2000 - 2003: An der
Aufklärungskritik und dem neuen Weltordnungskrieg scheiden sich die Geister
Im Editorial der krisis 23, 2000, war u. a. zu lesen: "Schließlich weisen wir unsere Leserinnen und Leser noch
einmal ganz besonders auf die vom "Kritischen
Kreis" in Wien herausgegebene Vierteljahreszeitschrift "Streifzüge" hin,
die interessante Beiträge aus einem breiten Spektrum von Wertkritik und
kontroverse Debatten veröffentlicht." Im
Folgenden einige Streifzüge zu den "Streifzügen":
"Alles
Denken ... ist in seinen Formen durch die Gesellschaft determiniert, in der es
stattfindet"
aus: "Streifzüge" 3/2000
Gesellschaftskritik als Erkenntniskritik
Anmerkungen zu der Frage, warum Kritik der Theorie bedarf
und wo deren Grenzen liegen
von Claus Peter Ortlieb
An die Wurzeln
gehende Gesellschaftskritik sieht sich wegen ihrer extremen Minderheitsposition
heute schnell in der Situation eines Menschen, der in eine Irrenanstalt geraten
ist, deren Insassen erkennbar alle dem gleichen Wahn verfallen sind. Jeder Versuch,
die Lage zu klären, führt unweigerlich dazu, selbst für verrückt gehalten zu
werden. Normal ist schließlich immer die Mehrheit.
Der
herrschende Wahn hält es für die natürlichste Sache der Welt, dass außerhalb
der eigenen vier Wände alles in Geld auszudrücken und dieses gefälligst durch
Arbeit zu verdienen sei. Wer daran Zweifel äußert, gilt zumindest als
verschroben, Wertkritik bestenfalls als gut gemeinte Privatmarotte neben vielen
anderen, die diese Gesellschaft hervorbringt.
Schon
um der eigenen Selbstbehauptung willen, aber auch, um auf das herrschende
Bewusstsein Einfluss nehmen und nicht so ohne weiteres als Spinner abgetan
werden zu können, ist daher zu verdeutlichen, woher radikale
Gesellschaftskritik ihre Urteile nimmt und worin sich "kritisches
Denken" von "bürgerlichem Denken" unterscheidet. Davon handeln
die folgenden, an Marx und die Marx-Interpretation von Moishe
Postone 1 anknüpfenden Ausführungen.
Ihre
schlichte Botschaft lautet: Alles Denken (ohne Ausnahme) ist in seinen Formen
durch die Gesellschaft determiniert, in der es stattfindet. 2
Sofern sie sich auf frühere oder fremde, z. B. mittelalterliche, indianische
oder ostasiatische Kulturen bezieht, ist diese Erkenntnis in den Kulturwissenschaften
heute eine Selbstverständlichkeit. Aus noch aufzuhellenden Gründen liegt es dem
bürgerlichen Denken jedoch fern, sie auch auf die eigene Gesellschaft
anzuwenden. Tut man das, so folgt: Unser Denken, ob kritisch oder nicht, ist in
seinen Formen durch die Warengesellschaft bestimmt. Die Besonderheit kritischen
Denkens besteht nun darin, dass dieser Umstand mitbedacht, das Denken also
stets auf die Warengesellschaft und ihre spezifischen Kategorien (Ware, Wert
und nach neueren Erkenntnissen Arbeit) in kritischer Weise rückbezogen ist.
Es
geht demnach um die scharfe Zurückweisung aller Versuche, mit ontologischen,
einer angeblichen "Seinsbestimmung des Menschen" zugehörigen
Begriffen zu operieren. An dieser Stelle ist eine Abgrenzung zur theoretischen
Postmoderne erforderlich, die teilweise ähnlich verstanden wird, allerdings zu
Unrecht: Via Sprachkritik gelingt es ihr zwar, die Selbstbegründungen des
ontologischen Aufklärungsdenkens zu zerpflücken, aber daraus zieht sie die
falschen Schlüsse, weil sie begriffliches Denken und Aufklärungsdenken nicht
auseinander hält. Was ihr fehlt, ist gerade der Bezug auf die spezifische Form
der Gesellschaft, in der gesprochen und gedacht wird, und deshalb trifft auch
sie der Vorwurf der Ontologisierung.
Die
hier vorgenommene Unterscheidung von bürgerlichem und kritischem Denken hat für
jede (in diesem Sinne) kritische Gesellschaftstheorie Konsequenzen, die nicht
nur erkenntnistheoretischer Art sind. Sie betreffen insbesondere die Frage, wo
die Grenzen der Theorie liegen: Diese darf sich weder zu einer metaphysischen
Interpretation der menschlichen Geschichte hinreißen lassen, indem sie ihr eine
gesetzesförmige Dynamik unterstellt, die nur der bürgerlichen Gesellschaft
eigen ist, noch ist sie in der Lage, postkapitalistische Gesellschaftsformen positiv
zu bestimmen.
Politische
Ökonomie ...
Das Marx'sche
Hauptwerk lautet im Untertitel bekanntlich "Kritik der politischen
Ökonomie", also Kritik einer bzw. der bürgerlichen Wissenschaft und erhebt
damit einen erkenntniskritischen Anspruch. Marx erfüllt ihn, indem er zu zeigen
versucht, dass die von ihm als solche erkannten Kategorien der kapitalistischen
Tiefenstruktur (Ware, Wert, Arbeit, Kapital) sich in Oberflächenphänomenen
(Preis, Lohn, Profit, Rente usw.) ausdrücken, die der Tiefenstruktur zu
widersprechen scheinen und sie verschleiern, sodass andere Theorien, die an die
vielfältigen Erscheinungsformen unvermittelt anknüpfen, ebenso wie das
herrschende Alltagsbewusstsein das gesellschaftliche Verhältnis notwendig
mystifizieren müssen, etwa so:
"Die
Produkte der Erde - alles, was von ihrer Oberfläche durch die vereinte
Anwendung von Arbeit, Maschinerie und Kapital gewonnen wird - werden unter drei
Klassen der Gesellschaft verteilt, nämlich die Eigentümer des Bodens, die
Eigentümer des Vermögens oder Kapitals, das zu seiner Bebauung notwendig ist,
und die Arbeiter, durch deren Tätigkeit er bebaut wird. Die Anteile am
Gesamtprodukt der Erde, die unter den Namen Rente, Profit und Lohn jeder dieser
Klassen zufallen, werden jedoch in den verschiedenen Entwicklungsstufen der
Gesellschaft sehr unterschiedlich sein ... Das Hauptproblem der Politischen
Ökonomie besteht im Auffinden der Gesetze, welche diese Verteilung
bestimmen." 3
Zu
den grundlegenden Missverständnissen des Arbeiterbewegungs-Marxismus gehört die
Auffassung, Marx habe sich dieser im Vorwort von Ricardos "Principles of
Political Economy and Taxation" formulierten Fragestellung angenommen und
nur eine bessere Antwort gefunden als der Fragesteller. In Ricardos
Problemformulierung stecken jedoch bereits implizite Vorannahmen, die sich Marx
keineswegs zu Eigen gemacht hat, wohl aber der Marxismus. Das betrifft
insbesondere die Vorstellung von Arbeit und Wohlstand als transhistorischen, von
der jeweiligen Gesellschaftsform unabhängig zu fassenden Begriffen. Als von der
Gesellschaft abhängig und daher auch theoretisch klärungsbedürftig bleibt dann
nur noch die Verteilung des durch Arbeit geschaffenen Wohlstands. Der
Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft ist demgemäß ein Klassenwiderspruch,
nämlich der zwischen arbeitender und Kapitalistenklasse, zwischen
gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung (des Mehrwerts) und der
daraus resultierenden Verteilung der Produkte. Als Lösung dieses Widerspruchs bietet
es sich an, die Verteilung in die Hände des Staates als Vertreter des
Allgemeinwohls zu legen, und schon ist der Sozialismus perfekt und der Übergang
zum Kommunismus nur noch eine Frage der technischen Entwicklung.
Obwohl
die politische Ökonomie auch 180 Jahre nach Ricardo über den bereits von ihm erreichten
Stand nicht wesentlich hinausgekommen ist, zählen ihre linkskeynesianischen und
neoricardianischen Vertreter heute immerhin noch zum reflektierteren Flügel der
akademischen Volkswirtschaftslehre. Dazu gehört allerdings nicht viel
angesichts der Verfallsform bürgerlicher Wissenschaft, die sich mit der
"Neoklassik" als herrschender Lehre breit gemacht hat. Mit sich
selbst genügenden mathematischen Modellen befasst, die bereits mit den
Oberflächenerscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft kaum noch zu
vermitteln sind, hat die auf "Ökonomik" reduzierte VWL inzwischen
auch Ricardos Fragestellung eskamotiert und weiß nicht mehr zu sagen, wovon sie
eigentlich redet und welche Probleme sie untersucht. 4 Darauf
will ich hier aber nicht weiter eingehen.
... und ihre
Kritik
Kritik der
politischen Ökonomie ist etwas anderes als politische Ökonomie. Der Unterschied
im Ansatz lässt sich zunächst einmal dadurch bezeichnen, dass alle auch von der
politischen Ökonomie verwendeten Begriffe anders als in dieser als für die
kapitalistische Gesellschaft spezifische kenntlich gemacht werden.
Warenproduzierende Arbeit ist ebenso wenig transhistorisch wie ihre Produkte,
die Waren. Dasselbe gilt für die kapitalistische Form des Reichtums, der sich
im Wert ausdrückt. Alle diese Kategorien sind durch einen widersprüchlichen Doppelcharakter
gekennzeichnet, durch den eine neue Art versachlichter gesellschaftlicher Beziehungen
konstituiert und zugleich verschleiert werden:
"In
der Warengesellschaft sind die Vergegenständlichungen von jemandes Arbeit die
Mittel, um Güter zu erwerben, die andere produziert haben; jemand arbeitet, um
an andere Produkte zu gelangen. Sein Produkt dient dann einem anderen als ein
Gut, als Gebrauchswert. In diesem Sinne wird ein Produkt zur Ware: Es ist
gleichzeitig ein Gebrauchswert für den anderen und ein Tauschmittel für den
Produzenten. Dies bedeutet, dass jemandes Arbeit eine doppelte Funktion hat:
Auf der einen Seite ist sie eine besondere Arbeit, die bestimmte Güter für andere
produziert, doch auf der anderen Seite dient die Arbeit, unabhängig von ihrem
besonderen Inhalt, dem Produzenten als das Mittel, um die Produkte anderer zu
erwerben. Arbeit wird, in anderen Worten, zu einem eigenen Mittel des Erwerbs
von Gütern in der Warengesellschaft. Die Besonderheit der Arbeit der
Produzenten wird von den Produkten getrennt, die sie durch ihre Arbeit
erwerben. Es gibt keinerlei inneren Zusammenhang zwischen der besonderen Art
der verausgabten Arbeit und der besonderen Art der Produkte, die mit dieser Arbeit
erworben werden.
Das
ist völlig anders als in Gesellschaften, in denen Warenproduktion und Tausch
nicht vorherrschen, in denen die gesellschaftliche Verteilung der Arbeit und
ihrer Produkte durch eine große Mannigfaltigkeit von Sitten, traditionellen Bindungen,
offener Machtausübung oder - als Denkmöglichkeit - bewussten Entscheidungen
bestimmt ist. In nichtkapitalistischen Gesellschaften wird die Arbeit auf der
Basis offenkundiger gesellschaftlicher Beziehungen verteilt. In einer
Gesellschaft jedoch, die durch die universelle Gültigkeit der Warenform
gekennzeichnet ist, erwirbt ein Einzelner die von anderen produzierten Güter
nicht auf dem Wege offener gesellschaftlicher Beziehungen. Stattdessen ersetzt
die Arbeit selbst - entweder direkt oder ausgedrückt durch ihre Produkte -
diese Beziehungen, indem sie als ein "objektives" Mittel dient, mit
dem die Produkte anderer erworben werden. Die Arbeit selbst an Stelleoffener
gesellschaftlicher Beziehungen konstituiert die gesellschaftliche Vermittlung.
