eine Art Hilfstruppe der Sowjetunion und kam daher über den Status einer historischen Fußnote nicht hinaus, während er seine eigentliche Ausstrahlungskraft auf die großen peripheren Weltregionen behielt. Die westliche Sozialdemokratie dagegen, saturiert durch vielfältige Teilnahme an der kapitalistischen Menschenverwaltung und entsetzt über die rohen Formen der peripheren marxistischen Entwicklungsdiktatur, entsorgte ihren Marxismus allmählich ganz und mutierte nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer Legitimation und Programmatik zu einer matten keynesianischen Sozialstaatstheorie ohne Klassenkampf- und Revolutions-Rhetorik: Der exoterische Marx war gewissermaßen in den alleinigen Besitz der historischen Nachzügler übergegangen.

 

Die Verwurstung des Marxismus im Kalten Krieg

 

Das Schicksal der Marxschen Theorie im 20. Jahrhundert lässt sich nur durch die Dechiffrierung der äußerlichen Gegensätze im Kontext einer globalen innerkapitalistischen Verwerfung erklären, in der sich die welt- geschichtliche Bewegung des Kapitalismus erstmals nicht nur ihrer Logik nach, sondern auch empirisch als Weltkapital darzustellen begann, dem kapitalistischen Wesen entsprechend in der Form von zerfleischender Konkurrenz und Großkatastrophen ungeahnten Ausmaßes. Dabei überlagerten sich mehrere große Entwicklungswellen, deren gegenseitige Beeinflussung nur vorübergehend stabil erscheinende Systemwelten und Konkurrenzverhältnisse hervorbrachte. Das »Jahrhundert der (westlichen) Arbeiterbewegung« (ca. 1848-1945) überschnitt sich mit dem »Jahrhundert der nationalen Entwicklungsrevolutionen« (1918-1989) und dem Kampf, um die kapitalistische Weltherrschaft innerhalb des Zentrums, der 1945 mit dem Beginn der »Pax Americana« endgültig entschieden war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich dieser Gesamtprozess in der Konstellation jener »drei Welten« dar, von der die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bestimmt war: nämlich der »Ersten Welt« des alten kapitalistischen Zentrums nunmehr unter unangefochtener Führung der Vormacht USA, der »Zweiten Welt« des östlichen Staatskommunismus alias Staatskapitalismus unter Führung der Sowjetunion und schließlich der »Dritten Welt« jener postkolonialen nationalen Befreiungsbewegun- gen und Entwicklungsdiktaturen unterschiedlichster Couleur im globalen Süden. Ost und West, Erste und Zweite Welt standen sich im Kalten Krieg des so genannten Systemkonflikts gegenüber, während die Dritte Welt sich teils in einem losen Verbund der Blockfreien (mit deutlich staatssozialistischer Schlagseite) organisierte, teils zum Schauplatz von Stellvertreter- kriegen der beiden Systemblöcke wurde.

Die Marxsche Theorie, die in ihrer umgemodelten exoterischen Gestalt diese ganze Epoche von der Peripherie her überstrahlte, wurde von beiden Seiten jetzt endgültig bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Hatte am Anfang, als die junge Sowjetunion noch intellektuell und kulturell mit der westlichen Politik und Geistesgeschichte verbunden war (vermittelt über die während der zaristischen Zeit emigrierten Sozialisten), das nur scheinbar emanzipatorische Pathos des »neuen Menschen« und der utopisch aufgeladenen »neuen Zeit« gestanden, so enthüllte sich sehr bald der staatskapitalistische Modernisierungscharakter des sowjetischen Regimes und aller folgenden Entwicklungsdiktaturen. In denen nicht die soziale Emanzipation des Menschen, sondern seine Verwandlung in das Material einer staatlich gesteuerten Teilnahme am Weltmarkt auf der Tagesordnung stand. So kann es kaum verwundern, dass alsbald nicht nur die staatsbürokratischen Arbeits-, Geld- und Marktformen des frühkapitalistischen Take-off, sondern auch die gewöhnlichen Modernisierungsverbrechen zum Vorschein kamen, als sich die ideologische Staubwolke der Revolutionen gelegt hatte.

Der Westen, befangen im Kalten Krieg mit dem eingeigelten Gegenlager der historischen Nachzügler, ernannte Marx und dessen Theorie nun zur negativen Repräsentationsfigur für das totalitäre Reich des Bösen, während ihn der staatskapitalistische Osten zur legitimatorischen Ikone einer längst verdunkelten Hoffnung für die Regimes der entwicklungsdiktatorischen Industrialisierung ausmalte. In seiner Verblendung wollte der Westen in diesem »marxistischen« Osten (und teilweise Süden) nicht das Bild seiner eigenen Vergangenheit erkennen, obwohl dieser in den darauf folgenden siebzig Jahren bis zur Lächerlichkeit nicht nur die kapitalistischen Kategorien,. sondern auch die kapitalistische lebens- und Konsumweise auf relativ niedrigem Niveau unter einer staatsbürokratischen Hülle nachzu- ahmen suchte.

 

Die 68er Bewegung als Johannistrieb des exoterischen Marx

 

Am Ende des westlichen Wirtschaftswunders, jenes großen Nachkriegsbooms der fordistischen Industrien mit dem Automobil als zentralem Produktions- und Konsumgut, erlebte der exoterische Marx - eigentlich schon jenseits seiner historischen Zeit - noch einmal einen unerwarteten dritten Frühling, diesmal in Gestalt der großen westlichen jugend- und Studentenbewegung, die von verwandten Erscheinungen im Ostblock (Prager Frühling) und in der Dritten Welt begleitet war. Aber dieser dritte Frühling war nur noch ein laues Lüftchen, das lediglich die Oberfläche der Gesellschaft mit einer kulturell-symbolischen Bewegung berührte. Der Versuch, diese Bewegung mit dem nationalrevolutionären Pathos der Dritten Welt anzureichern und noch einmal in einem großen strategischen Entwurf die Rezeption des exoterischen Marx zu einer globalen historischen Kraft zusammen- zufassen, erschöpfte sich weitgehend in einer revolutionsromantischen Popkultur. Nur eine winzige Minderheit versuchte diese zum Scheitern verurteilte strategische Option in quasi-existentialistischen, völlig isolierten militärischen Kamikaze-Aktionen zu realisieren (so etwa die RAF).

Die Marxsche Theorie wurde’ dabei nicht auf der erreichten Entwicklungshöhe der kapitalistischen Gesellschaftsformen weitergedacht, sondern in einer begrifflich ziemlich verwahrlosten Gestalt aus der Peripherie re- importiert, deren nachholende Modernisierung ökonomisch und strukturell bereits im Scheitern begriffen war, während sie noch ihre letzten politisch-revolutionären Triumphe zu erleben schien.

Was für die kapitalistischen Metropolen selber als Rest oder Überhang der alten Modernisierungsfunktion im Verständnishorizont des exoterischen Marx noch übrig blieb, war ein kulturrevolutionärer Anschub der 68er Bewegung für die dann folgende Entfesselung des letzten, postmodernen Stadiums kapitalistischer Individualität: Die von der Jugend- und Studentenbewegung noch mit marxistischem Vokabular aufgemotzten Motive der habituellen Kulturkritik, des Antiautoritarismus, der »sexuellen Revolution« und eines punktuellen Kampagnenwesens verwandelten sich in ebenso viele avantgardistische Management- und Marketing-Konzepte, in eine damit verbundene Kommerzialisierung des Intimen und ein neues Selbstunternehmertum der Arbeitskraft.

Soweit die so genannten neuen sozialen Bewegungen, die im Gefolge von 1968 bis Mitte der 80er Jahre yerschiedene Anläufe einer Gegenkultur unternahmen, sich noch als grundsätzliche gesellschaftliche Opposition (miss)verstanden, bezogen sie sich immer seltener auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Das Potential der marxistischen Interpretationen reichte offensichtlich nicht mehr für eine Erklärung der fortgeschrittenen gesellschaftlichen Wirklichkeit aus. Aber ohne den Rückgriff auf die Marxsche Theorie fehlte der Analyse die kritische Schärfe, und die Bewegungen verloren ihren Biss, zerbröselten oder gingen via Subkultur und lobbyistische Nischenpolitik im Kapitalismus auf.

 

Die große Irritation nach dem Ende des Marxismus

 

Mit dem Absterben auch dieses Johannistriebs konnte der exoterische Marx endlich für immer in der Versenkung verschwinden. Aber diese Erschöpfung des marxistischen Paradigmas wurde mangels historischer und theoretischer Reflexion ihres Stellenwerts so interpretiert, als müsse damit die Kapitalismuskritik überhaupt als bloße Verirrung ad acta gelegt werden. Dieser oberflächliche Eindruck schien sich dramatisch zu bestätigen, als 1989 - ironischerweise pünktlich zum zweihundertsten Jahrestag der Französischen Revolution - das morsche Reich des östlichen Staatskapitalismus zusammenbrach und fast lautlos im Orkus der Geschichte verschwand. Der im Namen des exoterischen Marx viel beschworene Realsozialismus büßte schlicht seine Realität ein. Und da gab es erst einmal kein Halten mehr: Noch ganz in der Sichtweise des Kalten Krieges wurde der ebenso un- erwartete wie unbegriffene Epochenbruch quer durch alle politischen und theoretischen Lager als endgültiger Sieg von »Marktwirtschaft und Demokratie« ausgerufen, eine Formel, die uns heute verfolgt wie ein verkaufsfördernder Ohrwurm den Kunden im »Kaufhaus des Westens«.

Aus der historisch zu kurz greifenden Sicht des Kalten Krieges schien allerdings das marxistische Gegensystem und somit die historische Alter- native zum Kapitalismus gescheitert. Und aus der Sicht einer rapide ab- schmelzenden Linken, die nicht anders als in der immanenten Weise des exoterischen Marx denken konnte, musste man dieser Einschätzung kleinlaut zustimmen. Die großen Fluchtbewegungen in einen kapitalismuskonformen »Realismus« mit entsprechenden bizarren Karrieren einerseits, die klägliche und verbohrte marxistische Nostalgie einer verlorenen Minderheit andererseits schienen das Schicksal der Marxschen Theorie endgültig zu besiegeln. Völlig außer Betracht blieb, dass es auch noch eine ganz andere Interpretation der Entwicklungen und Ereignisse geben könnte, nämlich im Horizont jenes verdrängten esoterischen Marx und seiner radikalen kategorischen Kritik.

Aus dieser ganz anderen Sicht, von der selbst die theoretische Öffentlichkeit nur widerwillig Notiz nimmt, ist nicht die historische Alternative gescheitert, sondern ganz im Gegenteil die nachholende Modernisierung der Peripherie. Konnte die Aufholjagd aus der Perspektive der kapitalistischen äußeren (nationalen) Ungleichzeitigkeit im 19. Jahrhundert noch relativ erfolgreich sein, so ist sie im 20. Jahrhundert nach anfänglichen Erfolgen trotz ungeheurer Anstrengungen zusammengebrochen. Die Gründe dafür liegen im Entwicklungsstand des kapitalistischen Weltsystems selbst: Unter den Bedingungen fortschreitender Integration durch Welthandel und Finanzmärkte musste den historischen Nachzüglern spätestens mit der dritten (mikroelektronischen) industriellen "Revolution die Puste ausgehen. Denn sie waren nicht mehr {oder nur um den Preis einer prekären äußeren Verschuldung) in der Lage, die" Kapitalkraft für diese erneute technologische Aufrüstung des gesamten Produktionsapparats aufzubringen. Damit verloren sie die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt, und In einer Kettenreaktion ging die Schere zwischen Import- und Exportpreisen (terms of trade) zu ihren Ungunsten auf, sie konnten nicht mehr ausreichend Devisen verdienen und mussten schließlich als selbständige Nationalökonomien be- dingungslos kapitulieren.

Inzwischen dämmert selbst den marktwirtschaftlich-demokratischen Hofsängern und den neoliberalen Hardlinern, dass die von reihenweisen nationalökonomischen Zusammenbrüchen ausgelöste und fortschreitende Weltkrise keineswegs durch einen bloßen politisch-ideologischen und institutionellen Seitenwechsel vom Staatsplan zur Marktkonkurrenz, von der relativen Abschottung zur Öffnung und von der gescheiterten Einparteien- Entwicklungsdiktatur zum demokratischen Parlamentarismus bewältigt werden kann. Diese Krise geht viel tiefer. Wie die keineswegs bewältigten Zusammenbrüche der südostasiatischen »Tigerländer« mit ihrer angeblichen Wunderwirtschaft gezeigt haben, sind nicht nur die dezidiert sozialistischen Ökonomien der Peripherie an historische Grenzen gestoßen. Es wird immer deutlicher: Der westliche Kapitalismus kann die mit ihren eigen- ständigen Aufholversuchen gescheiterten historischen Nachzügler nicht in ein unter seiner alleinigen Ägide vereinheitlichtes Weltsystem integrieren. Die innerkapitalistische Ungleichzeitigkeit wurde nicht positiv, sondern negativ aufgehoben. Unter dem Zwang global vereinheitlichter Produktivitäts- und Rentabilitätsstandards kann bereits jetzt der größere Teil der Menschheit nicht mehr in den kapitalistischen Gesellschaftsformen weiter- existieren. Mehr noch: Ganz unzweideutig manifestiert sich die Weltkrise auch in den kapitalistischen Kernländern selber, wenn auch bis jetzt gedämpft durch einen abgehobenen neuen Finanzkapitalismus, der selber schon als Krisenphänomen gedeutet werden kann.

Je klarer die Tatsachen diese Wahrheit hinausschreien, desto größer wird die Irritation. Soll man etwa die gerade begrabene Marxsche Kapitalismuskritik wieder ausbuddeln und die inzwischen abhanden gekommenen Begriffe des Klassenkampfs und einer alternativen politischen Ökonomie einfach revitalisieren und wiederholen, wo sie doch offensichtlich einem untergegangenen Zeitalter angehören? Die offizielle Wissenschaft und die bürgerliche Öffentlichkeit sträuben sich mit einigem Recht, eine abgehakte und gegenstandslos gewordene Debatte wieder zu beleben. Doch aber dann gibt es scheinbar keine Möglichkeit mehr, die evidenten Krisenerscheinungen auf den Begriff zu bringen und historische gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln (daher auch die bis zur Ignoranz sture Rede von der »alternativlosen Marktwirtschaft«). Weil nach 150 Jahren nur der exoterische Marx einer positiven Modernisierungstheorie im gesellschaftlichen Bewusstsein präsent ist, leidet die Gesellschaftstheorie unter einer galoppierenden Paralyse.

 

Marxistische Totenbeschwörungen

 

Die wenigen Häuflein übrig gebliebener Marxisten tun größtenteils so gut wie nichts dafür, diesen Zustand zu ändern. Im Gegenteil, sie bekräftigen diese Paralyse noch und bestätigen sie, indem wieder und wieder das untergegangene Paradigma des exoterischen Marx klappernd und mit hilfloser Zwanghaftigkeit abgespult wird.

Die Insignien und Parolen der nachholenden Entwicklungsrevolutionen sind bereits in der postmodernen Ramschkiste gelandet. »Hammer und Sichel« tauchen neben religiösen und anderen Zeichen als von ihrem historisch gewordenen Inhalt abgelöstes Accessoire der Beliebigkeitskultur auf, Investmentfonds oder Autoverleiher werben für ihre »revolutionären« Geschäftsideen mit verfremdeten Leninbildern. Aber der Restmarxismus rätselt unverdrossen über die für ihn weiterhin selbstverständliche qualitative Differenz zwischen dem entrealisierten Realsozialismus und der kapitalistischen Produktionsweise, obwohl doch die qualitative Identität praktisch bewiesen wurde, indem dieser Sozialismus nur deswegen an den kapitalistischen Kriterien scheitern konnte, weil sie auch seine waren.

Gegenwärtig zeichnet sich eine neue Rückzugsfront der globalen Linken ab, in der Begriffe des exoterischen Marx (»Klassenkampf« usw.) mit Elementen der keynesianischen volkswirtschaftlichen Doktrin (partielle Staats- eingriffe und sozialstaatliche Flankierung des Kapitalismus etc.) verbunden werden sollen, An der Spitze dieser Tendenz steht der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der geradezu die »Verteidigung der keynesianischen Zivilisation« gegen den Vormarsch des Neoliberalismus ausgerufen hat. Angesichts des Gros von ex-linken »Realisten«, die inzwischen von der Forderung nach Biliiglohn-Sektoren bis hin zum NATO-Kriegseinsatz alles blindlings mitmachen, was der Kapitalismus verlangt, erscheint der von persönlicher Integrität getragene Aufruf Bourdieus zum intellektuellen und sozialen Widerstand als durchaus sympathisch. Aber diese linksoppositionelle Positionierung hat keine historische Eigenständigkeit, keine Substanz und keine gesellschaftliche Perspektive mehr.

Die Bourdieu-lnitiative kann sich im Gegensatz zur dogmatischen Totenbeschwörung der weltfremd gewordenen letzten »Gläubigen« nur deshalb äußerlich als undogmatisch und neu darstellen, weil es sich um eine ideologische Legierung zweier alter und abgelebter, einst gegensätzlicher Gehalte handelt. Der Bezug auf den exoterischen Marx erscheint dabei nur noch als rituelle Erinnerung an den Klassenkampf und bleibt begleitende Rhetorik, während wir es inhaltlich mit kaum mehr als einer matten keynesianischen Nostalgie zu tun haben. So repetiert etwa die hoffnungslos blauäugige Forderung nach einer »politischen Kontrolle der transnationalen Finanzmärkte« das Muster des vergangenen Zeitalters, nämlich die Idee einer staatlich-politischen Regulation und Moderation der unaufgehobenen kapitalistischen Realkategorien in einer darüber längst hinweg- gegangenen Welt. Das »deficit spending« der keynesianischen staatlichen Moderation wurde von der Inflation der 70er und 80er Jahre verschlungen, die nationalstaatliche Kontrolle des Geldes durch die Globalisierung ausgehebelt. Dieses Muster hat daher keinen innerkapitalistischen Realitätsgehalt mehr. Es bleibt ideologische Reminiszenz, und nur deshalb ist die seltsame Mischehe von Marx und Keynesianismus möglich, über die sogar der Siebziger-Jahre-Marxismus gespottet hätte, der selber bloß noch ein historischer Nachklang war. Real ist der westliche Keynesianismus genauso gescheitert wie der östliche Staatskapitalismus der zweiten nachholenden Modernisierung.

Nur weil sich inzwischen das Koordinatensystem der Entwicklung und des gesellschaftlichen Bewußtseins verschoben hat, kann diese Position formal als fast schon wieder »linksradikal« erscheinen. Aber die in diesem Zeichen zum wiederholten Rückzugsgefecht sich sammelnde Linke tritt in Wahrheit gar nicht mehr in ihrem eigenen marxistischen Namen an, sondern klaubt nur die abgetragenen und abgelegten Klamotten der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre von der historischen Müllkippe auf. Dass wir es keinesfalls mit einer nochmaligen Wiederkehr des exoterischen Marx zu tun haben, ist auch daran abzulesen, dass sich die Perspektive Bourdieus nicht mehr auf die Zukunft eines fieberhaft debattierten neuen kapitalistischen Entwicklungsschubs bezieht, der wie einst im Mai vermeintlich »antikapitalistisch« zu besetzen wäre, sondern nur noch auf die entschwundene Vergangenheit des kapitalistischen Nachkriegsbooms, seiner sozialstaatlichen Regularien und seiner Expansion des öffentlichen Dienstes.

 

Die kategoriale Krise und die Tabuzone der Moderne

 

Warum sperrt sich das gesellschaftliche Bewusstsein quer durch das Spektrum der Ideen so sehr gegen den Gedanken, dass die neue Weltkrise des 21. Jahrhunderts womöglich eine kategoriale Krise des Kapitalismus sein könnte? Warum kommt der verdrängte und ins Philosophische oder in eine ferne, für jede praktische Kritik bedeutungslose Zukunft abgeschobene esoterische Marx so schwer zu seinem Recht? Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Und alle haben sie etwas mit dem Tiefgang jener neuen Krise zu tun, die nicht mehr in den bislang gewohnten Handlungs- und Bewusstseinsformen zu bewältigen ist.

Weil der innere kapitalistische Entwicklungshorizont verschwunden ist, kann emanzipatorische Opposition nicht mehr in den Kategorien des modernen warenproduzierenden Systems formuliert werden. Das bedeutet aber auch, dass nicht mehr einfach ein leicht definierbarer äußerer Feind bekämpft werden kann (die »besitzende Klasse«, die reaktionären Kräfte«, der »Imperialismus« der alteingesessenen Mächte usw.), sondern auch die eigene (kapitalistisch konstituierte) Subjekt- und Handlungsform zur Disposition steht. Das ist nicht nur schwer zu begreifen, sondern auch schwer zu ertragen.

Offenbar ist die historische Entwicklung in eine Tabuzone eingetreten. Nur an der Oberfläche war der Kapitalismus ein Prozess der Enttabuisierung. In dieser Gesellschaft ist am Ende ihrer Entwicklung (fast) alles erlaubt, vorausgesetzt allerdings, es kann ge- und verkauft werden. Die scheinbare universelle Beliebigkeit wird gleichzeitig aber begrenzt durch die völlig un- beliebigen, gewissermaßen dogmatischen, eindimensionalen und »alternativlosen« Formen von Wert, Ware, Geld und Konkurrenz, denen die betriebswirtschaftliche Form und Substanz der »Arbeit« zugrunde liegt. Diese Diktatur der gesellschaftlichen Form, die inzwischen sogar die Liebe, den Sport, die Religion, die Kunst usw. erfasst hat, duldet keine anderen Götter neben sich.

Da dieses Tabu aber nicht allein aus äußeren Geboten und Verboten besteht, sondern durch die moderne Bewusstseins- und Subjektform selber gesetzt, also tiefer verankert ist als alle früheren Tabuzusammenhänge, ist es auch umso schwerer zu durchbrechen. Wer etwa das System des Geldverdienens als solche in Frage stellt, kann damit rechnen; vom Alltagsverstand spontan als Fall für die Psychiatrie erklärt zu werden. Gerade auch den letzten übrig gebliebenen Dinosauriern des exoterischen Marxismus, dessen Vertreter schon immer mit Angst und Abwehr auf die esoterischen Konsequenzen ihres Meisters reagiert hatten, erscheint ein solches Ansinnen als - »Esoterik«, was aus ihrer Sicht allerdings bloß Irrationalität, Scharlatanerie usw. heißen soll. Die Idee, dass der Kapitalismus selber die Produktivkräfte über die Grenzen der »Geld verdienenden« Subjektivität des modernen Menschen hinausgetrieben haben könnte, kann nur auf völligen Unglauben stoßen.

Um der kategorischen Kritik des esoterischen Marx an der kapitalistischen Produktionsweise diskursiven Raum zu verschaffen, muss offenbar erst ein Vorfeld überwunden werden, eben jene Zone der Tabuisierung von Fragen, die man nicht stellt, und von Dingen, über die man nicht redet, sondern die man hat. Es geht also um die offene Thematisierung von. bislang stummen Voraussetzungen, die nicht hinterfragbar waren. Das machte ja gerade die angebliche »Schwerverständlichkeit« und »philosophische Abgehobenheit« des esoterischen Marx aus, dass er als erster und einziger moderner Theoretiker das stumme A priori des warenproduzierenden Systems »zur Sprache gebracht« hat. Die Volkswirtschaftslehre dagegen und mit. ihr alle anderen ausdifferenzierten Gesellschaftswissenschaften (die heute endgültig zu bloßen Hilfswissenschaften, um nicht zu sagen theoretischen Hilfspolizisten der Volkswirtschaftslehre degradiert sind) haben die kapitalistischen Kategorien von Arbeit, Wert, Ware, Geld, Markt, Staat, Politik usw. nicht’ als Gegenstand, sondern als blinde Voraussetzung ihres »wissenschaftlichen« Räsonnements. Die Subjektform des Warentauschs, die Verwandlung von Arbeitskraft in Geld und von Geldkapital in Mehrwert (Profit), wird nicht nach ihrem »Was« und »Warum«, sondern nur nach ihrem funktionalen »Wie« befragt, ähnlich wie die Naturwissenschaftler nur das »Wie« der so genannten Naturgesetze untersuchen. Die erste Hürde einer kategorischen Kritik des Kapitalismus besteht also darin, diese Kategorien aus dem Status stummer Selbstverständlichkeit herauszulösen, sie explizit und damit überhaupt erst kritisierbar zu machen.

 

Der Fetischismus als stumme Dimension und der große Sprung der Geschichte

 

In abstrakter Form, als methodisches Problem, hat die Kultursoziologie die Fragestellung einer möglichen Kritik des blind Vorausgesetzten durchaus bereits entwickelt. Die Verwandlung einer »stummen Dimension« (M. Polanyi) des Impliziten in ein zur Sprache gebrachtes Explizites, die Thematisierung des bislang Unsagbaren als Kommunikationsproblem in Krisen- und Übergangszeiten ist zum Topos in kulturgeschichtlichen Untersuchungen geworden. Aber großenteils wird dieses Problem nicht mit kritischer, sondern mit affirmativer Intention thematisiert, so etwa in der systemtheoretischen Reflexion (N. Luhmann) als Konstitution eines »Hintergrunds von Selbstverständlichkeit« zwecks »Komplexitätsreduktion «. Die apriorische Stummheit der kapitalistischen Kategorien erscheint dabei als eine Art Lebenserleichterung, deren fundamentale Krise gar nicht als Möglichkeit in Betracht gezogen wird.

Soweit das Problem aber als ’Thematisierungsschub in krisenhaften Übergängen angesprochen wird, geschieht dies entweder mit Blick auf weit entfernte Epochen (etwa bei dem Philosophen Karl Jaspers für die so genannte »Achsenzeit« des 5. Jahrhunderts v. Chr., als ein erster großer Schub der Trennung von irdischer und göttlicher Welt mit einer Umwälzung der Gesellschaftsordnungen einherging) oder mit Blick auf implizite Selbstverständlichkeiten des Alltags, die durch Entwicklungen der gesellschaftlichen Metastruktur zur Sprache gebracht und in Frage gestellt werden. Diese letztere Explikation von implizitem Hintergrund ist aber erst recht affirmativ gegenüber dem Kapitalismus, insofern sie sich weitgehend mit dem deckt, was der Sozialphilosoph Jürgen Habermas als »Kolonialisierung der Lebens- weit« bezeichnet hat. Denn als erste und einzige blind-dynamische Gesellschaftsform ist es ja der Kapitalismus selbst, der permanent implizite Selbstverständlichkeiten des Alltags, der beruflichen Tätigkeit, des sozialen Zusammenlebens, der Kultur usw. aus dieser Selbstverständlichkeit herausnimmt und in Frage stellt - aber eben ganz und gar nicht im Sinne einer sozialen Emanzipation, sondern im Gegenteil als Totalauslieferung der Menschen an blinde Marktprozesse. Wenn das Problem der Thematisierung dessen, was bislang nicht Gegenstand der Kommunikation war, in emanzipatorischer Weise fruchtbar gemacht werden soll, dann ist das nur möglich, indem der kritische Thematisierungsblick auf die »impliziten Axiome« des Kapitalismus selber fällt - also mit dem esoterischen Marx auf die kategorialen gesellschaftlichen Formen, die für die Moderne immer nur den stummen Hintergrund gebildet haben.

Der zentrale Begriff des esoterischen Marx, der für diese kritische Thematisierung und damit für den emanzipatorischen Abschied von der Moderne steht, ist der des »Fetischismus«. Marx zeigt damit, dass die scheinbare Rationalität der kapitalistischen Moderne gewissermaßen nur die Binnenrationalität. eines objektivierten Wahnsystems darstellt: eine Art von säkularisiertem Dämonenglauben, der sich in den handgreiflich gewordenen Abstraktionen des warenproduzierenden Systems, seiner Krisen, Absurditäten und destruktiven Resultate für Mensch und Natur manifestiert. In der Verselbständigung de so genannten Ökonomie, der Fetischisierung von Arbeit, Wert und Geld, tritt den Menschen ihre eigene Gesellschaftlichkeit als fremde und äußere Macht gegenüber.

Der Skandal besteht darin, dass diese unheimliche, geisterhafte und zerstörerische Verselbständigung der toten, ökonomisierten Dinge zur axiomatischen Selbstverständlichkeit geronnen ist. Mit seinem Fetischbegriff, den er auch auf Staat, Politik und Demokratie ausdehnt, leistet der esoterische Marx, was jeder große Entdecker in den menschlichen Dingen leistet: Er macht das scheinbar Einfache, Alltägliche, die »schweigende Dimension« des Selbstverständlichen zum Fremden, Erklärungsbedürftigen und Falschen.

Indem der esoterische Marx so im Gegensatz zu seinem exoterischen, modernisierungs-immanenten Doppelgänger die Moderne aus ihrer königlichen Position in der Geschichte herausnimmt, rechtfertigt und idealisiert er nicht wie die bloß reaktionären, irrationalen Kritiker der Moderne die Verhältnisse der vormodernen Agrargesellschaften, sondern stellt umgekehrt die Moderne in den Kontext einer unaufgehobenen gesellschaftlichen Leidensgeschichte der Menschheit, in den Horizont eines nach wie vor gültigen »Noch nicht«.

Wenn der klassische Marx im Sinne des materialistisch gewendeten Hegeischen Entwicklungs- und Fortschrittsbegriffs die Geschichte als Ganzes in den Blick nimmt, tut er dies mit dem Begriff einer »Geschichte von Klassenkämpfen«: Er projiziert also nur den innerkapitalistischen Entwicklungs- und Durchsetzungsprozess auf alle bisherige Geschichte. Erst der Fetischbegriff des esoterischen Marx macht es möglich, auf einer höheren theoretischen Abstraktionsebene eine tatsächliche, nicht bloß durch Rückprojektionen der Moderne gewonnene Gemeinsamkeit aller bisherigen Gesellschaftsformen zu benennen: So unterschiedlich ihre Verhältnisse auch immer gewesen sein mögen, niemals hat es sich um selbstbewusste Gesellschaften gehandelt, die frei über den Einsatz ihrer Möglichkeiten bestimmen konnten, sondern immer nur um Gesellschaften, die von fetischistischen Medien verschiedenster Art (Rituale., Personifikationen, religiös bestimmte Traditionen usw.) gesteuert wurden. Insofern müsste man von einer »Geschichte von Fetischverhältnissen« sprechen. Das moderne warenproduzierende System mit seiner irrational verselbständigten Ökonomie stellt demnach nur die letzte, durch ihre eigene blinde Dynamik vorangepeitschte Form des gesellschaftlichen Fetischismus dar.

Die Aufgabe, die sich damit stellt, macht erst die wahre Dimension der Weltkrise im 21. Jahrhundert deutlich. Es handelt sich, von Marx ausdrücklich mit dieser Kühnheit formuliert, nicht bloß um den Abschluss der kapitalistischen Geschichte, sondern um das Problem einer Überwindung der bisherigen Geschichte überhaupt, vergleichbar höchstens mit der so genannten neolithischen Revolution oder jener Umwälzung der »Achsenzeit«. Nicht bloß die Epoche des Kalten Krieges ist zu Ende gegangen, sondern die Weltgeschichte der Modernisierung überhaupt und nicht nur diese spezifisch moderne Geschichte, sondern die Weltgeschichte von Fetischverhältnissen überhaupt.

Die vermeintliche Komplexitätsreduktion durch die kapitalistische Gesellschaftsmaschjne, schön Immer mehr Ideologie als Wirklichkeit, schlägt endgültig in Destruktion um. Auch deswegen ist der Sprung so groß und mit Angst verbunden. Aber unerbittlich verfangen die zur Kenntlichkeit fortentwickelten Krisenverhältnisse: Wo gesellschaftliche Bewusstlosigkeit war (von der »invisible hand« des Ahnenkults bis zur »invisible hand« des kapitalistischen Weltmarkts), muss gesellschaftliche Bewusstheit werden. An die Stelle eines blinden Mediums muss ein bewusster, von selbstbestimmten (nicht a priori vorgegebenen) Institutionen organisierter gesellschaftlicher Entscheidungsprozeß jenseits von Markt und Staat treten.

 
Postmoderne Mogelpackungen als letztes Wort der Moderne

 

Statt die Postulate des esoterischen Marx angesichts der Weltkrise endlich ernst zu nehmen und zu einer kritischen Reflexion auf höherer Ebene jenseits des erschöpften Modernisierungs-Paradigmas zu gelangen, versucht sich die abgerüstete Gesellschaftswissenschaft an dieser Aufgabe vorbeizumogeln. Nicht nur wird keine neue Ebene der Reflexion angestrebt, sondern die frühere immanente Reflexionsform der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte soll über ihr Verfallsdatum hinaus sogar noch einmal verlängert werden. Der Soziologe Ulrich Beck hat dafür die Formel der »reflexiven Modernisierung« erfunden. Aber diese inzwischen sehr beliebte und besinnungslos heruntergebetene Formel ist eine Leerformel und eine Mogelpackung, denn die hier postulierte Reflexivität bezieht sich gar nicht mehr auf eine noch umkämpfte weitere Ausformung des Kapitalismus, sondern nur noch auf eine pure Phänomenologie: Die in ihrem kategorialen kapitalistischen Zusammenhang sogar mehr denn je blind vorausgesetzte Gesellschaft soll sich »reflexiv« lediglich zu den einzelnen Erscheinungen und Folgen ihres irren und destruktiven Tuns verhalten.

Entsprechend kläglich sind die vorgeschlagenen Rezepte, von der »unentgeltlichen Bürgerarbeit« bis zur »bürgernahen Verwaltung« usw. Nicht eine neue Gesellschaftsform jenseits von Markt und Staat wird angestrebt, sondern die so genannte »Zivilgesellschaft«, die in Wahrheit durch die kapitalistische Kolonialisierung der Lebenswelt längst weitgehend aufgefressen wurde, soll als Reparaturinstanz in den Poren und Nischen zwischen Markt und Staat die Krise bewältigen. Diese Perspektive ist ebenso hoffnungslos unrealistisch wie das Ansinnen, den untergehenden keynesianischen Sozialstaat wieder zu beleben. Im Grunde genommen läuft sie bloß darauf hinaus, den Abbau der Sozialleistungen durch private Almosen und unkritische moralische Selbsttätigkeit kompensieren zu wollen.

 

Wie man es auch dreht und wendet: Es führt kein Weg an Marx vorbei, auch wenn das »Zurück zu Marx« sich jetzt nur noch auf die bislang verdrängte radikale, kategorische Kritik am Fetischismus der Moderne beziehen kann. Und es trifft diesen esoterischen Marx auch nicht, wenn man ihn etwa eines schlechten Utopismus verdächtigen würde. Es ist gerade umgekehrt der exoterische Modernisierungs-Mars, der die Utopisten gnädig in das Pantheon seiner Vorläufer aufgenommen hat. Utopie kann in der Modernisierungsgeschichte immer gelesen werden als der Appell an das (ideologische) kapitalistische Ideal gegenüber der schlechten kapitalistischen Wirklichkeit. Die Utopie ist die Kinderkrankheit des Kapitalismus, nicht des Kommunismus.

Deshalb ist auch der esoterische Marx gänzlich un- und antiutopisch. Ihm geht es weder um das Paradies auf Erden noch um die Konstruktion eines neuen Menschen, sondern um die Überwindung der kapitalistischen Zumutungen an den Menschen;’ um ein Ende der kapitalistisch erzeugten Gesellschaftskatastrophen. Nicht mehr und nicht weniger. Dass dies nur durch ein Hinausgehen über alle bisherige Geschichte als einer Geschichte von Fetischverhältnissen möglich ist, liegt nicht an der Hybris der Kritik, sondern an der Hybris des Kapitalismus selbst. Auch nach dem Kapitalismus wird es Krankheit und Tod, Liebeskummer und Arschlöcher geben. Aber eben keine paradoxe, durch abstrakte Reichtumsproduktion erzeugte Massenarmut mehr, kein verselbständigtes System von Fetischverhältnissen und dogmatischen gesellschaftlichen Formen mehr. Das Ziel ist groß, gerade weil es an der utopistischen Überschwänglichkeit gemessen relativ bescheiden ist und nichts verspricht als die Befreiung von völlig unnötigen Leiden.

Rezensionen zu "Marx lesen"

Detlef Grumbach

Rezension

Robert Kurz:
Marx lesen
Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert

Eichborn Verlag, Frankfurt, DM 49,80

NDR

Der Marxismus - daran zweifeln wohl nur wenige - ist tot. Doch zum Beginn des neuen Jahrhunderts ist nun eine Sammlung Marxscher Texte erschienen, die helfen sollen, kritisches Denken fit zu machen für die Zukunft. Das Format entspricht dem der millionenfach verkauften "blauen Bände" der Marx-Engels-Werkausgabe, die Farbe dagegen ist leuchtend rot. Man glaubt es kaum, aber so skurril, wie das Ansinnen des Herausgebers auf den ersten Blick erscheint, ist es gar nicht. Wer sich nie für Marx interessiert hat, wird vielleicht nicht einmal mit den Achseln zucken. Für jene, die sich seit dem Aufbruch der Studentenbewegung vor gut dreißig Jahren als "links" verstehen und sich mit dem Status quo dieser Gesellschaft nicht abfinden wollen, erweist sich das Anliegen als provokativ und abenteuerlich in gleicher Weise. Denn Robert Kurz, der schon mit seinen Büchern "Der Kollaps der Modernisierung" und "Schwarzbuch Kapitalismus" einiges Aufsehen erregt hat, stellt die in der Arbeiterbewegung und von den Studenten 1968 aufgegriffene Lesart der Marxschen Texte in Frage und spürt einem Aspekt des umfangreichen Werkes nach, der in den Klassenkämpfen seit Mitte des 19. Jahrhunderts kaum eine Rolle gespielt hat.

Ausgangspunkt dieser neuen Marx-Lektüre ist eine innere Widersprüchlichkeit marxistischen Denkens, die - so der Herausgeber - der "inneren Ungleichzeitigkeit" des Kapitalismus geschuldet ist. "Uns quält", schreibt Marx im Vorwort zum ersten Band des "Kapitals", "nicht nur die Entwicklung der kapitalistischen Produktion, sondern auch der Mangel ihrer Entwicklung". Einerseits geht es in seinem Denken um die Durchsetzung des Kapitalismus und seiner Produktionsweisen, andererseits um seine Überwindung. In der politischen Praxis, so die These des Herausgebers, sei vor allem die eine Seite rezipiert worden. Während Mitte des 19. Jahrhunderts bäuerliche Produktionsweisen, relativ schwach entwickeltes Handwerk und Manufakturen nebeneinander existieren, England weit auf dem Vormarsch ist und Deutschland hinter dem übrigen Europa hinterherhinkt, handelt es sich vor allem erst einmal um die Entwicklung des historisch fortschrittlichen Kapitalismus, um "nachholende Modernisierung", wie Kurz es nennt. Im Klassenkampf und seiner theoretischen Fundierung geht es dann um die Herrschaft über die kapitalistische Produktion, um die Verteilung von Ressourcen und Gütern, um die Befriedigung elementarer Bedürfnisse für alle Bürger. Kategorien wie Arbeit, Wert, Ware, Geld, Markt und Staat werden dabei nicht in Frage gestellt, sie dienen als Voraussetzung. Das habe sich auch in der Ära des Staatssozialismus oder besser: Staatskapitalismus, nicht geändert.

Den Marx, der sich in diesem Zusammenhang benutzen ließ, bezeichnet Robert Kurz als den "exoterischen Marx". Ihm gegenüber stellt er den "esoterischen Marx". Dieser hat von Anfang an, auch als die Durchsetzung des Kapitalismus noch historischen Fortschritt bedeutete, dessen innere Logik und Kategorien einer grundlegenden Kritik unterzogen. Der esoterische Marx fragt nicht nach dem funktionalen "Wie" der Warenproduktion, sondern nach dem "Warum". Sein zentraler Begriff ist der des "Fetischismus". Konnte man vor 150 Jahren noch annehmen, dass ein Kapitalist seine Arbeiter ausbeute, um sich ein großes Haus, dicke Zigarren und andere sinnliche Genüsse leisten zu können, wird heute angesichts der angehäuften Reichtümer, einer zum erheblichen Teil völlig überflüssigen Warenproduktion und kaum abschätzbarer Risiken deutlich, dass es im Kern um die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse gar nicht mehr geht. Oder eben nie gegangen ist. Das System der kapitalistischen Waren- und Mehrwertproduktion ist - so wird auf ihrer heutigen Entwicklungsstufe deutlich - ein nicht mehr hinterfragter Selbstzweck, die "scheinbare Rationalität der kapitalistischen Moderne" erweist sich als die "Binnenrationalität eines objektivierten Wahnsystems". Auch als die Frage der Entwicklung neuer Produktionsweisen noch auf der Tagesordnung stand und nur kapitalistische Verhältnisse den Rahmen dafür boten, hat Marx dies erkannt, hat er daran eine mehr oder weniger deutlich formulierte, grundsätzliche Kritik geübt.

Die Auswahl der Texte, die der Herausgeber hier auf 430 Seiten vorlegt, spürt dieser Kritik nach. Sie versammelt Splitter, Auszüge und längere Passagen, die in ihren ursprünglichen Zusammenhängen eine wenig beachtete Randexistenz führen, und ordnet sie in acht jeweils ausführlich eingeleiteten Kapiteln an. Auch jenen, die "ihren Marx" durchaus gelesen haben, präsentiert Kurz so einen überraschend neuen Blick auf den Klassiker, der aktuell, radikal und bei aller fin de siècle-Stimmung und jenseits von Modernisierungsstrategien zukunftsorientiert ist. Dabei geht es dem esoterischen Marx, so Kurz, nicht um eine neue Utopie - "die Utopie ist die Kinderkrankheit des Kapitalismus, nicht des Kommunismus." Aber es geht um nicht weniger als um die "Überwindung der kapitalistischen Zumutungen an den Menschen, um ein Ende der kapitalistisch erzeugten Gesellschaftskatastrophen."

 

Aufklärung über die "blutige Vernunft" der Aufklärung

KRISIS 25 (2002)
Claus Peter Ortlieb: Die Aufklärung und ihre Kehrseite. Zur Rettung einer "banalen Einsicht" -- Norbert Trenkle: Gebrochene Negativität. Anmerkungen zu Adornos und Horkheimers Aufklärungskritik -- Robert Kurz: Blutige Vernunft. 20 Thesen gegen die so genannte Aufklärung und die westlichen Werte -- Ernst Lohoff: Antikapitalistisches Frühlingserwachen? Die Globalisierungskritik zwischen Krisenverwaltung und Emanzipation -- Anselm Jappe: Des Proletariats neue Kleider: Vom Empire zurück zur Zweiten Internationale -- Rezensionen | Kommentare | Glossen

Wir leben in Zeiten okzidentaler Verbrüderung. Kein Orden, der nicht Treueschwüre und Dankesbriefe ans Pentagon schickt. Darüber sollten kleinere Rangeleien (z. B. EU contra USA) nicht hinwegtäuschen. Auch nicht, dass die Treue nicht persönlich, sondern ganz sachlich verstanden wird, sie gilt nicht den werten Herren im Weißen Haus, sondern den Herrenwerten der weißen Männer. Ja, um die Zivilisation und um die Aufklärung geht es, das ist der letzte gemeinsame Nenner, für den jetzt im Namen der säkularisierten Religion des Werts Krieg geführt wird.

In den Vereinigten Staaten machen nicht nur Huntington und Fukuyama auf gerechten Krieg, nein, auch Linksdemokraten wie Amitai Etzioni und Michael Walzer zeigen, wo und wem sie sich zugehörig fühlen: dem american dream von freedom and democracy. In einem Brief von US-Intellektuellen "What we're fighting for: A letter from America" (zit. nach: Neue Zürcher Zeitung, 23./24. Februar 2002, S. 7) heißt es ganz hingebungsvoll: "Der klarste politische Ausdruck des Glaubens an die naturgegebene Menschenwürde ist die Demokratie." Dass die "amerikanischen Werte" universell sind, daran zweifelt keiner dieser Intellektuellen. Klar ist, "dass das Beste von dem, was wir allzu leichtfertig ’amerikanische Werte' nennen, nicht nur Amerika gehört, sondern vielmehr das gemeinsame Erbe der Menschheit und somit eine mögliche Grundlage der Hoffnung für eine auf Frieden und Gerechtigkeit aufgebaute Weltgemeinschaft ist." Und wem es nicht gehören will, dem wird man gehörig mit den diversen Stellwägen ins Gesicht fahren. Von der Kulturindustrie bis zum Kreuzzug.

"Die Prinzipien des gerechten Krieges lehren uns, dass Aggressions- und Landeroberungskriege niemals annehmbar sind" - Wovon reden die? Doch nicht etwa von der Staatswerdung der USA oder deren Rolle nach dem Zweiten Weltkrieg? "Kriege um des nationalen Ruhmes willen, für Landgewinn oder zu anderen Nichtverteidigungszwecken dürfen wohl nicht legitim sein" (sic!). "Die primäre moralische Rechtfertigung eines Krieges ist der Schutz der Unschuldigen vor sicherem Schaden." - Daher werden die amerikanischen Bürger dadurch geschützt, dass man die afghanischen Nichtbürger bombardiert. Dort wirft man dann Flugzettel mit folgendem Inhalt ab: "Das Töten von Zivilisten als Vergeltung oder sogar um die Aggression von Menschen abzuwenden, die mit ihnen sympathisieren, ist also moralisch falsch." Und wenn sie lachen könnten, sie würden, die Bombardierten.

"Gibt es einen gerechten Krieg? Im Namen welcher Werte lässt er sich rechtfertigen?", fragt die Neue Zürcher im Vorspann zu besagtem Dokument. Nun denn: Die Antwort auf die erste Frage liegt in der zweiten. Diese Frage verrät mehr, als eine Antwort jemals zu Protokoll geben könnte: Die Durchsetzung des Werts und seiner Werte sind die konstitutionellen Größen jedes gerechten Krieges. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit fallen hier zusammen, dass es unschöner gar nicht mehr geht. Nie würde es uns einfallen, diesen Krieg gegen den Terror als ungerecht zu schelten, nein, er ist geradezu ein neuer Höhepunkt all der gerechten Feldzüge. Ja, er nähert sich ob des Fehlens handfester ökonomischer Interessen immer mehr der reinen Gerechtigkeit an. Amerika führt den gerechtesten aller Kriege. Wer den Krieg weiterhin mit dem Banner der Gerechtigkeit bekämpfen will, gibt nur zu erkennen, dass er von jenem nicht viel erkannt hat. Was heute stört, ist nicht, dass zu wenig Gerechtigkeit herrscht, sondern dass die Gerechtigkeit stets deutlicher ihr wahres Gesicht zeigt. Hinter der verschmitzten Charakterlarve sitzt die Fratze des Werts, mit der alles gerechtfertigt werden kann.

Und dieses Recht versteigt sich in schwindlige Höhen. "Die am 11. September Umgekommenen wurden widerrechtlich getötet, mutwillig und mit kalkulierter Bosheit - eine Art des Tötens, die man, um präzise zu sein, nur Mord nennen kann." Gegen die widerrechtliche Tötung setzen sie also auf die rechtliche Tötung. Mord darf man das nicht nennen, selbst wenn es solcher ist. Nun will das Imperium ein internationales Gewaltmonopol durchsetzen. Es will also überall Gewalt anwenden, genau das, was es den Gewaltpolen verwehrt, sofern sie nicht vom Imperium gelenkt, toleriert, gefördert oder hofiert werden.
Der Rekurs auf die Gründungsideale, das fade Aufzählen demokratischer Gepflogenheiten, das stupide Insistieren auf "Grundwahrheiten", etwa die unermüdliche wie unerträgliche bürgerliche Grundlüge, dass alle Menschen frei geboren sind, das alles verweist nur darauf, dass es hier führende Wissenschaftler gibt, die absolut nichts mehr verstehen wollen, aber zumindest wissen, dass sie Patrioten zu sein haben. Amerika soll nun über die ganze Welt kommen. Es regieren die Durchhalteparolen. Michael Walzer veröffentlichte am 2. März 2002 in Die Welt folgerichtig einen Text unter dem Titel "Wir müssen gewinnen". Doch, was kann da gewonnen werden? Wie soll dieser Sieg ausschauen? Manchmal beschleicht einen das Gefühl, dass diese Herren nichts mehr anderes antreibt als der ideologische Instinkt. Dass sie funktionieren wie Biomaschinen von Demokratie und Wert.

"What we're fighting for: A letter from America" ist ein beschämendes Dokument. Es ist aufgeklärtes Geschwätz im Endstadium. Regression pur. Diese Intellektuellen bewegen sich auf der Ebene vorprogrammierter Arbeitsbienen. Es ist wie das sich ins Delirium versetzende Raunen der bürgerlichen Vernunft, das sich hier einmal mehr als der Weisheit letzter Schluss intoniert. Indes jene versiegt. Mehr sagen solche Schriftstücke nicht aus.
Die ganze Website von www.american.values.org ist übrigens voll mit frömmelndem Gewäsch der "civil society". Andacht hat Denken ersetzt. Es herrscht das Gebet. Und führe uns nicht in Versuchung: "Wir verpflichten uns, alles zu tun, um uns vor den schädlichen Versuchungen - insbesondere der Arroganz und des Chauvinismus - zu hüten, denen kriegführende Nationen so oft zu erliegen scheinen. Gleichzeitig bekunden wir einstimmig und feierlich, dass es für unseren Staat und seine Verbündeten überaus wichtig ist, diesen Krieg zu gewinnen. Wir kämpfen, um uns zu verteidigen, aber wir glauben auch daran, dass wir kämpfen, um die universellen Grundsätze der Menschenrechte und der Menschenwürde zu verteidigen, die die beste Hoffnung für die Menschheit sind.(...) Wir hoffen, dass dieser Krieg, indem er einem gnadenlosen globalen Übel ein Ende setzt, die Möglichkeit einer auf Gerechtigkeit gegründeten Weltgemeinschaft zu stärken vermag." Amen.

***

Sie ruhen in Unfrieden, so könnte man auch den Zustand der Linken beschreiben. Der ist insgesamt bejammernswert. Genügsamkeit, Obskurantismus und Durchgeknalltheit bestimmen die Restbestände. Da wollen wir zwar weder mitspielen, noch das irgendwie mittragen, doch mitnehmen tut es einen trotzdem. Schmerzlich hatten wir in den letzten Monaten zur Kenntnis zu nehmen, dass Kritik und Emanzipation, vor allem aber die innerlinke Kommunikation alles andere als auf dem Niveau der Anforderungen sind. Was uns besonders stört, ist das wieder um sich greifende Sektensyndrom in der radikalen Linken, das Wiederaufleben kannibalistischer Orgien. Diese schädigen nicht nur deren Träger - was nicht schön, aber zu verkraften wäre, sondern darüber hinaus den ganzen Sektor der Gesellschaftskritik - was schon weniger lustig ist.