Damit tritt eine neue Form gegenseitiger Abhängigkeit auf: Niemand konsumiert,
was er produziert, doch eigene Arbeit oder Arbeitsprodukte fungieren als
notwendige Mittel, die Produkte anderer zu bekommen. Indem sie in dieser Weise
als Mittel dienen, treten die Arbeit und ihre Produkte tatsächlich an die
Stelle der manifesten gesellschaftlichen Beziehungen. In der Folge ist auch die
Arbeit selbst nicht mehr durch offen erkennbare gesellschaftliche Beziehungen
vermittelt, sondern durch sich selbst und ihre Vergegenständlichungen, sie wird
selbstvermittelnd. Diese Form der gesellschaftlichen Vermittlung ist
einzigartig: im Rahmen des Marx'schen Ansatzes ist sie ausreichend, die
kapitalistische Gesellschaft von allen anderen existierenden Formen
gesellschaftlichen Lebens zu unterscheiden, sodass diese im Vergleich zu jener
als in ihren Merkmalen übereinstimmend gesehen werden können - sie können als "nichtkapitalistisch"
betrachtet werden, worin auch immer sie sich sonst voneinander unterscheiden mögen."
5
Die
spezifisch kapitalistische Form gesellschaftlicher Beziehungen, die als
gesellschaftliche gar nicht mehr erfahren werden, hat nun vielfältige und
widersprüchliche Konsequenzen für die daraus resultierenden Denkformen: Es
entsteht eine scheinbare Distanz zwischen dem Einzelnen und der
Gesellschaft, die jenen erst als Einzelnen, als Subjekt konstituiert und
zugleich die abstrakte Gleichheit der Subjekte als Warenproduzenten und
-besitzer herstellt, damit aber auch objektive, abstrakte Denkformen, die allen
Subjekten gemeinsam sind und die Theoriebildung erst ermöglichen. 6
In
dieser Weise auf einem Schein beruhend, ist bürgerliches Denken von Anfang an
mit einem "Geburtsfehler" behaftet, der es die eigenen
gesellschaftlichen Verhältnisse mystifizieren lässt: "Das Geheimnisvolle
der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die
gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche
Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften
dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der
Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes
gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. ... Es ist nur das bestimmte
gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die
phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine
Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten.
Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte,
untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige
Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne
ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren
produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich
ist." 7
Davon
erfasst ist nicht nur das Alltagsbewusstsein, sondern auch die bürgerliche
Wissenschaft in ihrer höchst entwickelten Gestalt: "Die späte
wissenschaftliche Entdeckung, dass die Arbeitsprodukte, soweit sie Werte, bloß
sachliche Ausdrücke der in ihrer Produktion verausgabten menschlichen Arbeit
sind, macht Epoche in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, aber
verscheucht keineswegs den gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen
Charaktere der Arbeit. Was nur für diese besondre Produktionsform, die
Warenproduktion, gültig ist, dass nämlich der spezifisch gesellschaftliche
Charakter der voneinander unabhängigen Privatarbeiten in ihrer Gleichheit als
menschliche Arbeit besteht und die Form des Wertcharakters der Arbeitsprodukte
annimmt, erscheint, vor wie nach jener Entdeckung, den in den Verhältnissen
der Warenproduktion Befangenen ebenso endgültig, als dass die
wissenschaftliche Zersetzung der Luft in ihre Elemente die Luftform als eine
physikalische Körperform fortbestehen lässt." 8
Kritik
der politischen Ökonomie ist nun ebenfalls abstrakte Theorie, bewegt sich also
in den Formen bürgerlichen Denkens. Indem sie aber diese Denkformen selbst zu
ihrem Gegenstand macht, ihre Genese erhellt und sie ebenso wie die ihr zu
Grunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse als spezifisch für die eine
besondere Gesellschaftsform kenntlich macht, geht sie über bürgerliches Denken
hinaus. Dessen Geburtsfehler ist damit zwar nicht behoben, doch werden immerhin
die Fallen erkennbar, in denen es sich immer wieder verfangen muss, wovor
natürlich auch seine Kritiker keineswegs gefeit sind.
So
aber wird überhaupt erst eine Bedingung erfüllt, die notwendig ist, um über die
bestehende Gesellschaftsform hinaus (nicht von ihr aus zurück) zu gehen, was im
obigen Postone-Zitat beispielhaft verdeutlicht wird: Damit es auch nur denkmöglich
wird, die Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte durch bewusste
Entscheidungen zu organisieren, müssen einerseits die festen und
unveränderlichen persönlichen Beziehungen aufgelöst, muss aber andererseits der
Schleier gelüftet sein, der in der Warengesellschaft die versachlichten
Beziehungen als gesellschaftliche nicht mehr erkennen lässt.
In
der hier gebotenen Kürze lässt sich eine Kritik der politischen Ökonomie
natürlich nicht umfassend darstellen. Insbesondere dürfte aufgefallen sein,
dass die Kategorie des Kapitals, des sich selbst verwertenden Werts noch gar
nicht vorgekommen ist, weil sie für die hier vorgenommene Unterscheidung
zwischen politischer Ökonomie und ihrer Kritik nicht benötigt wird. Es sollte
allerdings klar sein, dass die vorausgesetzte universelle Gültigkeit der
Warenform erst in einer voll entwickelten kapitalistischen Gesellschaft
erreicht ist, in der auch die Arbeitskraft zur Ware und ihr Verkauf zur
vorherrschenden Reproduktionsform geworden ist.
Der
dargestellte Unterschied im Ansatz zwischen bürgerlicher Wissenschaft
(politische Ökonomie) und kritischer Gesellschaftstheorie (Kritik derselben)
muss an dieser Stelle für den Versuch ausreichen, den erkenntnistheoretischen
Rahmen der letzteren genauer zu fassen:
Erkenntnistheoretischer
Rahmen
Unter allen
gesellschaftlichen Fetischverhältnissen, die sich im Laufe der menschlichen
Geschichte konstituieren konnten, ist das Kapitalverhältnis das einzige, das seine
eigene Kritik hervorgebracht hat. Eine wie immer geartete "kritische
Theorie" etwa des europäischen Mittelalters oder der alten chinesischen
Gesellschaft gibt es nicht. Und auch die kritischen Auslassungen eines Platon oder
Aristoteles an Entwicklungen ihrer Zeit wurden vom Standpunkt des Bestehenden
aus formuliert, sie versuchten nur, eine bereits in Auflösung begriffene
Gesellschaft im Namen eines vergangenen angeblich "Goldenen
Zeitalters" zu bewahren. Kritik erfordert Distanz zu ihrem Objekt,
Gesellschaftskritik daher Distanz des Einzelnen zu seiner Gesellschaft, wie sie
erst die Warenform mit ihren versachlichten gesellschaftlichen Beziehungen hergestellt
hat.
Kritische
Gesellschaftstheorie hat die bürgerliche Gesellschaft zu ihrem Gegenstand, der zugleich
ihren historischen Kontext und die Bedingung bildet, der sie ermöglicht. Sie
ist insofern selbst Bestandteil ihres Untersuchungsobjekts. Die strikte
Trennung von Subjekt und Objekt, wie sie etwa die Naturwissenschaften
kennzeichnet, ist daher schon aus der Logik der Sache heraus nicht möglich. Das
heißt aber auch, dass eine Gesellschaftstheorie, die kritisch sein will,
selbstreflexiv sein muss. Eine Arbeitsteilung zwischen Erkenntnis- und
Gesellschaftstheorie kann es hier nicht geben.
Kritische
Gesellschaftstheorie ist Kritik der bürgerlichen Gesellschaft mit deren eigenem
Instrumentarium. Sie untersucht und erklärt die Realität, die Ideale und das
Denken der kapitalistischen Gesellschaft und weist sie, damit aber zugleich
sich selbst, als historisch spezifisch, an die besondere Gesellschaftsform
gebunden aus. Der Standpunkt ihrer Kritik kann daher kein
transhistorischer, ontologischer sein, ist doch Bestandteil ihrer Analyse
gerade der Nachweis, dass es einen solchen Standpunkt, von wenigen biologischen
Gegebenheiten einmal abgesehen, nicht gibt.
Es
sind die immanenten Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft selbst, die
radikale Kritik ermöglichen. Dabei geht es nicht einfach darum, die Realität
dieser Gesellschaft mit ihren Idealen zu konfrontieren. Radikale, an die
Wurzeln gehende Kritik weist vielmehr auch die bürgerlichen Ideale (etwa die
von Freiheit und Gleichheit) als der Warenform verhaftet aus, von der sie
gleichwohl notwendig negiert werden müssen.
Der
widersprüchliche Doppelcharakter der kapitalistischen Basiskategorien treibt
die Warengesellschaft seit ihren Anfängen in eine für diese Gesellschaftsform
spezifische, blinde und über sie hinaus weisende historische Dynamik. Als ein
Moment des "prozessierenden Widerspruchs", der das Kapital laut Marx
ist, aber eben auch nur als solches, kann Gesellschaftskritik praktisch werden.
Indem sie bestehende Verhältnisse nicht als naturgegeben hinnimmt, sondern als
gesellschaftlich konstituierte und damit veränderbare kenntlich macht,
indem sie den Kontext sozialer Bewegung analysiert und "das Mögliche im
Gegebenen aufdeckt, kann sie helfen, gesellschaftliche Transformation bewusst
zu gestalten". 9
Die
im Folgenden getroffene Unterscheidung zwischen "bürgerlichem" und
"kritischem" Denken bezieht sich auf die hier dargelegte
Charakterisierung des letzteren. Sie bedeutet nicht, dass sich kritisches
Denken außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft bewegt, eher im Gegenteil: Es
geht um das Mitbedenken des eigenen Kontextes und damit des Bewusstseins auch
der eigenen Begrenztheit (der des bürgerlichen Denkens sowieso). Kinder der
bürgerlichen Gesellschaft sind wir alle, ob nun kritisch oder nicht.
Aufklärung
und Postmoderne
Indem es die
spezifisch bürgerliche "Vernunft" für eine allgemein-menschliche
Eigenschaft
oder Fähigkeit
hält, hat das Aufklärungsdenken es fertig gebracht, die bürgerliche
Gesellschaft als höchstes und letztes Stadium menschlicher Geschichte und
zugleich als der menschlichen Natur gemäß und letztlich in der Biologie
begründet anzusehen und darin noch nicht einmal einen Widerspruch zu erkennen.
Dieses Denken ist heute theoretisch unbedarft geworden, indem es auf
Begründungen verzichtet, weil es keine mehr braucht. Es ist auch ohne sie fest
im Alltagsverstand verankert: Wir leben vielleicht nicht in der besten aller
Welten, aber in der einzig möglichen.
Wenn
aber die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse der Naturzustand sind,
dann müssen sie schon immer so gewesen sein, nur "weniger
entwickelt". Hieraus speist sich die Idee des linearen Fortschritts, von
der "Amöbe bis Einstein" (Popper 10) und darüber
hinaus, nach immer demselben Muster: Der Kampf des Einzelnen ums Dasein, die
Konkurrenz, die zur Höherentwicklung treibt, und wer oder was da nicht
mitkommt, wird ausgemerzt. Das alles hat seine innere Logik, doch es ist
eigentlich lächerlich leicht zu sehen, dass es sich um die Logik der
bürgerlichen Gesellschaft handelt, einem historischen Spezifikum, dessen
besondere Eigenschaften der gesamten Geschichte des Menschen und der Natur
einfach angedichtet werden.
Auch
dem bürgerlichen Denken ist nicht verborgen geblieben, dass seine ontologischen
Selbstbegründungen nicht haltbar sind, deren "Dekonstruktion" heute
schließlich in jedes Philosophie-Seminar gehört. So richtig und verdienstvoll
aber die Erkenntnis etwa ist, dass Sprache nicht einfach Denken transportiert,
sondern umgekehrt erst ermöglicht und prägt, so folgenlos muss sie bleiben,
solange das Verhältnis von Sprechen und Denken zur basalen Struktur der
Gesellschaft ungeklärt bleibt, in der gesprochen und gedacht wird. Arbeit, Ware
und Wert lassen sich nicht als schlichte Diskursprodukte entziffern, soll ihre
materielle, von den handelnden und sprechenden Individuen als
quasi-naturgesetzlich erfahrene Gewalt nicht einfach vernachlässigt werden.
Diskurse zum letzten Grund gesellschaftlicher Veränderung zu deklarieren, lässt
die Frage nach ihrer Bewegungsrichtung heimlich verschwinden.
Aus
der Unhaltbarkeit ontologischer Begründungen wird nun aber auf die
Unmöglichkeit von Begründungen und präzisen Begriffsbildungen überhaupt
geschlossen, auf die dann auch sogleich ganz verzichtet wird. Alles ist
erlaubt, alle Kriterien für die Schlüssigkeit von Argumentationen entfallen,
und eigentlich geht gar nichts mehr. Die solcherart erzeugte Beliebigkeit lässt
sich nicht ob des damit verbundenen moralischen Verfalls bzw. Verfalls
wissenschaftlicher Standards kritisieren, weil es eine höhere Moral, von dem
eine solche Kritik möglich wäre, nicht gibt. Interessanter ist da schon die
Frage nach den Gründen der Verfallserscheinungen. Kritisiert werden muss aber
die Folgenlosigkeit einer "Theorie", die aller Möglichkeiten zu
präzisen Begriffsbestimmungen beraubt, zahnlos wird. Im akademischen Betrieb
stellt sich heute die Wahl zwischen substanzlosen Allmachtsphantasien
("Weltformel", "Künstliche Intelligenz", "genetische
Neukonstruktion des Menschen") auf Seiten der nach wie vor dem
Aufklärungsdenken verhafteten Natur- und selbstverschuldeten, aber nichtsdestoweniger
realistischen Ohnmachtsgefühlen auf Seiten der postmodernen
Kulturwissenschaften. Dazwischen, betriebsblind und ohnehin keinem
wissenschaftlichen Credo mehr verpflichtet, die VWL.
Die
theoretische Postmoderne beruht auf einem Fehlschluss, der dem ontologischen
Denken geschuldet ist: Aus der Tatsache, dass Sprache und Denken notwendig der
Gesellschaft verhaftet sind, in der sie stattfinden, folgt nur die
Unmöglichkeit ontologischer Urteile, nicht aber die prinzipielle
Undurchsichtigkeit des eigenen, selbst geschaffenen Kontextes in Gestalt der
bürgerlichen Gesellschaft, die allerdings erst einmal in den Blick genommen
werden müsste.
Geschichtsmetaphysik
In seinen
Blütezeiten gehörte der Arbeiterbewegungs-Marxismus zu den prächtigsten
Vertretern des Aufklärungsdenkens, dessen Begriff eines linearen Fortschritts
ihm geradezu auf den Leib geschrieben ist. Der kleine Unterschied besteht
darin, dass der Kapitalismus nicht das letzte, sondern das vorvorletzte Stadium
menschlicher Geschichte sei, danach folge noch Sozialismus und schließlich
Kommunismus. In dieser deterministischen Dynamik des "dialektischen" oder
"historischen Materialismus" findet der Kapitalismus seine positive
Rolle als "notwendiges Durchgangsstadium" zur Herausbildung und
Entwicklung von Produktivkräften und Produktionsmitteln, durch die die
Menschheit schließlich reif würde für den Eintritt in den Sozialismus. Auch
hier ist erkennbar, dass die kapitalistische Dynamik schlicht fortgeschrieben wird,
ohne an ihren Grundbedingungen etwas ändern zu wollen. Die Kategorien der kapitalistischen
Tiefenstruktur (Ware, Arbeit, Wert) werden ontologisiert.
Die
auf den ersten Blick als radikal erscheinende Gegenposition, die den
Kapitalismus einfach als "historischen Irrweg" kennzeichnet, 11
ist allerdings fast ebenso problematisch, im Rahmen kritischer
Gesellschaftstheorie jedenfalls nicht zu begründen. Es müsste dazu ja eine Stelle
benannt werden, an der die Menschheit sich noch auf dem "richtigen
Weg" befand. Das aber ist nur von einem transhistorischen Standpunkt aus
und mit Kriterien möglich, die von den spezifischen Gesellschaftsformen
unabhängig, mithin ontologisch sind.
Es
kommt hinzu, dass eine derartige Kennzeichnung dem widersprüchlichen Charakter
der Warengesellschaft und den damit verbundenen Potenzialen in keiner Weise
gerecht wird, womit aber radikale Kritik sich ihre Möglichkeiten selbst
verbauen würde: Eine Theorie, die sich ihrer in der bürgerlichen Gesellschaft
wurzelnden Bedingungen theoretisch entledigt, hebt sich selbst auf, ohne dass der
Gegenstand ihrer Kritik bereits aufgehoben wäre. Es bleibt dann eigentlich nur
noch Esoterik.
Kritische
Gesellschaftstheorie muss sich der hier formulierten (zugegebenermaßen von mir konstruierten)
Alternative schlicht verweigern. Sie entspringt schon als Fragestellung einer Geschichtsmetaphysik,
die als solche bereits zu kritisieren ist.
Krisentheorie
...
Die Frage
"Irrweg oder nicht" ist außertheoretisch, ihre Beantwortung hängt von
der einer anderen Frage ab, die ebenfalls außertheoretisch ist, ob nämlich die
Aufhebung der Warenform gelingt oder nicht. Beide Fragen sind übrigens völlig
legitim, nur sind die möglichen Antworten darauf nicht theoretischer, sondern
praktischer Natur. Zu untersuchen ist, welchen Beitrag kritische
Gesellschaftstheorie leisten kann, zu den richtigen praktischen Antworten (Aufhebung
gelungen / es war kein Irrweg) zu kommen.
Bekanntlich
befinden wir uns noch immer im Strudel der kapitalistischen Dynamik, deren Widersprüche
sich gerade im Zuge der mikroelektronischen Revolution krisenhaft zuspitzen. Die
Frage nach dem Charakter der Krise ist theoretischer Art (soll heißen:
der theoretischen Behandlung zugänglich; natürlich hat sie auch eine eminent
praktische Tragweite) und für eine radikale Gesellschaftskritik von zentraler
Bedeutung, und das aus verschiedenen Gründen.
Die
Krisenerscheinungen sind allenthalben mit Händen zu greifen, gleichwohl werden
sie nicht als Erscheinungen einer fundamentalen Krise des warenproduzierenden
Systems verstanden, sondern vom Alltagsbewusstsein durch abenteuerliche bis
mörderische Konstruktionen ("Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze
weg und drücken die Löhne") und von der VWL mit individuellem oder
institutionellem Fehlverhalten ("Marktgesetze nicht beachtet") begründet.
Am absonderlichsten ist, dass auch die Restbestände des Marxismus nichts mehr davon
wissen oder wissen wollen, dass "die wahre Schranke der kapitalistischen
Produktion das Kapital selbst (ist)", 12 auch wenn es
natürlich eine andere Frage ist, ob diese Schranke jetzt erreicht wird. Verdrängungsmechanismen
ist mit theoretischer Einsicht allein nur schwer beizukommen, ohne sie in
diesem Falle aber überhaupt nicht, und schon deswegen ist die marxsche
Zusammenbruchsdiagnose genauer zu analysieren und mit der heutigen Situation in
Beziehung zu setzen.
Die
weißen Flecken auf der theoretischen Landkarte, die es hier ganz offensichtlich
gibt, haben wesentlich damit zu tun, dass die historisch kurze,
lebensgeschichtlich gesehen aber lange Phase des Fordismus den aus marxistischer
Sicht zentralen Widerspruch zwischen Produktion und Distribution durch die
Eingriffe des (faschistischen, staatskapitalistischen oder keynesianischen)
Staates anscheinend aufgelöst hat, damit aber die widersprüchliche
kapitalistische Dynamik gleich ganz aus der Theorie hat verschwinden lassen,
welche sich dann einer hermetischen, widerspruchsfreien Totalität
gegenübersieht, der theoretisch nicht mehr beizukommen ist. Es bleibt nur noch
die heroische, da theoretisch nicht mehr gedeckte Hoffnung auf die Revolution
in der "politischen Sphäre" bei gleichzeitig unveränderter
"ökonomischer Basis":
"Zwei
entgegengesetzte Momente, der Übergang zur staatlichen Kontrolle und die
Befreiung von ihr, sind im Begriff der sozialen Umwälzung in eins gefasst. Sie
bewirkt, was auch ohne Spontaneität geschehen wird: die Vergesellschaftung der
Produktionsmittel, die planmäßige Leitung der Produktion, die Naturbeherrschung
ins Ungemessene. Und sie bewirkt, was ohne aktive Resistenz und stets erneute
Anstrengung der Freiheit nie eintritt: das Ende der Ausbeutung." 13
Doch
woher soll die soziale Umwälzung kommen? Ihre Möglichkeit gründet hier nicht mehr
in bestehenden Widersprüchen, sondern ist nur noch als Sprung aus der
Geschichte denkbar. Die theoretischen Schwächen einer solchen Position rühren
aus der vom traditionellen Marxismus übernommenen Ontologisierung der Arbeit,
die nur als Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur, nicht aber als
widersprüchliche Basis warenförmiger Beziehungen verstanden wird. Die Arbeit
kommt zu sich selbst, allerdings nicht - wie in der Vorstellung des
Arbeiterbewegungs-Marxismus - als Quelle der Emanzipation, und der Gegensatz von
Freiheit und Notwendigkeit bleibt auch nach dem Kapitalismus unaufgehoben. 14
Nach
dem Ende des Fordismus und indem der Kapitalismus selbst die Arbeit obsolet macht,
ist natürlich viel leichter zu sehen, dass es sich schwerlich um eine
transhistorische, aller menschlichen Gesellschaft zu Grunde liegende Kategorie
handeln kann. Dass nun aber ausgerechnet diese eine, besondere
Gesellschaftsform, die auf Arbeit basiert, dabei ist sie abzuschaffen, macht
die Krise aus, mit der wir es zu tun haben. 15
... und
Aufhebungsperspektiven
Die Einschätzung
des Charakters der Krise bestimmt deren Verlauf und Ausgang. Erst wer die
Alternative vor Augen hat, nämlich die einer Gesellschaft von Arbeits- und
Warensubjekten ohne Arbeit und Waren, kann auf die für das herrschende
Bewusstsein völlig verrückte Idee kommen, es müsse jetzt um die Aufhebung
der Warenform selbst gehen. Die wenigen, die so weit sind, ob nun
theoretisch begründet oder nicht (eher letzteres), rufen nach positiven Perspektiven.
Das ist verständlich, lässt Theorie aber an ihre Grenzen stoßen.
"Die
Aufgaben, die gelöst werden müssen, sind von geradezu ergreifender
Schlichtheit. Es geht erstens darum, die real und in überreichem Maße
vorhandenen Ressourcen an Naturstoffen, Betriebsmitteln und nicht zuletzt
menschlichen Fähigkeiten so einzusetzen, dass allen Menschen ein gutes, genussvolles
Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet wird. Unnötig der Hinweis, dass
dies längst mit Leichtigkeit möglich wäre, würde die Organisationsform der
Gesellschaft diesen elementaren Anspruch nicht systematisch verhindern.
Zweitens gilt es, die katastrophale Fehlleitung der Ressourcen, soweit sie
überhaupt kapitalistisch mobilisiert werden, in sinnlose Pyramidenprojekte und
Zerstörungsproduktionen zu stoppen. Unnötig zu sagen, dass auch diese ebenso
offensichtliche wie gemeingefährliche "Fehlallokation" durch nichts
anderes als die herrschende Gesellschaftsordnung verursacht ist. Und drittens schließlich
ist es erst recht von elementarem Interesse, den durch die Produktivkräfte der Mikroelektronik
gewaltig angeschwollenen gesellschaftlichen Zeitfonds in eine ebenso große Muße
für alle zu übersetzen statt in "Massenarbeitslosigkeit" einerseits
und verschärfte Arbeitshetze andererseits." 16
So
geht es, ist aber beinahe schon alles, was Theorie auf einer allgemeinen Ebene
sagen kann. Kritische Gesellschaftstheorie ist Theorie und Kritik der
Warengesellschaft, eine Theorie (in diesem Sinne) einer postkapitalistischen
Gesellschaft kann es nicht geben. Gesellschaftstheorie setzt den blind
gesetzesförmigen, versachlichten und abstrakten Zusammenhang der
gesellschaftlichen Beziehungen voraus, der doch gerade aufgehoben und durch
bewusste Entscheidungen (und nicht durch neue Gesetzmäßigkeiten) ersetzt werden
soll. Mehr als "das Mögliche im Gegebenen aufzudecken" (Postone) kann Theorie nicht leisten, der Rest ist eine
Praxis, die mit der Warenform auch deren Kritik aufhebt. Wertkritik, wenn sie
denn erfolgreich sein sollte, ist in diesem Sinne selbstaufhebend, denn
"alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das
Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen." 17 Dass sie
auseinander fallen, ist eben ein Spezifikum der Warengesellschaft.