Ein Déjà-vu folgt dem nächsten. Man fühlt sich zurückversetzt in schlimmste Zeiten der K-Gruppen. Was man faktisch überwunden glaubte, drängt wieder einmal durch, auch wenn der Heiland Arbeiterklasse nicht selbst in Erscheinung tritt, sondern durch den Staat Israel oder irgendeinen nationalen Befreiungskampf ersetzt wurde. Gestus und Habitus wurden nicht ersetzt. Sie werden vielmehr reinkarniert. Es ist die Farce der Farce, die hier eine zombiotische Existenz gefunden hat. Das einzige, was man sich dort noch holen kann, ist eine Leichenvergiftung. Es ist wahrlich ein Aufstand der Leichen. Die Akteure gleichen Figuren in falschen Filmen, in letzter Zeit besonders beliebt sind die antifaschistischen Kostümfeste. Ein gespenstisches Gespenster-Sehen jagt Phantome.

Die Linke ist nicht weniger verrückt als die Gesellschaft, die sie bekämpft. Im Minimundus fällt diese Verrücktheit nur umso übler auf, vor allem denen, die sich kritisches Denken nicht abgewöhnen lassen. Ärgerlich, ja lästig sind vor allem die kreischenden Fanclubs gleichenden Kindergartenkader, die, sei's in die Revolution, sei's an die Klassen- oder Befreiungsfront, sei's in einen abendländischen Kinderkreuzzug geschickt werden. Wir werden die Faszination solcher Unsinnigkeiten reflektieren müssen, vor allem auch die psychopathologische Ebene. Insgesamt aber wird die Beschäftigung mit dem Milieu abnehmen, auch wenn einige Mühlsteine noch beseitigt werden müssen.

Seit dem 11. September wurde (und vielfach: bewusst!) ein Klima geschaffen, in dem das Atmen zusehends schwer fällt. Namentlich in antideutschen Bezügen hat ein sich überschlagender Anti-Antisemitismus jeden Boden unter den Füßen verloren. Bekenntnis und Jargon prägen dort das Auftreten, wie es schlimmer nicht mehr geht. Wo Kenntnis fehlt, fällt Bekenntnis nicht schwer, wo Begriffe abgehen, hilft ein hermetischer Jargon weiter. Mit diesem Markenzeichen erkennt man zumindest das identitäre Gegenüber als das sichselbstseiende Du. (Ähnliches gilt selbstredend für diverse ML-, Trotzki-, Stalin- oder Anarchosekten.) Im schlechtesten Falle fürchten wir, dass ganze Kohorten von Youngsters durch ihre Zusammenhänge regelrecht verschlissen werden. Von diesen Kinderkreuzzügen, diesen Deportationen der Ohnmacht, werden nur wenige wohlbehalten zurückkommen.
Unverständliches Kauderwelsch verkennt sich oft als höhere Eingebung. Dass "tausend jüngere seinen Jargon nachplapperten", hatte schon Günther Anders zu Recht an den Adorniten gestört (Anders, Ketzereien, München 1982, S. 317). Die antideutsche Provinz suhlt sich in nichts so sehr wie in ihrer schweren Jargonitis. Jochen Bruhn etwa ist der Großmeister einer Selbstverdunkelung, die das Unverständliche in die Denkschwäche des Rezipienten projiziert und nicht in die Formulierungsschwäche des Autors. Indes wäre diese Geschichte so leicht zu lösen wie Andersens "Des Kaisers neue Kleider". Man bräuchte in der Dunkelkammer nur ein Licht anknipsen. Den Apologeten, den frischen wie den unfrischen, sei jedenfalls geflüstert: Wenn sie nichts verstehen, dann verstehen sie zumindest noch etwas, sollten sie aber tatsächlich etwas verstehen, dann verstehen sie wirklich nichts mehr. Wo solch ein Autor dann nicht mehr weiterweiß, greift er regelmäßig in den Schmutzkübel oder in die Mülltonne, wo er irgendwelche Uralttexte von Robert Kurz ausgräbt und einem selbstgenügsamen Publikum verfüttert. Das darf dann lachen, ohne zu begreifen, dass es den Falschen verlacht.

Der Herostratentrupp der Hardcore-Antideutschen leistet deutsche Wertarbeit. Gründlich. Die Scheinblüte identitärer Vergatterung missverstehen sie nun gar als Erfolg. Richtiger ist hingegen, dass hier ein Projekt der Abstoßung schlicht und einfach einiges kaputtgemacht hat oder im Begriff ist vieles kaputtzumachen. (Näheres dazu ist in den letzten beiden Ausgaben der Streifzüge (3/2001; 1/2002) nachzulesen).

Einschub aus: Streifzüge 3/2001

Roswitha Scholz 

Identitätslogik und Kapitalismuskritik

ANMERKUNGEN ZU DEN REAKTIONEN DER LINKEN AUF DIE TERRORANSCHLÄGE VON NEW YORK UND WASHINGTON

1

Der Terror in den USA und der anschließende Bombenkrieg gegen Afghanistan haben (nicht nur) in der wertkritischen Linken zu Verwirrung und Polarisierungen geführt. Einer Position, wie sie "Bahamas" und mehrheitlich die "Jungle World" vertreten, die sich beide vorbehaltlos auf die Seite der westlichen Werte und der westlichen Zivilisation vor dem geschichtlichen Hintergrund der Nazis und des Holocaust stellen, bis hin zur Extremforderung einer flächendeckenden Bombardierung der islamischen Länder (Bahamas-Erklärung), stehen u.a. Ansätze gegenüber, die eine wertkritische Erhellung von objektiven Strukturen der gegenwärtigen kapitalistischen Entwicklung, also der (welt)gesellschaftlichen Ursachen dieser barbarischen Terrorangriffe betreiben. Die Gemeingefährlichkeit der Bahamas-Position in ihrer Zuspitzung liegt dabei auf der Hand.

Im folgenden will ich zeigen, dass es darum gehen muss, sowohl den übergreifenden Mechanismen und abstrakt-allgemeinen Strukturen Rechnung zu tragen (also gesellschaftsanalytisch die heutigen Ursachen des Terrorismus herauszuarbeiten), als auch die spezifisch deutsche Geschichte und in der Folge auch die Reaktionen hierzulande auf die Terroranschläge ideologiekritisch ins Visier zu nehmen, ohne das eine mit dem anderen zu verwechseln oder gleichzusetzen. Beide Ebenen müssen einerseits getrennt, andererseits in ihrer Vermitteltheit betrachtet werden.

Dies betrifft insbesondere den antisemitischen Charakter der Anschläge. Dabei gilt es meines Erachtens, die Ansätze von Moishe Postone, der "Dialektik der Aufklärung" und der "fundamentalen Wertkritik" auf heutige Verhältnisse bezogen zu verbinden. Mit Postone gehe ich davon aus, daß die Juden schon seit dem 19. Jahrhundert mit den zerstörerischen Seiten von Kapitalismus und moderner Zivilisation identifiziert werden, eine Vorstellung, die schließlich im Holocaust kulminierte. Der "Krisis"-Position ist dabei insofern recht zu geben, wenn sie verschiedene Phasen des Kapitalismus und damit verbunden auch verschiedene Formen des Antisemitismus auseinander zuhalten bestrebt ist, also auf einer kapitalistischen Entwicklungslogik besteht. Diese Position scheint mir am ehesten fähig, den gegenwärtigen weltgesellschaftlichen Hintergrund der Globalisierung angemessen, nämlich als Verfallsprozess des Kapitalismus zu analysieren. Allerdings plädiere ich dafür, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Qualitäten bei weitem stärker in ihrem historischen Gewordensein (also auch die aktuellen Entwicklungen und Ereignisse in ihrer historischen Dimension) zu beachten, als dies bis jetzt in der Theoriebildung der "Krisis" vor allem in Bezug auf Deutschland geschieht.

Wenn die entsprechenden Bestimmungen prinzipiell von der Annahme einer "Dialektik der Aufklärung" ausgehen sollen, so müssen sie auch mittels einer Kritik der Identitätslogik geleistet werden, wie sie bei Horkheimer und Adorno zu finden ist. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass Horkheimer und Adorno die Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus selbst mit der im Kapitalismus dominierenden Identitätslogik in Verbindung gebracht haben, wonach das Allgemeine über das Besondere herrscht und von oben her Ordnung gemacht werden muss, d.h. auch Differenzen und Differenzierungen ausgeblendet werden müssen. Diese Denkform führte im NS zur Liquidierung der Abweichenden.

Für Adorno und Horkheimer ist es freilich nur der Warentausch, der diese Denkform bestimmt und wonach Ungleichnamiges gleichnamig gemacht wird. Dagegen ist hinsichtlich der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Grundform mit der "Krisis" und Postone vom Wert (bzw. in meinem Verständnis von der Wert- Abspaltung, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann) als Verhältnis auszugehen und nicht bloß vom Warentausch. Dabei ist es ein Manko der "Krisis"-Position, dass sie bis jetzt eine mit der Wertkritik einhergehende Kritik der Identitätslogik weitgehend ausgeblendet hat und noch immer die Tendenz besteht, unterschiedslos alles unter den Wert-Hut zu packen. Das birgt die Gefahr, noch im kritischen Wissen vom Wert als Negativprinzip die anstehende Subjekt-Kritik insofern zu verfehlen, als in der negativen Bestimmung der Subjektform dennoch ein alter Subjekt-Objekt-Dualismus beibehalten wird.

Ganz und gar identitätslogisch, wenngleich in anderer Hinsicht, verfährt die "Bahamas"- Position, indem sie noch nicht einmal eine entwicklungslogische Differenzierung zulässt. Geht sie doch prinzipiell unhistorisch von einem immergleichen Kapitalismus aus und wird von ihr im Grunde eine bestimmte historische Konstellation der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Denkschablone auf jedwede neue Entwicklung gelegt.

2.

Der Terror in den USA war ganz offensichtlich antisemitisch motiviert. Postones Thesen bewahrheiten sich hier symbolisch verdichtet. Die Anschläge zielten aus einer rückwärts gewandten Ideologie heraus auf die Zerstörung des Abstrakt-Universalistisch-Allgemeinen im Kapitalverhältnis. Islamischen Fundamentalisten ist es, wie sie immer wieder bekräftigen, um den Kampf gegen die Juden und Christen, den Westen, zu tun. Auch wenn sie keinen affirmativen Bezug auf die "Arbeit" proklamieren, so pochen sie doch auf die Religion als das scheinbar kulturell "Konkrete".

Dennoch ist ein abstrakter positiver Bezug auf den Kapitalismus in dieser Situation von radikallinker Seite falsch. Er zeugt ebenso von falscher Unmittelbarkeit. Dabei wird verdrängt, dass der Antisemitismus selbst ein durch und durch kapitalistisches Produkt ist. Je mehr sich die Warenform und darüber auch westlich-universalistische Werte verallgemeinerten, desto mehr wurden die Juden damit in personalisierender Weise identifiziert. Erst mit dem Kapitalismus kam eine durchgängige warenfetischistische Denkform und demzufolge ein ideologisierender positiver Bezug auf das "Konkrete" und die "Arbeit" auf, ohne daß gesehen wurde, wie dieses scheinbar Ursprüngliche selbst schon immer Produkt der warenförmigen Realabstraktion ist. Die Juden wurden fast schon als Verursacher, auf jeden Fall aber als die eigentlichen Nutznießer des Kapitalismus angesehen, dessen destruktive Potenzen ihnen egal seien. Dieses antisemitische Stereotyp ist fester Bestandteil der westlichen Kultur; die in vieler Hinsicht durchaus zutreffende Rede von der judäo-christlichen Kultur verschleiert diese Tatsache.

Dabei ist es jedoch wichtig, den Kapitalismus als historischen Prozess aufzufassen und in diesem Zusammenhang auch den Antisemitismus jeweils historisch zu bestimmen unter Berücksichtigung von Kontinuitäten. So unterscheidet sich etwa der eliminatorische fordistische Antisemitismus der Nazis vom Antisemitismus in der Globalisierungsära, wobei der heute dominierende Antisemitismus in Deutschland ein sekundärer ist (nicht trotz, sondern wegen Auschwitz). Gerade eingedenk der Tatsache, dass die Juden schon seit dem 19. Jahrhundert in der identitätslogischen Setzung mit der zerstörerischen Erscheinung des Kapitalismus schlechthin identifiziert wurden, gilt es verschiedene historische Phasen auseinander zuhalten. So handelt es sich bei den Terroranschlägen in den USA einfach nicht um eine systematische, fabrikartig-planmäßig betriebene Vernichtung der Juden wie im NS, sondern eben um die Militanz von selbstmörderischen Terrorakten, auch wenn diese noch so postmodern ausgeklügelt waren und als solche einer High-Tech-Hybris gleichzeitig den Stinkefinger gezeigt haben.

Die historische Differenzierung impliziert nicht zuletzt, dass wir uns heute nicht in positivistisch- platter Manier einfach auf die Seite der abstrakt-universellen "westlichen Werte" stellen können gegen einen im Grunde unhistorisch gedachten Antisemitismus, sondern wir müssen uns dieses Unmittelbarkeitsdenkens entschlagen, um noch viel grundsätzlicher in der kritischen Theorie und Analyse auf die Ebene des übergreifenden Abstrakt-Allgemeinen zu gehen. Das bedeutet, eine kritische (negative) Totalitätsperspektive geltend zu machen, und zwar in ihrer historischen Dimension; also heute im Hinblick auf den Globalisierungsprozess. Insofern geht es darum, die "Abstraktionszumutungen" von Moishe Postone noch zuzuspitzen. Darauf ist freilich erst recht gegenüber antiimperialistischen Positionen zu bestehen, die ebenfalls positivistisch-platt in einer schon immer affirmativ gedachten Nation, "Kultur" usw. das unterdrückte Partikulare retten möchten. Die Parole "Zivilisation ist Völkermord" ist völlig abwegig, denn "Völker" wurden erst mit der Entstehung der Nation konstruiert und konstituieren sich seither in rituellen Zwangshandlungen selbst.

Es verbieten sich somit eine reflexhafte Scheinanalyse und entsprechend kurz greifende Schlussfolgerungen. Gerade aus der Perspektive einer übergreifenden Analyse auf der Ebene des Abstrakt-Allgemeinen in gleichzeitiger historischer Konkretion kann weder für die USA noch gar für Bin Laden Partei ergriffen werden. Dabei gilt es auch zu bedenken, dass man sich z.B. wie Stoiber dezidiert auf die Seite des christlichabendländischen Universalismus schlagen und zugleich stolz darauf sein kann, mit den demokratisch gewählten Medien-Rechtsradikalen wie Berlusconi ebenso wie mit Rassisten und Antisemiten vom Schlage Haiders die Köpfe zusammenzustecken. Der Kontext der Terroranschläge in den USA muss so auf der gebotenen Abstraktionshöhe, im Weltmaßstab und auf der historischen Stufe der postmodernen Globalisierung geklärt werden, ohne deswegen irgendetwas zu entschuldigen. Das heißt auch, sich nicht in oberflächlicher Weise von der widerlichen und kriegslüsternen Rambo- und postmodernen Gutsherrenart der US-Funktionseliten provozieren zu lassen, wie sie sich allabendlich in den Medien präsentiert.

3.

Aus der Perspektive einer Kritik der Identitätslogik gilt es, nicht nur die historische Dimension, sondern auch länder- und kulturspezifische Differenzen zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang fragt es sich insbesondere auch, wie in Deutschland mit seiner Geschichte des NS und des Holocaust auf die Terroranschläge in den USA reagiert wird. Welche Motive liegen diesen Reaktionen in der Globalisierungsära zugrunde?

Ein Fehler wäre es dabei, wie etwa die Bahamas immer noch von einem schweinsbraten- bzw. körnerfressenden Ruralteutonen mit einer entsprechenden Psychostruktur auszugehen. Stattdessen haben wir es heute mit einem Typus zu tun, den ich einmal in essayistischer Verallgemeinerung als "teutonischen Yuppie" bezeichnet habe. Dieser teutonische Yuppie schätzt die Errungenschaften des postmodern-kapitalistischen Vergesellschaftungs- und Konsumniveaus durchaus. Deutschland gehört zu den führenden Weltmarktnationen. Just als indirekte Folge des 2. Weltkriegs und durch das Eingreifen der USA wurden der BRD ein Wohlstand und eine Machtstellung zuteil, die den bestialischen Taten im NS eigentlich Hohn spricht. Dennoch hält sich ob der Kriegsniederlage ein kaum hörbares, tabuisiertes Grollen, ein Ressentiment gegenüber den (ehemaligen) Besatzern. Dabei spricht einiges dafür, dass Industrialisierungsschübe hierzulande erst durch die nationalsozialistische Transitphase (und damit in dieser NS-Form) vorbereitet wurden; wurde doch der Ausbau des deutschen Sozialstaats als Voraussetzung für die Individualisierungsprozesse des Nachkriegszeit erst durch den NS forciert und institutionalisiert, während dabei jeglicher sozialer Ingrimm in der deutschen "Volksgemeinschaft" aufging. Jene postmoderne Individualisierung, wie sie heute im Zuge der Globalisierung und mittlerweile auch in zunehmender Entbundenheit von sozialstaatlichen Leistungen für das kapitalistische System dringend gebraucht wird, basiert so in Deutschland im Grunde auf den Leichenbergen von sechs Millionen ermordeten Juden.

Dieser Zusammenhang, auch wenn er nicht thematisiert wird, wirkt nach in allen deutschen Reaktionen auf die weltkapitalistische Entwicklung. In einer Art Hassliebe formuliert man so eine "totale Beistandschaft", wie Rita Süßmuth während des Golfkriegs Anfang der 90er Jahre gegenüber Israel und gegenwärtig wieder deutsche Politiker gegenüber den USA. Ich gebe Holger Schatz recht, wenn er feststellt, dass ein neues BRD-Nationalbewusstsein sich gerade durch diese bedingungslose Beistandschaft gegenüber den USA behaupten kann, und zwar eben in einer Zeit, in der das traditionelle Nationsverständnis durch Globalisierungsprozesse ausgehöhlt wird. Dabei zeigt sich der deutsche sekundäre Antisemitismus heute, allen Mahnmaldiskussionen, Gedenktagen und -reden zum Trotz, gerade darin, dass unter dem Druck der Globalisierung die permanente "Modernisierung" der Gesellschaft beschworen wird, notwendigerweise der Gesellschaft, wie sie geworden ist, und in dieser hektischen Betonung des "Neuen" die Besinnung auf die Opfer in den Hintergrund tritt. Man will also im Grunde nichts mehr zu tun haben mit der geschichtlichen deutschen Schuld, indem man bloß noch rituelle Waschungen vornimmt.

Die Situation ist somit mehrfach paradox und die Gefühle sind ausgesprochen gemischt. Deshalb ist die einfache Deutung einer Identifikation der deutschen Tätergesellschaft mit den islamistischen Terroristen auf einer Heideggerschen Todestrieb-Seinsgrundlage mehr als reduziert. Die Bahamasposition kann Widersprüche und Ambivalenzen kaum aushalten und selbst dort, wo sie benannt werden, erscheint letztlich doch das Bild eines selbstmordgeilen Ruralteutonen, bleibt die Analyse also identitätslogisch. Umgekehrt ist es jedoch ebenso problematisch, wenn man (wie es teilweise in der "Krisis"-Position erscheint) nur die historisch neue Situation benennt und die auch historisch bedingten Motivationen weitgehend ausgeblendet werden.

Stehen traditionellen Stereotypen zufolge die Juden für die "überzivilisierten Übermenschen", so in der kolonialen Tradition z.B. die "Schwarzen" für die "unterentwickelten Untermenschen". In der heutigen Situation sieht man sich in der BRD gleichermaßen in einer Übermenschen- wie einer Untermenschenposition. Dies ist die Grundlage für die Identifikation mit den USA wie auch einen damit zusammenhängenden Wohlstandschauvinismus: aus der Furcht heraus, dass jetzt der Globalisierungsterror auf die Zentren zurückschlägt und womöglich auch "zu uns her" kommt. Von daher auch das kitschig inszenierte Mitgefühl mit den US-Terroropfern. In diesem Zusammenhang ist allerdings ein Verweis etwa auf die Verhungernden in der Dritten Welt und andere Modernisierungsopfer äußerst angebracht; denn dabei handelt es sich um keine "Aufrechnung", sondern um die Kritik einer westlich-wohlstandschauvinistischen Empfindungsweise.

Eine Konsequenz der spießigen deutschen Heraushalte-Position, die bloß die Krisengewalt verdrängen möchte, ist die sich konstituierende Friedensbewegung. In diesem Kontext können das chauvinistische Bangen um erreichte Lebensstandards und ein vulgärer Antiimperialismus antiamerikanischen Zuschnitts ein paradoxes Amalgam eingehen, wobei die Angst vor bin Laden und den USA ungefähr gleich groß ist, weil man befürchtet, dass die Militärschläge der USA neuen Terror womöglich auch hierzulande auslösen. Insofern ist eine solche Friedensbewegung scharf zu kritisieren und zu bekämpfen, ohne deswegen (in bloßer Scheinkritik daran) umgekehrt in die hysterische Kriegshetze à la Bahamas einzustimmen, die das kapitalistische Abstrakt-Allgemeine selber bloß abstrakt bejaht und mit ihrer wertkritisch und antideutsch frisierten, geradezu religiös anmutenden Bekundung der "totalen Beistandschaft" gegenüber Israel prinzipiell auf einer Linie mit der Art der Süßmuth-Bekundungen liegt. Eine Friedensbewegung, die antisemitischen Tendenzen entschieden entgegentritt und das Problem reflektiert, könnte dagegen unterstützt werden.

In Wirklichkeit hätte vor allem Israel nichts von einem abstrakt-reduktionstisch begründeten militärischen Kreuzzug gegen "die" islamischen Länder. Selbst Scharon dürfte sich kaum ernsthaft für eine solche Haltung einsetzen, die für Israel selbstmörderisch wäre. Man wagt es kaum in Betracht zu ziehen, aber dies bedenkend könnte man fast meinen, dass die Bahamas mit ihrer vordergründig absolut pro-israelischen Haltung und ihrer maßlosen Denunziation in Wahrheit Israel die Pest an den Hals wünschen, sprich die von einem islamistischen Selbstmordattentäter überbrachte Atombombe. Das wäre die nahe liegende Konsequenz der Bahamas- Strategie, wie sie sich vor dem Hintergrund einer solcherart hoch problematischen "Kulturalisierung des Sozialen" zeigt.

Abwegig erscheint mir in diesem Zusammenhang auch der Vorwurf des Bahamas-Autors Horst Pankow gegen Robert Kurz, dieser könne ob seines eher systemischen Kapitalismusbegriffs, der Personalisierungen vermeidet, keine Schuldigen mehr erkennen, sprich "den Islam" bzw. die islamistischen Terroristen (während absurderweise Gerhard Scheit inzwischen den genau umgekehrten Vorwurf einer Personalisierung des Kapitalismus qua fehlender Parteinahme für die USA erhoben hat). Hier findet eine Projektion statt, nämlich eine wiederum identitätslogische Gleichsetzung von Nazi- Deutschland mit den islamischen Ländern.

Antiamerikanische und antisemitische Haltungen könnten sich künftig umso mehr zeigen, je stärker die ökonomische Lage sich verschlechtert und der Wohlstandslevel dementsprechend heruntergefahren wird; auch wenn die Anti-Globalisierungsbewegung, die sich mit der Friedensbewegung überlappt, infolge der Terroranschläge momentan bemüht ist, einen unverblümten Antiamerikanismus zu vermeiden. Zu erwarten ist aber auch gleichzeitig, dass die Rassismen jedweder Couleur zunehmen und sich eine "multikulturelle Barbarei" (R. Kurz) noch stärker als bisher zeigen wird, die von der "Dominanzkultur" (B. Rommelspacher) durch verschärfte Sicherheitsauflagen eingedämmt werden soll. Eine Linke, die dabei wie die Bahamas den Kampf gegen den Antisemitismus und den gegen den Rassismus platt prowestlich gegeneinander ausspielt, ist nichts anderes als ein bewusstloser Teil dieser barbarischen Konstellation.

4.

Eine nicht-identitätslogische Analyse kann nicht umhin, festzustellen, dass der Antisemitismus in den arabischen bzw. islamischen Ländern einen anderen Charakter als im Westen und insbesondere auch in Deutschland hat. Die Selbstmordanschläge in Israel wie in den USA stehen im Unterschied zur planmäßigen, selektiven und massenhaften Vernichtung der Juden durch den NS "nur" in einer kriegsmetzlerischen Tradition, wie sie die konventionellen Kriege ganz allgemein auszeichnen, wenngleich in einer neuen postmodernen Form; schließlich handelt es sich bei den Tätern um extrem westgeprägte Hybridexistenzen auf der technischen Höhe der Globalisierung. Auch müsste dabei die spezifische Geschichte und Beziehungskonstellation: arabische Länder - Israel - USA und hintergründig auch Deutschland genauer unter die Lupe genommen werden.

Zwar gab es schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts im islamischen Raum ebenfalls Gleichsetzungen Jude=Geld. Jedoch ist zu vermuten, dass es selbst im islamischen Fundamentalismus keine antisemitische Biologisierung bzw. überhaupt Ontologisierung wie im NS gibt. Würde ein Angehöriger mosaischen Glaubens zum radikalen Islamismus konvertieren, so würden seine jüdischen Ursprünge keine Rolle mehr spielen. In den Bahamas, aber auch bei Matthias Küntzel wird permanent eine Ähnlichkeit zwischen Islamismus und Nazismus propagiert, die dann letztlich - und schon von der ganzen Intention her - zur Identität wird.

Dabei sind Selbstmordattentate auch als solche postmoderne, neue Gewalt- und Barbareiformen, die es in der Vergangenheit (meines Wissens nur mit Ausnahme von Japan) nicht gegeben hat und die heute in einer "Selbstlosigkeit" im Sinne von Hannah Arendt gründen, die ähnliche Erscheinungen aus der Zwischenkriegszeit noch bei weitem übergipfeln. In den arabischen Ländern war diese Erscheinung noch bis vor kurzem nicht anzutreffen. Die deutsche Selbstmordsehnsucht im NS war etwas anderes; sie war eher über das Kollektiv und nicht über Individualisierungsprozesse vermittelt. Hybridexistenzen, die freiwillig Selbstmordattentate mit einer quasi-ausgesetzten neoreligiösen Ideologie und insofern fanatisch-fundamentalistischen Stoßrichtung begehen, waren damals noch gar nicht denkbar.

5.

Grundsätzlich muss bei solchen Analysen der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es dem kritischen Gesellschaftstheoretiker im Gegensatz zum positivistischen (Natur)wissenschaftler unmöglich ist, sich im Sinne eines omnipotenten, allwissenden Subjekts zum Objekt zu verhalten, da er sich immer als Teil der von ihm untersuchten Gesellschaft weiß. Das heißt auch, dass wir, sofern wir als Deutsche aufgewachsen sind und der deutschen "Dominanzkultur" angehören, unter Einbeziehung der intergenerationalen Übertragung die besondere Qualität des Holocaust im deutschen Kontext mit seinen Konsequenzen bis zum heutigen Tag berücksichtigen müssen.

In diesem Zusammenhang ist es übrigens problematisch, auch wenn dies auf einer Metaebene zutrifft, den (deutschen) Rechtsextremismus, der bekanntlich aus der Mitte der Gesellschaft kommt, ebenso als zur demokratischen Gesellschaft selbst gehörendes "Reich des Bösen" zu betrachten wie den islamischen Fundamentalismus im Weltmaßstab. Das Spezifisch- Partikulare im Kontext der modernen kapitalistischen Zivilisation wird so nicht berücksichtigt und die eigene Involviertheit in die deutsche "Dominanzkultur", indem diese im unspezifischen Abstrakt-Allgemeinen ersäuft wird.

So sehr es jedoch wahr ist, dass ein Gesellschaftstheoretiker sich niemals außerhalb der Gesellschaft befinden kann und seine Position jeweils in einem spezifischen kulturellen und historischen Kontext verorten muss, so wenig darf sich radikale Gesellschaftskritik in einer derartigen Einsicht gemütlich einrichten. Gerade weil Theorie immer einen "Zeitkern" (Horkheimer/Adorno) hat, Gesellschaft ein Prozess ist und in diesem Zusammenhang eine Subjekt-Objekt-Dialektik, eine Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft bei einem prinzipiellen Übergewicht der Gesellschaft besteht, verbietet sich eine verdinglichte, statische Herangehensweise, die unhistorisch ein schon immer gleich bleibend gedachtes Subjekt- Objekt-Verhältnis logisch zementiert und ontologisiert.

Dabei kann gerade eine neuartige Situation es erfordern, dieses Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Gesellschaft und Individuum innovativ zu denken. So erscheint es in der postfordistischen Phase der letzten Jahre angezeigt, das, was die kapitalistische Welt, die Gesellschaft "im Innersten zusammenhält", nämlich den Wert als gesellschaftliche "Grundtatsache" (Adorno), neu zu bestimmen, d.h. vom alten "Mehrwertmarxismus" zur grundsätzlichen Wertkritik im Sinne von Arbeitskritik überzugehen. Dies meint, wir haben die Aufgabe, aus der Verstrickung in die gesellschaftliche Formobjektivität auszubrechen. Insofern sind wir gezwungen, trotz des Wissens um dieses Drinnen-verhaftet-sein um den Begriff zu ringen, der dieses Drinnensein überwindet, eingedenk der erreichten historischen Entwicklungsstufe. Es ist dies vielleicht ein Kennzeichen kritischer Theoriebildung überhaupt, das sogar für die alte Arbeiterbewegung in gewisser Weise gültig war.

Sich dieser Verstrickung bewusst zu sein und zugleich den Versuch unternehmen zu müssen, aus ihr auszubrechen, ist übrigens selbst noch für antideutsche Positionen, die das bürgerliche Subjekt-Objekt-Verhältnis wie etwa Gerhard Scheit ontologisieren, charakteristisch; allerdings eben in affirmativer Wendung, wähnt er sich doch, indem er sich in verkürzter Kapitalismuskritik umstandslos auf die Seite des abstrakten Universalistisch-Allgemeinen stellt, seinerseits "draußen" und gewissermaßen "aus dem Schneider". Konsequent in dieser Weise zu Ende gedacht, gäbe es somit aus der bürgerlichen Subjekt-Objekt-Ontologie überhaupt keinen Ausweg. Wir sind verstrickt, verstrickt, verstrickt... müsste bis ins Unendliche der Refrain lauten.

Wenn dem aber so wäre, dann fragt es sich, wie vom Wert überhaupt kritisch als von einem "automatischen Subjekt" und objektiver Grundstruktur gesprochen werden kann. Verharren wir nämlich in der bürgerlichen Subjekt- Objekt-Ontologie, so ist damit automatisch und reduktionistisch ein immanent perspektivisches Denken einer im Grunde wissenssoziologischen Tradition verabsolutiert, das jegliche Möglichkeit des Erkennens einer objektiven Wahrheit bestreiten muss.

Trotzdem sind wir auch bei Erkenntnis dieses Zusammenhangs weiter Bestandteil der Gesellschaft, die wir analysieren, und kommen der Subjekthaftigkeit (Subjektform) nicht aus. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als einerseits unsere Existenz als jeweils historisch, kulturell, ökonomisch und sozialpsychologisch bestimmte Subjekte zu denken, und das heißt im hier verhandelten Zusammenhang auch Abwehrmechanismen zu reflektieren, die mit einem heute in neuer Weise virulenten Antisemitismus einhergehen; andererseits gilt es aber auch den objektiven, übergreifenden Totalitätszusammenhang zu denken, in den unsere subjektive Befindlichkeit eingebettet ist. Wir kommen nicht umhin, die Spannung zwischen diesen beiden Momenten auszuhalten.

6.

In diesem Zusammenhang ist es geboten, grundsätzlich die ideologische Ebene und objektive Entwicklungen analytisch auseinander zu halten, was im "Krisis"-Kontext bislang zugunsten der Objektivität im Großen und Ganzen vernachlässigt wurde. Die ideologische Dimension, die immer auch historische Überhänge umfasst, geht nicht in objektiven Mechanismen und Entwicklungen auf. Ideologische Manifestationen können dem objektiven Prozess hinterher hinken.

Andererseits geht Ideologie jedoch auch nie in historischen Überhängen auf und ist immer auch mit objektiven Prozessen gekoppelt. Auch wenn die Bahamas inzwischen selbst einräumen, dass gesellschaftlicher Wandel und objektive Strukturen mitberücksichtigt werden müssen, haben diese bei ihnen letztlich bloß einen akzidentiellen Charakter, während die ideologische Ebene das Ausschlaggebende ist. Die Vermittlung zwischen ideologischer und objektiver Dimension wird verfehlt. So wird etwa, was affektive und Bewusstseinsstrukturen angeht, in der gegenwärtigen BRD immer noch der selbstmordsüchtig-militaristische, ruralideologische Weltkriegsdeutsche gesehen, und man muss heute trotz allen Wissens darum, daß Religion längst obsolet geworden ist, eine klassische bürgerlich-altmarxistische Religionskritik paradox hingebogen im Sinne eines "ungeglaubten Glaubens" (so Uli Krug vor allem im Hinblick auf den Islamismus) wie weiland zu Aufklärungszeiten leisten.

7.

Es dürfen somit insgesamt nicht verschiedene historische, kulturelle und ideologische Ebenen und Dimensionen, das Allgemeine, das Besondere, das Spezifische und Partikulare identitätslogisch in eins gesetzt werden. Nichts verschont uns vor der Mühsal der Ebenen, gerade in der fragmentierten Totalität der Postmoderne. Andererseits müssen diese Differenzierungen jedoch unbedingt in der Reflexion durch ein (welt)gesellschaftliches Band, den Wert, der in der Globalisierungs-Ära gerade durch seine endgültige weltgesellschaftliche Durchsetzung zugleich brüchig wird, als miteinander verbunden gesehen werden.

So ist kaum zu übersehen, dass eine verkürzte Kapitalismuskritik der Globalisierungsgegner mit Nähe zu antisemitischen Stereotypen den Terroranschlägen in gewisser Weise entspricht und man es auch so betrachten kann, dass letztere eine Zuspitzung der ersteren darstellen. Diese unfreiwilligen Zusammenhänge ergeben sich gerade durch die Globalisierung, die es mit sich bringt, dass jedes einzelne Land nicht mehr für sich ist, sondern wir eben eine One World haben. Insofern ist Benjamin Barber zuzustimmen, wenn er sagt, dass McDonald und Djihad sich gegenseitig bedingen. Dies gilt gleichermaßen für ein postmodernes Insistieren auf Identität als auch für eine dekonstruktivistische Sicht, die jedwede Identitätsvorstellung unglaubwürdig zu machen bestrebt ist. Queer-Politik z.B. und die Taliban haben mehr miteinander zu tun, als ihnen lieb ist. Auch insofern ist es völlig falsch, zu meinen, man könne sich bloß entweder auf die reaktionäre Seite eines antiwestlichen Fundamentalismus oder auf die Seite der westlichen abstrakt-universalistischen Werte in Form des Goutierens einer meines Erachtens ebenso oberflächlichen Libertinage, die viel mit "repressiver Entsublimierung" und wenig mit Emanzipation zu tun hat, stellen. Insofern gehören freilich auch Spaßgesellschaft und Islamismus zusammen. Eine radikal kritische Position muss diesen inneren Zusammenhang aufzeigen, sich das Recht auf eine radikale (eben nicht abstrakte) Negation der Weltverhältnisse herausnehmen und damit beide sich bedingenden Optionen verwerfen.

So darf es auch keineswegs bloß darum gehen, in ideologiekritischer Reduktion auf die zumal in Deutschland geschichtlich wirkmächtigen Gefahren einer verkürzten, mit dem Antisemitismus kompatiblen Kapitalismuskritik bei Globalisierungsgegnern aufmerksam zu machen, die den Wert nicht als Verhältnis auffassen, ohne gleichzeitig eine Analyse weltgesellschaftlicher Strukturentwicklungen und eine Kritik an den sozialen Katastrophen der kapitalistischen Globalisierung zu betreiben. Eine nach dem Muster der Bahamas innerhalb der Linken "tabubrecherische", die kapitalistische Globalisierung und Zivilisation in verbogener gesellschaftskritischer Absicht affirmierende Position stellt so - ceterum censeo - selber eine verkürzte, identitätslogisch verfahrende Kapitalismuskritik dar.

Entschlagen wir uns dieses identitätslogischen Vorgehens, so müssen wir auch sehen, dass in Zeiten der Globalisierung nirgendwo mehr der Staat wie im NS den Holocaust organisiert, sondern die Staaten bzw. Staatenbünde einerseits gerade aus den Erfordernissen der Globalisierung heraus gegen den mörderischen antisemitischen Mob vorgehen, andererseits jedoch gleichzeitig die affirmative Funktion des Antisemitismus und überhaupt einer "Fremdenfeindlichkeit" gewissermaßen durch ein Outsourcing dem "Volk" (in der traditionellen Diktion) bzw. der "Zivilgesellschaft" (in der postmodernen Diktion) überlassen und geradezu übertragen.

Ganz abwegig ist dabei Huntingtons These vom "Krieg der Kulturen", die das Globalisierungsproblem von der materiell-ökonomischen Ebene ablöst. Eine radikallinke Gegenposition gegen die falschen Alternativen innerhalb des Globalisierungsprozesses muss hingegen die materielle Dimension, somit also auch die soziale Frage thematisieren und (ohne Verzicht auf Ideologiekritik) wieder in den Vordergrund rücken. Auch wenn selbst von Regierungsseite in wortkosmetischer Absicht "mehr Gerechtigkeit im Weltmaßstab" als Ziel bemüht wird, ist die soziale Ebene seitens radikaler Kritik umso mehr zu besetzen. In diesem Zusammenhang hat nicht zuletzt der krisentheoretische Ansatz seinen Stellenwert, d.h. die Einsicht, dass heute die Zerstörung der Wertvergesellschaftung durch den Wert selbst manifest geworden ist. Die Zerstörungskraft des Terrors entspricht dem Obsoletwerden der Arbeit, den Finanzcrashs usw. Zugespitzt könnte so auch formuliert werden: Die islamistischen Attentäter sind durch ihre postmoderne Hybridexistenz, ihre technologische Kompetenz usw. der Wert; der Wert in seiner Selbstzerstörung.

8.

Als Maßstab der Zivilisationskritik müssen die Menschenrechte gelten. So sehr es zutrifft, dass schwerste Verbrechen im Namen der Menschenrechte verübt wurden, so sehr gilt auch, dass noch das Kriterium, derartige Verbrechen als solche zu benennen, die Menschenrechte selbst sind.Ansonsten gibt es keine allgemeinen Maßstäbe, Missstände überhaupt wirksam anzuprangern. Bei dem Empfinden, dass Folter, Mord, Totschlag etc. unmöglich zu rechtfertigen sind, handelt es sich im Grunde um emotional abgelagerte Menschenrechtsnormen. Hinter die Menschenrechte darf weder zurückgefallen noch ihre Kritik als Metakritik ausgeklammert werden; vielmehr ist momentan die Spannung zwischen diesen gegensätzlichen Anforderungen auszuhalten.

Das heißt allerdings auch, dass es ebenso unmöglich ist, sich mit dem Gestus radikaler Kritik letztlich doch wieder auf die Seite der über Leichen gehenden Aufklärung zu stellen. Der Westen und die USA selbst sind barbarisch, tagtäglich werden elementare humane Normen verletzt. Das zeigt sich nicht nur an den modernen Kriegen und rassistischen Diskriminierungen in diesen Gesellschaften bis zum heutigen Tag; auch muss man nicht erst einen Blick in US-Gefängnisse und Psychiatrien werfen oder die hauptsächlich an "Schwarzen" vollstreckte Todesstrafe bemühen, um dies zu erkennen. Dieselbe Barbarei findet sich hierzulande im Knastalltag, in der Abschiebepraxis, im Umgang mit Herausgefallenen. Die innerdemokratische Brutalität und Gemeinheit wird im offiziellen wie im linken West- und US-Patriotismus eskamotiert.

So ist die in der Jungle World gegenüber den Kritikern an ihrer Kriegsbefürwortung ausgegebene Parole "God bless the Meinungsfreiheit" nichts als repressive bürgerliche Toleranzideologie, von der die Weltmacht-Brutalität als Ursprung westlich-zivilisatorischer Werte abgefeiert wird. Man hört geradezu die Glocken der lila Milka-Kuh klingeln, wenn in Reklame-Manier die hohlen Demokratenphrasen für bare Münze genommen und ein kitschiges Freiheitsritual zelebriert wird. Diese Toleranzideologie steht schon immer positivistisch auf der Seite dessen, was "der Fall ist", und blendet von vornherein aus, was in radikal kritischer Absicht möglich ist.

Der innerdemokratische Multikulturalismus stellt dabei übrigens keinen Angriff auf die repressive Toleranz des abstrakten Universalismus von Aufklärung und westlichen Werten dar, sondern er befindet sich vielmehr gerade in der Ära des "Kollaps der Modernisierung" ganz in deren Tradition. Denn nun wird nicht mehr bloß die Gleichheit unter Gleichen, sondern in paradoxer Verkehrung die Gleichheit in der Differenz im Kontext mit den bisher inferior gesetzten "Anderen" postuliert. Dies trifft ebenso für das weithin positiv besetzte Konzept der "hybriden Identitäten" zu, in dem das austarierungs- und übersetzungsfähige Individuum im Gegensatz zum klassischen, einheitlichen Aufklärungssubjekt hochgehalten wird. Ironischerweise gehören gerade die Selbstmordattentäter zu diesem Typus.

9.

Bemerkenswert ist nicht zuletzt, dass in der ganzen Auseinandersetzung um den Terrorismus Frauen in der westlichen Welt wieder einmal zu Zeichen werden. Man zieht die geknechteten Taliban-Frauen heran, um mit der Inhumanität der "Barbaren" Kriegspropaganda zu machen. Frauen sind das Pfund, mit dem gewuchert wird. Die westlich-bellizistische Seite unter Einschluss ihrer linken Sekundanten erweckt manchmal gar den Eindruck, dass die Bomben auf Afghanistan ausgerechnet zur Befreiung der Frauen abgeworfen werden. Dabei haben Frauen bei der mit den USA verbündeten Nordallianz und im befreundeten Saudi-Arabien weniger Rechte als zum Beispiel im Iran. Man kann getrost davon ausgehen, dass die Situation von Frauen in islamischen Ländern dem Westen in Wirklichkeit am Arsch vorbei geht.

Dabei wird so getan, als würden die westlichen Werte schon immer die Befreiung der Frauen einschließen, als gehörte nicht ihre historische Konstruktion als "Andere", per definitionem Ungleiche wesentlich zur Konstitution der Menschenrechte und damit zu deren negativer Kehrseite. Suggeriert wird erst recht, dass das hierarchische Geschlechterverhältnis heute im Westen kein Problem mehr und grundsätzlich gelöst sei, um davon abzulenken, wie sich die geschlechtliche Asymmetrie in postmodernen Zeiten neu darstellt, neuartige Geschlechterproblematiken und -Dilemmata hervorruft. Der Westen stilisiert sich so wieder einmal unberechtigt zum Vorbild für die ganze Welt.

Jenseits des Geredes von Chancen für Frauen, die im Zuge der Globalisierung entstünden, sind in Wahrheit auf diese Weise weltweit eine große Masse von Frauen nicht mehr bloß primär für die Reproduktion, sondern mittlerweile für "Geld und (Über)Leben" (Irmgard Schulz) gleichermaßen zuständig gemacht worden, ohne die Möglichkeit der Existenzsicherung und ohne Überwindung der soziokulturellen Geschlechter-Asymmetrie. Im solcherart bloß verwildernden postmodernen Patriarchat hat der Mann als Familienernährer ausgedient und wird von den Frauen vielleicht sogar noch durchgezogen, wobei die Geschlechterbeziehung immer unverbindlicher wird bei gleichzeitiger Weiterexistenz männlicher Dominanz. Dies sind die Real-Konsequenzen der westlichkapitalistischen "Geschlechterbefreiung" für den größten Teil der Weltbevölkerung im Zerfallsprozess des Kapitalismus.

Ebenso falsch wie hinsichtlich der "Frauenfrage" wird in diesem Kontext der Westen auch in Bezug auf das Sexualverhalten, auf männliche und weibliche Homosexualität etc. als ultra-aufgeschlossen dargestellt. Die oberflächliche Toleranz gegenüber Flexi-Transis soll darüber hinwegtäuschen, dass es hier weniger um ein Zulassen verschiedener sexueller Orientierungen geht, sondern um die Durchsetzung globalisierungs- kompatibler und durchökonomisierter Flexi-Zwangsidentitäten, ohne deswegen die zwangsheterosexuelle Grundstruktur zu überwinden. Die barbarischen Taliban als Frauenfeinde und Gegner der "Perversen" werden so zur bloßen Projektionsfläche gemacht, um das der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegende frauenfeindliche und zwangsheterosexuelle geschlechtliche Basisverhältnis in der Feier bürgerlicher Zivilität wegblenden zu können.

Dazu noch eine quasi methodische Schlussbemerkung: In meinen Thesen fehlt ein systematischer Rekurs auf die Form und Entwicklung des Geschlechterverhältnisses in der maßgeblichen westlich-kapitalistischen Zivilisation. Dies habe ich mir deshalb verkniffen, weil dafür erstens hier nicht der Raum ist und es zweitens immer noch genug Männer und ebenso auch Frauen gibt, denen bei der Thematisierung der unüberwundenen geschlechtlichen Asymmetrie die Jalousien heruntergehen, sodaß der Text von vornherein bloß unter der Perspektive eines "Sonderaspekts" oder vielleicht gar nicht gelesen würde. Ich kann hinsichtlich der weiteren Problematik nur auf mein demnächst erscheinendes Buch mit dem Arbeitstitel "Das Unbehagen an den Differenzen/Klasse, Geschlecht, >Rasse< und postmoderne Individualisierung" verweisen, in dem die Matrix für die hier formulierten Thesen entwickelt wird. Im Anschluss an die Kritik der Identitätslogik geht es dabei darum, im Begriff des Geschlechterverhältnisses (Wert-Abspaltungsverhältnis) als grundlegendem Vergesellschaftungsprinzip gleichwohl mit der Vorstellung eines Haupt- und Nebenwiderspruchs zu brechen, also Rassismus, Antisemitismus und Sexismus nicht voneinander abzuleiten und sie gleichzeitig durch qualitative Unterschiede, besondere Kontexte und spezifische Konstellationen hindurch als miteinander zusammenhängend darzustellen.

Solidarhaft, Jargonitis, Denunziationismus und vor allem Identifikationismus beherrschen diese Szene: Wir sind gut, weil uns die anderen für ungut halten, so der identitätsstiftende Raster. Motto daher: Man darf uns nicht leiden dürfen. Die Aversion der anderen bestätigt unsere Aversion. Zumindest dies ist gelungen. Wenige wenden sich diesem Grauen freilich direkt zu. Nicht wenige werden sich allerdings im Grauen abwenden. Man darf sich da nichts vorlügen. Die Wild-um-sich-Schlagenden beschädigen nicht nur sich. Dass viel Energie in solch Auseinandersetzungen verschwendet werden muss, spricht Bände. Dass sie sich nicht von selbst erledigen (wie wir tendenziell in aller Gutmütigkeit angenommen haben), sondern erledigt werden müssen.
Die aktuellen Radikalismuswettbewerbe funktionieren als Ranking der Rabiaten. Wer sich barbarischer aufführt, hat Recht. Wer etwa Scharon Nachgiebigkeit gegenüber dem "palästinensischen Vernichtungskollektiv" unterstellt (außerdem will dieser wohl windelweiche Opportunist auch noch einen mickrigen Palästinenserstaat dulden) oder Bush mangelnde Entschlossenheit gegenüber dem Terrorismus vorwirft, der ist schon wer in dieser Szene. It's a hit. Um die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, müssen die Hardcore-Antideutschen die Gangart permanent verschärfen, bis hin zum selbst provozierten Übergriff auf die eigene Truppe, der dann als wahrhaft schlagender Beweis der eigenen Bedrohung dienen soll. Ärgerlich ist auch das "Softcore-Antideutschtum". Die unzähligen "Bahamas-Light"-Varianten sind zwar moderater im Ton, aber immer noch befinden sie sich in inhaltlicher Geiselhaft. Auf niedrigerem Aggressionslevel verkünden sie dasselbe.

Ihr Geschäft ist die Denunziation. Da laufen die Antideutschen zur Höchstform auf, weil es ihre Äußerungsform ist. Da sind sie deutsch wie tüchtig. Wertarbeiter sondergleichen. Wie etwa jener berüchtigte Justus Wertmüller, den man einen Diffamator ersten Ranges nennen könnte. Sozusagen eine halbautomatische Pumpgun pathischer Projektion. Wer abweicht, und sei's auch nur eine Nuance, wird erschossen. Denn immer geht es ums Ganze. Wertmüller erspäht Nazis auf den ersten Blick, zumindest im Nachhinein weiß er nun, dass auf Krisis-Seminaren "die neofaschistischen Öko-Rauschebärte von der Silvio-Gesell-Fangemeinde" sich herumtreiben. Wahrlich, man sieht es diesen Krisis-Leuten direkt an. Robert Kurz darf in der bahamotischen Hirntragödie bereits als Oswald Spengler auftreten. So jauchzt und jodelt der Antideutsche: Dass wir inzwischen wie (oder gar: als?) Faschisten zu bekämpfen sind, wissen wir seit der Dritten Kommandoerklärung der Bahamas, jener mit dem alles sagenden Titel "Zur Verteidigung der Zivilisation": "Wenn allerdings Antikapitalismus von den Nürnbergerischen und anderen islamisch-deutschen Gemeinschaftswerken nicht mehr unterscheidbar ist, wenn er nicht mehr die Aufhebung der kapitalistischen Vergesellschaftung auf ihrem höchsten Niveau einfordert und blind ist für die Gefahren eines Antikapitalismus, der nur noch den vorzivilisatorischen egalitären Schrecken bereithält, dann muss man ihn bekämpfen wie jede andere faschistische Gefahr auch" (Bahamas 37).

Wo der "vorzivilisatorische Schrecken" droht, muss man dieser neudeutschen Logik entsprechend sich eben nach der Decke des zivilisatorischen Schreckens strecken. Da wird durchgemixt und aufgemischt, dass es so eine Unfreude ist. Man lese etwa Wertmüllers völlig abgedrehten Artikel "Unter Bauern" (Konkret 1/2002). Da wird man eingemeinschaftet, dass man nur so staunt. Aber ganz ehrlich, die "Abscheu vor den verwirrenden Reizen" (Wertmullah) treibt uns zur "Denunziation ausgelebter Individualität"(Wertmullah), schließlich propagieren wir "Verzicht auf den Luxus als Tugend"(Wertmullah). Und vor "verrücktester Künstlichkeit und Grenzenlosigkeit" (Wertmullah), da graust es uns ganz besonders. Am wenigsten halten wir die aus, die "wild entschlossen, ihren Spaß ... haben" (Wertmullah). Da verstehen wir, die wir sowieso keinen Spaß verstehen, überhaupt keinen Spaß mehr.

Man muss schon subjektiv als Belustigung nehmen, was objektiv eine Belästigung ist. Noch nicht bekannt war dem zivilisationsgeifernden Muezzin allerdings, dass die finsteren Bauerngestalten seines antideutschen Trauerspiels, also Bové und Bin Laden, Zapata und Lohoff bei einem geheim gehaltenen Treffen der Welt sogar die Eliminierung der USA in Aussicht gestellt haben. In der Sonderresolution "Gegen Stöckelschuhe und Netzstrümpfe. Aufruf zur Vernichtung des Glücks" wird explizit festgehalten, dass Antideutsche im zu errichtenden "Bauernsozialismus" als Landarbeiter sich für die Volksgemeinschaft nützlich machen müssen. Praktische Enturbanisierung bedeutet, dass nach dem getanen Tagwerk bei naturtrübem Apfelsaft und alpenländischer Volksmusik das Auswendiglernen von Koransuren und Krisisseiten auf den leuchtenden Pfad führen soll. Auch der berüchtigte Anti-Antisemitismus darf dann nur noch ungekeult vertreten werden. Oh Justus, so ist es und nicht anders.

Sollte das kollektive Gezwänge in der Bahamas-Stube tatsächlich den Vorschein "ausgelebter Individualität" darstellen, ist Flucht angesagt. Aber vielleicht ist "ausgelebt" sowieso als vorbei, tot, beendet, vorüber und gewesen zu lesen. So trifft dann selbst noch der durchgeknallteste Geisterseher ungezielt ins Schwarze. Am ehesten noch sind die Wertmullah-Banden in ihrer Gemütlichkeit mit Stammtischen in der Oberpfalz zu vergleichen. Wenn sich da wie dort das Glück ankündigt, ziehen wir das Unglück vor. Aber was soll man noch sagen: Wer dem Glücksversprechen bürgerlicher Provenienz aufsitzt, ist ein Komplize des Glücksverbrechens desselben.

***

Nach all den Zerwürfnissen stellt sich dringlicher denn je die ganz banale Frage: Wer ist unser Publikum? Wen wollen wir ansprechen? Kurzum: Die sich hartnäckig durchsetzende implizite Orientierung auf die radikale Linke und ihre Restbestände sollte denn doch entschiedener hinterfragt werden. Jene unterläuft mehr, als sie jemals beschlossen wurde. Nicht, dass die radikale Linke kein Bezugsfeld darstellt, ist gemeint, wohl aber doch, dass es sich dabei nicht um das primäre oder gar einzige handeln soll. Sowohl in der Krisis selbst als auch in den Außenpublikationen müssen wir dem deutlicher Rechnung tragen. Nicht alles, was uns so passiert, müsste uns auch passieren. Vieles, was bisher eher zufällig sich gestaltete, sollte doch mehr unter das Kommando ausgesprochener Absichten gestellt werden.
Die Alternative zur linksradikalistischen Durchgeknalltheit kann aber nicht in der Neuauflage reformistischer Illusionen à la
ATTAC liegen. Dieser Sozialstaats- und Polit-Romantizismus krankt an allen Ecken und Enden. Auch wenn zugegeben werden soll, dass dort zur Zeit die Entwicklungsmöglichkeiten einzelner Segmente und vor allem Individuen besser einzuschätzen sind als in den sich abkapselnden Sektensümpfen. Was auch ein wichtiger Gesichtspunkt ist.

Nehmen wir zum Beispiel die so genannte Anti-Globalisierungsbewegung: "Mischt euch ein" contra "Mischt sie auf" (Jungle World 45/2001) ist unserer Meinung nach eine unfruchtbare Gegenüberstellung, an der man lediglich Identitäten festmachen kann. Damit hat es sich aber schon. Kritik hat nicht nur pointiert zu sein, sie hat auch sensibel zu agieren. Sie muss Einstiegsmöglichkeiten bieten. Die Luken sind nicht dichtzumachen, sondern offen zu halten. Uns geht es darum, sich die Bewegungen als gesellschaftliche Mischmaschinen genauer anzuschauen, über Möglichkeiten und Grenzen zu sprechen. Einmischen wird aufmischen nicht ausschließen. Vice versa. Außerdem gilt es die Position nicht immer gleich zur Konfrontation zu steigern, zumindest wenn man sich strategische Optionen offen halten will, die sich jenseits der Rechthaberei bewegen.

Über die Ideologiekritik hinaus wird es notwendig sein, selbst eine adäquate Sozialkritik zu leisten, die die Verkürzungen der Kapitalismuskritik (wenn auch anderer Natur) auch bei sich selbst bemerkt. Dieses Terrain ist zu besetzen. Was früher soziale Frage hieß, darf weder den Traditionalisten überlassen werden, noch darf es sträflicherweise aufgegeben werden, weil man dort zu Recht ein Einfallstor nationaler Propaganda vermutet. Wertkritik heißt nicht bloß zu zeigen, dass die Wertvergesellschaftung eine paradoxe Gesellschaftsform darstellt, sondern auch, dass selbst die immanenten "Fortschritte" sich gleichsam erschöpfen, d.h. von der Unmöglichkeit in der Unmöglichkeit zu sprechen, nicht die Möglichkeiten in der Unmöglichkeit herbeizuphantasieren. Jene verlangt aber auch: Kein Feld, kein Thema ist ob seiner Widrigkeiten auszuschließen.

In diesem Zusammenhang wird es wichtig sein, den Realismus gründlich zu demaskieren (vgl. ansatzweise Robert Kurz, Der Zusammenbruch des Realismus, Krisis 14), ja überhaupt Wünsche und Vorschläge nicht dem Kriterium der Sachlichkeit unterzuordnen. Wer heute bloß einfordert, was aktuell erfüllbar erscheint, domestiziert sich zum Erfüllungsgehilfen der Herrschaft. Darf man also Unrealistisches fordern? Zweifellos, man muss es sogar. Aber um seriös zu bleiben, hat man gleichzeitig die Unhaltbarkeit desselben mit in die Debatte bringen. Das klingt vorerst etwas verrückt, aber nur diese Verrückung lässt einerseits ein konsequentes und konkretes Nein zu den Zumutungen zu, ohne gleich wieder selbst den Illusionen aufzusitzen.

Die Alternative dazu wäre ein abstraktes Nein, doch das hilft nicht viel weiter. Was strategische Option meint, ist diesseits von Attentismus und reiner Kritik. "Wer nicht Nein sagt zur kapitalistischen Totalität, dem geschieht es schon recht, den kapitalistischen Zumutungen ausgeliefert zu werden", dieser zynische und elitäre Standpunkt ist unserer nicht. Zwar lässt sich Arroganz gegenüber diversen Beschränkungen nie so ganz vermeiden, sie sollte sich allerdings nicht zur Tugend erheben. Notorische Besserwisser gibt es schon genug.

Wie Kritik sich nicht auf Erfahrung reduzieren darf, so darf sie diese auch nicht subtrahieren. Damit ist kein plattes Anknüpfen zu verstehen, wohl aber ein Auslegen und Darlegen derselben, ein Kenntlichmachen ihrer formbestimmten Resonanz. Das ist aber doch etwas anderes als ein schlichtes Abtun. Übersetzungen sind notwendiger denn je, will Kritik auch verstanden werden, nicht eine Geheimwissenschaft einiger Erleuchteter bleiben. Solche Kritik, da mag sie noch so niveauvoll und substanziell sein, wird über kurz oder lang in ihrer Abgehobenheit verhungern.

Solange keine Perspektive in Sicht, d.h. eine solche weder begreifbar geschweige denn greifbar ist, wird der Widerstand aber immer in die alten Formen zurückfallen, wird er retten wollen, was zu retten ist, auch wo gar nichts zu retten ist. Dieses Festhalten an vermeintlich emanzipatorischen Errungenschaften der Zivilisation gegen diese wird selbst immer weggetretener. Der positive Bezug auf herkömmliche Versatzstücke von Formprinzipien ist übrigens etwas, das von Bahamas bis ATTAC gar viele vereint. Ob dann mehr der Amoklauf oder die Biederkeit als Fluchtpunkt dient, ist oftmals eine Frage der persönlichen Psyche. Über die in Zukunft wahrscheinlich mehr gesprochen werden muss, als dies bisher üblich gewesen ist. In etwa: Wie konstituiert sich der Gesellschaftskritiker? Warum neigt dieses fragile Konstrukt in seiner Negation der Charaktermasken so überproportional zum Irresein? Welchen Stellenwert hat der grassierende Obskurantismus in der radikalen Linken? Nicht, dass wir das jetzt alles wüssten, aber fragen wird man schon noch dürfen, nein: müssen!

***

Die Krisis schert einmal mehr aus. Nicht nur Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit stehen zur Disposition, nein, ebenso Aufklärung und Zivilisation, Vernunft und Sachlichkeit. Man wird sich ihrer ganz frevelhaft, vor allem ohne vornehme Zurückhaltung annehmen. Intensive Beschäftigung ist angesagt. Nicht nur ein Vorgeschmack, sondern bereits der erste Gang befindet sich in dieser Ausgabe. Wir wünschen guten Appetit und natürlich einen guten Magen, ob der nicht immer leicht verdaulichen Kost.

Eröffnet wird das Menü mit dem Beitrag Die Aufklärung und ihre Kehrseite. Zur Rettung einer "banalen Einsicht" von Claus Peter Ortlieb. Angesichts der allgemeinen Aufklärungs-Renaissance nach dem 11. September insistiert er auf dem Grundgedanken der "Dialektik der Aufklärung", dass der Irrationalismus der Aufklärungsvernunft nicht fremd und äußerlich gegenübersteht, sondern in ihr selbst angelegt ist. Weil die neuzeitliche Vernunft, die Vernunft der bürgerlichen Epoche, sich allein auf die Form und nicht auf den Inhalt des Denkens bezieht und das Gefühl zu einem ihr feindlichen Prinzip erklärt, bringt sie notwendig die Gegenaufklärung als ihr Komplement hervor. Beiden gemeinsam ist, dass sie Denken und Fühlen voneinander isolieren, der Unterschied liegt nur in der Betonung des einen oder anderen. Angesichts dieser Scheinalternative eine Lanze für die Aufklärung zu brechen, verkennt den Zusammenhang mit ihrer Kehrseite, verkennt die Selbstdestruktion der Aufklärung, die in ihrer Eigendynamik freilich über die bürgerliche Gesellschaft keineswegs positiv hinaus, sondern vielmehr auf die Zerstörung von Gesellschaftlichkeit überhaupt verweist.

Diese Diagnose wirft die Frage auf, wie denn dann Kritik überhaupt noch möglich sein soll. Ortlieb wendet sich gegen den Vorwurf, wer sich weigere, im aktuellen Krieg der spiegelbildlichen Wahnsysteme von Islamismus und "westlichen Werten" Partei zu ergreifen, suggeriere eine Position außerhalb der Totalität. Wäre dieser Vorwurf schlüssig, träfe er jede Kritik am gesellschaftlichen Ganzen und würde sie damit für unmöglich erklären. Doch so beschränkt sind die Mittel der Aufklärung und die Möglichkeiten rationalen Denkens und Argumentierens nun auch wieder nicht. Die Trennung von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt schließt nicht aus, sich selbst, das eigene Denken oder auch die Totalität der Gesellschaft, in der man sich bewegt, zum Erkenntnisobjekt zu machen. Kritik der Aufklärungsvernunft heißt nicht, dass wir nicht in ihren Formen denken müssten; als kapitalistisch konstituierte Individuen können wir gar nicht anders. Das schließt ein Bewusstsein von der eigenen Situation, das verbunden ist mit der Hoffnung, aus ihr hinauskommen zu können, aber nicht aus.

Auch Norbert Trenkle setzt sich in seinem Text Gebrochene Negativität mit der Aufklärungskritik von Horkheimer und vor allem von Adorno auseinander. Er zeigt, dass diese Kritik trotz ihrer fraglosen Radikalität sich letztlich selbst zurücknehmen muss, weil sie bestimmte Basisannahmen der Aufklärung teilt und nicht in Frage stellt. Das Grundproblem besteht darin, dass Horkheimer und Adorno mit einem historisch unspezifischen Begriff von Vernunft operieren. Die neuzeitliche Vernunft erscheint als logischer Kulminationspunkt einer Entwicklung, die im Grunde schon mit der Menschwerdung überhaupt, mit der Ablösung des Menschen von der Natur, beginnt. Der qualitative Bruch, den die Aufklärungsvernunft mit ihrem strikten Formalismus und ihrer Subjekt-Objekt-Spaltung gegenüber dem Denken früherer historischer Epochen darstellt und der sie als spezifisch historische, an die Warengesellschaft gebundene Denkform ausweist, gerät darüber in Vergessenheit. In dieser Hinsicht stehen Horkheimer und Adorno mit beiden Füßen auf dem Boden der Aufklärung, die sich bekanntlich ja zum Höhepunkt einer epochenübergreifenden, universellen Entwicklung menschlicher Reflexion mystifiziert hat, um sich damit zugleich der Kritik zu entheben. Spiegelverkehrt pessimistisch reproduzieren die beiden Autoren diese Mystifizierung und kommen daher auch nicht umhin, die bürgerliche Gesellschaft als historisch notwendigen Fortschritt auf dem Weg einer möglichen menschlichen Emanzipation zu verklären. Auch wenn diese Möglichkeit vertan wurde, vermeinen sie doch, in der Aufklärungsvernunft zumindest noch ein "Residuum von Freiheit" zu entdecken, das Anlass zur Hoffnung gibt. Die Kritik am herrschaftlichen Charakter insbesondere des Kantschen Denkens muss daher ständig zurückgenommen werden - notfalls auch gegen Sinn und Wortlaut des Textes. Dagegen hält Trenkle, dass die "Begierde der Rettung" nicht in der Aufklärung, sondern trotz ihr fortlebt. Dass es der Aufklärung entgegen aller Anstrengung nicht gelingt, den Gedanken an Befreiung von Herrschaft auszulöschen, ist ihr nicht als Verdienst anzurechnen, sondern verweist nur darauf, dass sie an ihrem eigenen totalitären Anspruch scheitert. Insofern gibt es nichts zu Ende zu bringen, was die bürgerliche Gesellschaft verraten oder verdrängt hätte.

Diesen Grundgedanken spitzt Robert Kurz in seinen 20 Thesen gegen die so genannte Aufklärung und die "westlichen Werte" unter dem bezeichnenden Titel Blutige Vernunft weiter zu. Die apodiktische Thesenform rechtfertigt sich durch die unsägliche mediale Wiederaufbereitung von Eurozentrismus, Aufklärungshuberei und Selbstglorifizierung des westlichen Gesamtimperialismus nach dem 11. September, als hätte es nie eine kritische Reflexion über die "Dialektik der Aufklärung", über Kolonialismus, "Subjekt", "Fortschritt" usw. gegeben. Hatte sich diese Tendenz schon bei den demokratischen Bombenphilosophen in den Weltordnungskriegen der 90er Jahre angedeutet, so ist sie nun hemmungslos und gesellschaftlich allgemein geworden, bis in das linksradikale Restsegment hinein.
Deshalb geht es dem polemischen "Thesen-Anschlag" von Robert Kurz um eine längst überfällige intellektuelle Polarisierung in der Neuformulierung radikaler Kapitalismuskritik.

Mit der Kritik der Arbeitsontologie ist die Kritik der bürgerlichen Konstitution noch nicht vollendet; sie muss auch durch die repressiven statt befreienden Konstrukte des in der modernen Theoriegeschichte sedimentierten Aufklärungsdenkens hindurch; erst dann ist der Rubikon überschritten. Dieser entscheidende Schritt der Wertkritik ist allerdings nicht möglich, ohne das geschlechtliche Abspaltungsverhältnis systematisch aufzunehmen, wie es bislang eher parallel zur Theoriebildung der Krisis hauptsächlich in den Texten von Roswitha Scholz thematisiert wurde. Nur auf diesem Weg ist eine emanzipatorische radikale Kritik der Aufklärung möglich, die das Verhältnis von Aufklärung und reaktionärer Gegenaufklärung als negative Identität und als innerbürgerlichen Scheingegensatz dechiffrieren kann, ohne sich auf die falschen Alternativen der an ihr Ende gelangten kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte vergattern zu lassen.

Die Verweigerung einer Parteinahme im Kampf des westlichen Gesamtimperialismus gegen seine eigenen Barbarisierungsprodukte, in der aktuellen Situation die einzig mögliche wertkritische Position gegen das Ganze des weltgesellschaftlichen Bezugssystems, muss fundiert werden durch eine Kritik des blutigen immanenten Wechselspiels von kapitalistischer Rationalität und Irrationalität. Der vorliegende Thesentext versteht sich als Einstieg in diese Auseinandersetzung um den Zusammenhang von Wertvergesellschaftung, Abspaltungsverhältnis und bürgerlich-identitätslogischem Aufklärungsdenken. Es ist bewusst keine betulich differenzierende und relativierende Abhandlung mit Verbeugungen nach allen Seiten, sondern auch der Form nach eine scharfe Positionsbestimmung, die zum Ärgernis und Stachel für das in der radikalen Linken noch lange nicht überwundene "männlich"-identitätslogische Aufklärungsdenken werden will, wie es sich in den affirmativen Exzessen der letzten Monate von seiner dümmsten und hässlichsten Seite gezeigt hat.

Einem anderen nicht weniger aktuellen Thema wendet sich Ernst Lohoff in seinem Beitrag Antikapitalistisches Frühlingserwachen? zu: der "Antiglobalisierungsbewegung". Auch wenn die verbreitete Euphorie sicherlich übertrieben war, die nach Genua bereits eine neue APO zu erkennen glaubte, stellt der Protest doch zweifellos einen oppositionellen Aufbruch nach langen Jahren der Bewegungsflaute dar. Darüber hinaus birgt er auch einige neue Qualitäten, wozu insbesondere sein transnationaler Charakter, aber auch sein Verzicht auf Vereinheitlichung, hierarchische Strukturen und identitäre Abgrenzung gehört. Doch diese Momente stellen zugleich auch eine Schwäche dar, denn sie verweisen auf eine äußerst unklare gesellschaftskritische Ausrichtung. Die proklamierte und praktizierte Offenheit ist oft nicht viel mehr als das beliebige Nebeneinander unvereinbarer Positionen. Darin birgt sich die Gefahr einer Fremdbestimmung durch den Markt der Meinungen und die Vorgaben der offiziellen Politik, die das Ringen um Autonomie zur Farce macht. Dagegen hält Lohoff, dass die bewusste Abkehr von der Vorstellung des politischen Einheitssubjekts weder Verbindlichkeit und Kohärenz noch die klare Abgrenzung des kritischen vom herrschenden Bewusstsein überflüssig macht. Eine radikal gesellschaftskritische Strömung kann sich nur formieren, indem sie beides in einer gegenüber dem alten Subjektmodus veränderten Weise herstellt.

Radikale Gesellschaftskritik darf sich nicht einreden, der Antiglobalisierungsprotest gehe schon von selbst in die richtige Richtung. Noch verkehrter ist es allerdings, ihn einfach nur äußerlich abzukanzeln - eine insbesondere in den Kreisen, die mit einem ideologiekritischen Reduktionismus operieren, verbreitete Unsitte. Wer sich weigert, im Dubiosen am Anti-Globalisierungsprotest wesentlich auch die Misere gesellschaftskritischer Theorieproduktion wiederzuerkennen, verrät völlige Ignoranz gegenüber der Frage, wie sich Widerstand und kritisches Bewusstsein unter den heutigen Bedingungen überhaupt formieren können und welche Rolle gesellschaftskritische Theorie dabei selber spielen kann. Eine praktische Neuorientierung auf radikalen Antikapitalismus ist nur denkbar, wenn sie mit einer theoretischen Neubestimmung zusammenfindet. Kritische Kritik, die als Gralshüter eines vorgeblich feststehenden antikapitalistischen Wissensschatzes auftritt, kaschiert mit ihrer Beckmesserei nur ihre eigene Zahnlosigkeit, ihr eigenes Versagen.

Im gleichen thematischen Zusammenhang nimmt Anselm Jappe sich in Des Proletariats neue Kleider jenes Buch vor, das derzeit im globalisierungskritischen Spektrum große Furore macht und von einigen sogar als das Kommunistische Manifest des 21. Jahrhunderts gefeiert wurde: "Empire" von Michael Hardt und Antonio Negri. Jappe kann diese Einschätzung gelinde gesagt nicht teilen. Er sieht in dem Buch im Grunde nur eine postmodern veredelte Neuversion des italienischen Operaismus der siebziger Jahre, der seinerseits nichts anderes war als eine Neuversion des Traditionsmarxismus. Was darüber hinwegtäuschen mag, ist zunächst vor allem der eklektische Umgang mit Theorie, wie ihn Hardt und Negri an den Tag legen, und die Tatsache, dass nicht mehr vom guten alten Proletariat, sondern von der "Multitude" geredet wird, die sich bei näherem Hinsehen aber nur als dessen Wiedergeburt entpuppt. Hatte etwa der Operaismus in seiner radikalen Subjektemphase die Kämpfe der Arbeiterklasse und anderer Ausgebeuteter zum eigentlichen Motor der gesamten historischen Entwicklung des Kapitalismus, einschließlich seiner Krisen, verklärt, so soll nun auch die Herausbildung des supranationalen Empire eine Reaktion der Souveränität auf den Druck der "Multitude" gewesen sein.

Insgesamt ist das Buch theoretisch sehr viel altbackener, als es zu sein vorgibt. Zu einer Kritik des gesellschaftlichen Formprinzips dringt es nicht ansatzweise vor und eine ökonomiekritisch entwickelte Krisenanalyse sucht man vergeblich, auch wenn andauernd von der Krise die Rede ist, die aber nur das ganz normale Funktionieren des Kapitalismus anzeigen soll. Es verwundert daher auch nicht, dass von einer kategorialen Arbeitskritik in Empire nichts zu finden ist. Im Gegenteil. Ganz wie im traditionellen Marxismus wird die Arbeit sogar zum Ausgangspunkt der Emanzipation, wobei es allerdings nun die "immaterielle Arbeit" sein soll, der diese Ehre zukommt. Begrifflich gerät dabei einiges durcheinander. Die Kooperation soll der immateriellen Arbeit völlig immanent sein, sie trete nicht von außen hinzu. Deshalb könne diese Arbeit sich selbst verwerten und sei kein variables Kapital. Kein Wunder, dass dieses Loblied der lebendigen Arbeit die mehr als bloß dubiose Vorstellung nach sich zieht, sie werde von der ihr äußerlichen, toten Arbeit ausgesaugt wie von einem Vampir.

Im Kommentar- und Debattenteil knüpft Udo Winkel zunächst am Schwerpunkt dieser Krisis-Nummer an und legt einige Unsystematische Gedanken zur Aufklärungsproblematik vor. Es folgt der Artikel von Roger Behrens Jeder ist sein eigenes Würstchen. Oder: Naive und kritische Theorie - eine nicht ganz unpolemische Besprechung des Buches von Axel Honneth "Das Andere der Gerechtigkeit". Anschließend liefert Ernst Lohoff in Frankenstein kann es nicht richten einige kritische Anmerkungen zu Anselm Jappes Artikel "Gene, Werte, Bauernaufstände" aus Krisis 24. Die Debatte zu diesem Text wird in der nächsten Nummer fortgesetzt. Torsten Liesegang nimmt in Die Wiederkehr der Popliteratur als Farce die literarischen Ergüsse einer jüngeren Generation von Modeautoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Florian Illies u.a. auseinander. Es folgt ein weiterer Artikel von Ernst Lohoff, Die Geister, die sie riefen, in dem vor aktuellem Hintergrund die Korruption als endogenes Phänomen des Kapitalismus analysiert wird. Und abschließend rezensiert Udo Winkel in Legende vom Werden und Mythos der Nation zwei neuere Publikationen von Patrick J. Geary und Andreas Dörner, die sich kritisch mit der Nationenbildung in Europa und in Deutschland auseinandersetzen.

Es bleibt der Ausblick auf die nächste Nummer: Sie wird sich schwerpunktmäßig mit dem Verhältnis von gesellschaftskritischer Theorie und Praxis auseinandersetzen, eine Fragestellung also, die ganz unmittelbar auch die Krisis selbst und ihre Aktivitäten betrifft, weshalb ihre Behandlung natürlich auch selbstreflexiven Charakter haben wird. Außerdem werden weitere Beiträge zur Kritik der Aufklärung folgen, ein Schwerpunkt, der uns noch über längere Zeit beschäftigen wird. Auf Widerspruch zu den in dieser Krisis-Ausgabe dazu veröffentlichten Artikeln, die auch unter uns nicht unumstritten waren, sind wir gefasst. Ja wir würden uns wundern, käme er nicht. Es sei also dazu eingeladen, ihn auch schriftlich zu äußern. Die Debatte ist eröffnet.

Ankündigungen sind an dieser Stelle schon viele gemacht worden, doch da wir es mit dieser Nummer geschafft haben, weitgehend in unserem Zeitplan zu bleiben - woran die Tätigkeit der neuen Redaktion nicht ganz unschuldig war - wagen wir die Aussage, dass Krisis 26 noch im Spätherbst dieses Jahres erscheinen wird.

Franz Schandl und Norbert Trenkle für die Redaktion

Aus dem Editorial der krisis 25, 2002

 

 

 

Udo Winkel

 

UNSYSTEMATISCHE GEDANKEN ZUR AUFKLÄRUNGSPROBLEMATIK

 

Diskussionsbeitrag zur Aufklärungs- und Wissenschaftsproblematik angeregt durch die vorgelegten Artikel und Papiere und den kontroversen Diskurs

 

Du glaubst, du seist dem Kloster entronnen? Es

muss jetzt jeder sein Leben lang ein Mönch sein

Sebastian Franck

 

Wenn wir die Warensubjekte kritisieren, heißt

das nicht, dass wir schon keine mehr wären

Claus Peter Ortlieb

 

 

I.

Wer die Aufklärung zum notwendigen Ausgangspunkt für jedes kritische Denken und jegliche Reflexion erklärt, wie in sich widersprüchlich und dialektisch diese auch gesehen werden mag, kann sich darauf berufen, dass sie natürlich Bedingung der Möglichkeit der Reflexion in der und über die Moderne ist und in- sofern unhintergehbar bleibt. Jede Fetischform bringt notwendigerweise, durch die vollzogene Objektivierung ein "Subjekt-Objekt-Verhältnis" und damit Reflexion hervor, wie mystifiziert diese auch sein mag. Die Aufklärung kritisiert die Fetischformen der vorbürgerlichen Gesellschaften, wobei die Religionskritik nicht über den Priesterbetrugsvorwurf hinauskommt. Noch Lenin bezeichnete die Religion als "Opium fürs Volk", eine Verballhornung des jungen Marx, der in Anknüpfung an Feuerbach ("Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde") und ihn transzendierend vom "Opium des Volks" gesprochen hatte: "Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist."(Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, in: Karl Marx / Friedrich Engels Studienausgabe, Bd. 1, Ffm 1966, S. 17) Eine Kritik der Aufklärung auf ihrem Boden kommt nicht über den Stand von Adornos und Horkheimers "Dialektik der Aufklärung " oder Adornos Kantkritik hinaus; ihre Apologeten fallen zumeist weit hinter ihre Vorbilder zurück. Auch das Aufklärungsdenken bleibt "Geist geistloser Zustände", eben Geist der fetischisierten, verdinglichten und verselbständigten Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft. "Geistvolle Zustände" wären erst solche, die durch bewusstes, Bedingungen und Folgen berücksichtigendes, menschliches Handeln hergestellt werden.

 

II.

In jeder Wissenschaftsgeschichte ist nachzulesen: Die moderne Wissenschaft beginnt seit der Renaissance als Naturwissenschaft, deren Ergebnisse dann auch auf die Gesellschaft übertragen werden, so auch im Selbstverständnis der Protagonisten. Noch Comte sah seine Soziologie als die Krönung der Naturwissenschaften an. Doch was bedeutet Beobachten, Messen, Quantifizieren und labormäßiges Umgehen mit der Realität anderes als die Zurichtung der äußeren Natur und auch der inneren menschlichen. Es geht hier nicht, wie auch kritische Wissenschaftler annehmen, um Übertragung naturwissenschaftlicher Theoreme und Methoden, etwa der Mechanik, auf die verdinglicht Gesellschaft, sondern um den Blickwinkel der "zweiten Natur" auf die erste, ihre Verfügbarkeit und Benutzbarkeit. Schon Francis Bacon schrieb sowohl über die neue Wissenschaft Novum Organum (= das neue Werkzeug), die uns Macht über die Natur verleiht, als auch über die neue Gesellschaft Nova Atlantis, die kraft der neuen Wissenschaft zu einem irdischen Paradies werden soll. Die so konzipierten Naturwissenschaften waren ein wesentliches Moment der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise und, in der industriellen Revolution, ihrer endgültigen Durchsetzung. Hobsbawn spricht hier zu recht in Bezug auf die politische französische und die industrielle englische von einer "Doppelrevolution".

 

III.

Paradigmatisch für die Auseinandersetzung mit der Aufklärung bleibt der "doppelte Marx": Der historisch gewordene exoterische Marx der Arbeiterbewegung, der wie diese dem Aufklärungsdenken verhaftet blieb, und der esoterische, erst heute in sein Recht tretende, fundamentale Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft. Wobei neben der "Kritik der politischen Ökonomie" auch eine Beschäftigung mit Marx' Frühschriften, seine Kritik Hegels und der Deutschen Ideologie lohnend bleibt. So schreibt Marx etwa in seiner Proudhon-Kritik, "dass alles, was existiert, dass alles was auf der Erde und im Wasser lebt, durch Abstraktion auf eine logische Kategorie zurückgeführt werden kann, dass man auf diese Art die gesamte wirkliche Welt ersäufen kann in der Welt der Abstraktionen, der Welt der logischen Kategorien - wen wundert das?" (Karl Marx: Elend der Philosophie, in MEW 4, S. 127-28)

 

IV.

Da die fetischistische Subjekt-Objekt-Spaltung notwendigerweise den "weiblich" besetzten, emotionalen Bereich, der nicht in Rationalität und im System aufgeht, abspalten muss, tritt dieser immer wieder in mystifizierter Gestalt in Erscheinung. So etwa, wenn die Lebensphilosophie das Kantsche Ding an sich in den buchstäblichen Lebenstrieb verwandelt. Damit bleiben Aufklärung und Gegenaufklärung oder Aufklärungskritik polar aufeinander bezogen, oberflächlich sich ausschließend, doch wesentlich sich gegenseitig bedingend und daher auch im Zusammenhang zu kritisieren. Um Sombart zu paraphrasieren: wir wollen auf dem kapitalistischen Höllenfeuer weder rational gesotten noch irrational. gebraten werden. Der Irrationalismus bleibt die Kehrseite des Rationalismus.. Wenn Claus Peter Ortlieb in seinem Beitrag in dieser Krisis-Ausgabe schreibt, dass der Antisemitismus "zum ganz normalen Wahnsinn des Aufklärungsdenkens" gehört, ist dieser Zusammenhang angesprochen. Lessing kann in "Nathan dem Weisen" die Gleichberechtigung der

Juden postulieren ("Ringparabel"; im Vergleich zu Judentum und Islam schneidet das Christentum übrigens zu Recht am schlechtesten ab), einige Jahrzehnte später vertritt der berüchtigte Turnvater Jahn einen völkischen Antisemitismus, der überhaupt in der Romantik eine weite Verbreitung findet: Der Beginn des modernen Antisemitismus ist tatsächlich eine Ausgeburt des Aufklärungs-Gegenaufklärungs-Syndroms.

 

V.

Gerade weil die Aufklärungsvernunft abstrakt formbestimmt ist, kann sie als ahistorische überhistorisch jedwedem Interesse subsumiert werden. Gegen die Privilegien der vorbürgerlichen Gesellschaft standen die großen Postulate der französischen Revolution für die Freiheit und Gleichheit der bürgerlichen Monade in der subjektlosen Form. Die Brüderlichkeit blieb in der Konkurrenz auf der Strecke; von Schwesterlichkeit war überhaupt nicht die Rede. Schon der junge Marx hat die bürgerlichen Denker kritisiert, dass es für sie zwar eine Geschichte gegeben habe, aber keine mehr gäbe. Hatte noch Voltaire den Absolutismus als "beste aller Welten" verspottet, schien diese mit der Durchsetzung des Aufklärungsdenkens nun erreicht. Es gibt nur noch Bewegung und Veränderung innerhalb der Form - so noch ausdifferenziert und variationsreich in der Luhmannschen Systemtheorie -, ihre Sprengung ist nicht mehr vorgesehen. Auch die Arbeiterbewegung verstand sich als Streiterin gegen die ja tatsächlich noch vorhandenen Privilegien, setzte auf die politische Revolution, die, wie schon der junge Marx wusste, "die Grundmauer stehen lässt", und setzte in ihrem Kampf erst die Verallgemeinerung des bürgerlichen Individuums durch. Doch die politische Emanzipation ist die "letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung". (Marx)

 

VI.

Claus Peter Ortlieb (ebd.) geht richtig da- von aus, dass "das begriffliche Denken, wie es die Aufklärung hervorgebracht ...hat, ... die Trennung von erkennendem Subjekt und erkanntem bzw. zu erkennenden Objekt" voraussetzt. Anders als in der "Form der Subjekt- Objekt-Trennung", "lässt sich Analyse und Kritik nicht" nur "darstellen", wenn "sie sich in dieser Gesellschaft verständlich machen" will, sondern sie ist in dieser Formbestimmtheit überhaupt nur möglich.

Die Soziologie kann so Gesellschaft nur als durch soziales Handeln konstituiert, im Anschluss an Max Weber, oder als vorgegebene "realite sui generis", im Anschluss an Emile Durkheim, fassen (siehe hierzu meine Thesen "Objektivismus und Subjektivismus in der Soziologie" in Krisis 24). Auch der Marxismus bleibt in der Polarität von gesellschaftlichen Naturgesetzen und politischem, sprich voluntaristischem Handeln befangen; Diamat und Personenkult bedingen sich. Erst die Zusammensicht im Anschluss an Marx - die von den Menschen konstituierten Verhältnisse verselbständigen sich ihnen gegenüber, der Mensch wird vom eigenen Produkt beherrscht - führt im Denken und in der Reflexion über diese Dichotomie hinaus, wobei ohne Sprengung der Form die reale Paradoxie natürlich weiter reproduziert wird. Erst von hier aus wird das Begreifen der Geschichtlichkeit der gesellschaftlichen Formen und die Dechiffrierung der Fetischformen als bewusstes Moment möglich. Schon der junge Marx formuliert in der "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" - in Transzendierung der junghegelianischen Religionskritik - als Aufgabe: "Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung (in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik" Marx/Engels Studienausgabe, ebenda, S. 18) und, so wäre zu ergänzen, die positive Wirtschaftswissenschaft in die "Kritik der Politischen Ökonomie". Und auch daran sei erinnert, dass er hier dem Kantschen kategorischen Imperativ der Aufklärung entgegensetzt: "Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist..." (ebenda, S. 24)

Inzwischen ist die "Gestalt" des Kapitalismus "alt geworden" und die "Eule der Minerva beginnt ihren Flug" tatsächlich erst "in der Dämmerung" (Hegel). Die Unhaltbarkeit der Zustände ermöglicht überhaupt erst eine transzendierende Perspektive. Doch ob wir diese bewusst "ins Jenseits der bestehenden Gesellschaft" (Luxemburg) setzen können, ist letztlich eine praktische Frage. Notwendig bleibt der qualitative Bruch, wie ihn schon Marx in der "Deutschen Ideologie", freilich im klassentheoretischen Verständnis, formulierte: "... dass sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden." (ebenda, S. 132). Veränderung und Selbstveränderung als Momente einer "umwälzenden Praxis" bleiben das einzige Mittel gegen die drohende Barbarei. Der "theoretische Pol" kann und muss kritisch versuchen, Einschätzungen von entstehenden Bewegungen zu leisten und mögliche Perspektiven deutlich zu machen. Dazu gehört auch, die Perspektivlosigkeit des Aufklärungsdenkens aufzuzeigen. Hier hat Ideologiekritik ihren Stellenwert: "Wenn der Purpur fällt, muss auch der Herzog nach" (Schiller).

"Im positiven Bezug auf die Aufklärung sind sich die Kriegstrommler freilich mit ihren friedensbewegten Gegnern durchaus einig."

Claus Peter Ortlieb

 

DIE AUFKLÄRUNG UND IHRE KEHRSEITE

 

Zur Rettung einer "banalen Einsicht"

 

"Natürlich sind die islamistische Ideologie

und ihr Terror nur die Kehrseite der

bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Zivilisation.

Und die Linken kommen jetzt allerorten

mit dieser banalen Einsicht wie mit

dem Ei des Columbus daher." 1

 

Als ein scheinbar probates Rezept gegen die offensichtliche Irrationalität der islamistischen Selbstmordattentate auf das World Trade Center und das Pentagon feiert nach dem 11. September 2001 die im Sumpf der Postmoderne bereits versunken geglaubte Aufklärung ihre Wiederauferstehung. Jedenfalls ist sie und sind die "westlichen Werte", die es gegen diesen "Akt der Barbarei" zu verteidigen bzw. in Stellung zu bringen gelte, seither in aller Munde.

 

 

Die Aufklärung als letzter Rettungsanker

 

Ganz im Sinne von Huntingtons "Kampf der Kulturen" bringen die Bellizisten, von Berlusconi bis zu den Bahamas, mehr oder weniger unverhohlen zum Ausdruck, dass unter dem von den Terroristen angegriffenen "zivilisierten Teil der Menschheit" der "abendländische" zu verstehen sei. Im "Krieg gegen den Terror" sind die Reihen fest zu schließen und dazu erst einmal die Verräter in den eigenen Reihen dingfest zu machen: "Mit ihrem Multi-Kulti-Gewese betreiben saturierte Alt-68er Verrat an der Aufklärung", so etwa die Bahamas, während Berlusconi da eher die militanten Globalisierungsgegner im Auge hat.

 

Im positiven Bezug auf die Aufklärung sind sich die Kriegstrommler freilich mit ihren friedensbewegten Gegnern durchaus einig. Ulrich Wickert etwa, zur Institution gewordener Gutmensch des Deutschen Fernsehens, der es immerhin wagte (dann aber angesichts des öffentlichen Aufschreis und drohender persönlicher Konsequenzen sogleich wieder den Kopf einzog), Osama bin Laden und George W. Bush die gleichen Denkstrukturen nachzusagen, bezieht sich dabei mit einem Voltaire-Zitat ebenfalls auf die westlichen Werte der Aufklärung, insbesondere die "Toleranz".

 

Offenbar lässt sich heute so gut wie jede politische Position unter Berufung auf die Aufklärung begründen, der damit eine ähnliche ideologische Bedeutung zuwächst wie dem christlichen Glauben im Dreißigjährigen Krieg. Das allerdings könnte darauf verweisen, dass es mit dem Rekurs auf die Aufklärung nicht mehr so weit her ist und sie nach ihrer Wiedererweckung nur noch ein Gespensterdasein fristet. 2

 

Schließlich scheinen die Gewichte anders verteilt, spielen völkische, offen antisemitische und antiamerikanische Haltungen ebenso wie etwa der vor allem in den USA beheimatete protestantische Fundamentalismus eine immer größere Rolle, Positionen also, die sich selber in die Tradition der Gegenaufklärung stellen und nicht erst von ihren jeweiligen Gegnern dorthin gestellt werden müssen. Die für die weit überwiegende Mehrheit ja zu keiner Zeit tatsächlich eingelösten "Versprechen der Modeme" haben ihren Glanz verloren, ihnen wird schlicht nicht mehr geglaubt. Da andererseits ein kritisches Bewusstsein der in der Warengesellschaft selbst liegenden systemischen Ursachen dafür fehlt, hat die Gegenaufklärung seit etlichen Jahren erheblichen Zulauf. Zu besichtigen ist das aktuell an den im "Kampf gegen das Böse" sich wähnenden Gotteskriegern aller Couleur, auch denjenigen, die sich dabei auf die Aufklärung berufen. Auf der anderen Seite umstellt sich die Zivilgesellschaft mit immer mächtigeren Sicherheitsapparaten, um die bürgerlichen Freiheiten lieber selbst abzuschaffen, bevor der unsichtbare, als außen stehend imaginierte Feind es tut, ein Selbstmordattentat der besonderen Art, dessen verquere Logik auch den Kabarettisten natürlich nicht entgangen ist.

 

Seit Horkheimers und Adornos "Dialektik der Aufklärung" 3 ist mehr als nur eine Ahnung davon möglich, dass Vernichtungswahn und Gewaltexzesse keine aus der Urgeschichte immer mal wieder hervorbrechenden, angeblich dem nach wie vor ungebändigten Tier im Menschen geschuldete Atavismen, sondern vielmehr genuine Produkte der Moderne sind, dass es also die Aufklärung selbst ist, die ihr scheinbares Gegenteil hervorbringt. Wie das geschieht und welche Strukturmerk- male der Aufklärung dafür verantwortlich sind, wäre mit Bezug auf Horkheimer I Adorno und gegebenenfalls über sie hinaus zu untersuchen. Ausgerechnet die Szene, für die Adorno das A und 0 aller Gesellschaftskritik darstellt und deren Mitglieder sich zum Teil als "orthodoxe Adomiten" bezeichnen, macht nun aber das direkte Gegenteil, indem sie die Erkenntnis des Zusammenhangs von Aufklärung und Gegenaufklärung, von Zivilisation und Barbarei einfach sistiert, um sich im Kampf der Kulturen beherzt auf eine Seite schlagen zu können. In einer innerhalb von drei Tagen nach den Anschlägen vollzogenen Kurzschluss-Reaktion von der Bahamas-Redaktion vorgemacht, wurde das in dem über einige Wochen sich hinziehenden zivilgesellschaftlichen Diskurs in der Jungle World ausgeführt, von dessen Übereinstimmung im Ergebnis dann wiederum die Bahamas-Redaktion ehrlich verblüfft war. Die platten Werbeparolen "Fanta statt Fatwa", "Sherry statt Sharia" in einer ehedem zumindest partiell kapitalismuskritischen Zeitschrift fassen dieses Ergebnis adäquat zusammen. Während die Zivilgesellschaft gerade dabei ist, sich aus Sicherheitsgründen selbst zu massakrieren - schließlich befinden wir uns im Krieg -, werfen sich ehemalige KritikerInnen ihr an den Hals, was Günther Jacob 4 zutreffend so kommentiert: "Kritik am Kapitalismus ist gut und schön, aber wenn's drauf ankommt, weiß man doch, was man an ihm hat." Dass er in den Metropolen immer noch erträglicher ist als in Afghanistan oder anderen vom Weltmarkt ausgespuckten Regionen, dient auch seinen neuen Freunden als ebenso besinnungsloses wie zynisches Argument zu seinen Gunsten..

 

Theoretisch ambitioniertere Autoren des antideutschen Spektrums versuchten sich demgegenüber erst einmal in Schadensbegrenzung, was notwendigerweise zu einigermaßen dunklen Formulierungen führen musste, nachzulesen etwa in dem Artikel "Das Böse ist nicht das Böse" von Gerhard Scheit, aus dem das Eingangszitat stammt. Dass "die islamistische Ideologie und ihr Terror nur die Kehrseite der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Zivilisation" sind, wird hier immerhin noch konzediert, zugleich aber als "banale Einsicht" bezeichnet. Im laufenden Diskurs und bereits in dem Artikel[ selbst hatte das ausschließlich die Funktion, die Einsicht ob ihrer Banalität sogleich zu entsorgen, was denn auch von Erfolg 'gekrönt war: "Flugzeugbomben sind nicht die Kehrseite der Moderne" ist ein Artikel von Martin Janz 5 untertitelt, der zur Begründung dieser Behauptung allerdings nichts beiträgt. So weit her scheint es mit der Einsicht also auch in der radikal sich gebenden Linken nicht zu sein.

 

Und in der Tat ist sie alles andere als banal, sind die Untersuchungen und Erkenntnisse von Horkheimer und Adorno doch eher verschüttet denn Allgemeingut. Anders ist jedenfalls nicht zu erklären, dass jetzt die Aufklärung als Heilmittel gegen eine Krankheit angepriesen wird, die sie selbst permanent hervorbringt. Im Folgenden soll es darum gehen, die Konsequenzen der Aufklärung und ihres Denkens ein wenig auszuleuchten, in der Hoffnung, damit die oben konstatierte Einsicht etwas widerstandsfähiger zu machen, als sie zurzeit zu sein scheint.

 

 

Der doppelte Aufklärungsbegriff

 

"Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen." 6 Diese Sätze, mit denen die "Dialektik der Aufklärung" beginnt, enthalten bereits das ganze mit ihr intendierte Programm ebenso wie die damit verbundenen theoretischen Probleme. Horkheimer und Adorno wollen zeigen, dass das im Nationalsozialismus und in Auschwitz sich manifestierende "triumphale Unheil" von der Aufklärung selbst hervorgebracht werde, dass also Aufklärung in ihr Gegenteil umschlage. Dabei bedienen sie sich allerdings, hierin dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, eines transhistorischen Begriffs der Aufklärung, der mit der bürgerlichen Epoche, dem "Zeitalter der Aufklärung", das sie doch erst in die Welt setzte, gar nichts zu tun hat, sondern vielmehr ein allgemein menschliches Phänomen beschreibt. Horkheimer und Adorno reproduzieren damit das Verständnis, das die Aufklärung von sich selbst hat. Wäre nun aber auf dieser Basis ihr Programm tatsächlich durchführbar, das notwendige Umschlagen von Aufklärung in Barbarei nachzuweisen, so bliebe nur noch Resignation. Diese pessimistische Wende hat ihre Kritische Theorie in der Tat vollzogen.

 

Es zeigt sich freilich, dass ihnen der Nachweis nicht wirklich gelingt, jedenfalls nicht auf der Grundlage des zunächst eingeführten Aufklärungsbegriffs. Was sie für ihre Argumentation zusätzlich benötigen, ist die Verstrickung von Aufklärung in Herrschaft, die in diesem Begriff der Aufklärung an sich nicht enthalten ist, sondern von außen hinzukommt. Das wird dadurch verschleiert, dass auch der Herrschaftsbegriff historisch nicht spezifiziert wird und schwammig bleibt, indem etwa zwischen Naturbeherrschung ("den Menschen als Herren einsetzen") und gesellschaftlicher Herrschaft nicht geschieden wird. Letztlich bleibt dann aber die Formulierung von der Selbstzerstörung der Aufklärung unbegründet, war nur alle bisherige Aufklärung keine "wirkliche Aufklärung". 7

 

Es fehlt der Nachweis, dass Aufklärung notwendig in Herrschaft verstrickt ist. Mit dem transhistorischen Aufklärungsbegriff des allgemeinen Sprachgebrauchs, den auch Horkheimer und Adorno einführen, kann er nicht gelingen, sondern dazu ist ein Bezug auf die bisherige Aufklärung und somit ein historischer Begriff derselben erforderlich, der die Aufklärung dort verortet, wo sie entstanden ist, nämlich in der im 17. und 18. Jahrhundert sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Implizit gehen Horkheimer und Adorno auch gar nicht anders vor: Ihr Gegenstand ist die bürgerliche Gesellschaft und deren Denken seit der Zeit der Aufklärung, selbst dort noch, wo sie deren Verhältnisse in die frühe Antike rückprojizieren. Anders gesagt: Horkheimer und Adorno verwenden außer dem in den ersten Sätzen eingeführten Begriff der Aufklärung noch einen zweiten, historischen, 8 der auch hier zu Grunde gelegt werden soll. In dieser Weise gelesen, lässt sich die "Dialektik der Aufklärung" weiterhin fruchtbar machen, ist ihr Programm tatsächlich durchführ- bar. Um das zu zeigen, versuche ich mich im Folgenden an einer Lesart, von der ich weder behaupten will, dass sie die einzig mögliche sei, noch dass sie die authentische Sicht der Autoren wirklich treffe, was sich ohnehin nicht mehr überprüfen lässt. 9

 

Ein adäquater Begriff der Aufklärung ist allein mit ihrem Ziel, sie wolle "die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen", noch nicht zureichend gefasst, sondern zu ihm gehört auch die besondere Art von Vernunft, die Denken und Handeln leiten soll: "Denken ist im Sinn der Aufklärung die Herstellung von einheitlicher, wissenschaftlicher Ordnung und die Ableitung von Tatsachenerkenntnis aus Prinzipien, mögen diese als willkürlich gesetzte Axiome, eingeborene Ideen oder höchste Abstraktionen gedeutet werden. ... Erkenntnis besteht in der Subsumtion unter Prinzipien. Sie ist eins mit dem Urteil, das dem System eingliedert. Anderes Denken als solches, das aufs System sich richtet, ist direktionslos oder autoritär. Nichts wird von der Vernunft beigetragen als die Idee systematischer Einheit, die formalen Elemente festen begrifflichen Zusammenhangs. Jedes inhaltliche Ziel, auf das die Menschen sich berufen mögen, als sei es eine Einsicht der Vernunft, ist nach dem strengen Sinn der Aufklärung Wahn, Lüge, Rationalisierung’, mögen die einzelnen Philosophen' sich auch die größte Mühe geben, von dieser Konsequenz hinweg aufs menschenfreundliche Gefühl zu lenken." 10

 

Auch wenn uns Warensubjekten die Vorstellung schwer fällt, dass es einmal anders gewesen sein soll: Diese Art der Vernunft, die sich allein auf die Form und nicht auf den Inhalt des Denkens richtet und immer - implizit oder explizit - mit gemeint ist, wenn von Aufklärung gesprochen wird, ist die historisch spezifische Vernunft der bürgerlichen Epoche, die es vorher und in anderen Gesellschaften nicht gegeben hat. Kant, auf den sich Horkheimer und Adorno hier beziehen, ist sich dessen wohl bewusst gewesen, wenn er (in der "Kritik der reinen Vernunft") von einer "Revolution der Denkart" spricht. Dieser Vernunftbegriff ist mit der Aufklärung unauflöslich verbunden. Weil es schwer und streng genommen sogar unmöglich ist, sich eine andere Vernunft als die eigene zu denken, wird das leicht vergessen. Hier genau aber liegt der blinde Fleck des Aufklärungsdenkens, das für ein Naturverhältnis hält, was historisch entstanden, durch menschliches Handeln konstituiert und daher auch veränderbar ist.