Was
auf der allgemeinen Ebene geht, ist natürlich auch in jedem konkreten
Einzelfall möglich. Es dürfte kaum noch Ressourcen oder Produktionsverfahren
geben, die nicht um der Ausnutzung von "Kostenvorteilen" willen
desorganisiert werden. Erinnert sei hier nur an die irrsinnigen Materialflüsse
und Transporte, die heute zur Herstellung auch nur des bekannten Bechers
Joghurt 18 als betriebswirtschaftlich erforderlich gelten,
von komplexeren Produkten, deren Einzelteile in rund um den Globus verteilten
Orten hergestellt werden, ganz zu schweigen. Um aufzudecken, was ohne die
Restriktionen der Rentabilität möglich wäre, bedarf es des Sachverstands im
Einzelfall und der schlichten theoretischen Einsicht, dass Betriebswirtschaft keine
Naturwissenschaft, also die Gesetze des Marktes keine Naturgesetze sind.
Der
Zweck derartiger Untersuchungen dürfte angesichts der realen gesellschaftlichen
Situation zurzeit allerdings weniger in der Ausgestaltung der Aufhebung als im
Nachweis ihrer Notwendigkeit liegen. Hier liegt deutlich der Schwerpunkt theoretischer
Anstrengungen, er kann gar nicht in der Entwicklung positiver Utopien der
neuen Gesellschaft liegen.
Davon
betroffen ist das Verhältnis theoretischer Bemühungen zu Initiativen, die ihre
eigenen Aktivitäten als praktische Schritte zur Aufhebung der Warenform
verstehen. Für die Theorie sind sie interessant, weil sie einen Beitrag
leisten, das "Mögliche im Bestehenden" auszuloten, kritische
Gesellschaftstheorie kann sich aber auf derartige Initiativen nicht positiv beziehen,
sie ist ihrer Natur nach negativ auf die bestehende Gesellschaft bezogen,
könnte also allenfalls aufzeigen, in welcher Hinsicht die Warenform nach wie
vor nicht aufgehoben ist. So etwas kann die persönlichen Beziehungen belasten,
was sich nur durch ein klareres Verständnis der Rolle von Theorie vermeiden
ließe. Den Segen für nicht warenförmige Beziehungen kann Theorie nicht
erteilen, das müssen die Beteiligten gegebenenfalls auch ohne sie schon selber
tun. 19
1 M. Postone: Time,
labor, and social domination. A reinterpretation of Marx's critical theory, Cambridge 1996
2 Oder knapper ausgedrückt:
"Das Sein bestimmt das Bewusstsein." Diese nicht besonders neue
Einsicht scheint mir allerdings auch von denjenigen, die sie propagieren,
leicht vergessen zu werden.
3 D. Ricardo: Über die Grundsätze der
politischen Ökonomie und der Besteuerung, Marburg 1994, Vorwort
4 Wer es nicht glauben mag, werfe
einen unvoreingenommenen Blick in die Einleitung eines beliebig
herausgegriffenen Standardlehrbuchs der VWL.
5 Postone 1996, S. 149/150,
Übersetzung C.P.O.
6 Auf eine weitere Voraussetzung
theoretischen Denkens soll zumindest hingewiesen werden. Bei R. Scholz:
Das Geschlecht
des Kapitalismus, Bad Honnef 2000 heißt es (S. 115), dass die mit der
Wertvergesellschaftung
unlösbar
verbundene Abspaltung des Weiblichen "eine Vorbedingung dafür (ist), dass
das Lebensweltliche, das
Kontingente, das
Nicht-Analytische, aber auch begrifflich nicht Erfassbare vernachlässigt wurde
und in den
männlich
dominierten Bereichen von Wissenschaft, Ökonomie und Politik in der Moderne
weithin unterbelichtet
blieb." Die
Abspaltung des privaten, als weiblich konnotierten Bereichs ist geradezu
konstitutiv für die westliche
Wissenschaft und
führt im Extremfall zu Auffassungen, alles was sich nicht naturwissenschaftlich
fassen lässt,
für nicht
verhandelbar zu erklären (vgl. C. P. Ortlieb: Bewusstlose Objektivität, Krisis
21/22, 15 - 51). Dieser
Strang wird hier
nicht weiter verfolgt, sollte aber immer beachtet werden: "Theorie"
ist nicht dasselbe wie "Denken".
7 MEW 23, S. 86-87
8 MEW 23, S. 88, Hervorhebung C.P.O.
9 Postone 1996, S.. 89
10 Vgl. K. Popper: Objektive
Erkenntnis, Hamburg 1973, S. 288 ff. Popper schlägt allen Ernstes eine
"darwinistische Theorie des Erkenntnisfortschritts" vor, in der er
bereits Amöben Hypothesen über ihre Umwelt bilden lässt: "Während also das
tierische und das vorwissenschaftliche Wissen hauptsächlich dadurch wächst, dass
diejenigen, die untüchtige Hypothesen haben, selbst ausgemerzt werden, lässt
die wissenschaftliche Kritik oft unsere Theorien an unserer Stelle sterben; sie
merzt dann unsere falschen Vorstellungen aus, ehe wir selbst ihretwegen ausgemerzt
werden."
11 Am häufigsten anzutreffen ist
diese Position in Gestalt einer verkürzten Wissenschafts- und Technikkritik,
die vom Kapitalismus abstrahiert, als habe der mit seiner
wissenschaftlich-technischen Produktionsweise gar nichts zu tun. Also zurück
ins Mittelalter, aber bitteschön warenförmig!
12 MEW 25, S. 260
13 M. Horkheimer: Autoritärer Staat,
Gesammelte Schriften, Band 5, S. 307, Frankfurt 1997
14 vgl. die ausführliche
Auseinandersetzung von Postone 1996, S. 90 - 120 mit der Kritischen Theorie der
Frankfurter Schule.
15 Werttheoretiker, die gleichwohl
von der Lebensfähigkeit des Kapitalismus überzeugt sind, hätten eigentlich
die
Begründungspflicht, zumindest anzudeuten, worin denn wohl die neue
kapitalistische Regulation unter den
Bedingungen der
mikroelektronischen Revolution bestehen könnte. Was ich vorfinde (aber
vielleicht habe ich
etwas
übersehen), sind allgemeine Hinweise darauf, dass der Kapitalismus immer schon
krisenhaft gewesen sei, ohne deswegen bisher zusammengebrochen zu sein, was
natürlich richtig ist, woraus aber nichts weiter folgt. Die zurzeit in den
Streifzügen (zuletzt 2/2000, S. 4 - 8) tobende Polemik zwischen Michael
Heinrich und Norbert Trenkle ist dafür ein Beispiel. Heinrich bezieht eine
gewisse scheinbare Stärke einzig daraus, dass er sich letztlich auf eine
akademische bzw. philologische Frage zurückzieht: Ob nämlich Marx nur in den
"Grundrissen" oder auch im "Kapital"
zusammenbruchstheoretisch argumentiert habe. Auch wenn sie von einem Denker des
Kalibers eines Karl Marx stammen, so heißt es 130 Jahre alte Texte doch wohl
ein wenig zu überfordern, von ihnen die Klärung aller heute anstehenden Fragen
zu erwarten.
16 R. Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus,
Frankfurt 1999, S. 782
17 MEW 25, S. 825
18 vgl. Zeitmagazin 29.1.93. Ein
anderes Beispiel: Die "frischen Nordseekrabben", die man in Hamburg
in jedem Fischladen bekommt, machen auf dem Weg von der Nordsee zum Verbraucher
einen kleinen Umweg über Nordafrika, wo sie "gepuhlt" werden, wie der
Norddeutsche sagt. Die VWL kann das natürlich nur positiv sehen: Nordafrika
verschafft sich eben durch einen "komparativen Kostenvorteil" seinen
Anteil am Weltmarkt. Aber auch damit wird es durch den Einsatz von Maschinen
demnächst vorbei sein.
19 vgl. die in ähnliche Richtung
gehenden Überlegungen von F. Schandl: Bewegungsversuche auf Glatteis. Zum
Verhältnis von
Theorie und Praxis, Streifzüge 2/2000, S. 8 - 12, in denen er für eine
"konstruktive Distanz"
zwischen Theorie
und Praxis plädiert, zum Vorteil beider.
Muss es denn immer "zu Büchern oder ... Buchprojekten ausufern"? - Gehts vielleicht auch etwas "offener"? - Kriselts
bei der Krisis?
"Zum anderen soll die Krisis eine
offenere Form als bisher erhalten und (wieder mehr) Zeitschrift werden ... über
den Kommentarteil hinaus die theoretische Entwicklung stärker als bisher in der
Form von Debatten zu organisieren, also die Krisis insgesamt zu einem Forum
wertkritischer oder auf die Wertkritik bezogener Auseinandersetzungen
weiterzuentwickeln."
Dass
in einer fetischistischen Gesellschaft die Ergebnisse des Handelns sich hinter dem
Rücken der handelnden Menschen herstellen, gilt leider auch für die Kritiker dieses
Zustandes. Es wäre allerdings wohl reichlich übertrieben, das erneut verspätete
Erscheinen dieser Krisis-Nummer unmittelbar auf den Fetischzusammenhang zurückführen
zu wollen. Denn immerhin bewegen wir uns hier ja auf einer Ebene, auf der
Binnenbewusstheit durchaus nicht ausgeschlossen ist. Ein Blick auf die Oberfläche
der gesellschaftlichen Erscheinungen beweist jedenfalls: Die Herausgabe einer
Zeitschrift zu einem angekündigten Zeitpunkt ist prinzipiell kein Ding der
Unmöglichkeit. Andererseits folgt die theoretische Produktion aber auch ihrer eigenen
Logik, die sich nicht immer dem Publikationsrhythmus fügen will. In diesem Fall
war es der geplante Schwerpunkt zum Thema "Krieg und Gewalt", der
unserer Planung einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Wie unsere arg auf
die Geduldsprobe gestellten Leserinnen und Leser feststellen werden, ist zu dem
Thema nur ein einziger Beitrag in dieser Nummer enthalten: der Aufsatz von Franz Schandl Der postmoderne Kreuzzug.
Von einem Schwerpunkt kann also schwerlich die Rede sein.
Das
liegt nicht daran, dass sich die für die Wahl des zentralen Themas
ausschlaggebenden Überlegungen in der Zwischenzeit als gegenstandslos erwiesen hätten.
Allein der Fortgang in der postjugoslawischen Zerfallsreihe in Mazedonien und
Entsendung von NATO-Truppen böten reichlich Anlass und Stoff, die Frage nach
dem Charakter und den Bedingungen des Krieges im krisenkapitalistischen Zeitalter
zu stellen. Es ist gerade die polit-ökonomische Unmöglichkeit einer
nationalstaatlichen Neuzusammensetzung - nicht nur in dieser Region -, die eine
mehr als bloß vorübergehende und prekäre Stabilisierung verhindert. Daran wird zugleich
deutlich, dass die Weltwarengesellschaft mittlerweile zunehmend von Zwangsintegration
auf soziale Desintegration umschaltet. Wenig kündet so deutlich davon wie der
neue Archetypus des Flüchtlings der dritten und vierten Generation. Schon das
letzte Jahrhundert galt als das Jahrhundert der Flüchtlinge. Mit dem Kollaps
nachholender Staatsbildung stieg aber nicht nur die Zahl derjenigen sprunghaft
an, die in diese im Gefolge der nationalen Formierungsprozesse entstandene negative
Sozialkategorie fallen; zugleich verliert sie zusehends ihren transitorischen Charakter.