 

 

Aufklärung und Herrschaft

 

Das Ansehen, das die Aufklärung auch und gerade bei kritischen ZeitgenossInnen immer noch genießt, liegt in ihrem Anspruch, auf den auch Horkheimer und Adorno abheben ("die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen"} und der sich gegen Herrschaft zu richten scheint. Das Pathos eines Kampfes des die Tatsachen aufdeckenden "kalten Auges der Wissenschaft" gegen den "tausendjährigen Perlmutterdunst von Aberglauben und alten Wörtern" und die damit verbundene Herrschaft "selbstsüchtiger Machthaber", hier in den Worten von Bertolt Brecht 11, hat die Aufklärung von Beginn an begleitet. Aber der Anspruch lässt sich von seiner Verwirklichung durch die nur der abstrakten Form verpflichtete und aller inhaltlichen Kriterien bare Aufklärungsvernunft nicht trennen; diese aber ist alles andere als frei von Herrschaft. Dem Aufklärungsdenken entgeht das, weil es sich Herrschaft immer nur als eine von Personen vorstellen kann, weshalb es in der verwirklichten Demokratie trotz des gegenteiligen Wortsinns - gesellschaftliche Herrschaft eigentlich nicht mehr geben dürfte.

 

Der dieser Anschauung zu Grunde liegende Herrschaftsbegriff ist anachronistisch geworden. Er gehört der Epoche an, gegen die sich die bürgerliche Gesellschaft erst durchsetzen musste. Die Aufklärungsvernunft hat dem aufsteigenden Bürgertum in seinem Kampf gegen den Feudalismus immer auch als ein ideologisches Instrument gedient: So wie die Natur universellen Gesetzen folge, denen al- les ohne Ausnahme unterworfen sei, gelte dies auch für eine "natürlich" oder "vernünftig" organisierte Gesellschaft; für Privilegien sei in ihr kein Platz. Es ist klar, dass diese Denkfigur von der bürgerlichen Klasse nur als Argument verwendet wurde, solange es gegen die Privilegien des Adels ging; klar auch, dass sie von der Arbeiterbewegung leicht aufgegriffen werden konnte, welche so in ihrem Kampf um die Anerkennung auch der besitzlosen Massen als freie und gleiche Staatsbürger nicht nur die Geschichte, sondern auch die Natur auf ihrer Seite zu haben glaubte. Falsch aber wird der Begriff von Herrschaft als persönlicher Abhängigkeit und ungleicher Verteilung von Rechten, wenn hierin das Wesen noch der heutigen Verhältnisse der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft erblickt wird. Die inzwischen abgeschlossene Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus bestand nicht darin, eine neue Klasse in alte Adelsrechte einzusetzen, sondern vielmehr in der Abschaffung feudaler Strukturen, die der Kapitalverwertung im Wege stehen, welche den warenförmigen Verkehr der Freien und Gleichen voraussetzt.

 

Doch auch die Herrschaft der kapitalistischen Vernunft ist Herrschaft: Die Freiheit und Gleichheit der Bürger ist ihre Freiheit und Gleichheit in der als Naturverhältnis begriffenen allgemeinen gesellschaftlichen Form, die mit dem subjektlosen Prinzip des Werts gesetzt ist. Seine blind anerkannte Gültigkeit ist für die Aufklärung und ihr Denken konstitutiv, sei es nun als Gleichheit vor dem Recht, als individuelle Freiheit zur Konkurrenz innerhalb der "ehernen Gesetze des Marktes" oder als gesetzesförmige, objektive Erkenntnis, in der, die äußere Natur heute einzig noch begriffen werden kann. Ein Herrschaftsverhältnis ist damit vor allem auch gegenüber der inneren Natur gesetzt: Wer dabei sein will, muss sich selbst beherrschen, den "inneren Schweinehund" domestizieren. Wer das verweigert oder sich in anderer Weise dem gesetzesförmigen Funktionieren versagt, gilt als unvernünftig, unmündig, nicht geschäftsfähig, kurzum: ohne Wert.

 

"Derjenige nun, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger (citoyen, d. i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois). Die dazu erforderliche Qualität ist außer der natürlichen (dass es kein Kind, kein Weib sei) die einzige: dass er sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin irgend ein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk oder schöne Kunst oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d. i. dass er in den Fällen, wo er von Andern erwerben muss, um zu leben, nur durch Veräußerung dessen, was sein ist, erwerbe, nicht durch Bewilligung, die er anderen gibt, von seinen Kräften Gebrauch zu machen, folglich dass er niemanden als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Worts diene. 12

 

In diesen Sätzen des großen Philosophen der Aufklärung ist bereits vieles von dem angelegt, was die Gegenaufklärung zu bieten hat, und nur teilweise sind sie der Beschränktheit seines historischen Standorts geschuldet. Bürgerrechte hat, wer etwas zu Markte tragen kann, auch wenn es bei Kant noch nicht die eigene Arbeitskraft ist und die Dienstleistungsgesellschaft natürlich außerhalb seines Horizonts liegt. Wo immer auch die Linie jeweils gezogen wird, konstitutiv bleibt das Moment der Ausgrenzung: Wer sich der Warenform entzieht, weil er ihren Normen nicht genügen kann oder will, bleibt draußen: Kinder, Frauen und "Wilde", die hier gar nicht erst genannt werden müssen - so selbstverständlich ist das. Die Bürgerrechte sind die Rechte des weißen Mannes, für alle anderen sind sie zumal in Krisenzeiten leicht zurücknehmbar. Durch die Hintertür kommt so auch die persönliche Herrschaft wieder herein, wo doch "nur" die Herrschaft des Prinzips gemeint war.

 

Dass die zweifelhaften, nur um den Preis der Unterwerfung unter die abstrakte Form zu habenden Glücksversprechen der Moderne für die große Mehrheit zu keiner Zeit eingelöst wurden, ist kein Betriebsunfall, sondern liegt im Programm - dem Programm der Aufklärung. Gegen die Vorstellung, die herrschende Misere ausgerechnet damit beheben zu wollen, die Aufklärungsideale nun endlich zu verwirklichen, spricht auch alle empirische Evidenz der neuzeitlichen Geschichte, in der ja genau dies geschehen ist. Sich darüber hinweg zu lügen, bedarf schon einer der herrschenden Volkswirtschaftslehre 13 entlehnten Geschichtsphilosophie, die davon ausgeht, dass alle bisherige Geschichte eine Geschichte der Betriebsunfälle gewesen sei.

 

 

Aufklärung und Moral

 

Dass kein inhaltliches Ziel auf die Aufklärungsvernunft sich berufen könne, wie Horkheimer und Adorno feststellen, entspricht dem Bild, das die "positive Wissenschaft" aller Fächer von sich selber hat. Ihr Feld ist das Reich der Tatsachenfeststellungen und des rationalen Argumentierens. Mit Affekten, Moralvorstellungen oder Weltanschauungen hat sie der Sache nach nichts zu tun, und alle ihre methodischen Mühen richten sich darauf, diese Art von "Verunreinigungen" draußen zu halten, auch wenn das nur selten wirklich gelingen mag. 14 Soweit es um die Beschreibung dessen geht, was westliche Wissenschaft ausmacht und welche Stellung sie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt, ist dem Positivismus Recht zu geben. Jede Kritik an ihm, wie sie in der Studentenbewegung aufkam und heute vor allem vom Feminismus fortgeführt wird, muss daher zu kurz greifen, wenn sie sich allein auf die Wissenschaft bezieht und die Warenform ausklammert, und sie ist einfach nur falsch, wenn sie sich auf die Aufklärung beruft, deren zwingende Konsequenz der Positivismus schließlich ist.

 

Die bürgerliche Dichotomie von Vernunft und Gefühl hat zur Folge, dass keinerlei Moral sich vernünftig begründen lässt, womit freilich Gesellschaftlichkeit überhaupt in Frage gestellt ist: "Die Morallehren der Aufklärung zeugen von dem hoffnungslosen Streben, an Stelle der geschwächten Religion einen intellektuellen Grund dafür zu finden, in der Gesellschaft auszuhalten, wenn das Interesse versagt." 15 Angesichts ihrer Vergeblichkeit haben diese Bemühungen im Laufe der Geschichte der westlichen Philosophie ständig abgenommen und sind heute praktisch eingestellt. Als letztes Ergebnis dieser Entwicklung bleibt der Positivismus, der derartige Fragen gar nicht mehr kennt bzw. sie für nicht verhandelbar erklärt.

 

Darin zeigt sich, dass es eine kapitalistische Moral nicht gibt, auch wenn die im Aufstieg begriffene bürgerliche Gesellschaft dazu durchaus ihre eigenen Vorstellungen hervorbrachte, etwa in Gestalt der protestantischen Ethik, die die Arbeit als Selbstzweck zur moralischen Pflicht und jeden Genuss zumindest für anrüchig er- klärte, oder auch als Gefühl für Gerechtigkeit, das am Gleichheitsideal sich orientiert. Der kapitalistischen Dynamik und ihrer Vernunft halten derartige Moralvorstellungen, ständig zur Disposition gestellt, nämlich ebenso wenig stand wie die aus vorkapitalistischen Verhältnissen überkommenen. 'Der Kapitalismus zehrt gewissermaßen moralisch von seinen Subjekten, und im selben Maße, wie sich die Warenform als allgemeine Form durchsetzt und auch die Privatsphäre durchdringt, wird die Moral aufgezehrt. "Während aber alle früheren Veränderungen ... neue, wenn auch aufgeklärte Mythologien an die Stelle der älteren setzten, ... zerging vor dem Licht der aufgeklärten Vernunft jede Hingabe als mythologisch, die sich für objektiv, in der Sache begründet hielt. Alle vorgegebenen Bindungen verfielen damit dem tabuierenden Verdikt, nicht ausgenommen solche, die zur Existenz der bürgerlichen Ordnung selbst notwendig waren. Das Instrument, mit dem das Bürgertum zur Macht gekommen war, Entfesselung der Kräfte, allgemeine Freiheit, Selbstbestimmung, kurz, die Aufklärung, wandte sich gegen das Bürgertum, sobald es als System der Herrschaft zur Unterdrückung gezwungen war. Aufklärung macht ihrem Prinzip nach selbst vor dem Minimum an Glauben nicht halt, ohne das die bürgerliche Welt nicht existieren kann." 16

 

Diese selbstzerstörerischen Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft rufen die Gegenaufklärung auf den Plan. Wenn sich Gefühle nicht durch Vernunft begründen lassen, sei auf diese eben zu verzichten. Der Irrationalismus isoliert, "darin wie in anderem dem letzten Abhub der Aufklärung, dem modernen Positivismus verwandt, das Gefühl, wie Religion und Kunst, von allem was Erkenntnis heißt. Er schränkt zwar die kalte Vernunft zugunsten des unmittelbaren Lebens ein, macht es jedoch zu einem dem Gedanken bloß feindlichen Prinzip. Im Scheine solcher Feindschaft wird Gefühl und schließlich aller menschliche Ausdruck, ja Kultur überhaupt der Verantwortung vor dem Denken entzogen, verwandelt sich aber dadurch zum neutralisierten Element der allumspannenden Ratio des längst irrational gewordenen ökonomischen Systems. Sie hat sich seit den Anfängen 'auf ihre Anziehungskraft allein nicht verlassen können und diese durch den Kultus der Gefühle ergänzt. Wo sie zu diesen aufruft, richtet sie sich gegen ihr eigenes Medium, das Denken, das ihr selbst, der sich entfremdeten Vernunft, immer auch verdächtig war." 17

 

Gerade weil sie das Gefühl zu einem der Vernunft feindlichen Prinzip macht, steht die Gegenaufklärung nicht im Widerspruch zur Aufklärung, sondern ist ihr Komplement. Beiden gemeinsam ist, dass sie Denken und Fühlen voneinander isolieren, der Unterschied liegt nur in der Betonung des einen oder anderen. Angesichts dieser Scheinalternative eine Lanze für die Aufklärung zu brechen, verkennt den Zusammenhang mit ihrer Kehrseite, verkennt die Selbstdestruktion der Aufklärung, die in ihrer Eigendynamik freilich über die bürgerliche Gesellschaft keineswegs positiv hinaus, sondern vielmehr auf die Zerstörung von Gesellschaftlichkeit überhaupt verweist: Wenn alle überkommenen Moralvorstellungen aufgezehrt sind, bleibt als letzte moralische Pflicht diejenige zur Selbsterhaltung in der kapitalistischen Konkurrenz übrig. "Soweit Verstand, der am Richtmaß der Selbsterhaltung groß wurde, ein Gesetz des Lebens wahrnimmt, ist es das des Stärkeren. Kann es für die Menschheit wegen des Formalismus der Vernunft auch kein notwendiges Vorbild abgeben, so genießt es den Vorzug der Tatsächlichkeit gegenüber der verlogenen Ideologie." 18

 

Insofern ließe sich vielleicht doch von einer kapitalistischen Moral sprechen. Es ist die Moral der Stärke und des mitleidlosen Stärkeren, wie sie heute im Zuge der postmodernen Krisenverdrängung prahlerisch sich bereits auf Autoaufklebern an- preist: "Eure Armut kotzt mich an." In der Rede vom "entfesselten Kapitalismus" wird der sich abzeichnende Endpunkt einer Dynamik der Demoralisierung durch- aus wahrgenommen, kann aber nur noch hilflos beklagt werden. Die dagegen propagierten Rezepte sind solche der Gegenaufklärung und bestehen im vergeblichen Einziehen moralischer Maßstäbe, die längst zerstört sind und daher keine allgemeine Verbindlichkeit mehr erlangen können. Dabei würde es völlig ausreichen, auch die "letzte Pflicht" noch, die zur Konkurrenz, zusammen mit der Warenform zu destruieren. Leider ist das nur der Logik nach einfach, nicht faktisch, weil es jenseits der Aufklärung und ihres Denkens liegt.

 

Die gegen Mitleid und Mitgefühl gerichteten Konsequenzen daraus, bis hin zum Mord, sind in der neuzeitlichen Philosophie früh aufgezeigt worden, wie Horkheimer und Adorno am Beispiel de Sades und Nietzsches exemplifizieren: "Die dunklen Schriftsteller des Bürgertums haben nicht wie seine Apologeten die Konsequenzen der Aufklärung durch harmonistische Doktrinen abzubiegen getrachtet. Sie haben nicht vorgegeben, dass die formalistische Vernunft in einem engeren Zusammenhang mit der Moral als mit der Unmoral stünde. Während die hellen das unlösliche Bündnis von Vernunft und Untat, von bürgerlicher Gesellschaft und Herrschaft durch Leugnung schützten, sprachen jene rücksichtslos die schockierende Wahrheit aus." 19

 

Immerhin ist die Wahrheit noch schockierend, sonst müsste sie nicht verdrängt werden und "den Hass entzünde(n), mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute noch verfolgen." 20 Sie schockiert allerdings immer weniger, man gewöhnt sich an alles. Der enge Zusammenhang von Wirtschaft, Politik und Verbrechen gilt fast schon als Gemeinplatz, und der "Machtmensch", der in Verfolgung seiner Ziele über Leichen geht, darf eher mit schaudernder Bewunderung als mit Entsetzen rechnen. Allein im privaten Bereich hätten wir es gern etwas gemütlicher und lassen uns nur die Nerven durch die täglich ins Wohnzimmer flimmernden Rambos kitzeln, die sich abschalten lassen, wenn sie es zu schlimm treiben, was ihre Funktion als Leitbild allerdings kaum noch beeinträchtigt. Die "Kollateralschäden" 21 des Waren produzierenden Systems schließlich, die täglich mehr als zwanzigtausend Hungertoten ebenso wie die Opfer der zur Aufrechterhaltung der eigenen zivilisatorischen Standards angeblich erforderlichen Kriege für Menschenrechte und gegen den Terror, gehören in dieser Wahrnehmung immer schon einer anderen Welt an; sie brauchen noch nicht einmal billigend oder bedauernd in Kauf genommen zu werden, da sie doch mit unserem Handeln anscheinend so wenig zu tun haben wie die Opfer von Naturkatastrophen. 22 Der allgemeine Schock, den die Attentate von New York und Washington in den kapitalistischen Zentren auslösten, dürfte denn auch weniger mit der Tat selbst oder dem Mitgefühl für die Opfer als mit der im Medienspektakel vermittelten Botschaft zu tun haben, demnächst selbst zu den Kollateralschäden zu gehören.

 

 

Verschwörugstheorien, Antisemitismus, Vernichtungswahn

 

Der als Naturverhältnis begriffenen, durch allgemeine Gesetzmäßigkeiten geregelten Gesellschaft steht im Aufklärungsdenken der- mit einem freien Willen begabte, mündige Bürger gegenüber. Die neoliberale Behauptung, es gebe keine Gesellschaft, sondern nur Einzelne, bringt diese Vorstellung konsequent auf den Punkt: Denn ihr zufolge ist alles, was durch menschliches Handeln beeinflusst wird, auf einzelne Willensentscheidungen zurückzuführen, ob nun demokratisch legitimiert oder nicht. Alles andere sei Natur. Diesem Denken entgeht, dass auch ein gesellschaftlicher Zusammenhang, der gar keiner mehr zu sein scheint, durch menschliches Handeln erst konstituiert wird. Ihm entgeht ebenso, dass umgekehrt die Subjekte ihrer Form nach erst von der besonderen Gesellschaft hervorgebracht werden, in der zu leben sie gezwungen sind. Kurzum: Ihm entgeht die Historizität der gesellschaftlichen Form wie die der von ihr konstituierten und sie konstituierenden Subjekte.

 

Was es nicht gibt, kann auch nicht die Ursache von etwas sein. Kriege, Krisen, ökonomische Zusammenbrüche und andere Katastrophen mit der Gesellschafts- form in Zusammenhang zu bringen, in der sie stattfinden, nämlich der eigenen, kommt dem Aufklärungsdenken daher nicht in den Sinn. In seinem Weltbild hat jede Wirkung ihre Ursache entweder in Naturgesetzen oder freien Willensentscheidungen. Da jene schon ihrem Begriff nach nicht zur Rechenschaft gezogen werden können, sind diese verantwortlich zu machen, müssen es also Menschen bösen Willens sein, die als Schuldige zu überführen sind. 23 Noch der Marxismus kennt diese gut aufklärerische, ergo verschwörungstheoretische Variante, die das Kapital nicht als gesellschaftliches Verhältnis versteht, sondern als Gruppe profit- gieriger , mächtiger Männer, die im Hintergrund die Drähte ziehen, um die eigene Macht zu erhalten und auszubauen, die Sachzwänge der Kapitalverwertung dafür allenfalls als Vorwand benutzend. Nimmt man noch die Ontologisierung respektive Verherrlichung der Arbeit hinzu, auch sie dem Aufklärungsdenken nicht gerade fremd, so landet man zwanglos und folgerichtig beim Antisemitismus, dem zufolge der Wert schaffenden Arbeit und dem für sie unumgänglichen Sachkapital das Finanzkapital als im Dunkeln operierende, zerstörerische Macht gegenüberstehe. 24 Antisemitismus wird hier verstanden als Personifizierung des als leidvoll erfahrenen Abstrakten, für das, solange es unbegriffen ist, die Bosheit lebendiger Menschen verantwortlich gemacht und die Lösung aller Probleme daher in ihrem Tod gesucht werden muss. Die darin enthaltene Logik ist die des Aufklärungsdenkens. Dass es die Juden sind, die den daraus sich ergebenden Hass auf sich ziehen, liegt dagegen nicht mehr in dieser Logik, sondern lässt sich nur aus der europäischen Geschichte und Tradition erklären.

 

Mir geht es hier nicht darum, die Ursprünge des Antisemitismus und seine Erscheinungsformen im Detail nachzuzeichnen, sondern allein um den Nachweis, dass er mit dem Aufklärungsdenken nicht nur kompatibel ist, sondern aus ihm geradezu zwangsläufig folgt. Auch der Schritt, positiv besetzte Kollektivsubjekte wie "Rasse", "Volk" oder "Nation" zu imaginieren und den dunklen Mächten entgegenzustellen, liegt noch ganz auf dieser Linie der Vorstellung freier Willensentscheidungen als einziger Ursache von Veränderungen im Rahmen der als Naturverhältnis gedachten Gesellschaft, hier gepaart mit der Erfahrung der Ohnmacht des Einzelnen. Erst wenn es darum geht, die Imaginationen mit Inhalt und Leben zu erfüllen, ist die Gegenaufklärung gefragt. Keine Ideologie von Rasse, Blut und Boden ließe sich mit der Vernunft noch begründen, auch keine der gemeinsamen Religion. Der hierin sich manifestierende Fundamentalismus jeglicher Provenienz resultiert aus dem inneren Widerspruch der Warengesellschaft und hat nur in Krisenzeiten und -regionen besonderen Zulauf, kann aber gerade in der Krise materiell wenig bewirken. Er ist deshalb darauf verwiesen, sich negativ zu definieren und trägt damit die Tendenz zum Vernichtungswahn in sich, wie etwa Joachim Bruhn am Beispiel des deutschen Nationalwahns exemplifiziert:

"... was der ordinäre Nationalismus, wie er unter Demokraten gang und gebe ist, in der Reklame fürs Modell Deutschland höflich verschweigt, das muss dem Individuum im Ausnahmefall, der die Krise ist, die gesteigerte und selbstbewusste Form dieses Nationalismus, der Nationalsozialismus, auf den Kopf zusagen, auch wenn es das Individuum vermutlich diesen kosten wird: Du bist nichts, Dein Volk ist alles!

 

Weil aber die autonome Verfügung übers unverwechselbar eigene Wesen, die das Recht auf nationale Selbstbestimmung ausmachen soll, schon daran scheitern muss, dass keiner weiß, was das eigentlich sein soll: deutsch, darum gesellt sich zur Verblendung die Enttäuschung, und dem individuell erzwungenen Wahn folgt die kollektiv gewollte Wut. Das deutsche Wesen, das doch so ungeheuer positiv sein soll, kann nirgends anders sich zur Geltung bringen als in der Verfolgung, kann unmöglich anders sich darstellen als ex negativo in der Fahndung nach den, Un- deutschen '. Der Wille zur Identität erzwingt als seine Rechtfertigung und sein gutes Gewissen die Vorstellung, man müsse die ,Minderwertigen' verfolgen und die ,Überwertigen' vernichten, damit das eigene Wesen freie Bahn bekommt. Der Nationalist ist daher die, verfolgende Unschuld' (Karl Kraus) in Person." 25

 

Das hier beschriebene Muster ist deutsch insofern, als die Deutschen es im Nationalsozialismus ins Extrem getrieben und perfektioniert haben, auch wenn es für Deutschland selbst zurzeit keine größere Rolle spielt als für andere Länder des kapitalistischen Zentrums. Zusammen mit der deutschen Ideologie, der Definition des Staates über die angeblich gemeinsame Abstammung 26 ist es aber ein Exportmodell, besonders für die ökonomisch bereits zusammengebrochenen Regionen, wobei es nicht zwangsläufig die Juden sein müssen, die das Ziel des Hasses und der Vernichtung bilden. Als Muster ist es verallgemeinerungsfähig und erscheint auch im Islamismus und anderen Fundamentalismen, 27 womit freilich nicht gemeint ist, dass der darin enthaltene Antisemitismus mit dem nationalsozialistischen einfach identisch wäre; 28 das trifft weder auf den realökonomischen Hintergrund noch auf den systematischen und selektiven Charakter der Vernichtung noch auf die hier in Rede stehende ideologische Ebene zu: Allein schon die grundlegende Vorstellung, Opfer der Modernisierung zu sein, bedurfte in Deutschland eines unvergleichlich höheren Maßes an wahnhafter Wahrnehmung als heute in der kapitalistischen Peripherie. 29

 

Unhaltbar aber ist es, zur Abwehr des Antisemitismus die Aufklärung als Gegenbild aus der Tasche zu ziehen, so als hätte diese mit jenem nichts zu tun. Antisemitismus gehört zum ganz normalen Wahnsinn des Aufklärungsdenkens, bis hin zu Vernichtungsphantasien. Erst der Schritt, diese real werden zu lassen, bedarf der Kräfte der Gegenaufklärung und ist kaum denkbar ohne eine wie immer geartete Ideologie der Volksgemeinschaft, die sich nur negativ definieren kann. In der letzten Konsequenz schließlich, die allein in Deutschland/gezogen wurde, nämlich die Vernichtung nicht den Zufälligkeiten der Pogrome zu überlassen, sondern sie systematisch zu betreiben, indem sie zum Staats ziel erhoben und mit allen Mitteln be- triebswirtschaftlicher Rationalität und Effektivität verfolgt wird, im "Antisemitismus der Vernunft", wie Hitler ihn nannte, fallen Aufklärung und Gegenaufklärung unauflöslich ineinander.

 

 

Der Standort der Kritik

 

Wer die Aufklärung kritisiert, tut das notwendigerweise mit ihren Mitteln; andere stehen uns nicht zur Verfügung. aus dieser in der Tat paradoxen Situation lassen sich nun offenbar beliebig absurde Schlüsse ziehen: Der Weigerung, im Krieg der Wahnsysteme, deren eines das andere hervorbringt, Partei zu ergreifen, wird vor- gehalten, sie suggeriere "eine eigene Position außerhalb der Totalität" 30 des Kapitals, sie flüchte "in den erkenntnistheoretischen Wahn, selbst außerhalb der One World zu sein" 31 Wenn das schlüssig wäre, dann wäre Kritik am gesellschaftlichen Ganzen unmöglich, dann dürfte es aber auch so etwas wie Selbstreflexion und Selbstkritik nicht geben. Doch so beschränkt sind die Mittel der Aufklärung, sind die Möglichkeiten rationalen Denkens und Argumentierens nun wieder nicht - jedenfalls nicht per se, es sei denn, man wollte sich von vornherein auf die Sonder" form der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methodik beschränken, die freilich für die westliche Wissenschaft aller Fächer paradigmatisch geworden ist.

 

Das begriffliche Denken, wie es die Aufklärung hervorgebracht und kultiviert hat, setzt die Trennung von erkennendem Subjekt und erkanntem bzw. zu erkennendem Objekt voraus. Das schließt aber keineswegs aus, sich selbst, das eigene Denken oder auch die Totalität der Gesellschaft, in der man sich bewegt, zum Erkenntnisobjekt zu machen. Nun geschieht auch dies immer in der Form der Subjekt-Objekt-Trennung, anders lässt sich Analyse und Kritik nicht darstellen, will sie sich in dieser Gesellschaft verständlich machen. Die ideologiekritische Rede etwa vom "notwendig falschen Bewusstsein" versetzt die so Sprechenden in eine Position, in der sie selber davon ausgenommen sind, sonst könnten sie nicht sagen, es sei "falsch", womit dann das falsche Bewusstsein seine Notwendigkeit auch schon verloren hätte. Doch was folgt daraus? Ginge es nach der oben genannten Argumentation, wäre Ideologiekritik unmöglich und die IdeologiekritikerInnen, die sie vorbringen, dürften sich entweder selbst nicht mehr ernst nehmen oder müssten fortan schweigen. Aber es handelt sich hier; gar nicht um einen logischen Widerspruch, sondern um eine reale Paradoxie, nämlich die des Kritikers in der von ihm kritisierten Gesellschaft. Wenn wir die Warensubjekte kritisieren, heißt das nicht, dass wir schon keine mehr wären. Und Kritik der Aufklärungsvernunft heißt nicht, dass wir nicht in ihren Formen denken müssten; als kapitalistisch konstituierte Individuen können wir gar nicht anders. Das schließt ein Bewusstsein von der eigenen Situation, das verbunden ist mit der Hoffnung, aus ihr hinauskommen zu können, aber nicht aus. Ohne diese Hoffnung gäbe es keine Kritik.

 

Nun kann Kritik der Warengesellschaft und der Aufklärung aber wiederum auch nicht einfach in der Fortführung des Aufklärungsdenkens, so wie es hier kritisiert wurde, bestehen; kein Weg führte da hinaus. Es muss noch etwas hinzukommen. Zum einen ist es das Bewusstsein der Geschichtlichkeit der gesellschaftlichen Form. Um es in Umkehrung eines in einschlägigen Kreisen beliebten Spruchs aus- zudrücken: Nur wer den Kapitalismus begreift, kann ihn abschaffen wollen. Wer ihn nicht begreift, versteht ihn als Naturverhältnis, und das lässt sich nicht abschaffen, noch nicht einmal ändern. Zum" anderen ist es das Bewusstsein, als KritikerIn ebenso wie die vorgebrachte Kritik immer schon Bestandteil des zu begreifenden Gegenstands und damit seinen Begrenztheiten und Widersprüchen unterworfen zu sein. Ob beides zusammen ausreicht, ist damit noch nicht gesagt, auf jeden Fall aber überschreitet es das bloße Aufklärungsdenken. Adorno hat das in seiner Auseinandersetzung mit der empirischen Sozialforschung deutlich gemacht, indem er den Vorrang der Methode (der Aufklärungsvernunft) vor dem Gegenstand, der sich durch den Begriff nie vollständig fassen lässt, bestreitet:

 

"Eine zugleich atomistische und von Atomen zu Allgemeinheiten klassifikatorisch aufsteigende Sozialwissenschaft ist der Medusenspiegel einer zugleich atomisierten und nach abstrakten Klassifikationsbegriffen, nämlich denen der Verwaltung, eingerichteten Gesellschaft. Aber diese adaequatio rei atque cogitationis bedarf erst noch der Selbstreflexion, um wahr zu werden. Ihr Recht ist einzig das kritische. In dem Augenblick, in dem man den Zustand, den die Researchmethoden treffen zugleich und ausdrücken, als immanente Vernunft der Wissenschaft hypostasiert, trägt man, willentlich oder nicht, zu seiner Verewigung bei. ...

 

... Unwahr wird der isolierte Social Research, sobald er die Totalität, weil sie seinen Methoden prinzipiell entgleitet, als ein krypto-metaphysisches Vorurteil ausmerzen möchte. Die Wissenschaft wird dann auf das bloße Phänomen vereidigt. Indem man die Frage nach dem Wesen als Illusion, als ein mit der Methode nicht Einzulösendes tabuiert, sind die Wesenszusarnmenhänge - das, worauf es in der Gesellschaft eigentlich ankommt - a priori vor der Erkenntnis geschützt." 32

Will man nicht alles, was von der Aufklärungsvernunft nicht erfasst werden kann, für nichtexistent erklären, ist nach Erkenntnisweisen jenseits der positiven Wissenschaft zu suchen: "Weil aber Gesellschaft aus Subjekten sich zusammen- setzt und durch ihren Funktionszusammenhang sich konstituiert, ist ihre Erkenntnis' durch lebendige, unreduzierte Subjekte der ,Sache selbst' weit kommensurabler als in den Naturwissenschaften, welche von der Fremdheit eines nicht seinerseits menschlichen Objekts dazu genötigt werden, Objektivität ganz und gar in den kategorialen Mechanismus, in abstrakte Subjektivität hineinzuverlegen. ...

 

... Nicht nur ist ..., wie der Positivismus zugestände, das Objekt der Erkenntnis durch das Subjekt vermittelt, sondern ebenso umgekehrt: Das Subjekt seinerseits fällt als Moment in die von ihm zu erkennende Objektivität, den gesellschaftlichen Prozess." 33

 

Ob hinsichtlich der Naturwissenschaften hier dem Positivismus nicht unnötig Raum gegeben wird, ob dort also der Zwang zum kategorialen Mechanismus wirklich aus der Fremdheit des Gegenstands rührt, lasse ich einmal dahingestellt. Auch die Frage, ob es "unreduzierte Subjekte" überhaupt gibt, wäre ein Thema für sich wie vieles, was im vorliegenden Text nur kurz gestreift wurde. Wichtig aber er- scheint mir die in Adornos Worten enthaltene Aufforderung, sich weder von den gesellschaftlichen Verhältnissen noch durch die mit ihnen verschränkte Aufklärungsvernunft dumm machen zu lassen, die von sich behauptet, die einzig mögliche Form menschlicher Erkenntnis zu sein. Es geht hier nicht darum, dem Gefühl gegenüber der Vernunft wieder zu seinem Recht zu verhelfen, das wäre in der Tat nur gegenaufklärerisch. Es geht darum, die Erkenntnisressource zu nutzen, die außerhalb der durch die Aufklärungsvernunft vorgeprägten Wahrnehmung darin liegt, dass wir als Warensubjekte die bürgerliche Form und ihre Widersprüche sowohl mit uns herumschleppen als auch durch unser Handeln konstituieren und da- her vielleicht mehr von ihr wissen können, als wir gemeinhin wahrhaben wollen.

 

Die Frage ist weniger, ob es eine kritische Theorie der Gesellschaft geben, 34 sondern ob sie praktisch wirksam werden kann; letztlich erweist sich ihre Möglichkeit an ihrer Wirkung. Die Chancen dafür stehen nicht gut. Nachdem die Aufklärung mit der ihr eingeschriebenen Selbstzerstörung weit vorangekommen ist, bleibt innerhalb der bürgerlichen Form nur noch die Gegenaufklärung im Rennen, wie sich nicht nur an der fortschreitenden Irrationalität der gesellschaftlichen und politischen Realität und ihrer ideologischen Wahrnehmungsraster, sondern auch an den vielen privaten Fluchten in die Esoterik zeigt. All das geschieht unter Aufrechterhaltung der naturwissenschaftlich-technischen Kompetenz, in der allein das Aufklärungsdenken sich heute noch austoben kann. 35 Wer diesen Zustand für eine Zumutung hält, hat Recht, müsste dann jedoch bei der Suche nach Alternativen schon über die Warengesellschaft hinausblicken. Jetzt aber das Heil in der Aufklärung zu suchen, so als hätte es deren mehrhundertjährige Destruktionsgeschichte nicht gegeben, heißt auf ein totes Pferd zu setzen.

 

1 Gerhard Scheit, Das Böse ist nicht das Böse, Jungle World vom 2. Oktober 2001).

 

2 Einen Beleg für diese Vermutung lieferte der Spiegel in seinem Weihnachtsheft (Nr. 52 vom 22.12.01), in dem er unter dem Titel "Der Glaube der Ungläubigen. Welche Werte hat der Wes- ten?" einen offenbar ernst gemeinten, doch ebenso gedanken- wie substanzlosen Besinnungsaufsatz zum Thema "Die unverschleierte Würde des Westens" schreiben ließ. Glaubt man der Ankündigung, so "treten Intellektuelle im Kampf gegen den islamischen Terror mit neuem Selbstbewusst- sein für die Werte der freien Welt ein." Woher das neue Selbstbewusstsein plötzlich kommen soll, weiß allerdings niemand zu sagen.

 

3 Im Folgenden: DdA; Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1988, Erstveröffentlichung 1947.

 

4 Konkret 11 /2001.

 

5 Jungle World vom 7. November 200]

 

6 DdA, S. 9.

 

7 Siehe auch Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, München 1988, S. 372, dessen Interpretation dieser Lesart folgt.

 

8 Ihn zu entdecken wird dadurch erschwert, dass er nicht im Abschnitt "Begriff der Aufklärung" (DdA, S. 9-

49), sondern unter "Juliette oder Aufklärung und Moral" (DdA, S. 88-127) bestimmt wird.

 

9 Es ist insofern möglich, mit einer "Fehlinterpretation" der "Dialektik der Aufklärung" nachzuweisen. Die

"richtige" zu liefern, ist hier aber gar nicht die Intention. Für eine genauere Auseinandersetzung mit dem Text

vgl. Norbert Trenkles Beitrag "Gebrochene Negativität" in diesem Heft.

 

10 DdA, S. 88/89.

 

11 Bertolt Brecht, Leben des Gallileo, Gesammelte Werke 3, Frankfurt 1967, S. 1339 ff.

 

12 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis (1793), in Werkausgabe, Band XI, Frankfurt 1977 (stw), S. 151. In einer Anmerkung da- zu heißt es weiter: "Derjenige, welcher ein opus verfertigt, kann es durch Veräußerung an einen anderen bringen, gleich als ob es sein Eigentum wäre. Die praestatio operae aber ist keine Veräußerung. Der Hausbediente, der Ladendiener, der Taglöhner, selbst der Friseur sind bloß operarii, nicht artifices (in weiterer Bedeutung des Worts) und nicht Staatsglieder, mithin auch nicht Bürger zu sein qualifiziert. Obgleich der, welchem ich mein Brennholz aufzuarbeiten, und der Schneider, dem ich mein Tuch gebe, um daraus ein Kleid zu machen, sich in ganz ähnlichen Verhältnissen gegen mich zu befinden scheinen, so ist doch jener von diesem, wie Friseur vom Perückenmacher (dem ich auch das Haar dazu gegeben haben mag), also wie Taglöhner vom Künstler oder Handwerker, der ein Werk macht, das ihm gehört, so lange er nicht bezahlt ist, unterschieden. Der letztere als Gewerbetreibende verkehrt also sein Eigentum mit dem Anderen (opus), der erstere den Gebrauch seiner Kräfte den er einem Anderen bewilligt (operam). - Es ist, ich gestehe es, etwas schwer die Erfordernis zu bestimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein eigener Herr ist, Anspruch machen zu können," Warum nur müssen die Philosophen immer auf den Friseuren herumhacken? Auch über seinen eigenen Stand scheint sich Kant nicht klar gewesen zu sein. Von dem Verkauf seiner Bücher wird er ja nicht gelebt haben.

 

13 Die hält sich bekanntlich durch den Glauben am Leben, dass die immer wieder auftretenden ökonomischen Katastrophen, die es der Theorie nach gar nicht geben dürfte, nicht etwa gegen die Theorie sprechen, sondern der ökonomischen Unvernunft der Akteure geschuldet sind, die am laufen- den Band Betriebsunfalle in einer ihrer Natur nach eigentlich krisenfreien Marktwirtschaft verursachen.

 

14 Schließlich leben ganze Fächer davon, falsches Bewusstsein zu verbreiten noch über das "notwendig falsche Bewusstsein" hinaus, das Ideologie laut Marx ist, indem sie unter dem Deckmantel positiver Wissenschaft Märchen als Tatsachen verkaufen und zu diesem Zweck alle methodischen Standards fahren lassen. Dagegen kann aufklärerische Kritik durchaus befreiend wirken; vgl. als ein Beispiel Michael R. Krätke: Neoklassik als Weltreligion, in Kritische Interventionen 3, Die Illusion der neuen Freiheit, Hannover 1999.

 

15 DdA, S. 92.

 

16 DdA, S. 99/100.

 

17 DdA, S. 98.

 

18 DdA, S. 106.

19 DdA, S. 126.

 

20 DdA, S. 127.

 

21 Dieses im militärischen Jargon entstandene Wort trifft unsere Sicht als Warensubjekte auf die Katastrophen um uns herum nur allzu genau und musste deswegen zum "Unwort" des Jahres 1999 er- klärt werden.

22 Dass inzwischen auch die meisten Naturkatastrophen Katastrophen der "zweiten Natur", also durch menschliches Handeln verursacht sind, wird bei dieser Gelegenheit gleichfalls verdrängt.

 

23 Wenn man nichts mehr versteht, sind Verschwörungstheorien fast immer ein geeignetes Gegenmit- tel. Auch nach den Selbstmordattentaten von New York und Washington hatten sie Konjunktur. Bereits die angesichts der mageren, genau genommen gar nicht vorhandenen Beweise doch überraschend schnelle offiziöse Einigung auf bin Laden als Drahtzieher setzte von vornherein voraus, dass es den großen Dunkelmann geben müsse, der alle Fäden in der Hand hält, etwa nach dem Muster der Oberschurken in James-Bond-Filmen. Und die Gegenseite bewies ihre Modernität da- durch, dass sie diese Konstruktion der individuell handelnden Verschwörer sogleich mediengerecht

 

24 Was den Nationalsozialisten das "raffende Kapital", war Lenin die "Finanzoligarchie". Für eine genauere Darstellung des Zusammenhangs von Marxismus-Leninismus und Antisemitismus sowie dessen Fortexistenz im gegen die USA und Israel gerichteten "Antiimperialismus" siehe Robert Bösch: Unheimliche Verwandtschaft, Krisis 16/17, 161-175. Dass sich auch das "schaffende Kapital" selbst, etwa in Gestalt eines Henry Ford, dieser Sichtweise anschließen kann, verwundert angesichts ihres logischen Zusammenhangs mit dem Aufklärungsdenken nicht weiter, siehe Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus, Frankfurt 1999, S. 482 ff.

 

25 Joachim Bruhn: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation, Freiburg 1994, S. 8/9.

 

26 Vgl. Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus, Frankfurt 1999, S. 299 ff.

 

27 So etwa, wenn dem Dschihad eine eigenständige Rolle zuwächst, die er im Islam nie hatte. Auch die verschiedenen ethnisch begründeten Konflikte, die nur noch dazu zu dienen scheinen, die Plünderung durch Warlords und ihre Gangs zu kaschieren, haben teilweise ein Maß an sinnloser Vernichtung angenommen, das mit dem Ziel der Plünderung nur unzureichend rationalisiert wäre.

 

28 Das unvermittelte Gleichsetzen verschiedener empirischer Sachverhalte ist eines der wesentlichen, zu kritisierenden Merkmale der Aufklärungsvernunft und ihrer Erkenntnis qua "Subsumtion unter Prinzipien". Vgl. Roswitha Scholz: Identitätslogik und Kapitalismuskritik, Streifzüge 3/2001, 24- 28.

 

29 Mehr als problematisch ist es daher, den Islamismus als "deutschen Sonderweg für den Islam" zu bezeichnen, wie es Matthias Küntzel tut (Jungle World vom 23. Februar 2002), wobei er sich aus- gerechnet auf Bassam Tibi beruft, der sich mit seinem Buch "Der Krieg der Zivilisationen" (Hamburg 1995) als "deutscher Huntington" einen Namen gemacht hat und dem Westen eine allzu große "Demut" in der internationalen Politik attestiert.

 

30 Gerhard Scheit: Das Böse ist nicht das Böse, Jungle World vom 2. Oktober 2001.

 

31 Gerhard Scheit: Gesichtspunkt Auschwitz, Konkret 12/2001.

 

32 Theodor W. Adorno: Der Positivismus streit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1969, S. 87/88 und S. 93/94

 

33 Ebd., S. 22/23

 

34 Die Frage lässt sich streng genommen ihrer Logik nach nicht beantworten. Es ist die Frage nach der Notwendigkeit des "notwendig falschen Bewusstseins" (s.o..). Ließe sie sich positiv im Sinne der Zwangsläufigkeit eines Naturgesetzes beantworten, so wäre auch jede Kritik davon erfasst und da- her nicht möglich. Jede "Ableitung" eines derart hermetischen, von der Warenform konstituierten "Verblendungszusammenhangs", in den ja dann auch besagte Ableitung fiele, würde sich damit sogleich selbst dementieren, woraus aber leider nicht schon folgt, dass das Gegenteil wahr ist. Dar- auf können wir nur hoffen.

 

35 Auch dies ist noch einmal ein Beleg dafür, wie wenig Aufklärung und Gegenaufklärung zueinander in Widerspruch stehen. Die Selbstmord-Attentäter des 11. September mit ihrer Verbindung von technischem Können und fanatischem Vernichtungswillen sind dafür ein Beispiel, wie denn überhaupt der Islamismus eher in den natur- als in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der arabischen Länder beheimatet ist.

 

 

KRISIS 26 (Dezember 2002)
Robert Kurz: Negative Ontologie. Die Dunkelmänner der Aufklärung und die Geschichtsmetaphysik der Moderne -- Karl-Heinz Wedel: Die Höllenfahrt des Selbst. Von Kants Todesform des sinn-losen Willens -- Roger Behrens: Emanzipatorische Praxis und kritische Theorie des Glücks -- Birgit Niemann: Die Renaissance des biologischen Menschens. Anmerkungen zur Gentechnologie -- Anselm Jappe: Waren die Situationisten die letzte Avantgarde? -- Rezensionen | Kommentare | Glossen

Als wir vor über zwei Jahren im Kreis der Krisis-Redaktion mit einer gründlichen Neulektüre der Aufklärung begannen, waren wir fest davon überzeugt, uns damit ziemlich weit vom aktuellen gesellschaftlichen Diskurs zu entfernen. Aufklärungskritik schien ein geradezu esoterisches Unterfangen zu sein, weit entfernt von den empirischen Entwicklungen im globalisierten Krisenkapitalismus und den laufenden gesellschaftlichen Diskursen. Nach den Anschlägen vom 11. September vergangenen Jahres hat sich die Situation radikal verändert. Mit einem Mal sind die so genannten westlichen Werte von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten wieder das Pfund, mit dem allgemein gewuchert wird. Vergessen ist die (freilich immer schon verkürzte) Kritik des abstrakten westlichen Universalismus, wie sie mit dem postmodernen Diskurs in Mode gekommen war. Wenn es ernst wird, besinnen sich die Warensubjekte eben doch auf ihre ideologischen Fundamente, werden fundamentalistisch. Die schrillen Töne, in denen die Aufklärung neuerdings wieder beschworen wird, verweisen allerdings darauf, dass dieser Diskurs entgegen seinem hinausposaunten Selbstverständnis keinesfalls so "rational" ist. Hinter der in dreihundert Jahren reichlich verschlissenen Fassade der "westlichen Werte" lugt unübersehbar die nackte Angst hervor. Vorbei die Zeit, in der es schien, als könne man es sich - das nötige Maß an Realitätsverleugnung vorausgesetzt - in den Gewinnersegmenten des Weltmarkts ganz bequem einrichten, obwohl ein Großteil der Welt in Hunger, Krieg und Zerstörung versinkt. Nicht nur greift nach dem Platzen der "New Economy" der Krisenprozess deutlich spürbar auch auf den Lebensalltag metropolitaner Mittelschichten über. Langsam sickert auch ins Alltagsbewusstsein die Erkenntnis ein, dass es keinen sicheren Rückzugsort auf dieser Welt mehr gibt. In Zeiten flottierender Gewalt kann selbst ein normaler Bürotag in Manhattan, das Auftanken eines Autos in Washington, ein Urlaub in der Südsee oder der Besuch eines Musicaltheaters in Moskau jederzeit den Tod bringen.

Besonders ekelhaft ist, wie ungeniert nun die rassistischen Töne erneut erklingen.

Unter dem Eindruck der Bedrohung kommt der innere Kern der Aufklärung zum Vorschein, den einflussreiche Ideologen wie der Vordenker der US-amerikanischen Neokonservativen Samuel Huntington bereits Anfang der Neunziger unverblümt wieder hervorgekehrt hatten, nachdem er in den Zeiten des fordistischen Nachkriegsbooms und unter den Auspizien der so genannten "Systemkonkurrenz" ein wenig im Verborgenen blieb. Als Gegenbild zur angeblichen westlichen Aufgeklärtheit muss vor allem die böswillige Karikatur eines fanatischen Islams herhalten, der die wunderbaren Segnungen der Aufklärung nie empfangen

hat. Neu ist das nicht. Immer schon war die Aufklärungsvernunft wesentlich ein Versuch, "die Angst zu vertreiben, die sie allererst selbst erzeugt", wie Böhme/Böhme es in Das Andere der Vernunft treffend ausgedrückt haben. Die Angst vor der eigenen Gewalttätigkeit, Brutalität und Zerstörungspotenz, die sie sich nie eingestehen und daher stets verdrängen und auf ein konstruiertes "Anderes" projizieren musste.

 

Für sich genommen ist die Renaissance des kolonialistisch-rassistischen Diskurses höchst grotesk in einer Zeit, in der die gesamte Welt nach einem langen historischen Prozess dem Diktat der Warenproduktion vollständig unterworfen ist. In Zeiten des Kolonialismus hatten die westlichen Welteroberer es immerhin tatsächlich noch mit anderen Kulturen und Gesellschaften zu tun, die sie freilich nie als solche gelten ließen, sondern immer schon als projektives Gegenbild zum eigenen, aufgeklärten Selbst konstruierten, das sich darüber überhaupt erst definierte. Vom Standpunkt der abendländischen Vernunft aus galten sie als befangen in der Natur, triebhaft, beherrscht von unkontrollierten sinnlichen Begierden, faul, gewalttätig, abergläubisch, barbarisch und dergleichen mehr. Damit wurde nicht nur jede kolonialistische Gräueltat als "zivilisatorisch" rechtfertigt, die Aufklärung immunisierte sich zugleich gegen jede grundsätzliche Kritik, indem sie sich selbst aus der Geschichte herausnahm. Als vorgeblicher Gipfelpunkt der zivilisatorischen Entwicklung konnte sie beanspruchen, den Maßstab abzugeben, an dem alles andere zu messen sei. Nun aber hat es der Westen im Islamismus auch ganz real mit einem durch und durch modernen Phänomen zu tun. Wenn dieses trotzdem im alten kolonialistischen Raster interpretiert wird, indem man etwa terroristische Aktionen islamistischer Gruppierungen auf den Koran und die Sharia zurückführt, dann ist das gleich eine doppelte Verdrängungsleistung. Verdrängt wird nicht nur, dass dieses vorgeblich Andere ein Konstrukt, eine Imagination, die Rückseite der Aufklärungsvernunft und logisch-historisch untrennbar mit ihr verbunden ist. Sondern auch, dass das, was da nun als Bedrohung der an sich doch so friedlichen und lebenswerten Welt des Kapitalismus erscheint, das ureigenste Produkt seiner eigenen Durchsetzungsgeschichte und ihres Scheiterns ist.