Nicht
nur der Entwicklung auf den realen Konfliktschauplätzen dieser Welt wegen gehört
die Problematik "Krieg und Gewalt" auf die wertkritische Tagesordnung, auch die
aktuelle gesellschaftliche Debatte hebt sie auf die Agenda. Die Anwendung militärischer
Mittel, in den 80er Jahren dank atomaren Patts und Nuklear-Pazifismus und vor
dem Hintergrund der Nazivergangenheit zumindest hierzulande mehr oder minder
Anathema, erlebt ihre sukzessive Rehabilitierung. Seit dem 2. Golfkrieg
predigen Autoren wie Karl Otto Hondrich, Cora Stephan und andere Ex-Linke der einst friedensbewegten links-liberalen Öffentlichkeit, was deren Gros nur zu gerne hört: es gelte den Krieg
zu "enttabuisieren". Dieser falsche Abschied vom 80er-Jahre-Pazifismus
läuft auf nichts anderes als auf ein zivilgesellschaftstheoretisch eingekleidetes
Bekenntnis zum staatlichen Gewalt(anwendungs)monopol des Nordens im Weltmaßstab
hinaus. Das neue gemeingefährliche Völker- und Menschenrechts-Kriegertum,
das die Erinnerung an Auschwitz zur Legitimierung rot- grüner Beteiligung am
Weltpolizistentum missbraucht, schreit aber geradezu nach einer Gegenposition,
die sich auch theoretisch ausweisen kann. Eine radikal sich gerierende
Linke, die mit ihren Analyserastern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
stecken geblieben ist, überall immer nur die Konstellation des Zweiten Weltkriegs
zu erkennen vermag und sich deshalb darauf fixiert hat, Fischer, Scharping und
Co. als die Reinkarnation des ewigen deutschen Unwesens zu "entlarven", ist dazu
indes außerstande.
Dass wir mit dieser Ausgabe der
Krisis vorerst
noch keinen Beitrag zur Schließung dieser Lücke leisten, liegt daran, dass
gleich zwei der geplanten Aufsätze unter der Hand zu Büchern ausgeufert
sind. Als solche sollen sie nun auch erscheinen. Der Text von Robert Kurz "Demokratischer
Weltordnungskrieg. Die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der
Globalisierung" kommt noch im Herbst
dieses Jahres in der edition krisis heraus (Umfang ca. 160 Seiten). Ernst Lohoffs Untersuchung
über die Metamorphosen des Krieges in der Geschichte der Warengesellschaft und
über seine Rolle im Aufstiegs- und Zerfallsprozess der nationalstaatlichen Ordnung
wird voraussichtlich Ende nächsten Jahres zur Publikationsreife gelangen.
Die
Schwierigkeiten, den geplanten Themenschwerpunkt mit dem anvisierten
Publikationsrhythmus zu
synchronisieren, haben uns allerdings noch einmal deutlich vor Augen geführt,
dass die bisher für die Krisis charakteristische
theoretische Produktionsweise sich immer schwerer mit dem Anspruch verträgt,
eine Zeitschrift im wirklichen Sinne des Wortes zu sein. Tatsächlich ist ja die Krisis schon immer weniger eine Zeitschrift gewesen, als eher
das Publikationsorgan einer theoretisch arbeitenden Gruppe, die die Produkte
ihrer Tätigkeit in "Jahrbüchern" zusammenfasste (manchmal waren es auch
Halbjahresbücher). Damit im Zusammenhang stand auch der Versuch, inhaltlich und
positionell möglichst kompakte und in sich abgeschlossene Themenblöcke zu
präsentieren, die sich meist um einen oder zwei weit ausholende und
umfangreiche Grundsatzartikel gruppierten. In letzter Zeit ist diese Art der
Schwerpunktkonzeption freilich immer weniger geglückt. Immer öfter sind
geplante Aufsätze zu Büchern oder zu (teilweise immer noch unfertigen) Buchprojekten
ausgeufert. Dazu gehört übrigens auch die in Krisis 21/22 begonnene Auseinandersetzung mit Lacan, die von Robert
Bösch ursprünglich als ein zweiteiliger Artikel konzipiert war. Unter der Hand
hat das Projekt nun einen solchen Umfang angenommen, dass es mittlerweile
leider völlig unmöglich geworden ist, es noch auf Artikelform
herunterzubrechen.
Der
Grund für diese Art von "Unfällen" ist sicherlich nicht zuletzt darin zu
suchen, dass eine bestimmte Phase wertkritischer Theorieentwicklung nun schon
seit einigen Jahren als beendet gelten kann: die sukzessive Herausarbeitung aus
dem Marxismus. In der Abstoßung von diesem altehrwürdigen und weitgehend in
sich kohärenten gesellschaftskritischen Denkgebäude und im Bruch mit seinen
Essentials, wie etwa der Heiligkeit der Arbeit oder des Klassenkampfs, ergab
sich selber wieder eine weitgehende Kohärenz der Kritik, aus der sich zugleich
ex negativo immer auch eine ganz neue theoretische Perspektive erschließen
ließ. In dem Maße jedoch, wie es darum geht, diese Perspektive selbst weiter zu
verfolgen, also die Wertkritik weiter zu entfalten und auf den verschiedensten
Ebenen der Analyse und des Diskurses zu konkretisieren, wird das Terrain sehr
viel unübersichtlicher. Es bedarf eines neuen, größeren Rahmens, der nicht
mehr quasi vorgefunden, sondern überhaupt erst einmal hergestellt werden muss.
Natürlich
ist die Kritik des Marxismus keineswegs in jeder Hinsicht abgeschlossen. Es
gibt da noch eine ganze Menge nachzuarbeiten. Ihren Status als allgegenwärtiges
Leitmotiv aber hat diese Auseinandersetzung längst für uns verloren und damit
steht eben auch die merkwürdige, auf diesen besonderen Inhalt zugeschnittene und
durch ihn vorstrukturierte Darstellungsform zur Disposition. Nicht nur das
"Chamäleon des Krieges" (Clausewitz) lädt aufgrund seiner langen Geschichte und
der engen Verzahnung von zivilen und militärischen Aspekten in der
kapitalistischen Gesamtentwicklung dazu ein, große Bögen zu schlagen - und
damit zu einer über die Aufsatzform hinauswuchernden Darstellungsweise. Soll
der Anspruch nicht fallen gelassen werden, die Warengesellschaft als Ganze
theoretisch zu durchdringen und zu kritisieren, stellen sich ganz ähnliche
Schwierigkeiten bei jedem anderen, neu zu erschließenden Themenfeld ebenso.
Darauf aber wollen wir uns zukünftig in der Form unserer theoretischen
Publizistik besser einstellen.
Das
heißt zum einen, bestimmte weit ausholende Darstellungen von vorneherein
als Monographien zu planen,
statt mit aller Gewalt zu versuchen, sie in das Prokrustesbett eines
Zeitschriftenartikels zu pressen. Zum anderen soll die Krisis eine offenere Form
als bisher erhalten und (wieder mehr) Zeitschrift werden. Mammutbeiträge vom Typus
Auf-sechzig-Seiten-die-Welt-neu-Erklären werden nur noch ausnahmsweise einen
Platz finden, dafür sollen aber neben den theoretischen Artikeln und Essays nun
Diskussionsbeiträge und Kommentare zu diesen Artikeln, zu fortlaufenden
Themenschwerpunkten und zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten ein höheres
Gewicht erhalten. Mit der Einführung des Kommentarteils in der Nummer 21/22 haben wir diese
Richtung ja bereits eingeschlagen, allerdings wurde er bisher - wir müssen es
zugeben - redaktionell etwas vernachlässigt. Außerdem halten wir es für
dringend notwendig, auch über den Kommentarteil hinaus die theoretische
Entwicklung stärker als bisher in der Form von Debatten zu organisieren, also
die Krisis insgesamt zu
einem Forum wertkritischer oder auf die Wertkritik bezogener
Auseinandersetzungen weiterzuentwickeln.
Der
Anspruch ist nicht ganz neu. Und obwohl das Spektrum der Beiträge in der Krisis in den letzten Jahren durchaus größer geworden ist,
können wir nicht behaupten, ihn bisher wirklich eingelöst zu haben. Das lag zum
einen sicher daran, dass eine breitere wertkritische Debatte zunächst überhaupt
gar nicht existierte -und auch jetzt existiert sie nur in Ansätzen. Zum anderen
standen wir uns aber mit unserer eingeschliffenen publizistischen und
redaktionellen Vorgehensweise teilweise auch selbst im Wege. Im Grunde genommen
war die bisherige Redaktion als Gruppe von Autoren, die primär ihre eigene
Publizistik organisierte, zu einer darüber hinausgehenden redaktionellen
Tätigkeit nur sehr bedingt in der Lage. Als Konsequenz daraus haben wir nun
eine neue Redaktion gebildet, die nicht mehr identisch mit der Gruppe der
bisherigen "Nürnberger Stammautoren" ist und der es eher gelingen dürfte, die
anstehenden theoretischen Auseinandersetzungen und Debatten in der Krisis zu organisieren und zu strukturieren. Dies ist also die letzte Ausgabe, die noch von der
alten Redaktion betreut wurde. Niemand sollte aber befürchten, dass nun die
"Stammautoren" desertieren oder sich nur noch darauf konzentrieren, Bücher zu
schreiben. Auch an den für die nächste Zeit vorgesehenen thematischen
Schwerpunkten ändert sich dadurch nichts: sie reichen von der Kritik der
Aufklärung und der Subjektform über eine Vertiefung der Krisen- und Werttheorie
bis hin zu einer neuerlichen Beschäftigung mit der "ökologischen Frage" -um nur
die wichtigsten zu nennen. Die nächste Ausgabe, das können wir jetzt schon
ankündigen, wird den Schwerpunkt auf das Verhältnis von Theorie und Praxis legen.
KRISIS 24 (2001)
Franz Schandl: Der postmoderne Kreuzzug. Schlaglichter und Zusätze einer möglichen
Kritik -- Peter Klein: Das
Wesen des Rechts. Ein Versuch zur Rehabilitierung der Rechtsphilosophie und
ihrer Kritik -- Anselm Jappe: Gene,
Werte, Bauernaufstände -- Rezensionen | Kommentare | Glossen
Diese
Ausgabe der Krisis wird durch den
ursprünglich für den Schwerpunkt
konzipierten Beitrag von Franz Schandl Der postmoderne Kreuzzug eröffnet. In 20
Paragraphen kreist der Autor das
noch schwer fassbare, weil relativ neue Problem des "postmodernen Krieges"
essayistisch ein, ohne damit den Anspruch zu erheben, es umfassend zu
analysieren. Sein Verfahren bezeichnet er als eines von "Schlaglichtern und
Zusätzen". Der postmoderne Krieg wird als Verfallsform des modernen,
nationalstaatlichen und politischen Krieges verstanden, wie ihn zuerst Clausewitz
theoretisch auf den Punkt gebracht hat. Mit dem Zerfall der Staatlichkeit zerfällt
auch diese Form der Kriegsführung. Sie wird tendenziell poststaatlich, postnational
und postpolitisch. Charakteristisch für sie ist nicht ihre Bestimmtheit, sondern
ihre Unbestimmtheit. Anything goes gilt auch für den Krieg. Selbst die Dualität
von Krieg und Frieden verliert zunehmend ihre Geltung, wo sich Banden in
wechselnden Koalitionen bekämpfen, die Fronten verschwimmen und formale Kriegserklärungen
unterbleiben. Und auch die Kriege des Nordens gegen unbotmäßige "Schurkenstaaten",
die man euphemistisch lieber Strafaktionen oder besser noch Friedensmissionen
nennt, haben einen anderen Charakter als jene aus der Zeit des Kalten Krieges.
Es sind Kreuzzüge im Namen von Freiheit und Demokratie, die immer weniger
strategische Ziele verfolgen. Das macht die Kriegspolitik des Nordens nicht
weniger gefährlich. Im Gegenteil. Sie ist Ausdruck eines zunehmend blindwütigen
Fundamentalismus der Menschenrechte, der ungerührt über Leichen geht -
"Menschen verletzen ist erlaubt, Menschenrechte zu verletzen nicht." (Schandl)
- und zu dessen wichtigsten Stichwortgebern Huntington gehört (siehe auch Krisis
20). Zwar wäre das, was dieser schreibt, fast lächerlich zu nennen, doch
dahinter steht die geballte militärische Potenz des Nordens.
Schandls
Beitrag geht aber über die politischen Aspekte des Krieges hinaus. In den
Paragraphen "Schwanz und Krieg" und "Ermannen!" wirft er ein Schlaglicht auf
den Zusammenhang zwischen patriarchaler Männlichkeit und Kriegertum. Durchgängig
reflektiert er auch die Rolle der Medien in den postmodernen Kreuzzügen: "Es
sind vor allem die halluzinogenen Massenmedien, die die Politik fortwährend in
jedes militärische Abenteuer hineintreiben wollen. Im Ranking des Hetzens hat
die zivile Gesellschaft in vielen Fällen die Staats- und Militärapparate weit
hinter sich gelassen. Ideologie-Offiziere des Nordens treiben sich mehr in den NGOs
als in den Generalstäben herum." Und schließlich setzt sich der Autor mit dem
Wiedererstarken des Identitätswahns auseinander, dessen Hintergrund gerade
das Brüchigwerden der
Identitäten ist. Dem stellt er die Perspektive gegenüber, die
Menschen zu "entvolken" und zu
"entnationalisieren": "Wie man heute keinen Goten und Vandalen nachweint, so
wird man einstens auch keinen Deutschen und Österreichern, aber auch keinen
Franzosen oder Amerikanern nachtrauern. Nationen sind vergänglich, gleiches
gilt für den Singular. Kritische Theorie und emanzipatorische Praxis haben
dieser Vergänglichkeit nachzuhelfen."
Bei
dem Beitrag Das Wesen des Rechts von Peter Klein handelt es
sich um die
Auskoppelung aus einem
längerfristig angelegten Projekt zur Demokratiekritik, das den Arbeitstitel
"Die Herrschaft der Beliebigkeit" trägt. Der Verfasser unternimmt damit zum
zweiten Mal den Versuch, den Prozess der Demokratisierung grundsätzlich vom
wertkritischen Standpunkt aus darzustellen. Ein erster Anlauf, der das Thema
vom Phänomen der politischen Partei her in Angriff nahm, erwies sich als
undurchführbar und musste abgebrochen werden (vgl. Krisis 14: Pars pro toto).
Der
zentrale Gedanke, der in dieser Kritik entwickelt wird, lässt sich
folgendermaßen
zusammenfassen: Der Prozess der
Demokratisierung, wie er in den vergangenen zweihundert Jahren stattgefunden
hat, ist die Inbesitznahme der beteiligten Menschen durch die gesellschaftliche
Form des Rechts, also die Verrechtlichung aller menschlichen Beziehungen. Dem
Rechtssystem wiederum liegt eine zur "Objektivität" des Werts bzw. der Wertform
sich komplementär verhaltende "Subjektform" zu Grunde, nämlich diejenige des
vereinzelten bzw. abstrakten Individuums, das seine "Würde" darin hat (und
sieht), dass ihm von eben diesem Rechtssystem die Betätigung des freien Willens
zugebilligt wird, wie er in allen Vertragsbeziehungen - vornehmlich Kauf und
Verkauf - zum Einsatz kommt. Der freie Wille ist auch diejenige Kategorie, von
der die Kantsche Rechtsphilosophie ihren Ausgang nimmt. Kant weist nach, dass
die prinzipielle Anerkennung dieser Subjektform nur im Rechtszustand
gewährleistet ist, dass der freie Wille logisch notwendig nach einem Gesellschaftszustand
verlangt, der unpersönlich regiert wird: von Gesetzen, die dem theoretischen
Gesetzesbegriff (nämlich der "reinen Form der Allgemeinheit überhaupt")
möglichst nahe kommen sollten. Dieser Zustand aber ist der Staat.
Die
Auseinandersetzung mit Kants Rechtsphilosophie steht im Mittelpunkt des Gesamtprojekts,
nicht jedoch in dem des hier veröffentlichten Abschnitts, der diese Auseinandersetzung
allererst vorbereiten soll. Im Untertitel kommt dies zum Ausdruck. Eine "Rehabilitierung
der Rechtsphilosophie" hält der Autor für nötig, weil der in den
Gesellschaftswissenschaften herrschende Positivismus das entsprechende Reflexionsniveau,
bei dem die Rechtsform noch selbst zur Debatte steht, längst ad acta gelegt
hat. Die Situation ist hier ganz ähnlich derjenigen, die mit dem Fortschreiten des
Kapitalismus auch im Bereich der Politischen Ökonomie eingetreten ist. Schon
Marx hat ja darauf hingewiesen, dass die "Vulgärökonomen" schon bald nach Adam
Smith (übrigens ein Zeitgenosse von Kant) damit aufgehört haben zu fragen,
welcher gesellschaftliche - und damit historisch beschränkte, historisch endliche
- Inhalt sich in der Wert- bzw. Warenform der Produktion überhaupt geltend macht.
Diese als eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzte Kategorie (des Werts bzw.
der Ware) ist die von ihrem Standpunkt aus nicht kritisierbare Grundlage aller
Volkswirtschaftslehre. Und der Rechtsform ergeht es in den modernen rechtswissenschaftlichen
Disziplinen genauso. Das Unverständnis gegenüber der "philosophischen Etappe
der Verrechtlichung" äußert sich darin, dass man die Frage nach dem "Wesen des
Rechts" teils für überholt erklärt, teils politizistisch uminterpretiert.
Außerstande, die Institutionen
Recht und Staat grundsätzlich in Frage zu stellen, biegt der Positivismus die
entsprechenden philosophischen Untersuchungen des 17. und 18. Jahrhunderts so
hin, als hätten sie sich auf den wahren oder richtigen Inhalt des Rechts
gerichtet. Unvermittelt wird dann die Brücke zur Ära des politischen Totalitarismus
und seiner "staatlich verordneten Einheitsideologie" geschlagen. Die Frage, wie
die Rechtsform selber richtig zu denken sei, fällt unter den Tisch. Das
landläufige Verständnis Rousseaus als des Befürworters einer bestimmten Sorte
von Staat, nämlich der so genannten "totalitären Demokratie" bzw. des
"Sozialismus", ist die Probe aufs Exempel. In der vorliegenden Untersuchung wird
Rousseau gegen diese Interpretation in Schutz genommen - ohne dass er dadurch
harmloser aussähe. Der Verfasser zeigt, dass man die Rousseausche Position durchaus
mit dem Etikett des Totalitarismus versehen kann, dass aber der Inhalt dieses
Totalitarismus, da er den freien Willen des vereinzelten Individuums mit
umfasst, viel weiter reicht, als es den Befürwortern der pluralistischen
Demokratie lieb ist. Rousseau (wie dann auch Kant) steht für jenen
Totalitarismus, der mit dem Rechtszustand selbst gesetzt ist, für jenen
Totalitarismus, der die Menschen an den illusionären Zustand einer
"persönlichen Freiheit" ausliefert, in welchem sie "selbstverantwortlich"
(nämlich voneinander isoliert und ein jeder für sich) mit den "objektiven
Anforderungen" zurechtkommen müssen, die der globalisierte Markt ihnen zumutet.
Die "Rehabilitierung der Rechtsphilosophie" ist also ihre Anerkennung und
Kenntlichmachung als eine gefährliche Gegnerin. Sie dient dazu, dem Recht und
der ihm zu Grunde liegenden Subjektform den Krieg erklären zu können.
Den
über weite Strecken der Entwicklung "links" besetzten Glauben an die Demokratie
bezeichnet der Verfasser als "illusorische Begleiterscheinung" der
Verrechtlichung. Er rührt daher, dass die politischen Kollektivsubjekte -
Volk, Nation, Klasse -, die im Verlauf der Demokratisierungsgeschichte zur
"politischen Macht" gelangten bzw. strebten, mit der Hoffnung auf ein
tatsächliches Verfügen über den gemeinsamen Lebenszusammenhang verbunden
wurden. In Wirklichkeit bahnten sie aber nur - in der Auseinandersetzung mit
den vormodernen Abhängigkeitsverhältnissen - der Kantschen "Allgemeinheit eines
Gesetzes überhaupt" den Weg. Die Herstellung dieser abstrakten Allgemeinheit,
die alle Gesellschaftsmitglieder als Staatsbürger in die gleiche "Subjektform
des Wertes" bannt, erfolgte entlang der bekannten politischen Ideologien: des
Liberalismus/Sozialismus einerseits (= Aufstiegsphase des demokratischen
Glaubens), des Totalitarismus/Pluralismus andererseits (= Verfallsphase des
demokratischen Glaubens). Mit der Darstellung dieser "Geschichte der
Verrechtlichung" soll das Projekt abgeschlossen werden.
Außer
dem hier veröffentlichten Abschnitt liegt noch die ca. 20 Seiten umfassende "Einleitung"
in das Gesamtprojekt vor, die Interessenten gerne als Kopie über die
Redaktionsadresse beziehen können (Unkostenbeitrag in Briefmarken: 4 DM bzw. 2
Euro).
Mit
dem Artikel Gene, Werte, Bauernaufstände eröffnet Anselm Jappe die Debatte
auf einem brisanten und für die
wertkritische Auseinandersetzung neuen Themenfeld. Seine Kritik der
Gentechnologie hebt sich vom laufenden pastoral muffelnden Ethik-Diskurs
insofern ganz grundsätzlich ab, als sie diese per se als Enteignungstechnologie
kenntlich macht, statt bloß vor Auswüchsen bei ihrer Anwendung zu warnen. Der
Autor zeigt, dass die Gentechnik die äußerste Konsequenz des modernen,
warengesellschaftlichen Naturverständnisses und -verhältnisses ist, weil in ihr
das Prinzip des Reductio ad unum, also das Prinzip des Werts, auf die Spitze
getrieben wird. Alle Formen des Lebens, ob es sich nun um Pflanzen, Tiere oder
Menschen handelt, werden wie ein und dasselbe undifferenzierte genetische
Material behandelt, von allen qualitativen Unterschieden und Besonderheiten wird
also radikal abstrahiert. Jappe thematisiert dabei, anders als die auf das
Phantom eines genetisch optimierten Übermenschen fixierten Kritiker, die bloß in
negativer Besetzung selber dem Machbarkeitswahn der Betreiber aufsitzen, die immanenten
Grenzen naturwissenschaftlicher Weltbemächtigung. Desaströse Perspektiven ergeben
sich weniger daraus, dass die gentechnologischen Hirngespinste der Betreiber
eins zu eins Wirklichkeit werden könnten. Vielmehr ist die in der Gentechnik
materialisierte Form der Naturbeherrschung dazu angetan, das zu zerstören, dessen
sie sich zu bemächtigen glaubt. Das biologische Erbe taugt nicht zur Ware, die
Natur lässt sich in ihrer Komplexität nicht auf die ärmliche gentechnologische Eindimensionalität
reduzieren, und wo diese Reduktion gesellschaftliche Praxis wird, bedeutet dies
letztlich statt "produktiver Zerstörung" (Schumpeter) im Sinne des Kapitals
blanke Zerstörung.
Nicht
nur weil er mit seiner Analyse ein für die Krisis neues Feld
erschließt und damit gleichzeitig einen Gegenakzent zu der reichlich handzahmen
einschlägigen Debatte setzt, ist Anselm Jappes Beitrag brisant. Zugleich wirft er damit die
grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Produktivkraftentwicklung und
gesellschaftlicher Emanzipation erneut auf. Seine Auflösung dieser Frage wird
wahrscheinlich unter unseren Leserinnen und Lesern kaum weniger kontrovers
diskutiert werden als im Kreis der Krisis-Autoren. Wir verstehen den Beitrag dementsprechend als
Einstieg in eine Debatte, die wir in den nächsten Ausgaben auf jeden Fall
weiterführen werden.