Manch verräterischer Ausrutscher lässt durchblicken, wie eng der Heilige Kriegerwahn des Westens mit dem seiner Kontrahenten aus dem neu erfundenen "Reich des Bösen" verwandt ist. So etwa ein vor demokratischem Pathos nur so triefender Leitartikel des Chefredakteurs der ZEIT, Josef Joffe, kurz nach den Anschlägen auf das WTC und das Pentagon (DIE ZEIT 31.10.2001): "Weil der Terror wie ein Schmarotzer im Gewebe der Globalisierung hängt, müssen die Staaten mit ihren gewalttätigen Machtmitteln das Übel quarantänisieren und eliminieren, ohne den ’Wirt’ zu beschädigen. Ohne Globalisierung weder Bewegungsfreiheit noch Wachstum; das Ziel bin Ladens wäre erreicht". Hier fehlt wirklich gar nichts: die biologistische Metapher vom Schmarotzer und dem gesunden Wirt, die Verschwörungsphantasie und der eliminatorische Wunsch - nur dass es jetzt nicht mehr das "internationale Judentum" ist, das den guten Kapitalismus der ehrlichen Arbeit bedroht, sondern der islamistische Terror. So findet zusammen, was zusammengehört. Angst und Bange kann einem freilich werden bei all dem, was sich gegenwärtig weltweit abspielt und zusammenbraut. Doch es ist die verwirklichte Aufklärungsvernunft selbst, die hier zur Kenntlichkeit kommt. Umso widerlicher der Versuch, gerade sie noch einmal von allem Makel reinwaschen zu wollen. Es sind gerade Linksintellektuelle - oder solche, die es einmal waren - die sich besonders eifrig an diesem unappetitlichen Geschäft beteiligen. Im Merkur beispielsweise konnten wir schon letztes Jahr direkt nach den Anschlägen die Stammtischweisheit lesen, das Problem bestehe darin, dass der Islam keine Aufklärung durchlaufen habe; und in einer neueren Ausgabe mit dem Titel Lachen kommen die Herausgeber Scheel und Bohrer auf die originelle Idee, in arabischen Ländern sei die Selbstironie nicht zuhause - im Gegensatz natürlich zum überlegenen Lachen des Westens, das die Kraft der Respektverweigerung und Selbstdistanzierung habe. Lachhaft ist das allemal. Jedoch es ist blutig ernst gemeint. Als Frontstellung nicht nur gegen den neuen islamistischen Kistenteufel, sondern auch als prophylaktische Abwehr jeder möglichen grundsätzlichen Kapitalismuskritik, die von vorneherein als "zivilisationsfeindlich" abqualifiziert werden soll.

 

Selbst die so genannte "Spaßgesellschaft", Inbegriff organisierter Konsumfröhlichkeit mit zusammengebissenen Zähnen, erscheint dem Merkur (und nicht nur ihm) plötzlich als zivilisatorische Errungenschaft, die es gegen islamistische Fundamentalisten und kulturkritische Pessimisten zu verteidigen gilt. Die RTL Comedy-Show als das Endstadium der Aufklärung? Das trifft in der Tat den Nagel auf den Kopf. Wer darin aber nur eine Form unfreiwillig komischer Selbstkritik zu erkennen vermag, kann eigentlich nur Mitglied, oder wenigstens Sympathisant, von al-Qaida sein. Darin wissen sich alle Demokraten von Condolezza Rice und Samuel Huntington über Joschka Fischer und Oriana Falacci bis hin zu den Bonsai-Savonarolas des "antideutschen" Sektenwesens einig.

Radikale Aufklärungskritik, wie wir sie in Krisis 25 begonnen haben und nun in der vorliegenden Nummer fortsetzen, muss angesichts dieser gesellschaftlichen Konstellation mit Widerständen rechnen, die keinesfalls nur auf der Ebene des rationalen Diskurses angesiedelt sind. Das macht eine nicht unerhebliche Schwierigkeit aus. Umgekehrt heißt es aber natürlich nicht, dass jede Kritik der Kritik nur ein aufklärungsberauschtes Abwehrmanöver sei. Wir bewegen uns hier zweifellos auf schwierigem Terrain. Kontroversen sind da unvermeidlich, ja, unabdingbar. Es versteht sich von selbst, dass das Ausloten dieses Terrains uns noch über längere Zeit beschäftigen wird. Viele Fragen stellen sich überhaupt erst im Vorangehen und nicht wenige sind auch im Kreis der Krisis-Autorinnen und Autoren umstritten, so etwa die nach der des Standpunkts der Kritik, wie sie Anselm Jappe in dieser Nummer in Eine Frage des Standpunkts aufwirft. Daneben findet der Schwerpunkt Aufklärungskritik seine Fortsetzung in den Artikeln Negative Ontologie von Robert Kurz, Die Höllenfahrt des Selbst von Karl Heinz Wedel sowie Emanzipatorische Praxis und kritische Theorie des Glücks von Roger Behrens. Die in Krisis 24 eröffnete und im letzten Heft fortgeführte Auseinandersetzung um die Gentechnik wird mit einem externen Diskussionsbeitrag, der den kapitalistischen Zugriff auf das menschliche Genom zum Gegenstand hat, fortgesetzt: Die Renaissance des biologischen Menschen von Birgit Niemann. Die Autorin ist Molekularbiologin und Mitglied des Gen-ethischen Netzwerkes e.V. In Waren die Situationisten die letzte Avantgarde? setzt sich Anselm Jappe mit dem Verhältnis von Fetischismus und moderner Kunst auseinander, Franz Schandl präsentiert in Finale des Rechts einige Thesen zum Ausbrennen des Prinzips der Rechtsform und Robert Kurz analysiert in Gesellschaftliche Naturkatastrophen die destruktive Verschlingung von erster und zweiter Natur am Beispiel der immer häufigeren Überschwemmungs- und Dürrekatastrophen.

 

Bleibt noch anzumerken, das fast zeitgleich mit dieser Krisis-Ausgabe auch das neue Buch von Robert Kurz Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung in der edition krisis im Horlemann Verlag erschienen ist.

 

Norbert Trenkle für die Redaktion im Dezember 2002

 

Aus dem Editorial der krisis 26, 2003

 

 

 

 

 

 

Kurz, Robert

Weltordnungskrieg

Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung

 

Erschienen im Horlemann-Verlag

 

Aus der Einleitung siehe Weltordnungskrieg und im Folgenden das Kapitel

Der Nahe Osten und das antisemitische Syndrom

Im Prozess der Barbarisierung und Selbstzerstörung des herrschenden Weltsystems gibt es einen Brennpunkt, in dem sich die destruktive kapitalistische Globalisierung, die Geschichte und die Ideologiebildung der modernen Welt an ihren historischen Systemgrenzen auf besondere Weise bündeln - und das ist der Nahe Osten mit Israel und dem so genannten Palästinakonflikt im Zentrum. Vordergründig scheint es hier zunächst um das wichtigste Feld des westlichen Öl-Imperialismus zu gehen. Und im Hinblick auf das krude Interesse der kapitalistischen Verbrennungskultur ist das na­türlich auch völlig richtig. Aber darin geht dieser Konflikt bei weitem nicht auf; er enthält noch eine ganz andere, wesentliche Dimension: nämlich die Logik des Anti­semitismus als zentraler kapitalistischer Krisenideologie und die damit verbundene Konstitution des Staates Israel, der eben deswegen kein Staat wie andere Staaten ist.

Kapitalistische Verbrennungsreligion und Ölregimes

Dennoch wäre das Bild unvollständig und falsch, würde man im Hinblick auf den Nahost-Konflikt vom Interessen-Hintergrund des westlichen Öl-Imperialismus völ­lig absehen. Da der Nahe Osten aus natürlich-geografischen Gründen der Lagerstät­ten die Hauptquelle des Treibstoffs für die kapitalistische Weltmaschine ist und bleibt, muss sich hier auch der weltpolizeiliche Zugriff des "ideellen Gesamtimperialisten" konzentrieren. Das ist ein nicht unwesentlicher Aspekt der kulturalistischen Feindde­finition gegen den Islam; denn gerade an den geheiligten Quellen der kapitalistischen Verbrennungsreligion, in der sich der irrationale Selbstzweck der "Verwertung des Werts" gewissermaßen energetisch materialisiert, müssen die islamistischen Barbarisierungsprodukte der Globalisierung natürlich als besonders "störend" und gefähr­lich empfunden werden (weitaus mehr als etwa in Pakistan oder Indonesien).

Wie in jeder anderen Hinsicht verwickelt sich der "ideelle Gesamtimperialismus" aber auch und gerade auf diesem spezifischen Terrain von Globalisierung und weltpolizeilichem Zugriff in unauflösliche Widersprüche, die hinter der praktischen Zweckrationalität den objektivierten Wahn des Systems und seiner Macher aufscheinen las­sen.

Dies betrifft zunächst die Art und Weise der Positionierung gegenüber der ara­bisch-moslemischen Welt selbst. Die offene westliche Militärdiktatur über den ge­samten Raum der zentralen Ölförderung wäre ein kaum dauerhaft durchzuhaltender Notstand mit wahrscheinlich katastrophalen Rückwirkungen auf das fragile Babel-Gebäude des abgehobenen transnationalen Finanzkapitals. Deshalb muss die gesamtimperiale Weltpolizei nach durchaus traditionellem Muster unbedingt darauf setzen, autochthone Regimes der Region an sich zu binden und sie als legitimatorische Subsouveräne, "Flugzeugträger" und militärische Hilfssheriffs zu benutzen.

Im brodelnden Hexenkessel eines Raums, in dem hunderte Millionen von Men­schen leben und Jahr für Jahr mehr von ihnen unter dem Juggernaut-Rad der kapita­listischen Globalisierung sozial zermalmt werden, kann eine derartige weltpolizeili­che Strategie letzten Endes nur schief gehen. Der Ölreichtum, aufgrund seines beson­deren Status im Gefüge des Weltsystems ein materialisierter spekulativer Gegenstand mit deshalb wild schwankendem Preisniveau, hat extrem ausschließenden Charakter:

Die überwältigende Mehrzahl der Araber wird auf ein Armuts- und Elendsniveau gedrückt, während sich die winzige Oberschicht des energetischen Krisenreichtums mit einer selbst für Dritte-Welt-Verhältnisse außergewöhnlichen Obszönität darstellt. Die binnenökonomischen "Entwicklungsprojekte" der diversen arabischen Öl-Re­gimes, besonders derjenigen in der Golf-Region mit den bei weitem größten Förder­mengen und Reserven, sind trotz der immensen Kapitalkraft großenteils verbal und kosmetisch geblieben; die "Petro-Dollars" wurden und werden in ihrer Masse post­wendend in die transnationalen Finanzmärkte gepumpt statt in Realinvestitionen an­gelegt und bilden ein Segment des globalen "fiktiven Kapitals" im spekulativen Fi­nanzüberbau der dritten industriellen Revolution.

Insgesamt zerfallen die nahöstlichen Öl-Regimes der arabischen Länder und des Iran allerdings in zwei auch heute noch abgeschwächt sichtbare unterschiedliche For­men, die auf ursprünglich ganz entgegengesetzte Ausgangspunkte verweisen. Zum einen handelt es sich um typische ehemalige Regimes nachholender Modernisierung mit inzwischen durch die Bank gescheiterten, aber in der Vergangenheit ernst ge­meinten Industrialisierungsprojekten, mit republikanischer Staatsform und diktatori­schem "Führerkult", wie ihn etwa Saddam Hussein oder Ghaddafi repräsentieren. Zum ändern haben wir es mit der Form nach archaischen Monarchien zu tun, die ein klerikal-feudales Schreckensregiment ausüben und einer Hollywood-Version des "fins­teren Mittelalters" oder der pubertären Phantasie eines Karl May entsprungen sein könnten. Waren die republikanisch-diktatorischen Modernisierungsregimes wie in Ägypten, dem Irak, Algerien usw. in der Regel laizistisch, so stellten die (durchwegs sunnitischen) Monarchien, Sultanate, Emirate etc. und ihre bizarren Prinzengarden von Anfang an synthetische "Gottesherrschaften" mit einer erzreaktionären islamistischen Legitimation dar, deren religiöser Ausdruck in keiner Weise auf den vormoder­nen Islam zurückgeht, sondern ganz im Gegenteil ein Resultat der absurden, in sich widersprüchlichen Einbindung in kapitalistische Moderne und Weltmarkt ist.

Das gilt ganz besonders für das saudische Wüstenregime, das in seiner jetzigen staatlichen Gestalt überhaupt erst im 20. Jahrhundert entstand. Die Dynastie der Saudis gründet sich auf die sunnitische religiöse Bewegung der Wahhabiten, die Ende des 18. Jahrhunderts von dem Sektenführer Abd al-Wahhab gegründet wurde und den Wüstenscheich Ibn Saud für sich gewann. Den Wahhabiten ging es von Anfang an um die reaktionäre Wendung zu einer phantasmatischen "ursprünglichen Form" des Islam, verstanden als rohe Buchstäblichkeit und verbunden mit besonders rigiden rituellen Äußerlichkeiten, drakonischer Henkersherrschaft und extremer Unterdrü­ckung der Frauen. In Gestalt der saudischen Monarchie hat dieses religiöse Wahnge­bilde, eine frühe moslemische Version der heute im postmodernen Zerfallsprozess global und massenhaft sich ausbreitenden quasipolitisch-religiösen Sektenbewegun­gen, die äußere Form eines modernen Staatswesens angenommen und sich mit dem kapitalistisch vermittelten Ölreichtum aufgeblasen.

Eine Zwischenstellung zwischen den gescheiterten laizistischen Modernisierungs­regimes und den monarchisch-reaktionären Gottesherrschaften, die von vornherein nur religionspolitische Nischenformen und gleichzeitig ein unselbständiges Segment des globalen Finanzkapitalismus bildeten, nimmt das Regime des schiitischen Islam­ismus im Iran ein, das aus dem gewaltsamen Sturz der Schah-Monarchie (1979) her­vorgegangen ist: Hier überschneiden sich Modernisierungsversuche im Hinblick auf Industrieprojekte und rückwärtsgewandte Gottesherrschaft, republikanische Form und quasi-religiöse Konstitution, sodass sich (abgesehen von der mehr religiösen als politischen Ikonisierung der Figur Khomeini) kein "Führerprinzip" wie in den laizisti­schen Diktaturen herausbilden konnte.

Im Krisenprozess der Globalisierung sind nun inzwischen die eigenständigen Modernisierungsversuche auch im Nahen Osten derart vollständig ruiniert und auf­gerieben worden, dass ein Verwilderungs- und Konversionsprozess sämtlicher Re­gimes eingesetzt hat. Die letzten Dinosaurier-Diktatoren der gescheiterten Industria­lisierung, die gleichzeitig nicht mehr wie im Kalten Krieg zwischen den Supermäch­ten lavieren können, werden unberechenbar und neigen zu herostratischen Abenteu­ern wie etwa Saddam Hussein; unter den bröckelnden Fassaden der Staatsformen macht sich wie auch sonst in der Welt eine bewaffnete Clan- und Bandenherrschaft breit; und das ideologische Moment der gesellschaftlichen Allgemeinheit verlagert sich mehr und mehr auf die Form des militanten pseudoreligiösen Wahns.

Die Religion kann dabei auf der Basis von kapitalistischer Warenproduktion und Weltmarkt weder zur reproduktiven Konstitution der Gesellschaft wie in den vormo­dernen agrarischen Zivilisationen zurückkehren noch kann sie an die Stelle der modernen Politik treten; sie wird vielmehr im Nahen Osten so extrem wie nirgendwo sonst zur destruktiven und mörderischen Krisenideologie, die das unhaltbare Regime kapitalistischer Konkurrenzverhältnisse nicht überwindet, sondern in einer phantasmatischen Gestalt zuspitzt und dem Todestrieb der modernen Vernunft in ihrem welt­lichen Scheitern Ausdruck verleiht. Weil der Nahe Osten in vieler Hinsicht einen Brennpunkt der aktuellen weltkapitalistischen Widersprüche bildet, nimmt der mani­feste Todestrieb dort auch besonders drastische gesellschaftliche Ausmaße an. In die­sem Sinne gehen sämtliche moslemischen Länder des Nahen Ostens, auch die bislang laizistischen, in einen islamistischen Zersetzungsprozess über und laden sich mit scheinreligiösen Hassideen auf.

Es ist bezeichnend, dass der gesamtwestliche Öl- und Sicherheitsimperialismus unter Ägide der USA seine Herrschaft über diesen zentralen strategischen Raum von Anfang an in erster Linie vermittels der reaktionären monarchischen Gottesherrschaften zu festigen suchte. Nicht die vordergründig der westlichen Lebensweise eigentlich viel näher stehenden laizistischen Modemisierungsregimes wurden als autochthone Sub-Repräsentanten bevorzugt, sondern die im Sinne der Modernisierung bloß dysfunktionalen, klerikal-politischen Alptraumregimes der saudischen Monarchie, der Sultanate, Emirate und Folter-Königreiche; und nicht obwohl, sondern gerade weil sie ihrem Wesen nach sich als besonders finster und gleichzeitig ökonomisch wie militärisch absolut unselbständig darstellen. Keineswegs zufällig waren es andererseits Staaten wie der Irak, Libyen und die schiitisch-islamistische Republik des Iran, die zu "Schurkenstaaten" erklärt wurden, obwohl dort zum Beispiel die Position der Frauen auch heute noch erwiesenermaßen relativ besser ist als in den reaktionären Gottesmonarchien.

Der "ideelle Gesamtimperialismus" hat sich zielsicher die instabilsten, absurdes­ten, wie einem blutigen Märchen entsprungenen Wahn- und Terror-Regimes der zen­tralen Ölregion als "befreundete Mächte" ausgesucht. Indirekt und unfreiwillig ist es ein doppeltes Eingeständnis: nämlich erstens, dass der westliche Herrschaftsanspruch seinem Wesen nach selber bösartig und irrational ist; und zweitens, dass "Entwick­lung" und "Modernisierung" gerade für die wichtigste Region der Ölförderung trotz gegenteiliger offizieller Ideologie in Wirklichkeit niemals vorgesehen waren. Es be­durfte der Teufelspakte mit den schlimmsten, reaktionärsten, von Anfang an durch islamische Bigotterie und Terrorherrschaft der (archaisch interpretierten) "Scharia" gekennzeichneten Feudalmonster, um den schnöden und scheinrationalen Interessen-Materialismus der kapitalistischen Verbrennungskultur in der zentralen Ölregion ab­zusichern. Je mehr "Schurkenstaaten" der Westen definiert, desto mehr sehen seine eigenen Freunde und Helfer in den Krisenregionen wie Hollywood-Schurken oder wie von Hieronymus Bosch erfundene Figuren aus.

Die Nemesis einer derartigen Ausgeburt imperialer Legitimation ließ nicht auf sich warten. In den Brüchen und Erschütterungen der Globalisierung, von denen die sozialökonomische Grundlage sämtlicher Regimes des Nahen Ostens ins Wanken gebracht oder schon hinweggefegt wurde, bilden gerade die mit dem Westen befreun­deten klerikal-feudalen Regimes den Schoß, der die Dämonen des "antiwestlichen" Islamismus ohne jede emanzipatorische Lebensperspektive gebiert. Wie auch sonst in der Welt und wie in seinem eigenen Inneren sind es auch hier und vor allem hier die eigenen Kreaturen des "ideellen Gesamtimperialismus", die in der neuen Qualität gesellschaftlicher Zersetzungsprozesse aus seinen politisch-strategischen Labors ent­fliehen und mit besonderer Intensität als "Störfaktoren" eines blind zuschlagenden Terrors durch das Ölimperium irren.

Keineswegs zufällig ist es gerade die wahhabitische Version einer besonders pri­mitiven und brutalen islamistischen Sektenreligion, wie sie gleichzeitig die saudische Staatsreligion bildet, die zum Quellgrund eines Großteils des islamischen terroristi­schen Untergrunds und seiner Strömungen geworden ist. Die Fürsten des Terrors mit dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Osama bin Laden an der Spitze, ihre Ideolo­gen, Organisatoren und Helfershelfer sind zu neunzig Prozent Abkömmlinge der feu­dal-klerikalen Clans, auf die sich der Westen stützt, weil ihre Schreckensgestalt sei­nem eigenen imperialen Herrschaftsanspruch am besten entspricht. In der immer weniger beherrschbaren sozialökonomischen Krise werden jedoch die selbstgezüch­teten Dämonen viel unberechenbarer und gefährlicher als die übrig gebliebenen Di­nosaurier der gescheiterten Modernisierungs-Regimes. Der Westen bekommt mit den wahhabitischen und verwandten geheimen Terrorgesellschaften nicht nur, was er ver­dient, sondern auch, was er selbst gepäppelt und herangezogen hat.

Der Antiimperialismus und die antisemitische Krisenideologie

Weil die völlig anachronistischen klerikal-feudalen und gleichzeitig finanzkapitalisti­schen Ölregimes immer schon eine viel zu unsichere Stütze waren, bedurfte es allerdings einer zweiten, anders gearteten Sicherungsmacht in der zentralen Ölregion; und es ist kein Geheimnis, dass der Staat Israel weitgehend, wenn auch nicht widerspruchsfrei diese Funktion eines Knüppels des westlichen "ideellen Gesamtimperialismus" gegen die von antiwestlichen Ressentiments in ihren Ländern bedrohten, unsicheren Kanto­nisten der arabischen Regimes als bitteren Preis für seine Existenz ausüben muss. Nur deshalb wurde Israel von den USA protegiert, mit modernsten Hightech-Waffensystemen üppig aufgerüstet und von den westlichen Staaten massiv alimentiert. Aus eigener Kraft wäre Israel bis heute ökonomisch nicht lebensfähig, jedenfalls nicht auf dem jet­zigen Lebensniveau, das sich mit seinen westlich-hochentwickelten Standards (allerdings mit demselben internen Gefälle von Reichtum und Armut wie inzwischen auch im Westen) krass von den umliegenden arabischen Ländern abhebt.

Diese ökonomischen und politisch-militärischen Tatsachen wurden und werden immer wieder von traditionell linken "antiimperialistischen" Positionen gegen Israel mit wütender Aggressivität geltend gemacht; eine Feindbestimmung, die dem Kon­text des selber längst gescheiterten Paradigmas "nationaler Befreiung" als einer Form nachholender Modernisierung in der südlichen Peripherie des Weltmarkts entstammt. Bis heute gilt Israel in der gesamten Dritten Welt als imperialistischer Scherge und "Unrechtsstaat", den es eigentlich gar nicht geben dürfte. Die eigenen Interessen, die Israel dabei vertritt, werden allein als subimperialer oder quasi-kolonialer Anspruch wahrgenommen; der israelische Nationalismus und Expansionismus qua Siedlungs­bewegungen und militärischer Eroberung geradezu als Inbegriff des Nationalismus schlechthin und die ethno-religiöse Selbstdefinition des israelischen Staates (die offi­zielle und juristische Diskriminierung nichtjüdischer Staatsbürger eingeschlossen) als Inbegriff des Rassismus schlechthin verstanden.

Die sowjetische Gegenweltmacht der historischen Nachzügler an der Peripherie des Weltmarkts mit "marxistischer" Legitimationsideologie hatte sich stets um ein Bündnis mit den laizistischen arabischen Modernisierungs-Regimes bemüht und un­ter dem Begriff des "Zionismus" ein antiisraelisches Feindbild aufgebaut, in dem sich das Bündnis Israels mit dem westlichen Kapitalismus und Imperialismus reflektierte - "Israel war während des Kalten Krieges ein geschätzter militärischer Verbündeter (der USA), sein Militär testete Waffensysteme, sein Geheimdienst stand für Operati­onen zur Verfügung, die die CIA nicht ausführen konnte" (Birnbaum 2002). In der Epoche des Kalten Krieges übernahm der größere Teil der politischen Linken in der ganzen Welt unter dem Titel des "Antizionismus" dieses Feindbild. Israel wurde gänz­lich unter die damals vorherrschende Konfliktkonstellation der "nationalrevolutionä­ren" antiimperialistischen Bewegungen der Dritten Welt gegen das westliche Imperi­um der Pax Americana subsumiert. Der Preis, den Israel für seine Existenz an den Imperialismus zahlen musste, wurde in ein "antiimperialistisches" Argument gegen diese Existenz umgemünzt.

Damit mussten jedoch ein ganz anderer Aspekt und eine viel wesentlichere Di­mension der weltkapitalistischen Entwicklung ausgeblendet bleiben, die der traditio­nelle Antiimperialismus aus seiner verkürzten Perspektive nicht wahrnehmen konnte und wollte. Dieser Sichtweise entging nämlich die entscheidende Rolle des Antise­mitismus in der bürgerlichen Ideologiebildung und damit eine zentrale Widerspruchsebene des Imperialismus selbst. Zwar hatte die Linke stets Auschwitz und den Holo­caust als großes Verbrechen der Nazis gebrandmarkt, aber dennoch die Rolle des Antisemitismus eher heruntergespielt und jedenfalls nicht als wesentlich oder konstitutiv für den Nationalsozialismus im besonderen und den Kapitalismus im allgemei­nen begreifen wollen.

Diese spezifische Begriffslosigkeit lässt sich letzten Endes wiederum aus dem all­gemeinen Defizit erklären, dass die marxistische, arbeiterbewegte und antiimperialistische Linke im Zentrum wie in der Peripherie auf die gesellschaftlichen Kategori­en des Kapitalverhältnisses (des modernen warenproduzierenden Systems) beschränkt blieb: also eben auf jene Option einer juristisch-politischen staatsbürgerlichen Gleich­stellung, Beteiligung und Mitregierung der "Arbeiterklasse" und ihrer Institutionen einerseits; und auf die Option jener nachholenden Modernisierung und eigenständi­gen Teilnahme am Weltmarkt als nationalökonomisches und nationalstaatliches Sub­jekt andererseits. Aus dieser Perspektive, in der (bei den Sozialdemokraten wie bei den Leninisten) eine objektive Grenze und Krise der kapitalistischen Gesellschafts­kategorien als undenkbar erschien, musste sich die Aufmerksamkeit auf den sozial­ökonomischen und politischen, scheinbar rationalen Interessengehalt und Interessen­horizont der Ideologiebildungen konzentrieren. Mit anderen Worten: Die Ideologie wurde dem Interesseninhalt von Subjekten des warenproduzierenden Systems zugeordnet - "Arbeiterklasse" gegen "Kapitalistenklasse", "nationale Befreiung" gegen "Imperialismus".

Der moderne Antisemitismus konnte so bestenfalls als eine Art sekundäres ideolo­gisches Täuschungsmanöver der "herrschenden Klasse" oder als spezifische konkur­rierende Interessen-Ideologie des "Kleinbürgertums" verstanden werden, womit die "Arbeiterklasse" oder die "unterdrückten Völker" von ihren eigentlichen Interessen abgelenkt werden sollten (Manipulationstheorie). Völlig ausgeblendet blieb dabei wiederum die ideologische Dimension des gemeinsamen, die Klassen und Nationen übergreifenden und historisch objektivierten gesellschaftlichen Formzusammenhangs von abstrakter Arbeit, Wert, Warenform, Geld, betriebswirtschaftlicher Produktion, Markt (Weltmarkt) und Staat. Dieser Formzusammenhang erschien vielmehr prak­tisch wie theoretisch als unüberschreitbare ontologische Grundlage von Gesellschaft­lichkeit überhaupt.

So musste Unbegriffen bleiben, dass das moderne warenproduzierende System nicht nur vordergründig und oberflächlich divergierende "Interessen" innerhalb dieser Form ideologisch ver- und einkleidet, sondern aus den Widersprüchen und Krisen der ge­meinsamen, alle sozialen Kategorien umfassenden modernen Form-Konstitution auch gemeinsame, klassen-übergreifende Ideologiebildungen aufsteigen, die viel wesent­licher und gefährlicher sind als die durchsichtige und oberflächliche Legitimation von kapitalistisch geformten "Interessen" der diversen Klassen, sozialen Schichten und Funktionsträger. Alle Momente von "Weltanschauung", Erklärungsmustern und handlungsleitenden Ideen, die nicht klassen-soziologisch ableitbar schienen, wurden so in ihrer Tragweite missverstanden und eben als bloße Täuschungsmanöver abgetan.

Die arbeiterbewegte und marxistische Linke, auch und gerade die radikale Linke (und die anarchistische Linke nicht weniger) bemerkte so nicht einmal, dass sie selber wesentliche Bestandteile der bürgerlichen Ideologie positiv aufgenommen hatte als "Erbe" der protestantischen und aufklärerischen Ideologie- und Geistesgeschichte in der Herausbildung des warenproduzierenden Systems. Dazu gehörte insbesondere die Heiligsprechung des Abstraktums "Arbeit", das in seinem Charakter als repressi­ver Selbstzweck direkt aus den Ideen des Protestantismus und der so genannten Auf­klärung des 18. Jahrhunderts in die Ideologie der Arbeiterbewegung übergegangen war. Indem ausgerechnet die "Arbeit" als zentraler Bezugspunkt vermeintlich dem Kapital gegenüber geltend gemacht wurde, spielte die Linke lediglich einen Aggre­gatzustand des Kapitals gegen den anderen aus. "Arbeit" erschien so nicht als das, was sie ist, nämlich die spezifisch kapitalistische Tätigkeitsform ("abstrakte Arbeit" bei Marx), also ein ganz und gar dem Kapital angehöriger Begriff und ein entspre­chendes reales Verhältnis, sondern als ontologische Menschheitskategorie.

Aus dieser zentralen ideologischen Gemeinsamkeit mit dem bloß äußerlich und soziologisch verkürzt als Gegner definierten Kapital mussten zwangsläufig weitere, uneingestandene Gemeinsamkeiten einerseits und jene völlige Unterschätzung der klassen-übergreifenden Krisen- und Vernichtungsideologien von Rassismus und An­tisemitismus andererseits erwachsen. Weil die westliche Arbeiterbewegung, die östli­chen Regimes nachholender Modernisierung und die südlichen "nationalen Befrei­ungsbewegungen" nur innerhalb der gemeinsamen gesellschaftlichen Formen des Kapitals agierten und mit der "Arbeit" die kapitalistische Tätigkeitsform affirmierten, konnten sie auch nur eine verkürzte Kritik des Kapitalverhältnisses formulieren, die weit hinter die Marxsche Begrifflichkeit des Kapitals als eines irrationalen Fe­tisch-Verhältnisses zurückfiel. Teils wurde nur die mangelnde staatliche Regulationsfähigkeit des warenproduzierenden Systems durch dessen bürgerliche Repräsentanz beklagt, teils die Unterordnung der "produktiven Arbeit" unter das "Finanzkapital" kritisiert, ohne den inneren, vermittelten (und auf wachsender Stufenleiter krisenhaften) Zusammenhang von "produktiver Arbeit" und "Finanzkapital" (zinstragendem und spekulativem Geldkapital) zu erkennen.

Diese notorisch verkürzte Kapitalismuskritik wies stets Berührungspunkte mit der antisemitischen Ideologie auf. Denn der Antisemitismus konnte gerade dadurch zur mächtigen Krisenideologie der Moderne aufsteigen, dass er die inneren Widersprü­che der kapitalistisch konstituierten Gesellschaft und aller ihrer Subjekte veräußer­lichte und sozial-biologistisch naturalisierte: "Die Juden" wurden zur negativen Re­präsentanz des "unproduktiven" Finanzkapitalismus und zur Inkarnation aller des­truktiven Erscheinungen der modernen warenproduzierenden Gesellschaft erklärt, anknüpfend an einschlägige Zuschreibungen schon seit dem Mittelalter und der frü­hen Neuzeit (etwa bei den antisemitischen Hetztiraden eines Martin Luther). Demgegenüber sollten die "ehrliche Arbeit" und das "produktive Kapital" als positi­ver Gegenpol gesetzt werden; bei den Nazis bekanntlich als ideologische Gegenüber­stellung von "raffendem" ("jüdischen") Kapital und "schaffendem" ("deutschen" oder "nationalen") Kapital. An die Stelle einer Kritik der realen, klassen-übergreifenden Formen des warenproduzierenden Systems trat so die bösartige, auf eine besondere, "rassisch" definierte Gruppe von Subjekten bezogene Zuschreibung nach der Devise: Arbeit", Wert, Ware, Geld und Kapitalform wären wunderbar und segensreich, wenn bloß die Juden nicht wären. Diese Zuordnung, die den an sich irrationalen Systemzusammenhang in einer zusätzlichen Dimension sekundärer Irrationalität zu "erklären" vorgab, stieg zur mordideologischen Welterklärung schlechthin auf.

Die Ideologie von Arbeiterbewegung und antikolonialer "nationaler Befreiungsbe­wegung" grenzte sich zwar stets von den offen antisemitischen Strömungen ab, indem sie sich statt auf den phantasmatischen "Rassengegensatz" auf den sozialen Klassenge­gensatz und den nationalen Interessengegensatz von kolonialen bzw. postkolonialen Nationalökonomien/Nationalstaaten und westlichem Imperialismus berief.

Aber erstens blieb auch diese rationaler anmutende soziale "Befreiungsideologie" ähnlich wie der Antisemitismus auf der subjektiven Ebene von schieren Willens- und Machtverhältnissen stehen, ohne die Ebene der Konstitution dieser Subjekte (also deren Geformtheit durch die Kategorien des warenproduzierenden Systems) zu be­rühren. Nicht die Negativität des gemeinsamen Formzusammenhangs, also auch der eigenen Subjektform, rückte ins Visier der Kritik, sondern allein die negative "Macht" der "Gegensubjekte": bei den Antisemiten die zugeschriebene subjektive Macht und Bosheit der "jüdischen Gegenrasse", bei der Arbeiterbewegung die subjektive Macht und vermeintliche "Verfügungsgewalt" der "sozialen Gegenklasse", bei den "natio­nalen Befreiungsbewegungen" die subjektive Macht und globale Eingriffsgewalt der imperialen Zentralmächte.

Weil sie auf derselben logischen Ebene von bloß "gesetzter", nicht aus dem gesell­schaftlichen Formzusammenhang hergeleiteter Willens-Subjektivität stehen blieben wie der Antisemitismus, resultierend aus einer ähnlich (wenngleich nicht identisch) verkürzten Kapitalismuskritik, konnten Arbeiterbewegung, "nationale Befreiungsbe­wegung" und radikale Linke sich ihrer impliziten Berührungspunkte mit dem Antise­mitismus nicht bewusst werden. Dies galt erst recht für die Ontologisierung und An­betung der "produktiven Arbeit", die sie ebenfalls mit den Antisemiten teilten.

Damit musste jedoch zweitens auch die klassen-übergreifende Gefährlichkeit der antisemitischen Ideologie Unbegriffen bleiben. Die Verkürzung auf den klassensoziologischen Horizont der kapitalistisch konstituierten Form des Interesses und die über­historische Ontologie der "Arbeit" ließen die Illusion entstehen, als wären "Arbeiter­klasse" und "unterdrückte Völker" qua ihrer kapitalistisch vorgegebenen Interessen und ihrer existentiellen Ontologie bereits "an sich" (unabhängig von ihrem wirkli­chen Bewusstsein) transzendierende Kräfte, deren angeblich "objektive" system-über-windende Potenz nur abgerufen zu werden brauchte qua sozialer "Kämpfe". Die ihrer konstituierten Subjektform inhärente Form der Konkurrenz schien eine bloß äußer­lich von der subjektiven "Gegenmacht" aufgedrungene, "uneigentliche", im Grunde fremde Verhaltensweise zu sein; somit auch der Antisemitismus eine "klassenfremde", bloß irrtümlich oder manipulativ aufoktroyierte Ideologie.

Diesem Denken musste völlig entgehen, dass die soziale Emanzipation vom Kapi­tal Verhältnis zwar prinzipiell möglich ist, jedoch keineswegs "an sich" durch die "ob­jektive" Stellung bestimmter Klassen oder anderer moderner Subjekte im Gefüge des warenproduzierenden Systems bereits angelegt; eine objektivistische Illusion, wie sie auch noch Marx im Gegensatz zu seiner eigenen kritischen Theorie der Moderne als eines gesellschaftlichen Fetisch-Verhältnisses formuliert hatte. Vielmehr sind alle Subjekte dieses Systems ohne Ausnahme, also auch die "Arbeiterklasse", die "unter­drückten Völker" usw. qua ihrer eigenen, vom System konstituierten Form (Reproduktions- und Subjektform) gleich weit entfernt vom Übergang zur Emanzipation von dieser negativen gesellschaftlichen Form. Die Entstehung von radikal kritischem Bewusstsein gegen diese Form (ein Bewusstsein, an das die radikale Linke bis heute nicht herangekommen ist, geschweige denn die sozialen Bewegungen) ist möglich; aber allein aus der negativen Verarbeitung der Erfahrungen von Leid und Zumutung in dieser Form, nicht aus einem positiven ontologischen Grund. Es gibt keine ontologische Bestimmung, die "außerhalb" oder "unterhalb" des Systems angesiedelt wäre (etwa in der Form der Arbeit) und somit als objektiver Hebel angesetzt werden könn­te, um das repressive und destruktive gesellschaftliche Verhältnis zu kippen.

Deshalb sind soziale und andere "Kämpfe" nicht per se schon emanzipatorisch, auch nicht die "Kämpfe" von Arbeiterklasse, unterdrückten Gruppen, Minderheiten usw. Vielmehr ist der "Kampf in der Form der Konkurrenz die allgemeine Bewe­gungsform des kapitalistischen Systems selbst. Dies gilt auch für die verschiedenen Formen der Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln, besonders der unmit­telbaren Gewalt.

Über die Form der Konkurrenz, also auch über die eigene Subjektform hinauszu­kommen, erfordert ein - wie Marx sich einmal ausgedrückt hat - "enormes Bewusst­sein", das keineswegs von den Verhältnissen selbst nahe gelegt wird. Was sich viel­mehr spontan entwickelt, ist die Konkurrenz bis aufs Messer innerhalb der konstitu­ierten gemeinsamen Subjektform. Dabei bildet die Konkurrenz zwischen Lohnarbei­tern und Repräsentanzen des Kapitals (Management, Unternehmerverbänden etc.) nur eine Ebene in den vielschichtigen Verlaufsformen der Konkurrenz. Dazu gehört selbstverständlich die Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalien selbst, zwi­schen den verschiedenen Branchen, zwischen den Fraktionen und Gruppierungen der Lohnarbeiter, zwischen den Nationalökonomien/Nationalstaaten usw.; aber auch die "ethnische", rassistische Besetzung der Konkurrenzverhältnisse und schließlich (als äußerste Reaktion) deren antisemitische Schein-Transzendierung.

Genau dieser Zusammenhang eines komplexen Netzes von vielfältigen Linien der Konkurrenz ist keineswegs subjektiv-manipulativ, sondern objektiv begründet durch die allgemeine Subjektform des warenproduzierenden Systems qua Arbeit, Geld und Staat, während der emanzipatorische Ausbruch aus dem "eisernen Gehäuse" dieser Form überhaupt nicht objektiv im Sinne einer Determination des Verhaltens begründet sein kann. Das warenproduzierende System und seine abstrakt-irrationale Tätig­keitsform als unüberwindbare ontologische Bestimmung vorausgesetzt, kann es sehr wohl im "objektiven" Interesse von Lohnarbeitern liegen, die Konkurrenz nationalis­tisch, rassistisch usw. zu besetzen oder sich ihr qua antisemitischer Ideologie phantasmatisch entziehen zu wollen.

Sicherlich gab es in der Geschichte der Arbeiterbewegung auch so etwas wie eine transzendierende Sehnsucht nach Befreiung vom Joch der Konkurrenz, nach einer solidarischen Gesellschaft jenseits des modernen Systems. Diese überschießenden Momente mussten jedoch unabgegolten bleiben, eben weil sich die bisherigen sozia­len Bewegungen der Moderne nicht zu einem Begriff dieser Transzendenz und daher auch nicht zu einem entsprechenden Handeln aufschwingen konnten.

Die verkürzte Kapitalismuskritik innerhalb der Formen des Kapitals selbst blieb notwendigerweise auch in den Verlaufsformen der Konkurrenz stecken. Das gegen­seitige Abschlachten der Lohnarbeiter in den Weltkriegen war daher kein Verrat und kein Verhalten gegen ihre ontologische Natur, sondern die Konsequenz ihrer affirmierten statt kritisierten Subjektform selbst. Weder die politischen Arbeiterparteien noch die Gewerkschaften (allein dieses Auseinanderfallen in eine politische und eine soziale Repräsentanz verweist schon auf die bürgerliche Form-Konstituiertheit der Arbeiterbewegung) konnten jemals eine solidarische Kraft über die Konkurrenzver­hältnisse hinaus entwickeln. Die Aufhebung der Konkurrenz blieb partiell und auf das Motiv der bürgerlichen Gleichstellung beschränkt, die Einbettung in die Konkur­renzverhältnisse als solche dagegen universell.

Wie schon im alltäglichen, institutionell regulierten Interessenkampf die sozialen Bewegungen von der Logik der Konkurrenz durchdrungen wurden, so auch in der Gewaltexplosion der Weltkriege zwischen den nationalimperialen Mächten. Dabei wurde das soziale Risiko der universellen Konkurrenz unmittelbar als Todesrisiko manifest und damit die letzte Konsequenz der modernen allgemeinen Subjektform sichtbar. Dasselbe kann über die Macht des Antisemitismus und die Niederlage der europäischen Arbeiterbewegung gegen Faschismus und Nationalsozialismus gesagt werden. Auch diese Katastrophe war eine Folge der Involvierung in das System der universellen Konkurrenz. Es besteht sogar ein direkter Zusammenhang zwischen der Fortsetzung der Konkurrenz durch die Weltkriege und durch das Aufkommen des Antisemitismus in allen Klassen und Schichten. Gewerkschaften, marxistische Parteien und selbst die radikale Linke waren nur gemacht für die Austragung des vermeintlich "rationalen" Interessengegensatzes in der Formhülle des warenproduzierenden Systems. Selbst die militante Zuspitzung des Kampfes verließ nie diesen Raum bürgerlicher Rationalität. Die Linke verschloss sich dem an sich irrationalen Charakter des Systems, und deshalb wurde sie auch in den Krisen regelmäßig vom machtvollen Ausbruch dieser Irrationalität überrollt. Während die Linke auch noch bei den schwersten Krisenbrüchen das gar nicht mehr realisierbare "rationale Interesse" in der bürgerlichen Form trotz des temporären ob­jektiven Zusammenbruchs dieser Form aufrecht erhalten wollte, machte der Antise­mitismus die Irrationalität des Interesses selbst als Ausgrenzungs- und Vernichtungs­willen geltend und gewann gerade dadurch machtvolle gesellschaftliche Wirkung.

Der Antisemitismus ist (im Unterschied zum gewöhnlichen Rassismus) nicht eine Besetzung der Konkurrenz neben anderen, sondern die ultima ratio der Konkurrenz in einer Situation, in der die immanent-scheinrationale Austragung der Konkurrenz ausweglos wird. In einer solchen Situation droht die allgemeine bürgerliche Subjekt­form selbst zu zerbrechen. Der Antisemitismus verspricht einen Ausweg, ohne diese gemeinsame Subjektform des Systems in Frage zu stellen, indem er das Problem irrational und mörderisch veräußerlicht. So kann er trotz und gerade wegen seiner intellektuellen Primitivität eine klassen-übergreifende Anziehungskraft auf eine gro­ße Masse von kapitalistisch konstituierten Individuen ausüben, vom Arbeitslosen bis zum Manager, vom landlosen Bauern der Dritten Welt bis zum Ölprinzen, vom Ma­schinenschlosser bis zum Investment-Banker, von der allein erziehenden Mutter bis zum Model, vom Sonderschüler bis zum akademisch gebildeten Intellektuellen.

Mit anderen Worten: Das antisemitische Syndrom bildet die letzte und äußerste krisen-ideologische Reserve des modernen warenproduzierenden Systems. Der Anti­semitismus lauert in der allgemeinen bürgerlichen Subjektform selbst; er wird regel­mäßig in den Einbrüchen der Krise abgerufen, und zwar umso massiver, je heftiger die Krise sich äußert. So war die Epoche der Weltkriege und der großen Weltwirt­schaftskrise mit einer beispiellosen Welle des Antisemitismus verbunden. In Deutsch­land, das in der spezifischen Geschichte seiner kapitalistischen Nationsbildung eine besonders aggressive, eliminatorische Version des antisemitischen Syndroms mit be­sonderer sozialer Tiefenwirkung ausgebrütet hatte, überflutete diese Welle die staatli­chen Institutionen selbst: Der Antisemitismus wurde hier in der Situation der Welt­wirtschaftskrise nicht bloß als Ventil für die angestaute soziale Aggressivität der Kon­kurrenzverhältnisse genutzt, sondern zur Staatsdoktrin erhoben und als Menschheits­verbrechen des Holocaust realisiert.

Keineswegs zufällig bildete der deutsche Nationalsozialismus gleichzeitig eine gesellschaftliche Formierung, in der sich der Todestrieb aus der leeren Form kapita­listischer Subjektivität heraus in einem bis dahin beispiellosen Ausmaß manifestierte. Denn die Logik des Antisemitismus und der inhärente Todes- und Vernichtungstrieb kapitalistischer Subjektivität liegen dicht beieinander; der latente irrationale Drang nach Weltvernichtung im metaphysischen Vakuum des Werts und seiner selbstzweckhaften Verwertungsbewegung drückt sich in der äußersten Zuspitzung als Vernich­tungswunsch gegen die Juden und gleichzeitig als Selbstvernichtungswunsch, als Wunsch nach der Vernichtung von physischer Existenz überhaupt aus.

Rein äußerlich, militärisch und machtpolitisch, haben die Nazis den Zweiten Welt­krieg verloren; aber in der bislang weitestgehenden Realisierung des im Innersten des Kapitals lauernden Weltvernichtungswunsches waren sie enorm erfolgreich in der Identität von fabrikmäßiger Judenvernichtung und organisierter Selbstvernichtung. Die auf oberflächliche bürgerliche Rationalität vergatterte Linke, die nicht an die Kritik der basalen kapitalistischen Formen herankam und daher auch nicht an die Kritik und Abschüttelung ihrer eigenen kapitalistisch konstituierten Subjektform, musste so notwendig auch die Leere dieser Form, die darin liegende dämonische Potenz der schieren Irrationalität und deren Vernichtungskonsequenz verfehlen, also auch das Wesen des modernen Antisemitismus.

Die Kehrseite dieses katastrophalen Defizits war nach dem Zweiten Weltkrieg der ebenso defizitäre frischfröhliche Antizionismus der Linken, der den Judenstaat nicht in seiner welthistorischen, weltkapitalistischen Dimension als Konsequenz des mo­dernen Antisemitismus erkennen wollte, sondern Israel unter das antiimperialistische Paradigma der nationalrevolutionären Bewegungen der Dritten Welt subsumierte, deren Kapitalismuskritik noch weitaus stärker verkürzt war als diejenige der westlichen Arbeiterbewegung.

Der Staat Israel und sein paradoxer weltkapitalistischer Status

Gewiss lassen sich dem Staat Israel, der selbstverständlich Bestandteil der kapitalistischen Weltökonomie ist, der Form nach alle negativen Attribute moderner Staatlichkeit und des modernen warenproduzierenden Systems zuweisen. Aber aufgrund sei­nes besonderen Charakters, weil er letzten Endes ein unfreiwilliges Produkt der Nazis und der Vernichtungslogik kapitalistischer Subjektivität in ihrer äußersten Zuspit­zung ist, enthält dieser Staat als erster, letzter und einziger ein entscheidendes Mo­ment der Rechtfertigung, das übrigens sämtlichen nationalrevolutionären Staatsbil­dungen der Dritten Welt (die ja auch samt und sonders sehr bald eine hässliche Fratze anzunehmen begannen) von vornherein abging. Es ist ein kapitalistischer Staat und somit ein Ausdruck kapitalistischer Subjektform, der aber gleichzeitig in paradoxer Verschränkung die äußerste Notdurft und Notwehr gegen die Konsequenz dieser Sub­jektform selbst darstellt.

Und natürlich lässt sich gegen den Zionismus, der ja ideell ein Produkt der europäischen nationalistischen Formierung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war, grund­sätzlich dieselbe Kritik vorbringen wie gegen den modernen Nationalismus überhaupt; allerdings nur, wenn man den spezifischen Kontext seiner Entstehungsgeschichte ig­noriert und ihn ganz abstrakt und isoliert als Nationalismus neben anderen Nationa­lismen betrachtet. Aber der Zionismus lag eben nicht auf derselben Ebene wie die übrigen Nationalismen. Er war vielmehr gerade ein sekundäres Produkt der leidvol­len jüdischen Erfahrung, dass die europäischen Nationen, und mit besonderem Nachdruck der Ausgrenzung Deutschland und Österreich, nicht zur Integration der Juden willens und fähig waren, sondern vielmehr den Antisemitismus als das Konstrukt des "Anderen" (der Alterität) benötigten, um sich selbst als positive nationale Identität setzen zu können.

Diese Setzung der Alterität nahm auch andere Ausdrucksformen an, so den kolo­nialen Rassismus und die kulturalistische Abgrenzung der europäischen Nationen untereinander; aber der Antisemitismus bildete die extremste Ausprägung. Was für den jüdischen Staat als Staat gilt, trifft somit auch für den zionistischen Nationalis­mus als Nationalismus zu: als Notwehr gegen den primordialen europäischen Natio­nalismus selbst und dessen antisemitische Setzung der Alterität kann er das, was er ist, nur in paradoxer Verschränkung mit seiner eigenen Negation sein.

Dasselbe gilt für die unzureichenden, das moderne warenproduzierende System nicht entscheidend transzendierenden sozialistischen Bestandteile des Zionismus. Diese blieben natürlich ebenso verkürzt und in ein nationalstaatliches Bezugssystem einge­bunden wie die Kapitalismuskritik der westlichen Arbeiterbewegung (aus deren Ge­dankenwelt die sozialistischen Elemente des Zionismus ja auch entlehnt waren) und erst recht der nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. In der Verbin­dung mit Staatsapparat und nationalem Pathos musste sich der zionistische Sozialis­mus wie die Arbeiterparteien der übrigen Welt an jene die europäische Nationalisie­rung begleitende sozialregulative Tendenz annähern, wie sie vom späten 19. Jahrhun­dert bis zum Zweiten Weltkrieg die allgemeine Entwicklungsgeschichte der kapita­listischen Zentren bestimmte; etwa in Gestalt des Bismarckschen Sozialstaats und später sozialdemokratischer Regierungsbeteiligungen, allgemein in der Herausbildung von Arbeits- und Sozialbürokratien, des Weifare-Staates usw. - eine Entwicklung, die bekanntlich in Proto-Formen fordistischer Regulation auch Faschismus und Natio­nalsozialismus kennzeichnete. Eine perfide Verdrehung ist es jedoch, dem Zionismus seinen Anteil an einer allgemeinen, übergreifenden Strukturentwicklung spezifisch anzukreiden und das verkürzte sozialistische Moment dabei in Verbindung zu brin­gen mit dem nationalen Sozialismus der Nazi-Mörder.

Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Hinsichtlich der sozialistischen Qualität des Zionismus (genauer: des so genannten Arbeiter-Zionismus) lässt sich sogar empi­risch ein besonderer emanzipativer Aspekt feststellen: In Gestalt der Kibbuzim nahm dieses Moment in Israel nämlich gerade nicht wie sonst überall eine repressiv-staats-kapitalistische, sondern eine selbstverwaltet-genossenschaftliche Form an, die nirgendwo auf der Welt eine ähnliche Bedeutung erlangen konnte. Selbstverständlich war auch diese Form noch an das warenproduzierende System gefesselt; sie enthielt jedoch im Anspruch der nicht-warenförmigen Binnenbeziehung, in ihren Aspekten der Reproduktion jenseits von Geld und Staat, ein darüber hinausweisendes Moment; wenn auch mit einer in vieler Hinsicht engstirnigen Gemeinschaftsideologie verbunden.

Alles, was sich gegen den Nationalismus im allgemeinen sagen lässt, trifft somit für den Zionismus nur bedingt und in paradoxaler Verschränkung mit seinem Gegen­teil zu. Israel ist trotz seiner quasi kolonialen Beziehungen und Verhältnisse in der nahöstlichen Weltregion kein wesentlich koloniales Projekt, wie es im selber längst bankrotten nationalrevolutionären Diskurs der Dritte-Welt-Bewegungen immer wieder bezeichnet worden ist, sondern es ist wesentlich ein Not- und Rettungsprojekt ange­sichts des mit der modernen Subjektform verbundenen antisemitischen Syndroms.

Deshalb kann von einem emanzipatorischen Standpunkt aus Israel auch nicht der Prozess gemacht werden, weil es faktisch seine Gründung wie seine Weiterexistenz und militärische Absicherung dem westlichen Ölimperialismus verdankt. Genau umgekehrt muss gesagt werden, wie beschämend und bedrückend es ist, dass das Existenzrecht Israels keine andere Garantie hat als diese niederträchtige; beschämend gerade für die Linke in aller Welt, die nie imstande war, diesem Existenzrecht eine bessere Garantie oder auch nur Hilfestellung zu geben, ja dieses Existenzrecht nicht einmal selber grundsätzlich anerkennen wollte. Die verkürzte, bloß oberflächliche, unreflektiert in der kapitalistischen Subjekt- und Interessenform agierende Kapitalis­muskritik von Arbeiterbewegung, nationaler Befreiungsbewegung und bisherigem Linksradikalismus ist historisch selber eine Bedingung dafür, dass Israel notgedrun­gen sein Existenzrecht nicht anders erlangen konnte als in der Anlehnung an den westlichen Ölimperialismus.

Genau diese Art der Garantie ist jedoch äußerst widersprüchlich und damit unsi­cher. Der "ideelle Gesamtimperialismus" des Westens stützt die Existenz Israels nicht aus einem Bewusstsein über den wirklichen Zusammenhang von Antisemitismus und Zionismus heraus, der ihm vielmehr völlig gleichgültig ist. Mehr noch: Weil gleich­zeitig der Antisemitismus die letzte ideologische Reserve des Systems bildet, fallen das öl-imperialistische Motiv einerseits und das Motiv der ideologischen "Krisenbe­wältigung" qua Duldung oder sogar Entfesselung des antisemitischen Syndroms als nicht zu vermittelnder Widerspruch auseinander.

In einer zugespitzten Weltsituation ist es durchaus nicht undenkbar (wenn auch keineswegs aktuell abzusehen), dass der "ideelle Gesamtimperialismus" Israel fallen lässt und im Hinblick auf seine inneren Widersprüche das antisemitische Ventil öff­net. In demselben Maße übrigens, wie das westliche Augenmerk sich auf die kaspischen Ölreserven richtet, droht auch auf dieser Ebene des vulgären Interesses die prekäre Garantie für das Existenzrecht Israels zu verfallen. Eine weitere Variante der Abkehr von Israel könnte darin bestehen, dass der Westen im Falle einer den Weltka­pitalismus existentiell bedrohenden Ölkrise (etwa durch akute Destabilisierung und drohenden Umsturz in den Ölmonarchien) Israel den arabischen finanzkapitalisti­schen Feudalmonstern zum Fraß vorwirft, um seine Weltwirtschaft zu retten.

Das Ende der "nationalen Befreiungsbewegungen" und der Spuk der palästinensischen Staatsgründung

Die linke, antiimperialistische Kritik des Zionismus (der Begriff der Kritik ist hier eigentlich unpassend; eher handelt es sich um einen schwelenden Hass, der sich vielleicht gerade auch aus einer Ahnung vom zweifelhaften Charakter der eigenen Motive speist) musste so an der wahren Natur des Problems völlig vorbeigehen. Al­les, was die nationalrevolutionären so genannten Befreiungsbewegungen der Dritten Welt gegen den Zionismus vorbringen konnten, galt erstens in potenzierter Form für sie selbst; und zweitens ermangelten sie gänzlich jener tieferen Dimension der Recht­fertigung, wie sie dem Zionismus aus der weltkapitalistischen antisemitischen Potenz und speziell aus dem deutschen Menschheitsverbrechen zuwachsen musste. Die im übrigen, wie sich längst herausgestellt hat, illusionäre Legitimierung einer eigenstän­digen nationalökonomisch-nationalstaatlichen Teilhabe als Subjekt des Weltmarkts war nicht nur viel schwächer als die zionistische, sondern auch von Anfang an überall in der Dritten Welt (und egal in welcher ideologischen Einfärbung) mit repressiven staatskapitalistischen Zwangsverhältnissen und jenen Ausgeburten eines zutiefst anti-emanzipatorischen "Führer-Kults" verbunden.

Nachdem unter den Bedingungen von dritter industrieller Revolution und Globa­lisierung das Paradigma antiimperialistischer "nationaler Befreiung" gegenstandslos geworden ist und die entsprechenden Regimes oder Bewegungen selber längst in barbarische Zersetzungsprozesse übergegangen sind, hat sich auch der dazugehörige linke und marxistische Diskurs erledigt, oder er nimmt in Bezug auf den Zionismus und auf die Kapitalismuskritik offen antisemitischen Züge an und entfernt sich gänz­lich von den ursprünglichen emanzipatorischen Intentionen: eine Entwicklung, wie sie allerdings schon immer latent im kategorial verkürzten und schlecht immanenten Verständnis des antiimperialistischen und sozialistischen Denkens angelegt war und jetzt in seinem Scheitern manifest wird.

Das jämmerliche Ende des antiimperialistisch-nationalrevolutionären Paradigmas in der Globalisierung zeigt sich an vielfältigen Erscheinungsformen der moralischen Verwahrlosung und Barbarisierung der am Weltmarkt gescheiterten Entwicklungsre­gimes, an der Verwandlung von übrig gebliebenen Führern der ehemals linken Gue­rilla in gewöhnliche Warlords der Plünderungsökonomie, in Drogenbarone, Löse­geld-Erpresser usw. Dort, wo der Anspruch einer nationalrevolutionären Staatsbil­dung uneingelöst geblieben ist, aber dennoch aufrecht erhalten wird, obwohl die welt­kapitalistische Entwicklung längst darüber hinausgegangen ist, nimmt die Verwilde­rung und Verwahrlosung des absurd gewordenen Anspruchs besonders drastische und hässliche Formen an.

Das gilt wiederum ganz unabhängig von den jeweiligen staatlichen Besonderhei­ten oder kulturellen Differenzen, zum Beispiel für die Bewegung der Kurden ebenso wie für die tschetschenischen Aufständischen oder die tamilischen Separatisten, um nur einige zu nennen. Die barbarische Repression durch selber völlig instabile, vom Weltmarkt überrollte ex-imperiale Großstaaten wie die Türkei und Russland oder durch ein Ethno-Regime wie das singhalesische in Sri Lanka lässt sich dadurch ebenso wenig rechtfertigen wie die nicht minder barbarischen Zugriffe der neuen gesamtimperialen Weltpolizei. Aber die "nationalen Befreiungsbewegungen" bilden unter den veränderten Weltverhältnissen keine Alternative mehr, nicht einmal eine illusorische; was eben nur heißt, dass keine "Modernisierung" mehr mit emanzipatorischem An­spruch besetzt werden kann, weil es auf dem Boden des modernen warenproduzie­renden Systems und seiner Ausgeburt der Nationalstaatlichkeit keine Entwicklung mehr gibt, sondern nur noch gesellschaftliche Desintegration und Barbarei.

Diese veränderte historische Situation wird an keinem der unverwirklicht geblic­henen, dem Überhang der alten Epoche zugehörigen nationalrevolutionären Projekte so deutlich wie gerade dem palästinensischen, das mit Israel in feindlicher Intimität auf paradoxe Art verbunden ist. Sind schon die realisierten Staatsgründungen der einstmals mit mehr bürgerlich-aufklärerischen als kommunistischen Idealen aufgela­denen Trikont-Bewegungen inzwischen am Weltmarkt und damit an ihrer eigenen bürgerlichen Verfasstheit und Subjektform gescheitert, so nimmt das irreal geworde­ne palästinensische Projekt jenseits dieses Realisierungs-Horizonts geradezu schau­erliche Züge an. Es ist das Zombie-Projekt einer toten Epoche, das kein überschie­ßendes emanzipatorisches Moment mehr besitzt, sondern nur noch als bösartiger Wiedergänger spukt.

Der Spuk der PLO, verkörpert in Jassir Arafat als der tragischen Figur eines histo­rischen Untoten, verweist allerdings auf den an sich immer schon negativen Charak­ter vermeintlich emanzipatorischer nachholender moderner Staatsbildungen. Nach­dem im Zuge der kapitalistischen Globalisierung diese Illusion endgültig verflogen ist, wird auch empirisch deutlich, dass das "Recht auf einen eigenen Staat" oder das "Recht auf Staatsgründung" das genaue Gegenteil von sozialer Befreiung darstellt. Unter den Bedingungen des beginnenden 21. Jahrhunderts könnte sich diese Parole nur als das "Recht" entpuppen, "autonom" vor den Gesetzen der globalen kapitalisti­schen Verwertungslogik kapitulieren und den Prozess der sozialen Degradation ei­genständig vollstrecken zu "dürfen". Genauso gut könnte man das "Recht auf einen eigenen Konkursverwalter" oder das "Recht auf einen eigenen Folterknecht" von eigenem Ethno-Fleisch und Blut fordern.

Insofern bildet die Staatsvision der PLO tatsächlich einen der letzten Ausläufer der bürgerlichen Aufklärungsideologie, die sich zur Kenntlichkeit ihres zutiefst repressi­ven und destruktiven Gehalts entpuppt hat. Was die Palästinenser brauchen, ist kein "eigener Staat", sondern der autonome Zugang zu materiellen, sozialen und kulturel­len Ressourcen, die heute durch die Form "Staat" gerade im Namen des globalisier­ten ökonomischen Terrors mit ebenso harten wie sinnlosen Restriktionen belegt werden. Das Beharren auf der längst obsoleten nationalstaatlichen Option, bei den Be­wohnern Palästinas das späteste und daher in seiner Irrationalität am leichtesten historisch durchschaubare ideologische Konstrukt einer institutionellen und kultu­rellen Einkleidung des warenproduzierenden Systems, nimmt zutiefst pathologi­sche Züge an.

Der palästinensische Phantom-Staat ist folgerichtig der erste, der schon vor seiner offiziellen Gründung in den Prozess der Zersetzung und Verwesung übergegangen ist. Staatsbildung und Entstaatlichung fallen hier unmittelbar zusammen, ein histori­sches Paradoxon. Noch bevor sich ein übergreifender Staatsapparat mit eigener Legi­timation und Geschichte herausbilden konnte, treten Clan-Strukturen, Warlords und Mafia-Strukturen an dessen Stelle.

Gleichzeitig wird der palästinensische säkulare Staat schon vor seiner Gründung von der pseudo-religiösen Islamisierung überrollt. Als Überrest der laizistischen Modernisierungsimpulse steht die PLO auf verlorenem Posten. Die islamistischen Bewegungen von Hamas und Dschihad beginnen, ihr den Rang abzulaufen, und in­dem sie in diese Richtung zu Zugeständnissen gezwungen ist, verliert das Staatsgrün­dungsprojekt der PLO zusehends seine modernisierungs-politische Legitimation.

Was übrig bleibt, ist die blanke Irrationalität des blinden Hasses ohne jede gesell­schaftspolitische Perspektive. Das ideologische moderne Konstrukt des ethnopolitisch formierten "Volkes" erlebt in der palästinensischen Version seine grauenhafte Realdekonstruktion: Indem dieses konstruierte "Volk" sich in den abstrakten Univer­salismus des Religionskrieges flüchtet und indem es seine eigenen Kinder auf "Selbst­mordakademien" schickt, gibt es faktisch zu, dass es keine Hoffnung auf Zukunft mehr hat; dass es schon kein potentielles "Staatsvolk" mehr ist, sondern nur noch eine dumpfe Masse von ziellos Verzweifelten.

Auch diese palästinensische Version einer postmodernen Zerfallsgesellschaft, die schon keine Gesellschaft mehr ist, wird durchzogen von den Strukturen entgrenzter männlicher Gewalttätigkeit und der ,,Verwilderung des Patriarchats". Zwar stellt es einen Gipfel postmoderner "Chancen" -Individualisierung dar, dass inzwischen ver­einzelt auch halbwüchsige Palästinenserinnen ihr ungelebtes Leben als Selbstmordattentäterinnen wegwerfen (und es ist ein Gipfel in der Verwilderung des Patriarchats, dass sie von bärtigen Männern dazu ausgebildet werden). Aber dennoch bleibt auch die palästinensische Identität von Vernichtung und Selbstvernichtung im wesentli­chen diejenige männlicher Konkurrenz-Subjektivität.

In diesem Klima der absoluten Ziel- und Zukunftslosigkeit jenseits einer denkba­ren Nationsbildung ist auch der Antisemitismus, mit dem sich der palästinensische Hass längst aufgeladen hat (Nazi-Traktate aller Art zirkulieren im palästinensischen "Bildungswesen" ebenso wie die unsägliche Hetzschrift und primitive Fälschung der so genannten "Protokolle der Weisen von Zion" usw.), von anderer Natur als der euro­päisch-deutsche. Im Prozess der nationalen Konstitution, der besonders beim historischen Nachzügler Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert mit einer ethno-kul-turalistischen und biologistischen, auf Herder und Fichte zurückgehenden Ideologie des "Völkischen" einherging, bildete der (in Deutschland und Österreich eliminatorische) Antisemitismus das Ferment dieser "völkischen" Formierung des Nationalstaats indem er die Juden als negative Alterität konstruierte.

Aber in der palästinensischen Version kann dieses Ferment gar nicht mehr wirken auch nicht mit einer anderen kulturellen Konnotation, weil die staatliche Entbindung des palästinensischen Nationalkonstrukts im Zeitalter von Globalisierung und Kri­senkapitalismus nur eine Totgeburt sein kann. Die "völkische" Formierung zerfällt schon in ihre postnationalen (in diesem Fall islamistischen) Zersetzungsprodukte, bevor sie überhaupt institutionell greifen konnte. Der Antisemitismus in der aktuellen palästinensisch-arabischen Version, der keine gesellschaftlich formierende Kraft mehr besitzt, wird direkt und damit weitaus offener als bei den Nazis zum Moment des Todestriebs völlig desorientierter kapitalistischer Subjektivität; er erscheint deshalb auch unmittelbar als die Wahnidee von Selbstmordattentätern.

Die physische Zerstörung der ohnehin dürftigen palästinensischen Infrastruktur durch die Kriegführung Scharons mag zur Legendenbildung eines "heroischen Kamp­fes" beitragen; allerdings bedurfte es nicht erst der Kriegsverbrechen der israelischen Armee und der gehässigen israelischen Zerstückelungspolitik in Bezug auf das po­tentielle palästinensische Territorium, um den Palästina-Staat bereits vor seiner Grün­dung vollständig zu ruinieren. An sich schon ist ein palästinensischer Staat aus eige­ner Kraft (sprich: Fähigkeit zur Teilnahme am Weltmarkt, nichts anderes zählt mehr) noch viel weniger lebensfähig als der israelische; noch nicht einmal auf gemeinarabi­schem Armutsniveau. Mangels realer Entwicklungsmöglichkeiten war der PLO-Ap-parat von Anfang an auf den Status eines Almosen-Empfängers der arabischen Liga (vor allem natürlich der Ölprinzen), der EU, der USA usw. (ungefähr in dieser Rei­henfolge) reduziert und ist als solcher nach zahllosen Zeugnissen von Korruption völlig ausgehöhlt. Vor der jüngsten Intifada waren bereits Schießereien und Auftrags­morde zwischen rivalisierenden Gruppen so alltäglich wie in anderen Zusammenbruchsregionen auch. Die innerpalästinensischen "Abrechnungen" der eigenen Barbarisierungsprodukte stehen der israelischen Repression kaum nach und sind erst durch die Kriegspolitik Scharons vorübergehend in den Hintergrund gerückt.

Dass nicht nur die Palästinenser selbst, sondern auch die EU, die USA und der westliche "ideelle Gesamtimperialismus", ja sogar teilweise die israelische Politik an der völlig obsoleten Staatsgründungs-Option für die Palästinenser festhalten, zeigt den Grad an Desorientierung und Wirklichkeitsfremdheit des gesamten offiziellen "Realismus" an. Niemand will wahrhaben, dass die alten, bürgerlich-aufklärerischen Formeln von Emanzipation, "Entwicklung", Demokratie usw. vollständig entwertet und ungültig geworden sind. Solange sich nicht eine qualitativ neue, radikal antikapi­talistische und ihrem Selbstverständnis nach von vornherein transnationale, poststaatliche soziale Oppositionsbewegung herausbildet, kann das Verhängnis der gesellschaft­lichen Auflösungs- und Selbstzerstörungsprozesse nur weiter seinen Lauf nehmen; in Palästina so buchstäblich selbstmörderisch und perspektivlos wie nirgendwo sonst. Die erschreckend hilflosen und begriffslosen Äußerungen der wenigen verbliebenen Vertreter kritischer Intelligenz im palästinensischen und gesamtarabischen Raum kön­nen daran nichts ändern, weil sie nur Ausdruck der Tatsache sind, dass bis jetzt nicht einmal die äußerste Not das Denken dazu bewegen kann, sich von den obsoleten Paradigmen des vergangenen Zeitalters zu lösen.

Israel als "Alien" der kapitalistischen Welt und der arabische Neo-Antisemitismus

Von dieser bitteren Diagnose ist allerdings Israel keineswegs auszunehmen. Das ist gerade deshalb umso tragischer, weil Israel eben nicht bloß ein Staat unter Staaten und ein Konkurrent des virtuellen palästinensischen Staates ist, sondern gleichzeitig ein auf die ganze Welt bezogenes Paradigma gegen den mit kapitalistischen Repro­duktionsformen untrennbar verbundenen Antisemitismus - und damit trotz seiner Involviertheit in das westlich-imperiale Gefüge gleichzeitig ein Widerstandspotential gegen die letzte krisenideologische Reserve des Weltkapitals. Die schiere Existenz Israels bildet eine Art Garantie dafür, dass sich der Marsch des warenproduzierenden Weltsystems in die Barbarei noch nicht vollenden kann; nicht weil dem Staat Israel an sich eine besondere metaphysische Qualität innewohnt, sondern genau umgekehrt deswegen, weil die israelische Realexistenz mit den letzten Konsequenzen der kapi­talistischen Realmetaphysik unvereinbar ist.

Insofern verlangt die (unfreiwillige) Bedeutung Israels im Hinblick auf die kapita­listische Weltkrise auch eine viel genauere Analyse, als sie etwa der palästinensischen oder jeder anderen Krisengesellschaft der Peripherie zukommt; denn es handelt sich bei der israelischen Entwicklung zwar um einen analogen Krisenprozess, der jedoch mit einer zusätzlichen, direkt das Schicksal der ganzen Welt mitentscheidenden Be­deutung aufgeladen ist.

Israel kann freilich als das, was es in seiner modernen staatlichen Existenz ist, überhaupt nur existieren, solange es selbst kein Bewusstsein über das weltgeschicht­liche Wesen dieser Existenz hat. Die Paradoxie dieser Existenz ist im kapitalistischen Dasein der jüdischen Menschen überhaupt angelegt: So unreflektiert wie alle anderen Alltagsmenschen (oder auf dem Gebiet des begrifflichen Denkens: so verkürzt wie alle anderen modernen Theoretiker) auch wollen sie in ihrer falschen Unmittelbarkeit zunächst nichts anderes als "arbeiten", ihr "Geld verdienen", "Wissenschaftler sein" usw. und sich irgendwie eine stinknormale kapitalistische Identität bilden. Der tief in der Moderne wurzelnde, mit der kapitalistischen Subjektform als solcher verwachsene Antisemitismus jedoch lässt dies nicht zu. Je normaler die jüdischen Individuen sein wollen, desto grausamer tritt ihnen die Fremddefinition entgegen, die sie als schlechthinnige Alterität bestimmt. Ihr schierer Wille zur Normalität fällt in eins mit der schieren Abnormität oder Monstrosität des Kapitalverhältnisses.

Der jüdische Konformismus, auch in seiner Staat gewordenen Form als Mitglied der scheinheiligen "Völkergemeinschaft" (sprich: der Konkurrenz- und Mordgemein­schaft von National- und Staatsungeheuern), ist immer schon damit konfrontiert, in all seiner sogar überdeterminierten Anpassungsleistung gleichzeitig a priori als "Alien" gesetzt zu sein. Diese Verungeheuerlichung des Jüdischen, wie sie dämonisch 'den zerreißenden Selbstwiderspruch kapitalistischer Subjektivität darstellt, geht weit über alle "normalen" Konkurrenzverhältnisse, Rivalitäten, Rassismen und auch die kolonialistische kulturelle "Exotisierung" hinaus.

In allen diesen Negativbeziehungen und Setzungen von Alterität erkennt sich doch die kapitalistisch formierte Menschheit in ihrem bürgerlichen, negativen Menschsein durch alle Auseinandersetzungen hindurch wieder. Der Antisemitismus jedoch ist das Andere der Konkurrenz selbst: Er setzt eine absolute Fremdheit, die nichts anderes ist als die gesellschaftliche Selbstentfremdung des warenproduzierenden Wesens, das als metaphysisches Subjekt der leeren Wertform nicht von dieser Welt und doch in dieser Welt ist; und er veräußerlicht diese absolute Selbstentfremdung in Gestalt des Juden als des schlechthin Anderen und unversöhnbar Fremden, also auch des nicht mehr politisch Vermittelbaren und Befriedbaren.

Das gilt auch für den Staat Israel als Staat. So können die Israelis nur Staatsvolk und Staat unter Staaten sein, indem sie gleichzeitig für alle anderen das absolut Ande­re als abstrakte Negativität darstellen, ob sie wollen oder nicht. Dieser Zusammen­hang ist von jüdischen Autoren innerhalb wie außerhalb Israels immer wieder in aller Schärfe benannt worden, so von Nathan Glazer 1975: "Juden haben meistens so sein wollen wie alle anderen. Sogar die Gründung des Staates Israel erfolgte ironischer­weise in dem Bestreben, Juden so sein zu lassen wie alle anderen auch: Sie würden nun einen Staat haben, wären nicht mehr länger ein sonderbares, heimatloses Volk, sondern ein Volk wie alle anderen. Aber es ist anders gekommen. Israel hat den be­sonderen Status der Juden verstärkt, nicht vermindert. Kein anderer Staat weiß so sehr, dass ein verlorener Krieg seine Zerstörung und sein Verschwinden bedeuten würde" (zit. nach: Eisenstadt 1987/1985, 576).

Dabei muss allerdings unterschieden werden zwischen dem "besonderen Status" der Juden im Sinne der welthistorischen und weltpolitischen Stellung des Staates Israel im Kontext des modernen Antisemitismus und seiner gesellschaftlichen Funk­tion einerseits, und dem spezifischen, unmittelbar feindlichen Konkurrenz-Verhältnis zu sämtlichen arabischen Nachbarn andererseits, das keineswegs von vornherein mit dem modernen (primär westlichen) Antisemitismus verbunden war. Deshalb ist die arabische Feindschaft gegen Israel zumindest in ihren Anfängen nicht unmittelbar gleichzusetzen mit dem weltgesellschaftlichen "besonderen Status" der Juden oder gar dem eliminatorischen Antisemitismus der Nazis.

Ursprünglich bezieht sich die Nichtanerkennung Israels bei den Arabern (gerade dort, wo sie offiziell ist) nur auf die staatliche Existenz, nicht auf die physische oder soziale Existenz der Menschen. Mit anderen Worten: Den Juden in Palästina wird (in Umkehrung des palästinensischen Problems) das "Recht auf einen eigenen Staat" aberkannt, nicht das Lebensrecht. Sie sollen als Bürger eines phantasierten palästi­nensisch-arabischen Staates leben, der Intention nach ebenso subaltern und in "Home-lands" eingepfercht wie jetzt umgekehrt die Palästinenser unter israelischer Staats­herrschaft. Was natürlich bedeuten würde, dass es kein Israel als Zufluchtsort für die Verfolgten des globalen Antisemitismus mehr gäbe. Aber diese Seite des Problems hat die palästinensisch-arabische Seite sowieso nie interessiert. Die palästinensischen Vertreter sprechen bestenfalls von sich als den "Opfern der Opfer", ohne den Kontext der kapitalistischen Weltgesellschaft und ihrer destruktiven Widersprüche reflektie­ren zu wollen.

Aber diese Haltung ist eben zunächst noch nicht dasselbe wie der eliminatorische Antisemitismus der Nazis oder überhaupt der westliche Antisemitismus. Die Juden sind im arabisch-islamischen Raum ursprünglich nicht als die absolute Alterität im Nations-, Staatsbildungs- und Modernisierungsprozess gesetzt. Bis heute gibt es in den meisten nahöstlichen Ländern jüdische Gemeinden mit Synagogen und relativ unbehelligten Existenzmöglichkeiten, auch in der islamistischen Republik des Iran. Der natürlich vorhandene Migrationsdruck in Richtung Israel ist nicht großen Verfol­gungswellen geschuldet, sondern entstammt anderen (kulturellen und vor allem sozi­alen) Motiven. Selbst beim gegenwärtigen Stand der Hass-Eskalation würde eine militärische Niederlage Israels wahrscheinlich außer zum Verlust seiner staatlichen Existenz zwar auch zu traditionellen Rache-Gemetzeln, Plünderungen und Vertrei­bungen führen, was grauenhaft genug wäre, nicht aber zum fabrikmäßigen Juden­mord nach dem Muster der Nazis, der eben nicht das Resultat eines typischen moder­nen Interessenkonflikts an der Reibungsfläche realer Gegensätze war, sondern direkt aus dem Inneren der allgemeinen kapitalistischen Subjekt-Metaphysik kam - also auf einer ganz anderen Abstraktionsebene sich vollzog, und der gerade deswegen so ex­trem und leidenschaftslos durchgeführt wurde. Die Singularität von Auschwitz wird durch die arabische Judenfeindschaft nicht aufgehoben.

Wenn sich das palästinensisch-arabische Hasspotential gegen Israel inzwischen tatsächlich mit Momenten des importierten europäisch-westlichen Antisemitismus und dessen gesellschaftlicher Funktion als Krisenideologie auflädt, etwa in der Hetze palästinensischer Medien und im "Bildungswesen" der Autonomiebehörde, so ist dies weniger dem realen Gegensatz der hautnahen Interessen-Auseinandersetzung um Land. Wasser usw. geschuldet, sondern vielmehr dem negativen Aufgehen beider Konflikt­parteien im destruktiven Prozess der kapitalistischen Globalisierung, der die interessenmäßige Realität des Konflikts irreal oder surreal und die Subjektform sämtlicher Interessen obsolet macht.

Aber sogar beim modernen Antisemitismus kommen die Araber als Bestandteil der kapitalistischen Welt gewissermaßen zu spät. Sie können diese krisenideologi­sche Reserve nicht mehr wie die Nazis als gesellschaftlichen Formierungsprozess mobilisieren. Die antisemitische irrationale Welt- und Krisenerklärung kann unter den Bedingungen der Globalisierung nirgendwo mehr eine staatliche Form als orga­nisiertes Vernichtungsprogramm im gesellschaftlichen Maßstab annehmen, schon gar nicht in Palästina. Eben deswegen ist der eliminatorische Impuls dabei gleichzeitig unmittelbar auto-aggressiv (Selbstmordattentäter); er vermischt sich praktisch mit den elementaren kapitalistischen Konkurrenzverhältnissen der materiellen Reproduktion vor Ort und ideologisch mit den religionspolitischen Zerfallsprodukten von Staatlich­keit: auch dies ein Unterschied zu den Nazis; ganz abgesehen von der Differenz zwi­schen Erster und Dritter Welt, die auch im formell homogenen Raum der Globalisie­rung erscheint und die ideologischen Muster färbt.

Vom Zionismus zur Herrschaft der Ultras: Die innere Krise der israelischen Gesellschaft

Israel seinerseits wird als kapitalistischer Staat unter kapitalistischen Staaten nicht nur die absolute Alterität nicht los, sondern durchläuft gleichzeitig im planetarischen kapitalistischen Raum dieselben Krisenprozesse wie alle anderen Staaten auch; und aufgrund seiner prekären, alimentierten ökonomischen Existenz mit im Vergleich zum Westen besonderen Gefährdungspotentialen. Da Israel jedoch, um kapitalistischer Staat sein zu können, seine wahre Legitimation selber nicht wissen darf oder nur in einer ganz äußerlichen Weise (zwar positiv als Zufluchtsort für die vom Antisemitismus verfolgten Juden, aber nur mit einem selber äußerlichen, verkürzten Verständnis von der Natur dieses Antisemitismus), muss es ebenso regressiv und bösartig auf die Kri­se reagieren wie alle anderen, von denen es als die absolute Andersheit definiert wird: Der jüdische Drang nach bürgerlicher Normalität reproduziert sich auch in der nega­tiven Form. Das als Alterität gesetzte Israel kann zwar natürlich nicht den Antisemi­tismus als letzte innere Reserve bürgerlicher Subjektivität mobilisieren, aber es ist in Wahrheit dennoch in dieser Welt und von dieser Welt, integraler Bestandteil ihrer Entwicklung und damit auch ihrer Entwicklung zur Barbarei.

Die aufgezwungene Alterität macht Israel nicht zur positiven historisch-gesell­schaftlichen Alternative und seine Menschen nicht zu anderen Menschen. Bleibt der antiarabische Rassismus im Westen eine rassistische Äußerung neben anderen und ist nicht dafür geeignet, in der drohenden Selbstzerstörung des bürgerlichen Subjekts als Projektion der Selbstentfremdung auf ein äußeres Objekt zu dienen, so muss er in Israel als Notbehelf und Ersatz für die dort nicht mögliche antisemitische Krisenform kapitalistischer Subjektivität dienen. Insofern geht Israel seinen eigenen Weg in die Barbarei, der sich allerdings in seinen Erscheinungsformen von dem der arabischen feindlichen Nachbarn kaum unterscheidet.

Wie überall in der Welt erweist sich auch in Israel die reaktionäre religionspoliti­sche Mobilisierung als genuines Zersetzungsprodukt kapitalistischer Subjektivität und Staatlichkeit; hier eben mit antiarabischen Projektionen aufgeladen. Und auch in Is­rael hat der dem Globalisierungsprozess folgende Barbarisierungsprozess eine Vor­geschichte; genauer gesagt: Es werden alte und in der Vergangenheit scheinbar verblasste innere Gegensätze neu besetzt und gerade in diesem speziellen Fall aggressiv mit den äußeren amalgamiert. Der führende israelische Soziologe und Historiker Shmuel N. Eisenstadt (Hebräische Universität Jerusalem) hat Mitte der 80er Jahre eine umfassende Untersuchung über "Die Transformation der israelischen Gesellschaft" (Eisenstadt 1987/1985) vorgelegt, die in dieser Hinsicht als äußerst aufschlussreich gelten kann.

Entscheidend ist dabei der Umstand, dass der säkulare Arbeiter-Zionismus von Anfang an in den jüdischen Gemeinden sowohl der verschiedenen Weltregionen als auch innerhalb des Staates Israel auf den erbitterten Widerstand der orthodoxen und ultra-orthodoxen Religiösen stieß. Tatsächlich haben die Ultra-Orthodoxen (die so genannten Haredim), in Israel keineswegs eine kleine Minderheit, den jüdischen Staat bis heute so wenig anerkannt wie die militantesten Palästinensergruppen und islami­schen Staaten. Dieser innerjüdische Konflikt geht weit zurück; er speiste sich stets aus dem Affekt der klerikalen Reaktionäre gegen die moderne Verweltlichung und innerkapitalistische Interessenpolitik - gewissermaßen die jüdische Version der "mo­dernen Antimoderne", also der bloß regressiven und autoritären bürgerlichen Gegen­aufklärung ohne jedes Moment emanzipatorischer Kritik.

Im Unterschied zur westlichen Welt gingen diese reaktionär-autoritären Kräfte je­doch in Israel nicht einfach als rechtsradikale Strömung in der bürgerlichen Politik auf. Sie bildeten zwar Parteien und nahmen an der Politik teil, jedoch auf eine ganz äußerliche und rein taktische Weise, während sie im Prinzip antistaatlich blieben. Antistaatlich jedoch natürlich nicht in irgendeinem Sinne anarchischer Emanzipati­on, sondern einzig und allein als Programm einer direkten Unterordnung des Lebens unter den spezifisch religiösen Fetischismus mit einer quasi-religionspolitischen Mobilisierung.

Wie aus der Untersuchung Eisenstadts hervorgeht, wurden die Ultra-Orthodoxen im Laufe der israelischen Entwicklung zunächst als eine Art Dinosaurier des Juden­tums betrachtet, die irgendwann aussterben würden. Unter dem Eindruck des Holo­caust erhielten sie als Einwanderer weit reichende institutionelle Zugeständnisse, da­mit sie trotz ihrer Ablehnung des Staates Israel in diesem Staat leben konnten. Das alles musste nicht als schwerwiegend und verhängnisvoll erscheinen, solange sich listen sich auch mit der ethnopolitischen "Orientalisierung" zu verbinden begann: ein Gebräu von religiösem Fundamentalismus, extremistischem Nationalismus und Ethnopolitik in einer einzigen Mixtur; geradezu ein Musterbeispiel von zerstörerischer Barbarisierungspolitik in Krisenzeiten.

Mindestens ebenso problematisch ist die Anreicherung der israelischen Gesell­schaft mit einem zweiten, anders motivierten rassistischen Potential; nämlich durch die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geradezu lawinenartige Immigration aus Russland und den GUS-Staaten: "Tagtäglich kann man auf dem Ben-Gurion-Flughafen eine Aeroflot- oder eine Transaero-Maschine sehen, die eine Ladung Im­migranten aus den untersten Schichten der ehemaligen Sowjetunion abliefern" (Kampf­ner 2002). Der "jüdische" Charakter, ohnehin wie alle anderen Ethno-Definitionen ein historisches Konstrukt und wie der Staat Israel selbst nur durch den weltweiten Antisemitismus legitimiert, ist bei vielen dieser Immigranten eher zweifelhaft; sind doch die Zustände in der ex-sowjetischen Zusammenbruchsgesellschaft vielerorts derart grauenhaft, dass selbst die Migration in das bedrohte Israel als sozialer Ausweg erscheint. Gemäß dem israelischen Rückkehrgesetz müssen die Immigranten "bele­gen, dass sie einen jüdischen Großelternteil haben. Entsprechende Papiere kann man sich in den meisten exsowjetischen Städten jederzeit gegen Geld beschaffen" (Kampfner 2002). Ähnlich wie bei der Migration der so genannten deutschstämmigen Russen in die BRD zeigt sich hier die Zweifelhaftigkeit und Doppelbödigkeit "ethnischer" Kriterien überhaupt; diese sind stets nach zwei Seiten hin rassistisch besetzbar, so­wohl im einschließenden als auch im ausschließenden Sinne.

Die immigrierten Russen wirklicher oder gefälschter jüdischer Herkunft, meistens aus der russischen Unterschicht der so genannten "Sows" stammend, haben das Profil der israelischen Gesellschaft weiter verändert: "Heute stellen sie ein Sechstel der Gesamtbevölkerung. Über Generationen geprägt durch die sowjetische Diktatur und entsprechend mental konditioniert, wissen diese Sows über Israel nur wenig und über die Araber überhaupt nichts. Während sie früher die .Schwarzen' aus den mittelasia­tischen oder transkaukasischen südlichen Sowjetrepubliken hassten, richten sie ihren Hass nunmehr auf die Palästinenser und auf die muslimischen Länder, die Israel um­geben.. . Die einzigen Sows, die regelmäßig Kontakt mit den Palästinensern pflegen, sind die organisierten Kriminellen, die so lukrativen Tätigkeiten nachgehen wie der Hehlerei mit gestohlenen Autos oder Waffenschmuggel ins Westjordanland und in den Gaza-Streifen. Die Waffen bekommen sie von israelischen Soldaten, die damit ihren Drogenkonsum finanzieren" (Kampfner 2002).

Praktisch alle der immigrierten "Sows" sind konsequent säkular ausgerichtet und haben mit dem religiösen Wahn der Ultra-Orthodoxen nichts am Hut. Aber sie haben den säkularen Teil der Israelis eben nicht im emanzipatorischen Sinne verändert. Denn was sie mitbringen und neu orientieren, ist der ganz gewöhnliche säkulare Rassismus kapitalistischer Unterschichten, der mit dem religiös motivierten widersprüchlich verschmilzt: "Es ist nicht die Religion, die sie antreibt. Die meisten Sows haben kei­ne. Sie bilden mit anderen Gruppen der israelischen Gesellschaft eine zufällige und unheilige Allianz, die die politische Landschaft stark verändert hat" (Kampfner 2002).

Zusätzlich verschärfend musste wirken, dass Israel als integraler Bestandteil der kapitalistischen Weltgesellschaft gleichzeitig natürlich deren ökonomischer und ide­ologischer Mainstream-Tendenz unterworfen ist. Unter der globalen Ägide des Neo­liberalismus mit den grundsätzlichen Vorgaben von Privatisierung, Deregulierung und Globalisierung mussten alle sozialistischen Momente des Zionismus ihre Bindekraft einbüßen. Insbesondere die Idee der Kibbuzim wurde weder intellektuell noch prak­tisch zeitgemäß erneuert, sondern erlebte einen quantitativen und substantiellen Ver­fall. An die Stelle der engen Gemeinschaftsideologie trat keine weitergehende Kritik der kapitalistischen Subjektform, sondern wie überall in der Welt die schrittweise Kapitulation vor den beiden eng miteinander verbundenen postmodernen Erschei­nungen von abstrakter Individualisierung qua Markt- und Konkurrenzzwang einerseits und militantem Religions- bzw. Ethno-Kulturalismus andererseits.

In vordergründig politischer Hinsicht führten alle diese Entwicklungen schon bald zu einer völligen Verschiebung der israelischen Machtverhältnisse: Der säkulare Ar­beiter-Zionismus wurde mehr und mehr an die Wand gedrückt; es kam zu einem ,,anfangs langsamen, aber kontinuierlichen Aufstieg von Gachal, dem späteren Likud-Block" (Eisenstadt, a.a.O., 526), der politischen Mitte der reaktionär-barbarisierenden Tendenz mit einem ganzen Kometenschwarm von ultra-religiösen, ultranationalistischen und ethno-politischen Parteien, Splittergruppen, Sekten und fanatischen Kampforganisationen, die heute mindestens das Zünglein an der Waage für Regie­rungsbildungen sind: "Die Likud-Regierung von Ariel Scharon stützt sich auf sowje­tische Einwanderer, sephardische Juden und Ultraorthodoxe" (Kampfner 2002).

Diese Tatsachen der gesellschaftspolitischen Entwicklung Israels werfen erst recht ein grelles Licht auf die unheimliche Ignoranz des traditionellen linken "Antiimperi­alismus": Während dieser weiterhin seine "antizionistischen" (immer schon und heu­te bis zur Kenntlichkeit antisemitisch aufgeladenen) Parolen brüllt, ist der säkulare Arbeiter-Zionismus in Wahrheit von den antizionistischen reaktionären und postmodern-antizivilisatorischen Kräften Israels selbst längst überrollt worden. Auch in die­ser Hinsicht ist der "nationalrevolutionäre" Antiimperialismus nur noch anachronis­tisch. Der Aufstieg des Likud-Blocks ging mit einer systematischen Delegitimierung des ursprünglichen zionistischen Denkens einher und war nahezu identisch mit ei­nem doppelten, sowohl nach außen wie nach innen gerichteten Zersetzungsprozess der israelischen Gesellschaft.

In der Orientierung nach außen verwandelte sich die defensive Haltung gegenüber den Arabern in militante Feindseligkeit, kulturalistische Arroganz und aggressive Eroberungsideen. Diese ideologische Ausrichtung der rapide an Einfluss gewinnen­den Ultras schlug sich praktisch in einem neuen, rechtsextremistisch formierten Siedlungsprogramm nieder. Die 1974 gegründete Gush Emunim ("Block der Gläubigen") predigte ein neues, nicht mehr sozialistisches, sondern religiös-nationalistisches "Pionier"-Ideal mit dem Ziel, die arabischen Einwohner zu vertreiben und letzten Endes die besetzten Gebiete Israel einzuverleiben: "Die Siedlungspolitik in Judäa und Samarien schlug tatsächlich neue Richtungen ein, nachdem die Likud-Regierung an die Macht gekommen war... Der Siedlungsprozess unter den Likud-Regierungen wies einige typische Merkmale auf. Das erste davon war sein enormes Ausmaß. Während in der Zeit von 1967 bis 1977 rund vierzig neue Siedlungen gegründet worden waren, entstanden von 1976 bis 1983 fast doppelt so viele... Das zweite Merkmal des Sied­lungsprozesses unter den Likud-Regierungen betraf die Lage der neuen Siedlungen. Während der Zeit des Arbeiterblocks hatte man Siedlungen in Gebieten errichtet, die keine oder nur sehr wenige arabische Einwohner aufwiesen... Die Ortswahl für neue Siedlungen veränderte sich dann weitgehend unter den Likud-Regierungen. Ziel war es nun, ein Maximum an jüdischer Präsenz in allen Teilen der Westbank zu schaffen. Statt Gebiete mit dichter arabischer Bevölkerung auszusparen, bevorzugte man gera­de diese Bezirke für Siedlungsneugründungen und errichtete sogar Siedlungskerne in den großen arabischen Städten wie Nablus, Ramallah und Hebron. Die genaue Lage der neuen Siedlungen richtete sich nach der Identifizierung einer bestimmten Stätte mit einer biblischen Siedlung..." (Eisenstadt, a.a.O., 754 f.).

Diese Besiedelung folgte keinem universellen Ideal mehr wie der Arbeiter-Zionis­mus, also auch nicht einem impliziten Anspruch, dass Platz für alle Verfolgten sein soll und sich darüber hinaus alle Menschen überall niederlassen können, sofern dies nicht auf Kosten anderer geht. Ganz im Gegenteil repräsentiert Gush Emunim eine ethno-politische "Säuberungs" - und Enteignungspolitik mit einer völlig irrationalen (biblischen) Legitimationsgrundlage. Dabei machte der heutige israelische Regierungs­chef schon in den frühen 80er Jahren von sich reden: "Die allgemeine Siedlungspoli­tik ... stand unter der dynamischen Leitung von Ariel Scharon..." (Eisenstadt, a.a.O., 757). Es war deshalb kein Zufall, dass unter Scharons Führung als Verteidigungsmi­nister 1982 der erstmals rein aggressive, nicht von außen aufgezwungene Libanon-Feldzug geführt wurde, der in dem berüchtigten Massaker von Sabra und Schatila bei Beirut gipfelte: Dort ermordeten mit Israel verbündete christliche Milizen unter den Augen der israelischen Armee und mit offenbar stillschweigender Billigung von Scharon mehr als 800 palästinensische Zivilisten.

Nach innen ging die Rechtswende der israelischen Gesellschaft wie auch sonst in der Welt mit einem steigenden Grad von Korruptionsfällen und vor allem mit einer unversöhnlichen Spaltung einher, die bereits in den 80er Jahren zu einer immer ag­gressiveren rechten Gewaltrhetorik gegen die israelische Linke führte: "Diese Spal­tungstendenzen verbanden sich mit einem erheblichen Maß an zumindest verbaler Gewalt und Gesetzlosigkeit auf vielen Ebenen, die ... in zahlreichen Lebensberei­chen auch später anhielten. Dies zeigte sich im Alltagsverhalten, im Straßenverkehr und in der hohen Unfallrate. In engem Zusammenhang mit dieser Gewalt stand die zunehmende Intoleranz gegenüber Gegnern, einschließlich der Neigung, sie mit ex­trem abwertenden Bezeichnungen zu belegen. Diese Gefühle der Zwietracht und Feindseligkeit, die heftig zum Ausdruck gebracht wurden, fanden sich vor allem bei den Gruppen, die dem Likud nahe standen" (Eisenstadt, a.a.O., 745 f.).

Die Delegitimierung des Arbeiter-Zionismus ließ keinen Aspekt aus, weder die Kibbuzim noch der Gewerkschaftsverband Histadrut blieben verschont: "Von beson­derer Wichtigkeit waren die plötzlich ausbrechenden Hetztiraden ... gegen die Kib­buzim, dieses zentrale Symbol des zionistischen Modells..." (Eisenstadt, a.a.O., 735). Wie die Kibbuzim litt auch die Gewerkschaftsbewegung unter dem doppelten Druck von kapitalistischer Krise und neoliberaler Globalisierung einerseits und rechtsradi­kal-religionspolitischer Hetze andererseits: "Generell verlor die Histadrut mehr und mehr ihre Stellung als Partner der Regierung bei der Formulierung ihrer Wirtschafts­politik. Sie wurde oft ins Abseits gedrängt..." (Eisenstadt, a.a.O., 771). Nicht einmal die historische Rolle der zionistischen Hagana, des militärischen Kerns der israeli­schen Staatsgründung, wurde von diesem Prozess der Delegitimierung ausgenom­men: "Sogar die Geschichte des Kampfes gegen die Briten und für die Unabhängig­keit wurde umgeschrieben - vor allem mit dem Ziel, die Rolle der Hagana bei all diesen Vorgängen herunterzuspielen" (Eisenstadt, a.a.O., 767).

Am Ende seiner Untersuchung gibt Eisenstadt der Hoffnung Ausdruck, dass Israel trotz dieser Entwicklung zu einem neuen "dynamischen Gleichgewicht" finden und die selbst zerstörerischen Tendenzen überwinden könnte. Leider haben die 90er Jahre das genaue Gegenteil bewiesen. Die Ermordung von Ministerpräsident Jitzhak Rabin im November 1995 durch einen jungen religiös-nationalistischenjüdischen Fanatiker bildet nur die Spitze eines Eisbergs, an dem Israel durch seine eigene fundamentalis­tische Barbarisierung zu scheitern droht. In dieser Hinsicht liest sich die Untersu­chung von Michael Karpin und Ina Friedman, "Der Tod des Jitzhak Rabin" (1998), im Original unter dem Titel "Murder in the Name of God" erschienen, wie eine un­heilvolle Fortsetzung der Analyse von Eisenstadt. Karpin und Friedman, die zu den bekanntesten israelischen Journalisten zählen, zeigen in über weite Strecken scho­nungsloser Offenheit, wie weit die religiös-fundamentalistische und rechtsradikal­nationalistische Zersetzung der israelischen Gesellschaft inzwischen fortgeschritten ist, und zwar wiederum nach außen wie nach innen. Dass mit Rabin noch einmal eine zionistisch-säkulare Regierung ins Amt gekommen war, konnte zwar dem Willen der israelischen Mehrheit nach Frieden und Ausgleich zugeschrieben werden; aber das blutige Ende dieser bloß Episode bleibenden Politik verweist auf die bereits herangereifte Macht der fundamentalistischen Tendenz.

Sowohl vor als auch nach der Ermordung Rabins war eine bis heute anhaltende Forcierung der militanten Siedlungs- und Enteignungspolitik gegen die arabische Bevölkerung zu beobachten, deren Ausmaß selbst US-amerikanische Unterhändler regelmäßig erschreckte. Schon Eisenstadt wies im letzten Teil seiner Untersuchung auf den rassistischen Charakter der Siedlungsideologie und ihrer Unterstützung in den Spitzen der israelischen Gesellschaft hin; wie er schreibt, "rechtfertigten auch manche religiöse Gruppen ein extrem xenophobisches Verhalten, das sich auf die biblischen Beschuldigungen gegen Amaiek berief (Eisenstadt, a.a.O., 787). Der Likud-Ministerpräsident Begin hatte die Palästinenser öffentlich als "zweibeinige Tie­re" entmenschlicht; und in demselben Maße, wie die Mehrheit der orthodoxen Rabbi­ner in Israel immer offener den jüdischen "Gottesstaat" propagierte, wurde auch die­ser Rassismus lauter. Der Rabbiner Jitzhak Ginzburg, einer der extremistischen Hardliner, verfasste ein Dekret, "wonach Jüdisches Blut und nichtjüdisches Blut nicht dasselbe' seien" (Karpin/Friedman 1998, 18). Und der berüchtigte Rabbi Meir Kahane, einer der Ideologen der fundamentalistischen Rechten, der 1990 selber bei einem Auftritt in New York ermordet wurde, "bezeichnete ... alle Araber als eine ,Epide­mie... Bakterien, die uns vergiften'..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 69).

Solche Leute waren schon vor mehr als einem Jahrzehnt in Israel ungefähr so "marginalisiert" wie etwa ein Jörg Haider in Österreich; zu Kahanes Begräbnis in Jerusalem "kamen etwa 15.000 Trauergäste, und kein Geringerer als der Oberrabbi­ner von Israel, Mordechai Eliyahu, hielt die Totenrede... Zu denen, die gekommen waren, um Kahane die letzte Ehre zu erweisen, gehörten auch zwei Minister und eine Reihe von Knessetabgeordneten der Rechten" (Karpin/Friedman, a.a.O., 70).