Der
Kommentar- und Debattenteil wird mit einem Beitrag von Ernst Lohoff zur Energetik
der Warengesellschaft und zur politischen Ökonomie der Atomenergienutzung eröffnet.
Ein Auslaufmodell eigener Art wurde
ursprünglich als Eingangsreferat für die Bundeskonferenz der Anti-AKW-Bewegung
im März 2000 verfasst und ist für diese Ausgabe der Krisis leicht überarbeitet und aktualisiert worden. In seinen
Thesen Objektivismus und Subjektivismus in der Soziologie setzt sich Udo Winkel
mit einer grundlegenden Problematik bürgerlicher Gesellschafts- und
Sozialwissenschaft auseinander: ihrem Schwanken zwischen den beiden Polen der
"ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit", dem abstrakten Individuum auf der
einen und seinem verdinglichten gesellschaftlichen Zusammenhang auf der anderen
Seite. Warenform und Rechtsform von ANTI, einem Redakteur von karoshi, ist die Rezension
des Buches mit gleichnamigem Titel von Andreas Harms. Es handelt sich dabei um einen
Beitrag zur Kritik des Rechtsbegriffs anhand einer Aufarbeitung der
Rezeptionsgeschichte der Rechtstheorie von Eugen Paschukanis. Eine weitere
Rezension ist der Artikel von Gerd
Bedszent Kein Kaffeekränzchen mit dem Kanzler, in dem das von Bernd Gehrke und Wolfgang Rüddenklau
herausgegebene Buch ... das war doch nicht unsere Alternative besprochen
wird. Zehn Jahre nach der "Wende" ziehen ehemalige DDR-Oppositionelle dort
Bilanz. Anschließend stellt Anselm Jappe in seinem Beitrag Wert
ohne Arbeit? die französische Theoriezeitschrift
Temps critiques vor. Diese Zeitschrift ist eine der wenigen in
Frankreich, die einen (im weiteren Sinne) wertkritischen Bezugsrahmen besitzt, und
verdient schon aus diesem Grund Beachtung. Der Artikel Gesellschaftliches Marodieren
von Franz
Schandl verfolgt die Frage, was eine
Gesellschaft macht, wenn sie an die Grenzen ihrer Entwicklung stößt. Seine
These dazu lautet: Sie verfällt nicht in Wohlgefallen, sondern wird noch einmal
all ihre destruktiven Kräfte entfalten. Als wichtiges Symptom dafür kann die
zunehmende Bedeutung des Bandenwesens im Zerfallsprozess der Warengesellschaft
gelten. Als letzten Beitrag dokumentieren wir noch ein Thesenpapier von Ernst Lohoff und Norbert Trenkle Was heißt da Krisis-Zusammenhang?, das für das letzte Krisis-Seminar verfasst
wurde. Ziel des Papiers war es, einen Prozess der Reflexion des ziemlich heterogenen
Zusammenhangs, der sich um die Krisis gruppiert, über sich selbst
anzuregen. Gerade angesichts einer immer weiteren Ausdifferenzierung der
Wertkritik und ihres wachsenden Einflusses auf den gesellschaftskritischen
Diskurs halten wir eine solche Selbstreflexion für dringend notwendig. Deshalb
wollen wir die ursprünglich eher für den "internen Gebrauch" gedachten Thesen
auch unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten.
Abschließend
noch ein Hinweis auf zwei neuere Bücher von Krisis-Autoren: "Übersetzungen
- Studien zu Herbert Marcuse" (Ventil
Verlag) von Roger Behrens und "MARX lesen" (Eichborn Verlag) von Robert
Kurz.
Ernst Lohoff und Norbert Trenkle für die Redaktion
PS: Der Satz dieser Krisis war gerade beendet, als der Irrationalismus des Waren produzierenden
Weltsystems in New York und Washington auf sich selbst zurückschlug. Die
Nummer noch einmal "aufzuschnüren", dafür war es zu spät. Für Analysen der aktuellen Entwicklungen müssen wir
unsere Leserinnen und Leser daher vorerst auf unsere Homepage sowie auf Artikel von Krisis-Autoren in anderen Zeitschriften
verweisen (u. a. ein Text von R. Kurz in Konkret 11/01). Erinnert sei außerdem an die gerade hochaktuelle
Huntington-Kritik in Krisis 20.
Aus dem Editorial der krisis 24, 2001
Robert Kurz hat
unter dem Titel "MARX lesen"
die aus seiner wertkritischen Sicht wichtigsten Texte von Marx für das
21. Jahrhundert herausgegeben und kommentiert. Neben einem einleitenden Artikel
- "Zur Einführung: Die Schicksale Des Marxismus
- Marx lesen im 21. Jahrhundert" - sind in acht Kapiteln die
folgenden Themenkomplexe behandelt:
1. Die kapitalistische
Produktiosnweise als irrationaler Selbstzweck
2. Kritik und Krise der Arbeitsgesellschaft
3. Kritik der
Nation, des Staates, des Rechts, der Politik und der Demokratie
4. Der hässliche Kapitalismus und seine Barbarei
5. Mechanik und historische Tendenz der Krisen
6. Globalisierung und Fusionitis des Kapitals
7. Zinstragendes Kapital, spekulative Seifenblasen
und die Krise des Geldes
8. Kriterien für die Überwindung des Kapitalismus
Den einzelnen Kapiteln zu den Originaltexten von
Marx sind jeweils kommentierende Einleitungen
von Robert Kurz vorangestellt.
Robert Kurz: MARX lesen. Die wichtigsten Texte von Karl Marx für
das 21. Jahrhundert
Vorwort
Obwohl die Auflagen seiner Bücher
an die Verbreitung der Bibel heranreichen, ist Karl Marx heute
aus den Buchhandlungen fast ganz verschwunden. Eine Marx-Auswahl fehlt daher
und könnte doch nützlich sein., vielleicht nicht zuletzt für eine junge
Generation in Ost und West, die mit keiner Marx-Lektüre und keiner
Marx-Diskussion mehr aufgewachsen ist, sich aber endlich einmal selber mit dem
authentischen Marxschen Denken auseinandersetzen will, das angeblich beinahe
die Weltgeschichte ruiniert hätte. Es hat schon viele Editionen Marxscher Texte
gegeben, wobei meistens ein Verständnis stille Voraussetzung war, das Marx mit
dem 'Marxismus' der sozialistischen Arbeiter- und Staatsparteien
identifizierte. Heute ist dieser Sozialismus ebenso mausetot wie die
Arbeiterbewegung. Die Formeln des 'Standpunkts der Arbeit' und des
'Klassenkampfs' sind altertümlich geworden; sie lösen keine positiven oder
negativen Leidenschaften mehr aus und können nur noch zum Gähnen verlocken.
Aber dabei handelt
es sich lediglich um eine bestimmte Lesart der Marxschen Theorie und um einen
bestimmten Strang seiner Argumentation, der in der Tat an eine jetzt vergangene
(wenngleich noch ganz und gar unbegriffene) Epoche gebunden und daher heute
nichts als Theoriegeschichte ist. Das ist allerdings bloß der halbe Marx. Den
wenigsten ist heute noch bekannt, dass Marx von sich selbst gesagt hat: 'Ich
bin kein Marxist'. Und es gibt den in der Versenkung verschwundenen und ganz
unausgeleuchteten Ansatz radikal kritischer Theorie eines 'anderen' Marx, der
dem 'Arbeiterbewegungsmarxismus' ebenso fremd und unheimlich geblieben ist wie
den sozialistischen Rechtfertigungsideologen in den Jahrzehnten des Kalten
Krieges. Bis jetzt ist noch nicht versucht worden, eine Edition speziell dieses
unbekannten Marx und seiner ganz anderen Kapitalismuskritik gewissermaßen aus
seinen hinterlassenen erheblichen Textmassen herauszupräparieren. Solange sich
die Marx-Rezeption im Wesentlichen auf den Kontext der bisherigen
Modernisierungsgeschichte beschränkte, bestand dazu auch gar keine Veranlassung.
Im Gegenteil hat man hüben wie drüben nur allzu gern alles an der Marxschen
Theorie verdrängt oder versteckt gelassen, was sich für die Erfordernisse der
politischen Auseinandersetzung und der Legitimation von Interessenpositionen
als zu sperrig erwies. Es ist jedoch gerade dieses im Dunkel getauchte Alter
ego des ganzen, sozusagen janusköpfigen Marx, das für die Zukunft noch
bedeutend werden kann.
Die Marx-Texte des
vorliegenden Lesebuchs sind deshalb bewusst aus dem Zusammenhang mit der arbeiterbewegungsmarxistisch
kompatiblen Textmasse herausgeschnitten. So wird vielleicht der Vorwurf nicht
ausbleiben, die Texte, wie sie hier vorliegen, seien eben aus dem Zusammenhang
gerissen. Deshalb gleich vorweg das Geständnis: genau darin besteht auch die
Absicht, nämlich die aus der offiziellen Debatte weitgehend herausgehaltene
'andere', viel radikalere Kapitalismuskritik des unbekannten Marx aus dem
Zusammenhang des gegenstandslos gewordenen Partei- und Arbeiterbewegungs-Marx
herauszureißen, kenntlich zu machen und damit zuzuspitzen.
Natürlich kann
dies nur unvollkommen und ansatzweise gelingen; auch kann kein Anspruch auf
Vollständigkeit erhoben werden. Manchmal lässt es sich einfach nicht vermeiden,
dass der 'öffiziöse Marx' auch in dieser Auswahl erscheint, seine
Ausdrucksweise zweideutig, unvollständig oder widersprüchlich wirkt. Umgekehrt,
wer ein Interesse am ganzen, in seiner Widersprüchlichkeit unverkürzten Marx
hat und eine 'wissenschaftlich'-philologische Lektüre bevorzugt, der sei auf
die herkömmlichen Marx-Editionen verwiesen, insbesondere auf die berühmten
'blauen Bände' der MEW (Marx-Engels-Werke) der ehemaligen DDR (ein Tipp für
junge Wissbegierige: mal nachfragen, was die 68er "Realo"-Väter und -Mütter -
oder sind es schon die Großeltern? - so alles im Keller deponiert haben), oder
gleich auf das allerdings noch lange nicht abgeschlossene Jahrhundertprojekt
der MEGA (Marx-Engels Gesamtausgabe), das trotz Desinteresses der
'Siegerideologen' mit internationaler Unterstützung weitergeführt werden kann.
Lesebücher zur Einführung dagegen sind heute mehr als dünn gesät, und sie
genügen vor allem nicht den Erfordernissen einer qualitativ neuen Marx-Renaissance
für das 21. jahrhundert.
Deshalb ist die hier vorliegende
Auswahl für Leserinnen und Leser gedacht, die weniger ein akademisches,
philologisches Interesse an Marx haben, sondern ihn als kritischen Theoretiker
kennen lernen wollen, der auch nach dem Ende der Arbeiterbewegung und
Realsozialismus noch etwas zu sagen hat - und vielleicht jetzt erst das
Entscheidende. Auch wenn diese Texte und ihre Argumentationen Mosaiksteinchen
sind - es ist immer noch der originäre Marx, der hier spricht. Freilich nicht
mehr so sehr der Marx des "Klassenkampfs", sondern der Marx einer Kritik an der
Irrationalität des modernen warenproduzierenden Systems, nicht mehr der
"Klassentheoretiker", sondern der "negative Systemtheoretiker". Und natürlich
ist von vornherein klar, dass ein solches Lesebuch keine "heiligen Schriften"
mehr präsentiert. Man muss es endlich einmal zugeben: Marx ist nicht nur
widersprüchlich und ein "doppelter Marx", er kann auch ein unglaublicher
Langweiler sein. Über weite Textstrecken entwickelt er mit äußerster
Umständlichkeit Argumentationen, die man viel kürzer und klarer formulieren
könnte. Und oft verbeißt er sich derart in eine langatmige Polemik gegen längst
vergessene kleine Lichter, dass man ihm zurufen möchte: Nun mach mal ein Ende,
der Gegner liegt doch längst am Boden. Diese eigentümliche Weitschweifigkeit,
Redundanz und Verbissenheit ist vielleicht einer Ahnung geschuldet, dass seine
Theorie auf etwas verweist, was uneingelöst bleiben musste und bis heute noch
unentbunden in der Hülle des 19. Jahrhunderts schlummert. Gerade dort aber, wo
Marx Kritik explizit über seine Epoche hinausweist, verändert sich sogar sein
Stil: er wird messerscharf, apodiktisch, wuchtig, unwiderstehlich, eben weil er
an uneingestandene Tabugrenzen der Moderne rührt und sich darüber hinwegsetzt.