Das rassistische Motiv wurde zum Treibsatz für eine nicht abreißende Serie von Gewalttaten israelischer Siedler. So stürmte, um nur ein frühes Beispiel zu nennen, im Sommer 1983 eine Gruppe maskierter Extremisten in die Universität von Hebron, tötete mit Gewehr- und Granatfeuer drei Palästinenser und verwundete zahlreiche weitere. In der Folgezeit wurden reihenweise Bombenanschläge auf arabische Bür­germeister verübt. Herostratische Groß-Anschläge auf die Al-Aksa-Moschee in Jeru­salem und andere moslemische Symbole wurden geplant, wenn auch rechtzeitig ver­hindert. Selbst bekannte politische Führer der Rechten beteiligten sich persönlich an Gewalttaten, so das Mitglied der rechten "Aktionszentrale" gegen Rabin, Gadi Ben-Zimra. Im Alltag terrorisierten gerade die exponiertesten, oft winzigen Siedlergrup­pen im Schutz der Armee ihre palästinensischen Nachbarn, warfen ihre Gemüsestän­de um, beschossen ihre Häuser, zerstörten ihre Autos usw. Erschreckend war der Selbst­mordanschlag des Arztes Dr. Baruch Goldstein aus der berüchtigten Siedlung Kiryat Arba bei Hebron, der am 25. Februar 1994 mit einem Schnellfeuergewehr 30 Palästi­nenser beim Morgengebet niedermähte, bevor er selbst von wütenden Überlebenden gelyncht wurde. Goldstein erlangte in weiten orthodoxen und nationalistischen Krei­sen den Rang eines "Märtyrers", von denen er sogar als "Opfer des arabischen Ter­rors", ja als "den Opfern des Nazi-Holocaust gleichgestellt" bezeichnet wurde (Kar­pin/Friedman, a.a.O., 104, 177).

Alle diese Gewaltausbrüche von nationalistisch-rassistischem Hass und religiösem Wahn waren organisiert und nicht bloß vereinzelt. Von der Armee auf Geheiß der Likud-Regierung mit Waffen versorgt, bildeten die Siedler eigene private Milizen, die sich bald selbst gegenüber der Likud-Administration zu verselbständigen und als "bewaffneter Untergrund" gesetzlos und willkürlich zu agieren begannen: wiederum in auffälliger Parallele zu den palästinensisch-arabischen feindlichen Nachbarn. Die innere Zersetzung Israels hatte damit bereits die Warlord-Ebene erreicht. Die weltli­che israelische Presse bezeichnete "die Brennpunkte der Siedlergewalt dann auch bald als .Wildwestbank'..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 64).

Paradoxerweise deuteten die Haredim und Ultra-Nationalisten in demselben Maße, wie sie die Autorität und die Institutionen des Staates Israel aushöhlten und zersetz­ten, gleichzeitig die legitimatorische Grundlage dieses Staates radikal um: Während ihr fundamentalistischer Aktivismus den Staat nach innen zerstörte, sollte er nach außen die überdimensionalen Ausmaße eines "Groß-Israel" annehmen. Aus dem welt­lichen Zufluchtsort der Zionisten wurde der biblisch mystifizierte Ort eines religiös­nationalistischen Heilsversprechens; und aus dieser Sicht einer rechtsradikal-religiö­sen fundamentalistischen "Antipolitik" kann eine Grenzziehung überhaupt nicht das Resultat von Verhandlungen sein. Stattdessen behauptet die fanatische Gläubigkeit, "es gebe nur eine Richtlinie, um die Grenzen des Landes Israel festzulegen: Gottes Versprechen gegenüber dem Erzvater Abraham (!): .Deinen Nachkommen will ich dies Land geben, von dem Strom Ägyptens an bis an den großen Strom Euphrat' (l. Mose 15,18). Heute umfassen diese Grenzen den größten Teil des Nahen Ostens, von Ägypten bis zum Irak (!)..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 15).

Im Prozess der Verschmelzung von religiösem Fundamentalismus, säkularem Nationalismus, Rassismus und Ethnopolitik verwandelte sich die Lehre von der Erlö­sung durch den Messias in ein postpolitisches Konstrukt, das sich selbst als religions­politische "Revolutionierung" der israelischen Gesellschaft definierte: "Die ,neomessianistische Revolution' wurde von Synagogen und Bildungseinrichtungen aus gesteuert. Synagogen waren nicht mehr nur Bethäuser, sondern auch Zentren der po­litischen Indoktrination, Jeschiwas nicht mehr nur Stätten der Gelehrsamkeit, son­dern Kaderschmieden der großisraelischen Bewegung... Ein riesiger Propaganda-Apparat wurde aufgebaut, unter anderem von angeblich unpolitischen Verbänden, die Steuerfreiheit genossen... Eine .Erweckung' dieses Ausmaßes hatte es seit dem Aufstieg des Zionismus ein Jahrhundert zuvor in der jüdischen Welt nicht mehr gege­ben..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 291).

Nach innen agierte die neo-messianische, theokratische Bewegung für ein phantasmatisches Groß-Israel mit ebenso zunehmender, theologisch-talmudisch legitimier­ter Gewaltsamkeit wie nach außen. Auch diese innere, vor allem gegen die säkulare Linke gerichtete Gewalt begann früh, parallel zur rassistischen Siedlergewalt in den besetzten Gebieten. Den Startschuss gab ein Zwischenfall im Februar 1983: "Yonah Abrushmi, ein von der zügellosen Rhetorik der Rechten getriebener verbitterter junger Mann, warf in der Nähe des Amtssitzes des Ministerpräsidenten eine Handgrana­te in eine Menge von "Frieden jetzt"'-Demonstranten. Ein Mann, Emil Grunzweig, starb bei diesem Anschlag, elf weitere Menschen wurden verletzt" (Karpin/Fried-man, a.a.O., 155).

Gewalt und Gewaltrhetorik der theokratischen und/oder nationalistischen Rech­ten in teils offenen, teils sublimen Formen haben seitdem nicht nachgelassen. Der Ermordung von Rabin ging eine lange Hetzkampagne voraus, in der mehrfach öffent­lich sein Tod gefordert wurde; nach dem so genannten Din Rodef, der talmudischen Todesstrafe für jüdische Verräter, hatten ihn "gespenstische Rotten" von fundamenta­listischen Rabbis tagelang vor seinem Amtssitz auf pseudo-mittelalterliche Weise verflucht. Und dieser Mord wurde von einem bereits erschreckend großen Teil der israelischen Gesellschaft teils passiv hingenommen, teils klammheimlich und in vie­len Fällen sogar offen bejubelt. Der Mörder, Yigal Amir, wird von vielen Teenagern als "Held" angehimmelt, erhält massenhaft Fanpost usw. Und die mehr oder weniger stille Billigung oder wenigstens Verharmlosung dieses Mordes geht bis weit in die höchsten Kreise der politischen Rechten: "Fast zwei Jahre nach dem Mord wieder­holte Sharon, zu der Zeit Minister in Netanjahus Regierung, die Behauptung der rechts­radikalen und extremistischen Rabbiner: Jitzhak Rabin habe seinen Tod durch seinen Starrsinn selbst verschuldet" (Karpin/Friedman, a.a.O., 301).

Analog zur globalen Amok-Kultur mit ihrer Verbindung von Aggression und Selbst­vernichtung brütete die theokratisch-nationalistische Rechte Israels auch dieselbe Rechtfertigung des Selbstmordattentats aus wie die Islamisten, wobei die Tat des Massenmörders Goldstein als Präzedenzfall betrachtet wurde. Und ähnlich wie bei den Islamisten diente die militante Umdeutung religiöser Begriffe diesem Unterfan­gen: "Kiddush ha-Shem war, bevor er mit dem messianischen Eifer der Gush-Emu-nim-Siedler verknüpft wurde, ein Selbstopfer, mit dem anstelle des erzwungenen Glaubensübertritts der Tod gewählt wurde... Goldsteins aggressive Verwandlung dieses Selbstopfers wurde von den jüdischen Fanatikern rasch gutgeheißen... In einem Buch mit dem Titel Baruch ha-Gever (,Gesegnet ist der Mann') priesen sie sein .Selbstop­fer' als höchsten Ausdruck religiöser Überzeugung und forderten andere auf, es ihm gleichzutun. Rabbiner Elitzur Selga ... schrieb, die rabbinischen Heiligen hätten nie die Goldsteinsche Spielart der Selbstmordmission verurteilt. .Offenbar ist ein noch gewisserer Tod, etwa indem man sich und seine Feinde mit einer Granate in die Luft jagt, ebenfalls als edle Tat sanktioniert'..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 67). Deutlicher könnte nicht gesagt werden, dass der akute und manifeste Todestrieb kapitalistischer Vernunft in jedes ideelle Gewand schlüpfen kann.

In kultureller und gesellschaftspolitischer Hinsicht verschärfte sich der radikal-theokratische Anspruch an die israelische Gesellschaft und gegen die säkulare Linke ebenfalls in den 90er Jahren; und wiederum in peinlicher Affinität zu den feindlichen arabischen Nachbarn. Ähnlich wie die Wahhabiten und alle anderen Islamisten wettern die ultra-orthodoxen und religions-nationalistischen Kräfte heute nicht nur ver­bal gegen "die hohle Kultur des Westens" (Karpin/Friedman, a.a.O., 23), den moder­nen Materialismus, den Ausverkauf patriarchaler Werte usw., sondern sie wollen mehr als jemals zuvor der Gesellschaft ihre irrationalen Gebote aufzwingen. Genau wie bei den Islamisten steht dabei eine militante Sexualfeindlichkeit an vorderer Stelle. Selbst gemäßigte Orthodoxe sind entsetzt über den institutionellen Druck, den die puritani­schen Haredim inzwischen in dieser Hinsicht ausüben können. So nannte etwa 1997 Professor Yehudah Friedländer, Rektor der BarIlan-Universität, "Beispiele für die Veränderungen aus dem Umkreis seiner eigenen Familie... .Streng beachtet wird die äußere Etikette; so verbietet man den Mädchen schlichtweg, in Socken umherzulau­fen... Streng überwacht wird die Länge der Röcke und die Höhe der Schlitze... '. Den Vätern wurde verboten, die Schuljahr-Abschlussfeier ihrer Töchter zu besuchen, weil dort ein Mädchenchor auftrat... Der Leiter der Grundschule seines Sohnes ver­bot es dem Jungen, im Sommer ein von der Hebräischen Universität veranstaltetes Wissenschaftscamp zu besuchen... ,Vor hundert Jahren haben sie noch nicht in den (Privatangelegenheiten) herumgestöbert, heute stürzen sie sich auf die geringste Klei­nigkeit, und sei sie noch so persönlich'..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 73 f.).

Die institutionelle Macht der rabbinischen Orthodoxie und Ultra-Orthodoxie be­herrscht weite Teile des zivilen Rechts, weil diese nie säkularisiert worden sind. Die­se Macht führt zu unerträglichen Schurigelungen des persönlichen Lebens auch bei allen, die mit der Religion gar nichts am Hut haben: "Für die Juden Israels heißt dies, dass sie vom orthodoxen religiösen Establishment kontrolliert werden, und im Laufe der Jahre hat sich diese Regelung verheerend auf die bürgerlichen Rechte zahlloser Staatsangehöriger ausgewirkt. Wegen des Klammergriffs der orthodoxen Kleriker kann kein jüdischer Israeli, selbst der gefestigtste Atheist, außerhalb seines ,Glaubens' hei­raten.. . Tausenden von israelischen Kindern, die im Ausland adoptiert wurden, wird der Übertritt zum Judaismus verwehrt, weil ihre Eltern nicht dem orthodoxen Le­bensstil folgen. Frauen ist es kategorisch untersagt, vor den rabbinischen Gerichten auszusagen, an die man sich zwecks Ehescheidung wenden muss..." (Karpin/Fried­man, a.a.O., 76).

Auch die orthodox-rabbinische Frauenverachtung und Frauenunterdrückung gleicht der islamistischen (natürlich auch der traditionell christlichen und überhaupt der patriarchalen und krisenideologisch neo-patriarchalen in der ganzen Welt) aufs Haar. In den strenggläubigen Gemeinden ist die misogyne Haltung auch praktisches Alltags­gesetz, das sich als Reif auf die individuellen Liebesbeziehungen legt, wie etwa der beklemmende Film "Kadosh" von Amos Gitai zeigt. Und qua institutioneller Macht dehnt sich dieses pseudo-archaische Alltagsgesetz der Frauenunterdrückung in viel­fältiger Weise auf das säkulare israelische Leben aus.

Dasselbe gilt für die damit eng zusammenhängende Schwulenverachtung und Schwulenverfolgung, die von den ultra-orthodoxen Gläubigen genauso ausstrahlt wie von den säkularen Rassisten der "Sows". Zu den gehässigen Angriffen der Ultras auf Rabin vor dem politischen Mord gehörte immer wieder der Slogan "Rabin ist ein Homo" (Karpin/Friedman, a.a.O., 113). Dieselbe militante Homophobie wie bei den Islamisten findet sich nicht nur bei den israelischen Ultras, sondern auch bei ihren Unterstützern und Vordenkern in der jüdischen Diaspora, nicht zuletzt in den USA, wo sie in den jüdischen Gemeinden äußerst umstritten sind. So unterstützte der rechts­radikale New Yorker Rabbiner Abraham Hecht (ein Held auch der israelischen Rech­ten) die Wahl des später durch drakonische Maßnahmen gegen die Armen bekannt gewordenen Bürgermeisters Giuliani mit antischwulen Hetztiraden: "Als er sich 1989 für Giuliani einsetzte, verkündete er, sein Kandidat werde in einer von Übeln wie vorehelichem Sex, Abtreibungen und homosexuellen Verbrechen (!) korrumpierten Stadt endlich aufräumen, und er unterstützte (wie der örtliche Ku-Klux-Klan) die milde Bestrafung eines Mörders durch einen texanischen Richter, weil dessen Opfer nach dem Wort des Richters .Schwuchteln' waren" (Karpin/Friedman, a.a.O., 220).

Mit der rassistisch und nationalistisch zugespitzten neo-archaischen Ideologie geht eine abermals dem Islamismus ebenso wie den westlichen synkretistischen Sekten entsprechende rituelle Zwanghaftigkeit einher. Nach den verheerenden palästinensi­schen Selbstmordattentaten versuchen beispielsweise ultra-orthodoxe Fanatiker, die Leichenteile "ethnisch" zu sortieren, damit nicht Körperteile eines fremdrassigen At­tentäters versehentlich zusammen mit jüdischen beerdigt werden. Von der religiösen Rechten werden gegen den Willen der säkularen Bevölkerung immer mehr religiöse Einschnürungen des Alltagslebens durchgesetzt, die inzwischen weit über die unmit­telbaren institutionellen Befugnisse der Ultra-Orthodoxen hinausreichen. Mit jedem neuen politisch-koalitionstechnischen Zugeständnis an die religiösen Parteien ver­wandelt sich das Gesicht Israels. Das Land ist einerseits im Sinne des politischen Systems eine kapitalistische Demokratie westlicher Prägung, die jedoch wie gesagt von den Haredim nie anerkannt wurde; andererseits gleicht der israelische Alltag in vieler Hinsicht bereits dem eines Gottesstaats nach dem Muster der Taliban.

Es ist ganz offensichtlich, dass hier zwischen zwei einander ausschließenden Welt- und Lebensentwürfen eine katastrophale Zerreißprobe heranreift. Hatte Eisenstadt seine soziologisch-historische Analyse von 1984 noch mit der Hoffnung auf inneren Ausgleich beendet, so ist die Einschätzung des inneren Zustands Israels bei Karpin/ Friedman 14 Jahre später nur noch rabenschwarz: "Das Land, so sehen es die Israelis immer wieder, sitze auf einem Pulverfass mit brennender Lunte. Als größte Bedro­hung gilt ihnen nicht der fundamentalistische Terrorismus oder ein Krieg mit den Nachbarn, sondern die Auflösung von innen her... (Als) bei einer Gallup-Erhebung für Ma'ariv am zweiten Jahrestag des Attentats die Frage gestellt wurde, ob das Land der Einheit oder dem Bürgerkrieg näher sei, urteilten mehr als doppelt so viele Israe­lis (56 gegenüber 21 Prozent), es sei dem nationalen Geschwistermord näher als dem inneren Frieden" (Karpin/Friedman, a.a.O., 427).

Wenn die drohende gewaltsame Entladung des inneren Widerspruchs in Israel bis jetzt vertagt wurde, so ist dies natürlich in erster Linie auf die Zuspitzung des äußeren Konflikts mit den Palästinensern seit Beginn der so genannten Al-Aksa-Intifada zu­rückzuführen. Die antisemitischen Hetztiraden, die Selbstmordattentate und die quasi­militärische Formierung durch palästinensische Warlord-Milizen haben nicht nur schlechthin den äußeren Widerspruch wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt, son­dern auch die eigene rassistische, fundamentalistische und nationalistische Energie der israelischen Rechten erst einmal nach außen gelenkt, zumal diese Rechte inzwischen den gesellschaftlichen Mainstream bildet und das institutionelle Ruder fest in der Hand hat.

Dementsprechend sieht auch das Vorgehen der israelischen Armee in den besetz­ten Gebieten unter der Scharon-Regierung aus, das nicht mehr als Akt der Selbstver­teidigung einer militärisch-technisch weit überlegenen Macht interpretiert werden kann. Naturgemäß hat sich die rechtsgerichtete Ultra-Tendenz der Gesellschaft wie überall in der Welt am heftigsten in der Armee durchgesetzt. Es ist nicht nur desinformierender palästinensischer Propaganda geschuldet, wenn auch die Berichte westli­cher Journalisten und israelischer oppositioneller Gruppen und Hilfsorganisationen inzwischen eine ganze Reihe von Kriegsverbrechen der israelischen Armee aufzäh­len.

So wurden mutwillig Privathäuser, historische Monumente und völlig unmilitäri­sche Einrichtungen zerstört: "In Ramallah verwüsteten die Soldaten das Gesundheits­zentrum der Union, zerstörten die Optiker-Station, das Büro für den Verleih medizini­scher Geräte und das Jugendzentrum... Das Kultusministerium in Ramallah wurde erst am 2. Mai... von den Besetzern geräumt. Sie hinterließen lauter verwüstete, ver­schmierte und besudelte Büros, zerstörte Computer und leere Registerregale.... selbst die Toilettenschüsseln wurden zerschlagen. In der Stadtverwaltung von Ramallah sprengten die Soldaten den Haupttresor der Finanzbuchhaltung auf und entfernten sämtliche Harddisks aus den Computern. Im Erziehungsministerium ... ließen sie die Unterlagen für die nächsten Abschlussexamen und die Beglaubigungsstempel für Abgangszeugnisse mitgehen; zur Abrundung pflügten sie den Blumengarten mit ih­ren Kettenfahrzeugen um. Nach Auskunft des Kultusministers Abderabboh entwen­deten die Soldaten im Grundbuchamt sämtliche Unterlagen über den Bodenbesitz, was im Lichte der fortschreitenden Enteignung für jüdische Siedlungen ein schmerz­licher Verlust wäre... Laut zahlreichen Zeugenaussagen ... richteten die Soldaten auch in Schulen und in vielen Privatwohnungen Zerstörungen an und ließen Wertsa­chen oder Bargeld mitgehen" (Neue Zürcher Zeitung, 8.5.2002).

Die Berichte über die Durchsuchung und Plünderung großer Geschäftszentren nicht nur in Ramallah, über das Ausrauben von Zivilpersonen usw. sind so zahlreich und übereinstimmend, dass man von ihrem Wahrheitsgehalt ausgehen kann. So heißt es über israelische Schützenpanzerbesatzungen, dass diese "vor Läden, Goldschmieden, Banken und Computergeschäften gehalten und diese geplündert hätten" (Wie­land/Schäfer 2002). Angeblich nach Waffen durchsuchten Studenten wurden die Geld­beutel abgenommen. Teile der israelischen Armee verhalten sich im "ethnischen Fein­desland" ganz der globalen Entwicklung entsprechend; das Vorgehen in den Palästinen­sergebieten ist ansatzweise zum Teil der weltweiten Plünderungsökonomie geworden.

Bei Raub und Plünderung ist es nicht geblieben. Im April 2002 legten bei einer Pressekonferenz in Jerusalem Sprecher von acht internationalen Menschenrechtsgruppen Berichte über außergerichtliche Exekutionen und Folter durch israelische Solda­ten vor. "So hörte man von einer Gruppe von zehn Frauen, die sich nach einem Feu­ergefecht auf die Straße wagten: Mit erhobenen Armen flehten sie die Soldaten an, den hilflosen Verletzten beizustehen. Ihre Anführerin, die Ärztin Dr. Kadah, wurde erschossen, die anderen Frauen schwer verletzt" (Neue Zürcher Zeitung, 17.4.2002).

Das oberste israelische Gericht musste die Folter von palästinensischen Gefange­nen ausdrücklich verbieten, was einem Eingeständnis gleichkommt, dass die Folter verschiedenen Grades in Israel wie in den Militärdiktaturen der Dritten Welt schon in der Vergangenheit zum Alltag gehört hat. Carmi Gillon, der designierte israelische Botschafter in Dänemark, rief Proteste hervor, als er auch nach diesem Urteil noch öffentlich die Folterung von palästinensischen Gefangenen rechtfertigte. Dass der Vorwurf der Folter auch bei der jüngsten israelischen Militäroffensive wieder massiv und mit Details erhoben wurde, zeigt an, dass diese Praktiken weiterhin angewandt werden. Über das Schicksal von Marwan Barghuti, Mitglied des palästinensischen Exekutivrates, der von der israelischen Armee im April 2002 festgenommen worden war, hieß es in Presseberichten: "Barghuti werde vom israelischen Inlandgeheim­dienst Shin Bet durch Schlafentzug gefoltert... Außerdem werde er immer wieder viele Stunden lang auf einem mit Nägeln gespickten Stuhl festgebunden. Seine Hän­de und Füße seien dabei so fixiert, dass er nicht aufrecht sitzen könne. Dabei habe er sich derart starke Verletzungen an Rücken und Händen zugezogen, dass er in eine Krankenstation gebracht worden sei. Dort habe der Kontakt mit den Vertretern der Menschenrechtsorganisation stattgefunden. Seine Peiniger hätten Barghuti angedroht, seinen in der israelischen Stadt Ashkelon inhaftierten Sohn zu töten" (Neue Zürcher Zeitung, 25.5.2002).

Erscheinungen wie Kriegsverbrechen, Folter usw. können nicht allein schuldhaf­ten Einzeltätern zugeordnet werden, zumal diese Verbrechen in der Regel gar keine oder nur eine milde Bestrafung als "Heldendelikte" erfahren (in Israel ebenso wie in Russland, Restjugoslawien und anderswo); vielmehr sind solche Taten immer auch ein Spiegelbild der Gesellschaft, aus der sie hervorgehen. Die Greueltaten der israeli­schen Armee, die nicht mit der Barbarisierung der palästinensischen Gesellschaft gerechtfertigt werden können, verweisen auf die Barbarisierung der israelischen Ge­sellschaft selbst, die gerade in dieser Hinsicht ein integraler Bestandteil der kapitalis­tischen Weltgesellschaft ist.

Wenn der innere Widerspruch Israels noch nicht in großem Maßstab gewaltsam aufgebrochen ist, so ist dies nicht allein dem "Export" von Gewalt und theokratisch-rechtsradikalen Hasspotentialen durch die erneute äußere Konfrontation mit dem kom­plementär barbarisierten palästinensischen Gegner zuzuschreiben. Ein weiterer Fak­tor ist das Zurückweichen der säkularen Linken und selbst der bloß lebensweltlich säkularen Kräfte Israels. Dass die Arbeitspartei schon längst den Weg aller Sozialde­mokratien gegangen ist, dürfte kaum überraschen. Die Ermordung Rabins hat nicht etwa kritische Potentiale freigesetzt, sondern die Reste des ideologisch längst aufge­weichten Arbeiter-Zionismus noch weiter nach rechts getrieben; vergleichbar der Entwicklung sämtlicher Sozialdemokratien zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Auch damals hätten sämtliche sozialdemokratischen Führer von Rechtsradikalen erschos­sen werden können (was mit Jean Jaures in Frankreich tatsächlich geschah), und die Burgfriedenspolitik wäre trotzdem weitergegangen.

Hinzu kommt, dass das Bewusstsein der säkular orientierten israelischen Jugend, gerade der linken, ebenso wie das ihrer europäischen und nordamerikanischen Alters­genossen stark von der warenkonsum-hedonistischen abstrakten Individualisierung der so genannten Postmoderne geprägt ist, die dem Vormarsch der anderen Seite der­selben Tendenz, nämlich des ethno-kulturalistischen Fundamentalismus, kaum Paroli bieten kann. Eine darüber hinaus ideell durch postmodeme Theorien abgerüstete Lin­ke, die Kapitalismus und Barbarei zu bloßen "Diskursereignissen" verharmlost, muss selber harmlos werden, was sich natürlich besonders in den Krisenregionen fatal aus­wirkt, wie der linke israelische Hochschullehrer Ran HaCohen feststellt: "Diese jun­gen Israelis verstehen sich als radikal, friedensorientiert, gegen die Besatzung einge­stellt und dazu verdammt, unter rückwärts gewandten Fanatikern zu leben. Zur sel­ben Zeit aber ermöglicht ihnen dieselbe Bewusstseinsstruktur, sich an die Besatzung anzupassen... Die intellektuelle Mode, die .Postmodernismus' genannt wird - im Westen eher auf dem absteigenden Ast, doch quicklebendig im provinziellen Israel -spielt dabei eine wichtige Rolle... Weil es keine Wahrheit gibt, können wir auch ge­gen nichts Widerstand leisten und nichts wirklich unterstützen... Worte sind wichti­ger als Handlungen. Sprache ist die Grundlage von allem. Diskursanalyse ist der Schlüs­sel zu allem... Der israelische Fall bietet einen eindrucksvollen Beweis dafür, wie gefährlich diese Ideologie sein kann" (HaCohen 2002).

Unter allen diesen Umständen und Bedingungen kann die Ausschaltung der zu­rückweichenden säkularen Linken durch die rechte Administration vorerst auf kal­tem Wege vor sich gehen. So sagt etwa die Direktorin des Cohn-Instituts an der Uni­versität Tel Aviv, Rivka Feldhay, über die Situation der säkularen und linken Intellek­tuellen an den Hochschulen: "Israels ultranationale Ministerin für Bildungsfragen, Limor Livnat, versucht uns zu isolieren und zu behindern. Forschung und Lehre wer­den hier in Israel durch einen Rat für akademische Ausbildung finanziert. Die neue Ministerin hat dieses Gremium in den vergangenen Monaten neu besetzt, um die

Universitäten zugunsten von regierungsnahen Wissenschaftlern zu schwächen. Mit Erfolg... (Wir) sind darauf angewiesen, dass die Europäer uns zu Hilfe kommen. Nicht mit Boykotten. Sondern indem sie ihren guten Namen in die Waagschale wer­fen, um gegen die Regierungspolitik zu protestieren" (Feldhay 2002).

Auch im Alltag müssen säkulare Linke immer mehr damit rechnen, angefeindet und angepöbelt zu werden; Künstler und Intellektuelle ziehen sich allmählich aus bestimmten, von Ultra-Orthodoxen beherrschten Vierteln Jerusalems und anderer Städ­te zurück. Trotzdem bringt die linke Opposition immer noch Hunderttausende von Demonstranten auf die Straße, Nach Angaben der 1982 (als Reaktion auf den von Scharon befehligten Einmarsch in den Libanon gegründeten) Verweigerer-Organisa­tion Yesh Gvul ("Es gibt eine Grenze") haben seit Herbst 2000 mehr als tausend israelische Soldaten, darunter höhere Offiziere, den Dienst unter der Scharon-Regierung in den besetzten Gebieten verweigert: "Es ist nicht das erste Mal, dass Israelis den Dienst an der Waffe verweigern, doch haben sich noch nie so viele Mitglieder von Kampfeinheiten - Reservesoldaten und -Offiziere - öffentlich für eine Verweige­rung in den besetzten Gebieten ausgesprochen" (Dachs 2002).

Dieser noch anhaltende Widerstand ändert jedoch nichts daran, dass die säkulare Linke insgesamt geschwächt ist und um ihre soziale und institutionelle Zukunft, ja bei einer Rückverlagerung der theokratisch-nationalistischen Aggressionspotentiale nach innen auch um Leib und Leben fürchten muss. Die Eskalation der inneren Wi­dersprüche droht nicht zuletzt durch eine absehbare katastrophale Wirtschaftskrise ausgelöst zu werden. Israel, zusammen mit Palästina ohnehin wie viele andere Welt­regionen durch den Prozess der kapitalistischen Globalisierung und die Abhängigkeit vom Zufluss transnationalen Finanzkapitals bereits trotz aller Alimentierungen schwer angeschlagen, ruiniert sich zusätzlich durch die immensen Militärkosten, die auf die soziale Reproduktion zurückschlagen. Die Scharon-Regierung sitzt auch auf einem sozialökonomischen Pulverfass. Die ökonomische Krise, die periodisch zu Regie­rungskrisen führt, stellt unerbittlich die Frage, welche Teile der israelischen Bevölke­rung sozial über die Klinge springen müssen. Und die Ultra-Parteien haben bereits unmissverständlich deutlich gemacht, dass es alle ihnen missliebigen säkularen Schich­ten sein sollen; eine Absicht, der durch die Entfesselung der inneren Hasspotentiale nachgeholfen werden kann.

Das Wissen um diese Entwicklung schlägt sich in einer "Abstimmung mit den Füßen" nieder: Hunderttausende von säkularen Israelis sind dabei, auszuwandern, oder tragen sich mit dieser Absicht: "Noch nie in seiner jungen Geschichte hat es in dem traditionellen Einwanderungsland so viele potenzielle Auswanderer gegeben... Nicht nur Kanada, Australien und die USA wirken wie ein Magnet auf viele Israelis: Auch Vanuatu, ehemals die Neuen Hebriden, republikanischer Inselstaat im Pazifi­schen Ozean... In Tel Aviv haben sich ... bereits 2000 Familien in die kooperative .Mondragon'-Gesellschaft eingetragen, welche für 4500 Dollar Landparzellen von jeweils 3000 Quadratmetern in Vanuatu verkauft. Doch das ist erst der Anfang, denn .Mondragon' hat rund 80.000 Hektar Land für 150 Jahre gepachtet, um es aufgestückelt an auswanderungswillige Israelis zu verkaufen. Das gäbe über 50.000 Parzel­len, also Platz für über eine Million Menschen" (Landsmann 2001).

Es hat etwas zutiefst Deprimierendes und Erschütterndes, wenn auf diese Weise immer mehr säkulare Juden dem vermeintlichen Zufluchtsort und der vermeintlichen Heimat Israel den Rücken kehren, davon getrieben sowohl von palästinensischen Ter­rorkommandos als auch von der inneren unheimlichen Allianz aus religiösen Fanati­kern, Ultra-Nationalisten, Ethno-Politikern und säkularen Rassisten. Je mehr die sä­kulare Linke Israels durch diesen tragischen Exodus ausblutet, desto rapider schreitet die innere Zersetzung und Barbarisierung der israelischen Gesellschaft notwendiger­weise fort.

Natürlich stellt sich die Frage, wie diese traurige gesellschaftliche Entwicklung Israels im Hinblick auf den "ideellen Gesamtimperialismus" des kapitalistischen Zen­trums zu bewerten ist. Auf keinen Fall kann es für eine emanzipatorische, antikapita­listische Position um eine "Äquidistanz" zu Israelis und Palästinensern in dem Sinne gehen, dass bloß auf die komplementäre Barbarisierung der beiden ineinander ver­schlungenen Gesellschaften im Kontext der allgemeinen Globalisierungskrise ver­wiesen wird. Das wäre deswegen zu kurz gegriffen, weil durch einen derartigen Kri­sen-Positivismus die Funktion des weltweiten Antisemitismus und damit die beson­dere Bedeutung des Staates Israel ausgeblendet würde.

Israel ist immer beides zugleich: ein peripherer kapitalistischer Staat unter kapita­listischen Bedingungen in einer zentralen Krisenregion einerseits; und ein spezifi­sches Widerstandsprodukt gegen die antisemitische letzte krisenideologische Reser­ve des Imperialismus andererseits. Deshalb ist die staatliche Existenz Israels eben von anderer Qualität als diejenige aller anderen Staaten. Während es nicht mehr im Horizont der sozialen Emanzipation liegen kann, dass die Palästinenser einen eige­nen Staat bilden, sondern hier bereits die poststaatliche Perspektive der Befreiung aktuell geworden ist, bleibt die Existenz und die Verteidigung des Staates Israel eine entscheidende flankierende Bedingung für die Konstitution einer transnationalen glo­balen Emanzipationsbewegung neuen Typs, die sich nicht durch die Öffnung des an­tisemitischen ideologischen Ventils das Verlangen nach Befreiung austreiben lässt. Mit anderen Worten: Unter allen Ländern ist Israel dasjenige, das im Rahmen einer neuen emanzipatorischen Weltbewegung am letzten die staatliche und "nationale" Existenz hinter sich lassen kann.

Das gewissermaßen doppelte Dasein Israels als gewöhnlicher kapitalistischer Kri­senstaat und als globaler Bezugspunkt kapitalistischer Krisenideologie verlangt eine entsprechende doppelte Herangehensweise radikaler Gesellschaftskritik. Die Vertei­digung der Existenz Israels muss für eine neue Kapitalismuskritik unbedingt sein; denn diese Verteidigung bildet eine conditio sine qua non für den emanzipatorischen Gehalt der Kritik. Die unbedingte Verteidigung der Existenz Israels kann gleichzeitig nicht von der realen gesellschaftlichen Entwicklung Israels als kapitalistischer Kri­senregion abstrahieren. Denn die Reduktion gesellschaftlicher Entwicklung auf die ideologische Sphäre und damit die Reduktion der Kritik auf Ideologiekritik, gar in zusätzlicher Engführung auf das antisemitische Syndrom, würde das Verhältnis von Gesellschaft und Ideologie auf den Kopf stellen und die Ideologiekritik selber in Ide­ologie verwandeln.

Insofern ist es auch falsch, aus der Perspektive radikaler Kritik die Geschehnisse im Nahen Osten ausschließlich unter das krisenideologische Aufblühen des Antise­mitismus im Westen und speziell in Deutschland zu subsumieren, um dann unter dem Vorwand, die Thematisierung der gesellschaftlichen Entwicklung in Israel "nütze" bloß dem Antisemitismus, diese reale Entwicklung auszublenden oder sogar schönzufärben.

Der Antisemitismus kann nicht unabhängig von seiner gesellschaftlichen Grund­lage, dem modernen warenproduzierenden System, analysiert und bekämpft werden. Abgelöst von der gesellschaftlichen Wirklichkeit schlägt die Kritik in Affirmation um, wie die gegenwärtige ideologisch reduzierte Auseinandersetzung um den Antise­mitismus bis in die radikale Linke hinein zeigt. Hatte die kritische Theorie immer den wesentlichen inneren Zusammenhang von Kapitalismus und Antisemitismus, von Auschwitz und der deutschen Geschichte des Kapitalismus hervorgehoben, so soll nun genau umgekehrt radikale Kapitalismuskritik als solche mit dem Schandmal des Antisemitismus gebrandmarkt werden, um die Linke mundtot zu machen. Eine Lin­ke, die diesem Druck nachgibt, muss sich selbst aufgeben: Der ideologiekritische Reduktionismus einer totalen Subsumtion von Gesellschaftskritik unter die Kritik des Antisemitismus entpuppt sich dann als platte Verteidigung des gesamtimperialen Weltkapitalismus im falschen Namen einer Kritik des Antisemitismus, die gerade dadurch in sich unwahr werden muss.

Der Beruf kritischer Theorie kann es nicht sein, für den Nahen Osten "Friedens­pläne" auf der Basis des kapitalistischen "Realismus" auszuhecken. Auf dieser Basis wird es sowieso niemals und nirgends Frieden geben. Der Beruf kritischer Theorie ist die unbestechliche Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, aus der die radikale Kritik dieser Verhältnisse als immanente Konsequenz hervorgeht. In diesem Sinne kann es hinsichtlich der komplexen Beziehung von antisemitischer Krisenideologie (in der ganzen Welt, im Westen und auch speziell in Deutschland und Österreich), gesellschaftlicher Entwicklung in Israel und so genanntem Palästinakonflikt nur dar­um gehen, die Verteidigung der Existenz Israels zu verbinden mit einer Unterstützung der israelischen säkularen Linken und einem gemeinsamen Kampf gegen den welt­weiten Barbarisierungsprozess des warenproduzierenden Systems.

Diese notwendige Verbindung hat ihre Sachhaltigkeit gerade in der primären Ver­teidigung Israels als Staat gewordene Existenz des Widerstands gegen das globale antisemitische Syndrom; denn diese Existenz ist nicht nur von außen, sondern ebenso von innen gefährdet. In den 90er Jahren hat in der israelischen Gesellschaft ein Bruch stattgefunden, der selbst den gemeinsamen Bezug auf die Erinnerung an den Holocaust grundsätzlich in Frage stellt. So erklärte der Ultra-Rabbiner Chaim Miller: "Un­sere Absicht ist eine strikte Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen in Sachen Holocaust" (zit. nach: Der Spiegel 8/1995). Der Chef der ultrareligiösen Agu-dat-Israel-Partei, Mosche Feldmann, "verlangte die Einrichtung einer alternativen Gedenkstätte für Gläubige" (ebda.) Diese Abspaltung droht die säkularen jüdischen Opfer der Nazis selbst noch aus der Erinnerung zu eliminieren: Die "wahren" Opfer sind dann einzig noch die streng Religiösen, wie die "wahren" lebenden Juden ebenfalls nur die Ultras sein sollen. Eine derartige innere Delegitimierung des zionistischen Projekts stellt den historischen Ort Israels in Frage, soweit die Kriterien von Inklusion und Exklusion grundsätzlich verlagert werden und nicht mehr der globale Antise­mitismus die (negative) Legitimationsgrundlage bildet, sondern ein die säkulare jüdische Linke ausgrenzender positiver Ethno-Nationalismus.

Israel ist auf absehbare Zeit von der kapitalistisch weit zurückgebliebenen arabischen Welt nicht militärisch im traditionellen Sinne zu besiegen. Von außen wie von innen ist es stattdessen durch den Todestrieb kapitalistischer Vernunft in Frage gestellt; durch Selbstmordkommandos womöglich mit atomaren oder biologischen Sprengsätzen ebenso wie durch die rassistisch-theokratische Selbstzerstörung. Das Kalkül des westlichen Ölimperialismus könnte gerade ein gewaltsames Zerbrechen der israelischen Gesellschaft von innen heraus zum Anlass für eine Neuorientierung in der Region nehmen, die gleichzeitig die Bahn für die antisemitische Krisenideologie im Westen selbst frei machen würde.

 

Eine Wortmeldung aus Wien zum Buch "Weltordnungskrieg"

Aus: Streifzüge 1/2003

 

Nachgedachtes und Vorausgesetztes

von Gerold Wallner

Robert Kurz hat ein neues Buch vorgelegt. Darin beschreibt er den Zustand des abendländischen Denkens, wie er sich angesichts der Krise, in der sich der globale bürgerliche Zusammenhang befindet, darstellt. Das Buch entfaltet das journalistische und polemische Talent seines Autors, wo es darum geht, die Aporien und Widersprüche der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung zu geißeln, zugespitzte Stumpfsinnigkeiten und apologetische Geisterbeschwörungen an Hand der bekannten Schulen zu denunzieren und einen Ausblick auf den Totentanz der Selbstvernichtung zu werfen, der als wahrscheinlichste Alternative gemalt wird, sofern dem Selbstläufer Kapitalismus nicht in den Arm gefallen wird. Kurz verfasst seine Philippika gegen eine bürgerliche Geselligkeit, die sich nicht mehr im Bann hält und ihre zerstörerischen Potenzen entfesselt; am Vorabend eines Kriegs ist dieses Buch entstanden, gerade rechtzeitig, um den Verfall der staatlichen Garantien der bürgerlichen Existenz zu kommentieren. Legalität und Verfassung - auf nationaler wie diplomatischer Ebene - spielen keine Rolle mehr. Gesatztes Recht wird durch die Proklamation ersetzt. Die Menschenrechte setzen die Gesetze außer Kraft und nehmen ihre Stelle ein. Sie garantieren die Versammlungsfreiheiten der Armeen an jedem Ort - fiat justitia pereat mundus.

Nicht zufällig heißt das neue Buch von Robert Kurz "Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung".

Dennoch ist vor allem der Untertitel etwas irreführend, denn die Polemik, die Kurz entfaltet, richtet sich nicht nur gegen den Imperialismus, sondern auch gegen das, was sich "Linke" nennt, und "das Ende der Souveränität" könnte getrost auch dieser Linken zugeschrieben werden - was Kurz ja auch tut. Und so ersteht diese "Linke" denn auch als dem bürgerlichen Universum zugehörig, als Fleisch von diesem Fleisch, nicht nur in demokratischen Modernisierungen, nicht nur in republikanischen Versprechungen, sondern auch im imperialen Todestrieb.

Was Kurz in seinem Buch vor allem anspricht, ist das einheitliche Vorgehen von Imperialismus und verdemokratisierter Linken, erscheine sie nun im Mönchsgewand der inquisitorischen Verteidigung oder in der Narrenkappe der Klassenkämpfer, die sich rühmen, noch jede weitere Ausdehnung der imperialistischen Macht und neue Anwendung und Strukturierung ihrer Mittel sei einem zuvor errungenen Erfolg im Klassenkampf - nein, nicht einmal dies -, einem gerade so hinlänglichen Widerstand zu verdanken.

Es wird diese Buchbesprechung eine sein, die sich mit dem befasst, was Kurz ausgelassen hat, aus journalistischer Verkürzung wie auch aus verlängerter Polemik. Befassen werden wir uns mit dem Vorausgesetzten und Mitgedachten. Da ist zunächst ein Terminus, der immer wieder auftaucht: "die Krise der dritten industriellen Revolution", "der unbewältigbar gewordene globale Krisenkomplex". Dies wird bei Kurz nicht weiter erklärt, sondern als in der Debatte bekannt vorausgesetzt. Nun ist der Begriff der Krise zwar bei der Beschreibung der bürgerlichen Reproduktion kein unbekanntes Phänomen, er taucht aber in der Regel als zyklischer Durchgang auf, als Reinigung, als Krisis im medizinischen Sinn, als Chance der Weiterentwicklung. Dies ist umso sonderbarer, als das bürgerliche Weltbild kein zyklisches ist; der eigenen Bewegung wird nur die eine Richtung zu mehr Fortschritt, zu Reproduktion auf höherer Stufenleiter, zu immer mehr Reichtum und Durchsetzung der bürgerlichen Vergesellschaftung erlaubt und zugesprochen. Sollte es doch zu einem Stillstand kommen, dann ist dieser immer auch in der Folge dahingehend mystisch verklärt, dass mit der linearen Bewegung zum Besseren und schließlich Besten auch die zyklische Bewegung zur Korrektur verschwindet, im erlösten Zustand also beide Bewegungen der bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben erscheinen.

Diese bestätigende Sicht der Dinge hat sich auch das, was sich Linke nennt, zu eigen gemacht: Sie sieht in der Krise konjunkturelle Durchgänge in der Organisation der kapitalistischen Reproduktion. Weil sie gelernt hat, dass der Kapitalismus seine Krisen hat, sucht und sieht sie die Krise als Beweis der Lebendigkeit dieses Systems von gesellschaftlicher Organisation und Reproduktion. Und weil es weiter besteht (trotz und gerade wegen seiner Krisen), besteht auch die Linke weiter als regulierende Antwort, als ausgleichendes Element, als Verdopplung einer zyklischen Stabilisierung.

Als umso ketzerischer muss also aufgenommen werden, dass in der marxistischen Tradition es immer eine Tendenz gab, die die lineare Fortschrittsbewegung nicht als eine zum Besseren der Menschheit sah, nicht zu einer Erfüllung der Menschheitsgeschichte, sondern diese Erfüllung von der Überwindung eben dieser Gesellschaftsformation abhängig machte. Noch häretischer war es, auch die Krisen nicht als notwendige Durchgangsstadien, Entwicklungskorrekturen und Marktbereinigungen zu sehen, sondern in ihr immer schon die Bruchlinien zu sehen, an denen die Reproduktion zum Erliegen kam. Und immer schon war diese Vorstellung einer Bruchlinie, einer inneren Schranke mit der Vorstellung eines Kapitalismus verbunden, der nicht Herr seiner selbst war, sondern ein selbstreferenzielles System, das auf die eine oder andere Weise sein Absterben hinauszögert.

Es sind diese Begriffe von finaler Krise, die nun auch Kurz verwendet und argumentiert. Auch er behauptet einen Kapitalismus, der sich seiner Grundlagen begeben hat: bei Kurz ist es der Verlust der Ausbeutungsfähigkeit.

Nun ist allerdings ein Problem, dass für einen Großteil der so genannten Linken die Krise noch immer als ein Datum aufgefasst wird. Das bedeutet, dass Krise einfach wie ein Schwarzer Freitag daher kommt, wie ein Börsenkrach, der sich an Hand der Selbstmordfälle und der verlorenen Vermögen empirisch festmachen lässt. So ist aber Krise in der Tradition einer von Marx hergeleiteten Krisentheorie (Marx in seiner dunklen prophetischen Sicht, Luxemburg mit ihrem Festmachen am momentanen barbarischen Ausbruch und ihrer Forderung nach sofortigem Sozialismus nebst Gutem Leben, Adorno, der angesichts einer von ihm beschriebenen Gesellschaft die Alternative Sozialismus oder Barbarei nicht mehr sieht und die übrig gebliebene Barbarei beklagt, Kurz in einer aktuellen Sicht, die das Publikum auffordert, angesichts seiner Zeugenschaft das Erleben der ersten Anzeichen eines finalen Untergangs in Engagement zu übersetzen und Stellung zu beziehen) - dieser Krisenbegriff also immer nur so abzuleiten, dass aus dem gegebenen - und zwar immer schon gegebenen - Prozessieren der Wertverwertung sich seine barbarische Seite enthüllt. Dies heißt eben nicht, dass ein Umkippen ab einem gewissen, empirisch festzustellenden Datum dingfest gemacht wird; vielmehr heißt es: zu jedem Zeitpunkt des verwertenden Prozessierens sind wir damit konfrontiert, dass sich die Unmöglichkeit, sich in dieser Welt gütlich einzurichten, enthüllt. Genaueres, historisch Verfolgbares steht in Kurz' "Schwarzbuch des Kapitalismus". 1

Jedenfalls ist die Crux die, dass in diesem Zusammenhang Krise nicht verstanden werden kann als ein Hereinbrechendes, ein Menetekel, das zum Sturz des einen Tyrannen führt und Platz für seinen dynastischen Nachfolger schafft. Krise wird hier immer gefasst als die dunkle Seite des Kapitalismus, als das stets einlösbare Versprechen seiner barbarischen Zerstörungspotenz und deren Gewalt, sich der zivilen Fesseln zu entledigen. 2 So also wird Krise im Zusammenhang mit der polemischen Diskussion, die Kurz im Buch vom Weltordnungskrieg entfaltet, zu einem prozessierenden Verhältnis, das nur noch nach sinnlichem Erleben, nicht aber nach wissenschaftlicher Empirie verlangt. Überhaupt entzieht sich ein so gefasster Krisenbegriff dem empirischen Nachweis. Wenn etwa Kurz (in seinen Artikeln und im "Schwarzbuch") behauptet, die Krise der dritten industriellen 3 Revolution sei als finale gekennzeichnet dadurch, dass die ausgestoßene, wegrationalisierte Masse an vorrevolutionärer Arbeitskraft nicht mehr durch die neue Organisation von toter Arbeit auf höherer Stufenleiter eingesogen, wettgemacht und überkompensiert werden könne, um einen neuen Produktivitätszyklus in Kraft zu setzen, dann ist dies empirisch nicht nachvollziehbar und nicht beweisbar (genauso wenig wie eine andre Beschreibung krisenhafter Phänomene, zum Beispiel der tendenzielle Fall der Profitrate. Immer handelt es sich bei diesen Beschreibungen um theoretische Extrapolationen erfahrener Unzulänglichkeiten - der Arbeitslosigkeit, des Konkurses, der Armut).

Andrerseits ist die herkömmliche Beschreibung des Fordismus - bezogen auf seine Produktivität, sein Wirtschaftswunder und auf den nicht eingetretenen Fall seiner Finalität 4 - auch erst als Prophezeiung aus dem schon bekannten Geschehen her möglich. Schlichtweg angenommen, der Kalte Krieg hätte seinen Verlauf nur ein bisschen anders genommen; etwa dass Glenn Ford nicht so gut gelandet wäre wie Juri Gagarin, hätte unsere heutige Gegenwart in eine andre Richtung führen können mit dem ganzen gelobten Fordismus, und die vaticinatio ex eventu würde heute anders aussehen.

Plötzlich wären Marshall-Plan und Wirtschaftswunder faux-frais gewesen, um Vietnam wäre nie gekämpft worden etcetera, etcetera. Natürlich ist dieses Argument ein dummes, und ich will mich in Konjunktive nicht weiter vertiefen. Mir geht es hier nur darum, angesichts so getaner Kontingenzen nicht unbedingt aus einem Geschehenen eine einzige unabdingbare Notwendigkeit als einzig Mögliches (noch dazu ex eventu) her zu leiten. Dieses damals Geschehene war nicht determiniert in dem Sinn, dass heute daraus Destilliertes schon damals nur das nun bekannte Ergebnis und sonst keins hätte zeitigen können.

Anders gesagt: wer die Welt in der Epoche des Fordismus betrachtet und daraus eine finale Krise erschlossen hätte, hätte nicht weniger Zustimmung oder Ablehnung als Kurz heute zu erfahren gehabt. Dies etwas polemisch zur Kritik der Finalität der Krise und in dieser polemischen Haltung zugegebener Maßen verkürzt; aber aus dem gesamten Kontext der Diskussion lässt sich zweierlei Krisenbegriff herausschälen: einerseits Krise als zyklische Wiederkehr innerhalb der linearen Fortschrittsbewegung der bürgerlichen Gesellschaft, nur dazu angetan, innerhalb dieser linearen Bewegung Reinigungs- und Umbruchsdaten zu liefern, Marken der Entwicklung eben. 5 Andrerseits gibt es den elaborierten Begriff einer Krise, der sich nicht von datierten Konjunktureinbrüchen herleitet, sondern von den Zumutungen, die, aus und mit der fetischistischen Vergesellschaftung entstanden und als Struktur in wandelbarer Erscheinung immer vorhanden, Gutes Leben und eine maßvolle Reproduktion der Leute zugunsten maßloser Reproduktion der Werte verunmöglichen. Was als Krise in diesem Zusammenhang beleuchtet wird, hat daher auch den Charakter des Legitimationsverlusts - in die Krise gerät nicht nur das System, sondern auch der Konsens.

Was Kurz also in seiner Polemik als krisenhafte Entwicklung der dritten industriellen Revolution bezeichnet, ist der prozessierende Charakter des gesamten Kapitalismus in seiner Totalität. Was dabei als finaler Charakter bezeichnet wird, ist die Einsicht in Widersprüche und Aporien, die ein Funktionieren dieser Produktions- und Vergesellschaftungsweise, gemessen an gelungener Reproduktion und Gutem Leben, als unmöglich erscheinen lassen. Was als empirische Beschreibung Kurz dabei anbietet, gemessen an der Entwicklung von Börsenkursen, Arbeitslosenstatistiken und fallierenden Nationalökonomien, ist nicht das Material, das eine Prophetie über den Untergang des Systems untermauert. Vielmehr ist es der Hinweis darauf, dass Gutes Leben und gesicherte Reproduktion ohne Wachstum 6 denkbar und möglich sind, und wir uns um unsrer selbst willen mit dieser Vorstellung vertraut machen müssen. So enthält der Begriff der finalen Krise auch ein Moment des Programmatischen, aus Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat.

Keinesfalls aber müssen wir uns finale Krise so denken, dass wir jetzt dem Zusammenbruch der bürgerlichen Geselligkeit zusehen können, als wäre es ein Lehrstück. Wobei wir zusehen, ist ein Prozess, den die Leute schon immer beobachten konnten. Und wir wollen nicht vergessen: der Untergang der modernen christlichen Antike hat sich über wenigstens zwei Jahrhunderte gezogen und wurde im Bewusstsein der Damaligen höchst unterschiedlich interpretiert, wenn auch die Zeitzeugenschaft an der langen Katastrophe, am schleichenden Verfall unbestritten war. Rom ist auch nicht an einem Tag zerstört worden. Ein anderer Bezug, der in Kurz' Philippika fehlt - wie eine Darstellung, was unter finaler Krise zu verstehen ist -, ist der auf die Leute selbst. Die Menschen tauchen in seiner Polemik nur auf als Erscheinungsformen ihrer bürgerlichen Vergesellschaftung, ihrer Geselligkeit: sie treten nur auf und werden wahrnehmbar im Konsens (oder als Opfer dieses Konsenses). Diesen Konsens zu demaskieren und zu destruieren, unternimmt Kurz. Insofern richtet sich sein Buch hauptsächlich an "Linke", durchaus auch in diesem abgelutschten Sinn, auch um zu zeigen, wo die traditionelle Linke seit ihrer sozialdemokratischen Geburt gelandet ist (oder schon immer war). Die Hauptstoßrichtung dieser Argumentation geht aber nicht dahin, ein neues Subjekt revolutionärer Affenliebe zu suchen, zu finden und zu präsentieren. Hier geht es nur um die Abstoßung von der bürgerlichen Subjektform selbst (so weit dies in einer Polemik gelingen kann, die selbst im Rahmen dieser Subjektformgebundenheit daherkommt) und um die Abstoßung von einem Teil des bürgerlichen Subjekts in Gestalt der "Linken".

Es verweist nun auf den Zustand dieser "Linken", dass auch sie empirisch nicht gefasst werden kann. Sie ist amorph als Begriff und als Gebilde, und das erlaubt dann eben nur einen Text, der eine Äußerung einer Strömung oder Schule nach der anderen herausnimmt und auf ihren argumentativen Gehalt hin untersucht. Wenn Kurz dann zur Klarstellung kommt, einig ist die "Linke" nur in der Demokratie, wie immer auch die jeweiligen Positionen in der bürgerlichen Konkurrenz besetzt werden, dann demaskiert er diese "Linke" als dieser demokratischen Veranstaltung der bürgerlichen Verfasstheit und Geselligkeit zuordbar.

Es erklärt sich auch der spezifisch argumentative, polemische Charakter dieses Rundumschlags dadurch, dass es keine vermittelnde und vermittelbare Stellung zu einem einmal erkannten Übel geben kann. Insofern erhebt sich natürlich die Frage nach der eigenen Stellung verknüpft mit der Frage nach der Stellung der aus dem Reproduktions- und Organisationszusammenhang Geworfenen. Die Frage bleibt im Buch unbeantwortet, oder nur negativ aufgelöst. Manchmal taucht an den Rändern der Argumentation wie ein Blitz ein kurzer Ausblick auf ein Jenseits auf:" Weltkibbuz" steht irgendwo - als Ahnung hingeworfen, nicht argumentiert und nicht durchdacht. Aber die Frage nach unsrer Position wird vielleicht gerade dadurch angesprochen, dass die Antwort nebelhaft ist. Da schwingt etwas vom Guten Leben und von der Gemeinschaft mit.

Da schwingt etwas mit von einem Paradigmenwechsel: wenn alle Erscheinungen der Subjekte - seien sie auch klassen- und standesmäßig konstituiert - als konsenstragende und -bildende Form gelesen werden müssen, die in ihrer Konsensfähigkeit schon so weit gehen, die widersprüchlichsten Parameter, was Stand, Geschlecht, Geschichte, Tradition, Interessen, Ansprüche, Gesundheit, Ernährung betrifft, in ihrer mehrheitsfähigen, Mehrheiten erheischenden Gestalt in sich zu vereinen; wenn das so ist, dann kann die Überwindung dieser Gesellschaftsformation nicht durch ein einziges, besonders ausgezeichnetes Segment dieser Gesellschaft gedacht werden.

Der Ansatzpunkt wird also nicht mehr die Frage nach dem Subjekt der Umwälzung sein (alle oder niemand, im Prinzip), sondern nach dessen Objekt; nicht wer, sondern was. Hier wird die lebensweltliche Dimension so eines in den Text eingestreuten "Weltkibbuz" deutlich. Es wird gefragt werden müssen nach dem Inhalt von Gutem Leben. Es wird gefragt werden müssen nach Geschwindigkeit und Entwicklung in Form von Gemächlichkeit, nach Kommunikation in Form von Rückkopplung und Redundanz, nach Reichtum in Form von Verschwendung und Luxus. Es wird gefragt werden müssen, ob und wie Probleme einer Lösung zugeführt werden sollen. Ist - beispielsweise - der demokratische Terror des Mehrheitsentscheids samt Minderheitenschutz erst einmal gebrochen, wird ein entstehendes Problem gar nicht mehr danach verlangen, durch demokratischen Bescheid, bürgerliche Exekution und Verantwortung und anschließende Evaluierung bewältigt zu werden unter Garantie der Einspruchsrechte der Anrainer und unter Berücksichtigung der volkswirtschaftlichen Interessen. Ganz allgemein traue ich mich zu sagen: die Dichotomie von Problemstellung und -lösung wird aufgehoben werden können zugunsten eines work in progress, in dem die Hierarchie der Problemstellung ebenso verschwindet wie die beschließende Mehrheit zugunsten einer prozessierenden Einhelligkeit das Feld räumen wird. Dass eine sogetane Gesellschaftsformation sich nicht nur mehr Zeit nehmen, sondern auch mehr Zeit haben wird, versteht sich dann von selbst.

Ich bin über die Besprechung des Buches "Weltordnungskrieg" von Robert Kurz hinausgegangen, als Rezensent habe ich das Thema verfehlt. Das liegt am Buch. Interessant ist der Hintergrund, auf dem es verfasst wurde.

Anmerkungen

1 Lektüre empfohlen, keine Absicht der Werbung damit verknüpft, eher das Angebot auch eines Vergnügens der Lektüre, Stil und Inhalt besser und interessanter als im "Weltordnungskrieg", sinnliche Freude nicht nur an Polemik sondern auch an persönlicher gemeinsamer Teilhabe von Autor und Publikum; inhaltliche Einschränkung, Warnung und gefällige Ermahnung: das Buch verknüpft über das oben im Text von mir Gesagte hinaus den Begriff der Krise auch noch mit der Verunmöglichung des Guten Lebens durch die kapitalistische Vergesellschaftung. Und flugs erhält der Krisenbegriff noch die Dimension der sinnlichen Erfahrbarkeit; nicht die kapitalistische (ökonomische) Reproduktion ist in Frage gesellt, sondern im Gegenteil - um diese zu gewährleisten - deine eigene. Und das trifft auf jede Epoche zu, das Kapitel von der ursprünglichen Akkumulation gilt in saecula saeculorum.

2 Wenn es je einen Sinn gehabt hat - das Gerede vom Faschisten, den es in uns zu entdecken gibt -, dann genau in diesem Zusammenhang.

3 Rsp. der informationstechnologischen, mikroprozessierenden, bioreproduzierenden; wir sehen, der Begriff ist gar nicht mehr so sehr an ein alleiniges wissenschaftliches und gesellschaftliches Substrat gebunden.

4 An den Fordismus war immer eine doppelte Erscheinung des Proletariats gebunden: zum einen das Proletariat, das endlich versorgt im Wohlstand lebt, zum anderen das Proletariat, das endlich wie ein Mann aufsteht und die massierten Produktionsmittel übernimmt (vor dem Weltkrieg) oder sie durch die Bestreikung der Massenfabrik ad absurdum führt (nach dem Weltkrieg).

5 In dieser Sicht ist auch mit einem Ende der bürgerlichen Bewegung zum Fortschritt als einem Erreichen des Ziels der Geschichte verbunden, dass Krisen nicht mehr existieren können und verschwinden müssen - das Ende der Geschichte also sich nicht als Überwindung, Überschreitung, Transzendenz darstellt, sondern als Erfüllung, Vollendung.

6 In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine von mir des Öfteren geäußerte Mutmaßung verweisen, dass die Entwicklung der sinnlichen Fähigkeiten schon längst abgeschlossen ist (spätestens seit dem Ende des 17. Jahrhunderts). Es besteht also keinerlei reproduktive Notwendigkeit mehr, den Lebensgenuss an die erweiterte Reproduktion einer sich selbst verwertenden Wirtschaft zu binden und Bedürfnisse zu wecken, die weder zu befriedigen sind noch eine Notwendigkeit an der Lebenswelt darstellen. Ebenso ist heute die Entwicklung des Wissens über Natur und Kunst gar nicht mehr an die Freude am Wissen und Gestalten gebunden, sondern dieser Verbindung von Sinnessucht und Ökonomie untergeordnet - auch hier also die Reproduktion von den Leuten auf die Maschine umgekuppelt.

 

Die letzte Ausgabe der "alten" Krisis

KRISIS 27 (November 2003)
Ernst Lohoff: Gewaltordnung und Vernichtungslogik -- Karl-Heinz Wedel: Rechtsform und "nacktes Leben" - Anmerkungen zu Giorgio Agambens "Homo Sacer" -- Robert Kurz: Tabula Rasa - Wie weit muss oder darf die Kritik der Aufklärung gehen? -- Franz Schandl: Staat und Schlepper - Scheinbar jenseits des obligaten Rassismus hat sich (nicht nur) in Österreich ein breiter Konsens in puncto ordentliche Einwanderungspolitik etabliert -- Franz Schandl: Kontinuität und Singularität - Auschwitz als authentisches Produkt der westlichen Zivilisation (Rezension Enzo Traverso) -- Jaime Semprun (Paris): Bemerkungen zum Manifest gegen die Arbeit -- Charles Reeve (Paris): Wenn der Berg kreißt und eine Maus gebiert (Kritik des Manifestes gegen die Arbeit) -- Luca Santini (Rom): Anmerkungen zum Manifest gegen die Arbeit -- Nachwort zur franko-kanadischen Ausgabe des Manifests gegen die Arbeit

Gute Zeiten für Scharlatane: Jeder selbst ernannte Experte, der eine Erklärung des Inhalts abgibt, der Aufschwung sei aber nun wirklich in Sicht, kann damit rechnen, sich auf den Titelseiten deutscher Zeitungen wieder zu finden. Im Sommerloch des Jahres 2003 jedenfalls tummelten sie sich dort zuhauf. Worin eigentlich die frohe Botschaft des nahenden Aufschwungs bestehen soll, blieb dabei mehr oder weniger nebulös: Die Arbeitslosenzahlen, darin sind sich die Experten einig, werden sich nicht verringern, die EU-Stabilitätskriterien wohl weiterhin verfehlt, die staatlichen Kassen sich nicht wieder füllen, und schon gar nicht werden die brüchig gewordenen sozialen Sicherungssysteme plötzlich wieder finanzierbar. Im Gegenteil, ihre als "radikale Einschnitte zum Zwecke ihrer Erhaltung" verkaufte sukzessive Abschaffung gilt überhaupt erst als die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass es zu dem erhofften Aufschwung kommt.

Aber selbst dann scheint er nicht sicher, deswegen muss er herbei beschworen werden, denn schließlich besteht "die Wirtschaft", auch darin sind sich die Experten einig, ja zur Hälfte aus "Psychologie". Die ZEIT, Meisterin aller Klassen in der Disziplin, Analyse durch die Demonstration guten Willens und moralische Appelle zu ersetzen, ist hier so richtig in ihrem Element und scheut für den guten Zweck auch vor einer Umwertung aller Werte nicht zurück, indem sie das Bürgerrecht auf Konsum (nach Maßgabe der jeweiligen Zahlungsfähigkeit und Kreditwürdigkeit, versteht sich) zur nationalen Pflicht im Dienst an Volk und Vaterland erklärt (Marc Brost, ZEIT vom 23.08.03, S. 1): "So sind es vor allem die Menschen, die diesmal für die Wende sorgen müssen. Ihre Ausgaben sind es, welche die Wirtschaft wieder wachsen lassen." Vorbild sind mal wieder "die Amerikaner", die "auch im Abschwung munter konsumierten" (und sei es auf Kredit), Helden an der Konsumfront, wenn man von den 40 Millionen bereits unter die Armutsgrenze Gefallenen der Einfachheit halber einmal absieht. Dagegen sind "die Deutschen" von der Krankheit des "Angstsparens" befallen. Aufgabe der Politik ist es demgemäß, die Menschen von dieser Krankheit zu heilen bzw. ihre Selbstheilungskräfte zu stärken, und, siehe da, sie befindet sich auf gutem Wege: "Es ist der gigantische Nachholbedarf der vergangenen Jahre, der nun die Initialzündung für den Aufschwung liefern kann - wenn endlich auch die Politik ihren Teil dazu beiträgt. Die Menschen brauchen Gewissheit, dass niedrigere Krankenkassenbeiträge und ein zukunftsfestes Rentenniveau nicht nur versprochen, sondern auch verwirklicht werden. Und sie brauchen Geld, mit dem sie die Wirtschaft wieder ankurbeln können" (gemeint ist die angekündigte Steuersenkung).

Einerseits sollen also die deutschen Konsumenten in den vergangenen Jahren riesige Vermögen angespart haben, die sie nun endlich verprassen wollen, andererseits brauchen sie fürs Konsumieren dringend Geld. Irgendwas kann da doch wohl nicht stimmen. Auch der Hinweis auf "niedrigere Krankenkassenbeiträge und ein zukunftsfestes Rentenniveau" ist in diesem Zusammenhang wohl kaum angebracht. Von der Höhe des inzwischen erreichten Niveaus wird denn auch lieber nicht gesprochen. Wer nicht mit 65 oder demnächst vielleicht 67 einen materiellen Absturz erleben will, muss schon privat vorsorgen, und das kostet bekanntlich. Ebenso muss der Wunsch etwa nach einem weiterhin kompletten Gebiss künftig selbst finanziert werden, was die persönlich zu zahlenden Krankenkassenbeiträge natürlich nicht nach unten, sondern nach oben treibt.

Wenn ein intellektuell derart herunter gekommener, gegen die Fakten und logischen Regeln argumentierender Beitrag heute die Titelseite einer "renommierten deutschen Wochenzeitung" füllen darf (und es handelt sich hier keineswegs um einen einmaligen Ausrutscher), dann zeigt sich darin dreierlei: dass nämlich, erstens, die Krise zumindest des Geldes das öffentliche Bewusstsein erreicht hat, in welch verquerer Gestalt auch immer, dass sie aber, zweitens, nicht sein darf und daher als vorübergehendes Phänomen weginterpretiert werden muss, und dass, drittens, eben dies nicht mehr geht.

Nun ist die Verbreitung von Krisenbewusstsein allein noch kein Schlüssel zur Veränderung, solange dieses Bewusstsein nämlich die ideologisch verkehrte Form hat, die es notwendig annehmen muss, wenn das Kapitalverhältnis und insbesondere die kapitalistische Konkurrenz als Naturverhältnis verstanden werden, als uralter und immer währender "Kampf ums Dasein" und "survival of the fittest". Das männlich-weiße Konkurrenzsubjekt kann Krise überhaupt nur als Niederlage, als Unterlegenheit in der Konkurrenz denken und muss darauf mit der Verschärfung des Konkurrenzkampfes antworten. In einem System, das als Ganzes allmählich in den freien Fall übergeht, zählt als einziges Erfolgskriterium seiner Akteure, die eigene Fallgeschwindigkeit geringer zu halten als die der Konkurrenten. Das gilt dann bereits als Aufstieg, und systemimmanent betrachtet stimmt es sogar.

Es ist daher kein Zufall, dass bei den vergeblichen Versuchen, die Krisenphänomene zu verstehen, gern der Leistungssport als Metapher bemüht wird. Auch da kommt es schließlich nicht darauf an, einfach nur gut zu sein, sondern besser als die anderen. "Die Leistungssportler sind so müde wie die Gesellschaft" (Hanns-Bruno Kammertöns, ZEIT vom 04.09.03, S. 1), hier bezogen auf die diesjährige Leichtathletik-Weltmeisterschaft, in der es für die Deutschen nur zu lauter sechsten Plätzen reichte, zum "Mittelmaß" also.

Was für die vereinzelten Einzelnen gilt, trifft erst recht auf die Kollektivsubjekte zu, auf kapitalistische Einzelbetriebe ebenso wie auf die "Deutschland AG". Nicht die Entsorgung der sozialen Sicherungssysteme gilt als der Skandal, sondern dass "wir" nicht mehr "Weltspitze" sind, in welcher Disziplin auch immer. Also ist die Leistung zu steigern, der Output, die Produktivität. "Die Deutschen müssen wieder länger arbeiten." Diese inzwischen parteiübergreifend erhobene Forderung, die angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen und der damit ursächlich zusammenhängenden Verdoppelung der Produktivität in weniger als dreißig Jahren auf den ersten Blick als absurd erscheint, ist im Sinne der Standortkonkurrenz völlig rational und daher politisch alternativlos. Und tatsächlich hat sie sich ja "naturwüchsig" bereits weitgehend durchgesetzt: Selbst die 40-Stunden-Woche dürfte in den meisten Branchen allenfalls noch auf dem Papier stehen. Der Idealfall wäre natürlich, die Produktivität eines hoch technisierten Industriestandortes mit den Arbeitsverhältnissen eines Dritte-Welt-Landes zu verbinden. Dann wären "wir" unschlagbar.

Die damit vorgegebene Entwicklungsrichtung hat leider einen kleinen Schönheitsfehler: Die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht, wird sich also ähnliche Überlegungen machen mit ähnlichen Schlussfolgerungen, und am Ende sind wieder alle gleichauf, nur unter für alle verschlechterten Bedingungen (auch für die Kapitalverwertung), und die nächste Runde kann beginnen. Diese logische Struktur von Akteuren, die alle ihren eigenen Vorteil suchen, was ihnen aufgrund der gültigen Spielregeln allesamt zum Nachteil gereicht, das Gegenstück also zur "unsichtbaren Hand" des Adam Smith, ist übrigens unter dem Namen "n-Personen-Gefangenendilemma" der akademischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaft durchaus geläufig. Nur darf es dort um Himmels willen nicht auf die "schöne Maschine" des Weltmarkts anwendbar sein.

Der Kampf gegen die Krise des warenproduzierenden Systems besteht heute wesentlich in der Bekämpfung ihrer Opfer, der aus der warenförmigen Reproduktion Herausgefallenen, die dazu in mehr oder weniger bewusster Verdrehung von Ursache und Wirkung erst einmal als die wahren Schuldigen abgestempelt werden müssen. Kaum noch ein Tag vergeht, an dem nicht irgendeine Boulevardzeitung einen Sozialhilfeempfänger des Verbrechens eines "luxuriösen" Lebens überführt und öffentlich anprangert. Ganze Heerscharen von Reportern scheinen sich damit ihren Arbeitsplatz zu sichern. In den Arbeitsämtern gilt derweil als Erfolgskriterium nicht mehr die Anzahl der in Beschäftigungsverhältnisse Vermittelte (die Ergebnisse waren doch allzu dürftig), sondern die durch vielerlei Schikanen erreichte Kosteneinsparung qua Zurückstufung finanzieller Ansprüche. Wer die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz nicht zu einem Vollzeitjob macht und das etwa durch eine entsprechende Anzahl sinnloser Bewerbungsschreiben nachweist, bekommt weniger Geld. Einer Todsünde gar kommt es gleich, einen angebotenen Arbeitsplatz einfach abzulehnen, und sei er noch so unzumutbar. Gleiches gilt inzwischen auch für Sozialhilfeempfänger, da liegt es doch nahe, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzuführen, das schafft Rationalisierungspotentiale.

Nicht nur in der Peripherie, in den Bürger-, Plünderungs- und Weltordnungskriegen nimmt der Kampf gegen die vom Weltmarkt Ausgespuckten und aus der bürgerlichen Gesellschaft Herausgefallenen immer gewaltsamere Formen an, sondern auch in den kapitalistischen Zentren, dort allerdings noch überwiegend verdeckt in den der demokratischen Öffentlichkeit weniger zugänglichen Bereichen wie etwa den für die "Illegalen" eingerichteten "exterritorialen Zonen" (vgl. Rechtsform und "nacktes Leben" in diesem Heft) . Vom "lebensunwerten Leben" wird selbstverständlich nicht gesprochen, entsprechend gehandelt zuweilen aber schon, und "menschlicher Abschaum" gehört inzwischen zum erlaubten Sprachgebrauch. In den Gefängnissen Hamburgs wurden eher beiläufig qua Verwaltungsakt die Automaten abgebaut, mit denen Drogensüchtige ihre Spritzen erneuern konnten, mit dem Argument, der Staat dürfe den illegalen Drogenkonsum nicht fördern. Nun wissen natürlich alle, dass durch eine solche Maßnahme der Drogenkonsum nicht ab-, wohl aber der gemeinsame Gebrauch der Spritzbestecke zunehmen wird, mit der Folge der schnelleren Verbreitung von Krankheiten wie AIDS und Hepatitis. Es kann jetzt darüber spekuliert werden, ob die damit verbundene Verringerung der Lebenserwartung drogensüchtiger Häftlinge mit dieser Maßnahme nur billigend in Kauf genommen wird oder aber ihr eigentlicher Sinn ist.

Wo es um Kosteneinsparung geht, darf es keine Tabus mehr geben, wie auch der JU-Vorsitzende weiß, der nicht einsehen mochte, warum man 85-Jährigen noch künstliche Hüftgelenke einsetzen solle, schließlich seien die Leute früher auch auf Krücken gegangen. Der auf diese Äußerung erfolgte Aufschrei sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass hier ein Diskurs installiert wurde, dessen Verlauf absehbar ist, wenn der Anteil der Alten weiter zunimmt und die finanziellen Randbedingungen sich weiter verschlechtern: Er wird nicht bei den 85-Jährigen stehen bleiben - schließlich ist dasselbe Argument genau so gut auf 70-Jährige anwendbar - und auch nicht bei Hüftprothesen. Schon heute sind viele Notfallkrankenhäuser so schlecht ausgestattet, dass die Ärzte gar nicht anders können, als "Prioritäten zu setzen", und natürlich wären sie dankbar, wenn es dafür gesellschaftlich sanktionierte Kriterien gäbe.

Für das Wohl "unserer" Volkswirtschaft müssen wir schließlich alle Opfer bringen. Ein anständiger Staatsbürger arbeitet künftig bis 67 und ist mit 68 gefälligst tot. Schöne Aussichten.

* * *

Die ökonomische Logik kippt angesichts der Krise der Arbeitsgesellschaft in eine Selektions- und Entsorgungslogik um. Wie bereits angedeutet, würde es freilich zu kurz greifen, diesen Umschlag allein darauf zurückzuführen, dass betriebswirtschaftliche Rationalität zum alleinigen Maßstab in allen gesellschaftlichen Subsystemen aufgestiegen ist. Elimination und Vernichtung gehören vielmehr zum Urgrund, auf dem der stolze Gesamtbau von Recht, westlicher Vernunft und Warensubjektivität errichtet ist.

In seinem Artikel Gewaltordnung und Vernichtungslogik untersucht Ernst Lohoff die Rolle von Gewalt und Krieg für die Herausbildung und Entwicklung der modernen Subjektform. Ausgehend von einer exemplarischen geistesgeschichtlichen Auseinandersetzung mit Hobbes, Hegel und Freud stellt er die These auf, dass sich Warensubjektivität um einen Gewaltkern herum konstituiert. Der blutige Aufstieg der großen staatlichen Kollektivsubjekte, dessen militärgeschichtliche Logik Lohoff näher beleuchtet, und die damit einhergehende Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols haben diesen Gewaltkern gleichzeitig implantiert und eingebunden. Im gleichen Maße wie sich in vielen Weltregionen reguläre Staatlichkeit auflöst und das staatsbürgerliche Ethos zerfällt, droht dessen Freisetzung. Bei diesem Prozess spielt der Leviathan selber eine Schlüsselrolle. Vor diesem Hintergrund geht es im Schlussteil des Beitrags um das fatale Wechselspiel zwischen dem Weltpolizisten und neuen poststaatlichen Gewaltakteuren wie el Qaida.

Auf den gewaltförmigen Kern der Konstitution des Politischen, des Verhältnisses von staatlichem Souverän und Staatsbürger zielt der Artikel Rechtsform und "nacktes Leben" von Karl-Heinz Wedel, in dem er versucht, Giorgio Agambens "Homo sacer" für eine wertabspaltungskritische Perspektive fruchtbar zu machen. Dieser Kern, im Normalzustand der Rechtsform gemeinhin verhüllt, kommt als Ausnahmezustand in der Krise zunehmend zum Vorschein, exekutiert etwa an den "Papierlosen". Sein Paradigma ist das Lager, die Reduktion des Einzelnen auf tötbares Leben.

Es sind die hässlichen Erscheinungsformen der neuerdings wieder gern beschworenen westlichen Werte, der Ideale der Aufklärung, und nicht irgendwelche Abweichungen davon, die jetzt in der Krise kulminieren. Gegenstand der letzten beiden Krisis-Hefte war u. a., diesen Zusammenhang nachzuweisen. Robert Kurz hat mit seinen beiden Artikeln Blutige Vernunft (Heft 25) und Negative Ontologie (Heft 26) dabei theoretisches Neuland betreten und, wie sollte es anders sein, damit auch intern kontroverse Debatten ausgelöst. Besonders die Rede vom "geistigen Gesamtmüll des Abendlandes" (Heft 25, S. 66), in manchen Diskussionen aus dem Zusammenhang gerissen, in den sie gestellt war, blieb nicht ohne Widerspruch (s. Anselm Jappe, Eine Frage des Standpunkts in Heft 26). In dem Artikel Tabula rasa nimmt Robert Kurz diese Diskussionen auf und entwickelt Kriterien für eine - um im Bilde zu bleiben - "Mülltrennung", indem er zwischen dem (abzuschaffenden) eigentlichen Gegenstand negatorischer Kritik und den geschichtlichen Artefakten unterscheidet, die über die Warengesellschaft hinaus Bestand haben können, so wie etwa die Kunst des Bierbrauens nicht mit der mesopotamischen Gesellschaft untergegangen ist, in der sie entstand. Der Text ist so gehalten, dass er auch ohne den Vorlauf der Artikel, aus denen er sich entwickelt hat, gelesen werden kann.

Der Kommentarteil beginnt mit dem kurzen Text Staat und Schlepper, in dem Franz Schandl die gesellschaftlichen Bedingungen für die Geschäfte der Fluchthelfer und die allgemeine Empörung über derartige Geschäfte kritisch unter die Lupe nimmt.

Ebenfalls Franz Schandl rezensiert in Kontinuität und Singularität das gerade in deutscher Sprache erschienene Buch von Enzo Traverso Moderne und Gewalt. Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors, in dem dieser Auschwitz als ein authentisches Produkt der westlichen Zivilisation kennzeichnet und seine These am historischen Material belegt.

Die Verbreitung von Krisis-Texten, insbesondere des inzwischen in acht Sprachen übersetzten Manifests gegen die Arbeit, aber auch verschiedener Anthologien über den deutschen Sprachraum hinaus hat auch dort erfreulicherweise zu kontroversen Debatten geführt. Wir dokumentieren hier exemplarisch vier Kritiken am Manifest gegen die Arbeit, die insofern repräsentativ sind, als sie einige häufig wiederkehrende Argumente und Einwände enthalten: Bemerkungen zum "Manifest gegen die Arbeit" von Jaime Semprun (Paris), Wenn der Berg kreißt und eine Maus gebiert von Charles Reeve (Paris), Anmerkungen zum "Manifest gegen die Arbeit" von Luca Santini (Rom) sowie das Nachwort zur franko-kanadischen Ausgabe des Manifests von Éditions Rouge et Noir (Québec). Eine Replik unsererseits ist für das nächste Heft vorgesehen.

Nicht fehlen soll auch diesmal der Hinweis auf neuere Publikationen aus unserem Zusammenhang. Da ist zunächst die Broschüre Scharfe Schafe - Geschorenes zum antideutschen Bellizismus zu der wir uns aufgrund der unerträglich gewordenen Ausbreitung des antideutschen Sektenwesens in der linken Szene und Presse genötigt sahen. Die Broschüre enthält Beiträge von Norbert Trenkle, Micha Böhme, Martin Dornis und Kenneth Plasa: , Robert Kurz, Franz Schandl, Ernst Lohoff u.a. und dokumentiert außerdem die Polemik gegen den Kongress "Spiel ohne Grenzen" im Mai 2003. Die Bestellmodalitäten finden sich in der Anzeige auf den letzten Seiten dieser Krisis.

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen und Hintergründen der antideutschen Ideologie, die in der Broschüre keinen Platz mehr fand, hat Robert Kurz in dem Buch Die antideutsche Ideologie geleistet, das im Oktober im Unrast-Verlag (Münster) erscheint (320 Seiten, 17 Euro).

Schließlich erscheint in diesem Herbst endlich auch die deutsche Fassung des Buches Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft von Moishe Postone, an dessen Übersetzung sich die Krisis (in Person von Petra Haarmann, Wolfgang Kukulies, Norbert Trenkle und Hanns von Bosse) in den letzten drei Jahren intensiv beteiligt hat. Das Buch ist im Freiburger ca ira Verlag erschienen, umfasst 600 Seiten und kostet 34 Euro. Es handelt sich um ein äußerst wichtiges theoretisches Grundlagenwerk, mit dem wir uns in den nächsten Nummern noch weiter auseinandersetzen werden.

Claus Peter Ortlieb für die Redaktion

Aus dem Editorial der krisis 27, September 2003

 

Es kriselt bei der Krisis! Es "geistert" hinter den "internen kontroversen Debatten"! "Geister" bereiten die Ent-scheidung vor!

"Robert Kurz hat mit seinen beiden Artikeln Blutige Vernunft (Heft 25) und Negative Ontologie (Heft 26) dabei theoretisches Neuland betreten und, wie sollte es anders sein, damit auch intern kontroverse Debatten ausgelöst. Besonders die Rede vom "geistigen Gesamtmüll des Abendlandes" (Heft 25, S. 66), in manchen Diskussionen aus dem Zusammenhang gerissen, in den sie gestellt war, blieb nicht ohne Widerspruch..." hieß es in dem obigen Editorial der letzten alten Krisis 27. Die dort erwähnten Artikel von Robert Kurz sind im Sommer 2004, wenige Monate nach der Spaltung der "Krisis", in einem Sammelband "Blutige Vernunft" im Horlemann Verlag herausgegeben worden. In seinem Vorwort beleuchtet Robert Kurz die Hintergründe und gesellschaftlichen Zusammenhänge der Kontroversen, ja Konflikte, die wesentlich zur Spaltung und dem Ende des Krisis-Projekts führten.

 

 

 

Robert Kurz
Blutige Vernunft
Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer westlichen Werte

Aus dem Inhalt

5 Vorwort

 

15 Blutige Vernunft

20 Thesen gegen die so genannte Aufklärung und die "westlichen Werte"

 

53 Negative Ontologie Die Dunkelmänner der Aufklärung und die Geschichtsmetaphysik der Moderne

Das abstrakte Individuum in der Uniform der so genannten Subjektivität 54 . Klassen und Klassenkämpfe als reine Formen bürgerlicher Subjektivität 60 . Gleichheit zum Tode: die negative Universalität der Rechtsform als Selektionsmechanismus 62 . Aufklärung und Gegenaufklärung: die Polarität kapitalistischer Entwicklung und die Identität der Gegensätze 68 . Bürgerliche Geschichtsmetaphysik des "Fortschritts" und bürgerlicher Geschichtsrelativismus 76 . Geschichtstheorie und verkürzte Herrschaftskritik 80 . Negative Ontologie als negative Geschichtstheorie 82 . Das Ende der Ahnengalerie und die Überwindung der positiven Theorie 84

 

89 Tabula rasa

Wie weit soll, muss oder darf die Kritik der Aufklärung gehen?

Feindschaft oder Erbschaft? 93 . Die Ikonen der Aufklärung 99 . Der eigentliche Gegenstand negatorischer Kritik 105 . Die Artefakte der Geschichte 112 . Der ontologische Bruch: Entfetischisierung 121 . Das ontologische Bedürfnis 123 . Hannibal Lecter oder die "Potenz" der Distanzfähigkeit 129 . Die Zertrümmerung des Alleszertrümmerers 137 . Das Subjektive an der Subjektkritik oder die Dialektik der Softies 139 . Es gibt keine Dialektik der Aufklärung jenseits des Hegeischen "Aufhebungs"-Begriffs 147

 

153 Subjektlose Herrschaft Zur Überwindung einer verkürzten Gesellschaftskritik

 

222 Über den Autor

Aus dem:

Vorwort

 

(...)

Heute geht es aber nicht allein um die Form der Darstellung und ob sie etwa unanständig oder gar polizeiwidrig wäre. Vielmehr findet eigentlich so gut wie keine theoretische Auseinandersetzung statt, die diesen Namen verdiente. Wenn es gar keine begriffliche Reflexion gibt, dann kann sie allerdings auch nicht polemisch zugespitzt werden. Das aber ist keine teutonische Spezialität mehr, sondern ein weltweiter Zustand. Und diese Situation findet sich nicht nur im offiziellen Wissenschafts- und Geistesbetrieb, sondern sogar in der radikalen Linken. Während oberflächlich gegenseitiger Respekt angemahnt wird, geht es in Wirklichkeit um die Akzeptanz eines defizitären, begriffslosen Räsonnements, das überhaupt nicht respektiert werden sollte. Nicht persönliche Anerkennung und ein solidarischer Umgang miteinander sind das Ziel dieser ideologischen Veranstaltung, sondern die Ausblendung unangenehmer Inhalte. Widersprüche sollen ungeklärt stehen bleiben und nicht in zugespitzter Formulierung erscheinen.

 

Diese Tendenzen gehen einher mit einer Personalisierung der Inhalte und Auseinandersetzungen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Parole der 68er, dass das Private politisch sei, scheint auf den Kopf gestellt; nun wird umgekehrt das Politische privatisiert. Zur Debatte stehen nicht Positionen, sondern Figuren und deren geschminktes Image ("Aufsteiger und Absteiger der Woche"). Das gilt zunehmend auch für die theoretische Sphäre. Philosophen treten nach dem Muster von Fußballstars und Rennfahrern an. Krisen werden als persönliches Versagen wahrgenommen. Es ist kein Zufall, dass sogar die sattsam bekannten Spaltungen der Linken im Unterschied zur Vergangenheit immer weniger anhand offen gelegter inhaltlicher Differenzen ausgetragen werden. Stattdessen schieben die Protagonisten neuerdings zunehmend persönliche Probleme vor; der Beziehungskampf und die undurchsichtige Intrige sind an der Tagesordnung.

 

Der Hintergrund der Personalisierung ist derselbe wie derjenige der Individualisierung und allgemeinen Entsolidarisierung, nämlich die Auflösung alles Denkens und Handeins in die Subjektivität der Selbstverwertung. Die Kritik ist zur Ware geworden, und damit zum Gegenstand der Konkurrenz, der offenen wie der verdeckten. Diesem Prozess einer Reduktion auf den homo oeconomicus, und auf das abstrakte Selbstbehauptungs-Individuum entspricht gleichzeitig eine Paralyse der kritischen Reflexion, die durch Voluntarismus und hohle Deklamation ersetzt wird; etwa bei Hardt/Negri, deren "Empire"-Buch gerade dadurch Kult-Status erlangt hat. Begrifflich geht es um nichts mehr, weil es um nichts mehr gehen darf. Das Verlangen nach Emanzipation verkommt zur netten Phrase. Die gefährliche Sache wird auf seichte Emotionen und die rebellische Emotion wird auf seichte Sachlichkeit heruntertransformiert.

 

(...) Die Abstumpfung der Kritik und der Fortschrittsideologie ist eine Not; aber diese Not wird zur Tugend gemacht. Statt die Kritik gegen das Wesen des Kapitals selbst als Unwesen zu richten und sie damit kategorial zuzuspitzen, wird die demokratische Bräsigkeit zum Ideal erhoben. Das periodisch proklamierte Frühlingserwachen lebt allein von modischen Schlagworten, die schon bald wieder vergessen sind. Darin treffen sich das gemeinbürgerliche Bewusstsein und dessen linksradikale Derivate. Ob ein konservativer Präsident fordert, dass ein "Ruck" durch die Gesellschaft gehen solle, ob die ökonomischen Ideologen vom "Aufbruch in die Selbstverantwortung" schwärmen, oder ob die Linke vermittlungslos die "Aneignung" entdeckt und eine "andere Welt" für möglich erklärt - stets ähneln die Parolen verzweifelt denen von Werbekampagnen, weil die Bestimmungen willkürlich und zusammenhangslos bleiben. Es werden bloße "Stimmungen" erzeugt, die nicht nachhaltig sein können. Die damit verbundene phänomenologische Reduktion des Denkens markiert die Kapitulationsurkunde einer Kritik, die sich als begriffliche selbst aufgegeben hat.

 

(...) Der hilflose Antikapitalismus der Linken geht ins Leere, weil ihm sei- ne Bezugsfelder in der zu Ende gegangenen Modernisierungsgeschichte (Arbeiterbewegung, Realsozialismus, nationale Befreiungsbewegungen) abhanden gekommen sind. Dieser Bezug stand selber noch im Bann des bürgerlichen Aufklärungsdenkens, das jetzt auch in der Linken ein letztes Mal mit Macht an die Oberfläche durchbricht. Vergessen die "Dialektik der Aufklärung" (Adorno/Horkheimer), vergessen die Kritik am Eurozentrismus; ohnehin nur unvollständige und halbherzige Anstalten für einen Ausbruch aus dem Verhängnis kapitalistischer Scheinrationalität. Jetzt wäre eine radikale, also bis auf den Grund gehende Destruktion des Aufklärungsdenkens und seiner Orwellschen Sprache angesagt, weil die Kritik der bürgerlichen Vernunft und ihrer Resultate mit den Mitteln der bürgerlichen Vernunft ganz unmöglich geworden ist.

 

Ein Teil der Linken flüchtet stattdessen vor der eigenen bürgerlichen Vernunft in ein scheinemanzipatorisches Plaudern und Plappern, das die schal gewordenen Begriffe des untergegangenen Arbeiterbewegungsmarxismus wiederkäut oder sie zuvor noch mit postmodernen Geschmacksverstärkern anreichert; der Kult der Ambivalenz kann zum Alibi der begrifflichen Abrüstung werden, um sich der Anforderung des kategorialen Bruchs nicht stellen zu müssen. Ein anderer Teil der Linken gräbt sich zusammen mit den offiziellen demokratischen Ideologen lieber an der letzten Verteidigungslinie der Modernisierungsvernunft ein. Plärrend wird von vielen ehemaligen Kritikern ein angebliches "bürgerliches Glücksver- sprechen" eingeklagt, während die Globalisierung des Kapitals über alle sozialen Beziehungen hinwegwalzt und die Lebensgrundlagen zerstört.

 

Es ist ganz offensichtlich, dass die Frage einer radikalen Kritik der Aufklärung an die eigentliche Tabugrenze der Moderne führt. Diese Grenze ist zusätzlich dadurch gesichert, dass jegliche konsequente Aufklärungskritik denunziatorisch der reaktionären Gegenaufklärung und kulturpessimistischen Antimoderne zugeschlagen wird, obwohl es sich dabei in Wahrheit um Produkte der Aufklärung selbst handelt. Eine emanzipatorische Anti- moderne soll als denkunmöglich erscheinen; aber gerade im Denken dieser angeblichen Unmöglichkeit besteht die aktuelle historische Aufgabe. Es ist die kapitalistisch konstituierte Subjektform, die den gemeinsamen Nenner von bürgerlicher Aufklärung und ebenfalls bürgerlicher Gegenaufklärung bildet; und in diese Form ist auch die bisherige Linke ein- geschlossen. Die Tabugrenze kann nur durchbrochen werden, wenn der emanzipatorische Impuls so weit geht, diese gemeinsame Subjektform des modernen warenproduzierenden Systems ins Visier zunehmen.

 

Die kategoriale Kritik an den Wesensbestimmungen der kapitalistischen Moderne hat unter dem Namen der "Wertkritik" bereits eine gewisse Ausstrahlungskraft in der Sphäre theoretischer Reflexion gewonnen. Wertkritik bezieht sich auf die Wertform der Ware als Vergesellschaftungsform der Moderne. Aber es geht dabei keineswegs bloß um eine ökonomische Bestimmung im engen Sinne. Vielmehr ist der Begriff des Werts bzw. der Verwertung ein negativer Totalitätsbegriff des Kapitalverhältnisses oder der" Wertvergesellschaftung". Nation, Staat und Politik sind nicht unmittelbar der empirischen Ökonomie subsumiert, aber sie gehören der selben vom Wert gesetzten fetischistischen Totalität an.. Deshalb kann die politische Form auch keine Emanzipationsform sein, ebenso wenig die so genannte Nation. Dasselbe gilt für die kapitalistische Ontologie der "Arbeit". Auch der abstrakte Arbeitsbegriff bildet keinen, womöglich noch transhistorisch zu fassenden, Hebel der Emanzipation. Arbeit, Nation und Politik stellen einzig Kategorien des warenproduzierenden Systems dar und verfallen als gesellschaftliche Kategorien zusammen mit diesem.

 

Im deutschsprachigen Raum wurde die Wertkritik, die sich aus dem wertimmanenten traditionellen Marxismus herauszuarbeiten begann, über mehr als ein Jahrzehnt von der Theoriezeitschrift "Krisis" getragen. Aber sogar innerhalb dieses Zusammenhangs wertkritischer Theoriebildung machte sich zuletzt die Tabugrenze der Moderne bemerkbar. So- bald die Kritik der Arbeit und der Politik sich über die Begriffe der Kritik der politischen Ökonomie und der bürgerlichen Rechtsform hinaus zur Kritik der Subjektform und der Aufklärung fortentwickelte, begannen sich die Widersprüche dieses Subjekts trotz des Anspruchs einer neuen radikalen Kritik destruktiv geltend zu machen. Insofern haben die hier vorgestellten Essays bereits ein gewisses Schicksal durchlaufen. Dass sie in drei aufeinander folgenden Ausgaben von "Krisis" (2002 und 2003) erschienen sind, war Moment eines erbitterten Konflikts. Der Abdruck des Textes "Blutige Vernunft" sollte zunächst unterbunden werden und war erst nach heftigem Widerstand möglich; der Text "Tabula rasa" rief noch stärkere Abwehrreflexe hervor und machte "böses Blut".

 

Ein Aspekt dieser Konflikte bestand darin, dass die hier ansatzweise entwickelte Subjekt- und Autklärungskritik sich nicht mehr auf den Horizont des androzentrischen Universalismus beschränkt, der ja das strukturell männliche Autklärungsdenken kennzeichnet. Dem abstrakten Individuum der Moderne liegt die männnlich-weiße westliche Subjektform (MWW) zu Grunde. Gerade die Einbeziehung des Geschlechterverhältnisses auf der Abstraktionshöhe der kapitalistischen Wesensbegriffe grenzt diese emanzipatorische Aufklärungskritik entscheidend von der bürgerlichen Gegenaufklärung ab, die selber immer zutiefst androzentrisch bestimmt und genau dadurch mit der Aufklärung untergründig verbunden war. In demselben Maße, wie nun der Begriff der geschlechtlichen "Abspaltung", der von. Roswitha Scholz entwickelt worden ist (Das Geschlecht des Kapitalismus, Bad Honnef 2000), in die Aufklärungskritik systematisch integriert wurde, machten sich die Bremsversuche im Projekt der Wertkritik von "Krisis" immer heftiger bemerkbar. Die Furien des falschen androzentrischen Universalismus wurden entfesselt, als sich abzeichnete, dass die bislang eher als eine Art Fremdkörper geduldete (und im Zweifelsfall von der begrifflichen auf die historisch-empirische Ebene abgeschobene) Abspaltungstheorie das selber noch abstrakt-universalistische Verständnis der Wertkritik zu sprengen drohte.

 

Es war bezeichnend, dass die Abwehr dieser scharfen Bestimmung der Subjekt- und Aufklärungskritik zunächst nicht offen als inhaltlicher Dissens formuliert wurde, sondern als Anklage gegen "Zuspitzung" und als Versuch einer persönlichen Denunziation daherkam. Diese Art der Konfliktführung ordnet sich in den Mainstream der linken und gemeinbürgerlichen Privatisierung gesellschaftlicher, inhaltlicher Probleme ein. Eine Wertkritik, die vordem letzten entscheidenden Bruch mit der modernen Subjektform und deren aufklärerischer Selbstlegitimation zurückscheut, muss zwangsläufig in die bürgerliche Ontologie zurückfallen. Mit dem formale Seriosität mimenden, abwiegelnden Gestus der Ausgewogenheit kann man vielleicht noch eine Zeitlang im Szene- Diskurs einer an theoretischer Klärung gar nicht interessierten Linken mitschwadronieren, aber die Kritik nicht mehr weitertreiben. Soweit ein im androzentrischen Universalismus stecken bleibender wertkritischer Diskurs Elemente einer Aufklärungskritik aufnehmen wollte, könnte er sich nur bei den Denkern der bürgerlichen Gegenaufklärung bedienen und sich damit theoretisch endgültig desavouieren.

 

Der Zusammenhang der ursprünglichen Theoriebildung von "Krisis" existiert nicht mehr; was unter demselben Label weiter firmiert, ist nichts als ein Etikettenschwindel, seit die Mehrheit der Redaktion und wesentliche AutorInnen von den auf dem Boden des abstrakten Universalismus stehen gebliebenen Vertretern einer Vulgarisierung der Wertkritik mit formaljuristischen Mitteln hinausgeputscht worden sind. Nachdem "Krisis" auf diese unrühmliche Weise Geschichte geworden ist, wird die wert- und abspaltungskritische Theoriebildung in der neuen Theoriezeitschrift "EXIT!" weitergeführt. Die hier vorliegenden Essays markieren die Bruchlinie und den Umschlagspunkt zu einer weitergehenden, "zugespitzten" emanzipatorischen Kritik von Aufklärung und männlich- weißer westlicher Subjektform (MWW).

 

Für die LeserInnen eines breiteren Publikums, die diese Texte nicht als Dokumente eines inneren Konflikts wertkritischer Theoriebildung wahr- nehmen, können sie direkt als Einstieg in einen umstürzlerischen Diskurs dienen, der sich den falschen Alternativen der warenproduzierenden Moderne verweigert. Es gab nie einen bürgerlichen Fortschritt, an den die soziale Emanzipation der Menschheit anschließen könnte. Das notwendige Pathos der Befreiung muss am Ende der Modernisierungsgeschichte endlich konsequent anti-ontologisch werden. Weder Adorno noch die post- modernen Theoretiker haben die anti-ontologische Konsequenz durch- halten können. Um eine solche Perspektive zu gewinnen, ist es notwendig, im Kontext der Subjekt- und Aufklärungskritik die moderne Theoriegeschichte einschließlich des Marxismus noch einmal neu aufzuarbeiten.

 

Es versteht sich von selbst, dass diese Aufgabe nicht mit einigen wenigen Texten bewältigt werden kann. Hier geht es zunächst darum, in thesenhafter und essayistischer Form einen ersten Überblick über die Aufgabenstellung zu geben und deren polemische Intention gegen den bisherigen Kritikbegriff bürgerlicher Vernunft deutlich zu machen. Dass diese Texte im Handgemenge und Pulverdampf der quer durch alle gesellschaftlichen Lager sich ziehenden Auseinandersetzungen nach dem 11. September entstanden sind, unterstreicht diesen Charakter. Damit wird der theoretische Anspruch ganz und gar nicht dementiert, im Gegenteil: Anders als durch die Konflikte der Zeit hindurch ist kritische Theoriebildung gar nicht möglich.

Angehängt an die drei neueren Konflikt-Essays zur Aufklärungskritik ist der Text "Subjektlose Herrschaft " aus dem Jahr 1993, damals ebenfalls in einer inzwischen vergriffenen Ausgabe der alten "Krisis" erschienen. Das Thema der Subjektkritik ist hier bereits aufgenommen, aber noch enger gefasst, fokussiert auf das Herausarbeiten aus der marxistischen Theoriegeschichte und noch nicht mit allen Implikationen der Aufklärungskritik versehen. Dieser Text, der auch seinen eigenen Stellenwert hat, kann es möglicherweise erleichtern, den Denkweg zum Bruch mit der modernen Ontologie nachzuvollziehen, gerade weil er selber noch bestimmte Momente einer Ontologisierung enthält {vor allem hinsichtlich des Subjektbegriffs). Angemerkt sei auch, dass in der "Subjektlosen Herrschaft" der Hegelsche Begriff der "Aufhebung" noch ganz selbstverständlich erscheint, der in der späteren Kritik ausdrücklich verworfen wird.

 

Nürnberg, im Juli 2004, Robert Kurz

 

[Dies ist der 4. Teil der "Kleinen Geschichte des wertkritischen Theoriebildungsprozesses" (Version 3.0 vom 06. Februar 2005), die sozusagen ein "work in progress" ist. Sie wird fortlaufend (auch Fehler im bereits veröffentlichten Teil korrigierend) weitergeführt um den letzten Abschnitt:

"2004: Der "Coup" und die Spaltung der "Krisis"" -: Mit "Exit" geht’s/ging’s weiter"]