Es sind diese Formulierungen des Zur-Sprache-Bringens von innerkapitalistisch
Unsagbarem, die noch Herzklopfen verursachen, weil sie auch nach 150 Jahren im
wahrsten Sinne des Wortes "unerhört" klingen und das Selbstverständliche,
Verinnerlichte in Frage stellen.
Natürlich muss die kritische
Theorie des 21. Jahrhunderts über Marx hinausgehen. Dass ist zwar schon oft
gesagt worden. Aber im Zuge eines positiven Bezugs auf die bisherige
Modernisierungsgeschichte entpuppte sich dieses vollmundige Postulat regelmäßig
als ein kläglicher Rückfall hinter Marx, als Versuch, seine kritische Theorie
mit positivistischer Methodologie zu verballhornen, sie in die
Volkswirtschaftslehre einzugemeinden, die Kritik der politischen
Ökonomie durch eine positive "marxistische" Politökonomie zu ersetzen und an
die Erfordernisse parlamentarischer Politik anzupassen, mit einem Wort: jede
Erinnerung an den "anderen" Marx loszuwerden und sich mit allzu bescheidenen
alternativen Konzepten mitten im Kapitalismus pudelwohl (oder im
Staatskapitalismus elend) zu fühlen. Um überhaupt jemals über Marx
hinauszukommen, ist es dagegen unabdingbar, gerade an die verpönte und mit
verlegenem Gestammel weggeschobene Seite seiner Theorie anzuknüpfen. Um Marx
wirklich überwinden zu können, muss man auf seinen Schultern stehen können,
statt ihm bloß den Buckel runterzurutschen.
Es gibt längst Hinweise darauf, wo
es nach Marx weitergehen muss. So ist das Geschlechterverhältnis ein
wesentlicher Aspekt kapitalistischer Vergesellschaftung, zu dem 'der Mann Marx'
wenig oder nichts gesagt hat. Im Zusammenhang damit wird eine kritische Theorie
zu entwickeln sein, wie heute kapitalistische Individuen und ihre Subjektivität
hergestellt werden. Auch die Kritik an der Zerstörung der Naturgrundlagen durch
die betriebswirtschaftliche Externalisierung von Kosten, bei Marx immerhin
schon kurz angedeutet, harrt ihres konsequenten begrifflichen und analytischen
Bezugs auf die Formen kapitalistischer Rationalität. Das Ausbrennen der
'Arbeitsgesellschaft' und die damit verbundene Krise des Geldes, wie sie in
großen Weltregionen bereits das dramatische Ende der Moderne eingeläutet hat,
setzen das Weiterdenken der noch längst nicht erledigten Marxschen
Krisentheorie auf die Tagesordnung. Es wird immer offensichtlicher, dass die
großen Fragen der kommenden Jahre und Jahrzehnte zwar jenseits des 'Marxismus'
von Arbeiterbewegung und Staatssozialismus liegen, aber trotzdem innerhalb der
kapitalistischen Gesellschaftsformen niemals zu bewältigen sein werden. Der Anschluss
an die verdrängte radikale Kritik des 'anderen' Marx kann sich gerade in dieser
Hinsicht als fruchtbar erweisen.
Das vorliegende Lesebuch wendet sich
daher als erste Hilfe an alle, die auf diese erratische Gestalt trotz ihrer
antiquierten Vollbärtigkeit wieder neugierig geworden sind und die noch einmal
etwas Neues vom alten Marx lernen wollen. Es kann ein Wiedereinstieg für die
Älteren sein, denen das Bedürfnis nach theoretischer Reflexion noch nicht ganz
abhanden gekommen ist und die sich, vielleicht zögernd, doch noch zu einer
kritischen Aufarbeitung ihrer "marxistischen" Vergangenheiten und Jugendsünden
entschließen möchten, anstatt es einfach zu entsorgen. Und es kann ein Einstieg
sein für die Jüngeren und Jüngsten, von denen unsereins wenig weiß, die sich
aber ganz unbelastet von irgendwelchen marxistischen Vergangenheiten ganz
frisch und historisch unschuldig eine radikale Kritik aneignen können, die
womöglich ihrem wirklichen Lebensgefühl mehr entspricht als die Angebote des
kapitalistischen Medienbetriebs.
Der Mensch hat immer noch den Fehler,
dass er denken kann. Und so ist diese Edition auch mit der vagen Hoffnung
verbunden, dass sie geistige Nahrung liefert für eine soziale Bewegung, die
noch verborgen im Schoß der näheren Zukunft schlummert. Es ist die Hoffnung,
dass es bereits heute jede Menge Menschen gibt, die trotz allen Geredes von der
"Alternativlosigkeit" der herrschenden Weltordnung den Kapitalismus mit seinen
verrückten Anforderungen bis oben hin satt haben.
Zur Einführung
Die Schicksale des Marxismus -
Marx lesen im 21. Jahrhundert
Totgesagte leben länger. Karl Marx
wurde als kritischer und wirkmächtiger Theoretiker schon mehr als einmal
totgesagt, und jedes Mal ist er dem historischen und theoretischen Tod von der
Schippe gesprungen. Das hat einen einfachen Grund: Die Marxsche Theorie kann in
Frieden nur sterben zusammen mit ihrem Gegenstand, der kapitalistischen
Produktionsweise. Dieses gesellschaftliche System ist »objektiv« zynisch,
strotzt geradezu von derart unverschämten Verhaltenszumutungen an die Menschen,
erzeugt zusammen mit einem obszönen und geschmacklosen Reichtum derartige
Massenarmut und ist in seiner blindwütigen Dynamik von solch unerhörten
Katastrophenpotenzen gezeichnet, dass seine schiere Weiterexistenz
unvermeidlich stets von neuem Motive und Gedanken radikaler Kritik hervor-
treiben muss. Und das A und 0 dieser Kritik ist nun einmal die kritische
Theorie jenes Karl Marx, der schon vor fast 150 Jahren die destruktive Logik
des kapitalistischen Akkumulationsprozesses in ihren Grundzügen unüber- troffen
analysiert hat.
Aber wie für jedes theoretische
Denken, das über das Verfallsdatum eines bestimmten Zeitgeistes hinausreicht,
gilt auch für das Marxsche Werk: es bedarf immer einer jeweils neuen
Annäherung, die neue Seiten entdeckt und alte Interpretationen verwirft. Und
nicht nur Interpretationen, sondern auch bestimmte zeitgebundene Elemente
dieser Theorie selbst. Jeder Theoretiker hat mehr gedacht, als er selber
wusste, und eine widerspruchsfreie Theorie wäre nicht ernsthaft eine Theorie zu
nennen. So haben nicht nur einzelne Bücher ihre Schicksale, sondern auch große
Theorien. Es entwickelt sich immer ein Spannungsverhältnis zwischen einer
Theorie und ihren Rezipienten, Anhängern wie Gegnern, in dem sich der innere
Widerspruch der Theorie entfaltet und damit erst Erkenntnis befördert.
Marx und der postmoderne Abgesang
auf die »Großtheorie«
Statt sich dem Problem der
historischen Prozesshaftigkeit von Gesellschaftstheorie am Ende des 20.
Jahrhunderts neu zu stellen, möchte das so genannte postmoderne Denken die
Dialektik von Theoriebildung, Rezeption und Kritik einfach stillstellen. Gerade
die Marxsche Theorie wird nicht mehr anhand ihrer Inhalte überprüft, in ihren
historischen Bedingungen analysiert und damit weiterentwickelt, sondern a
priori in ihrem Anspruch als so genannte »Großtheorie« verworfen. Diese falsche
Bescheidenheit, die das große Ganze der kapitalistischen
Vergesellschaftungsformen nicht mehr als solches in den Blick nimmt, sondern
bloß verdrängt, fällt unter das Niveau gesellschaftstheoretischer Reflexion überhaupt.
Die Vogel-Strauß-Politik eines derart freiwillig reduzierten und abgerüsteten
Denkens verkennt, dass die Problematik so genannter Großtheorien und
Großbegriffe nicht von ihrem realen gesellschaftlichen Gegenstand zu trennen
ist. Die Anmaßung, das Ganze erfassen zu wollen, wird durch die
gesellschaftliche Realität geradezu provoziert. Das negative Ganze des
Kapitalismus hört in seiner Realexistenz nicht zu wirken auf, bloß weil es
begrifflich ignoriert wird und weil wir nicht mehr hinschauen sollen: »Die
Totalität vergisst euch nicht«, wie zu Recht der englische Literaturtheoretiker
Terry Eagleton höhnte.
Die postmoderne Kritik der
Großtheorie, von vielen Ex-Marxisten dankbar als vermeintlich entlastende
Denkfigur aufgenommen, verweist nicht so sehr auf ein affirmatives,
apologetisches Denken im herkömmlichen Sinne, sondern eher auf die Verzweiflung
einer Gesellschaftskritik, die aus der Bahn geworfen ist und vor einer Aufgabe
zurückscheut, die ihr bisheriges Fassungsvermögen übersteigt. Es handelt sich
um ein Ausweichmanöver, das nur vorübergehenden Charakter haben kann; das
kritische Denken wird unerbittlich wieder zurückgeführt zu der Hürde, die es zu
überspringen hat. Und diese Hürde ist offenbar vor allem deswegen so schwer zu
nehmen, weil das bisherige marxistische Denken dabei auch über seinen eigenen
Schatten springen muss. Man könnte diese etwas seltsam klingende Metapher auch
durch eine andere ersetzen: Der Marxismus hat eine Leiche im Keller, die nicht länger
versteckt gehalten werden kann. Mit anderen Worten: Der Widerspruch zwischen
der Marxschen Theorie und ihrer Rezeption durch die alte Arbeiterbewegung sind
ebenso wie die Widersprüche innerhalb der Marxschen Theorie selbst am Ende des
20. Jahrhunderts so weit herangereift, dass die Reaktivierung dieser Theorie,
ihre erneute Aktualisierung, nicht mehr in der bisherigen Weise zu haben ist.
Nach dem Jahrhundert der
Arbeiterbewegung
Wenn der voreilig totgesagte Marx
in der Vergangenheit immer wieder quicklebendig auf der Matte stand, dann fanden
diese Auferstehungen jedes Mal im Binnenraum einer Epoche statt, die man das
»Jahrhundert der Arbeiterbewegung« nennen könnte. Es scheint heute evident,
dass diese Geschichte abgeschlossen ist. Ihre Motive, theoretischen Reflexionen
und sozialen Handlungsmuster sind in gewisser Weise unwahr geworden. Sie haben
ihre Zugkraft verloren, das Leben ist aus ihnen entwichen, und sie bieten sich
uns dar wie unter Glas. Dieser Marxismus ist nur noch ein langweiliges
Museumsobjekt. Aber damit ist noch lange nicht geklärt, warum das so ist. Die
eilige Abwendung der ehemaligen Anhänger hat daher etwas Verlogenes an sich,
der voreilige Triumphalismus der ehemaligen Gegner etwas Albernes. Denn mit dem
unbegriffenen Ende einer unaufgearbeiteten Epoche haben sich die in dieser
Geschichte herangereiften Probleme ja nicht in Wohlgefallen aufgelöst, sondern
im Gegenteil auf eine neue, noch unerkannte Weise dramatisch zugespitzt. Fast
scheint es so, als wäre diese vergangene Epoche nur das Verpuppungsstadium oder
die Inkubations- zeit einer qualitativ neuen weltgesellschaftlichen Großkrise
gewesen, deren Natur man in theoretischer Hinsicht auch nur mit entsprechenden
Groß- begriffen und in praktischer Hinsicht nur mit einer entsprechend
grundsätzlichen gesellschaftlichen Umwälzung beikommen kann. Die allenthalben
grassierende, alle möglichen Versatzstücke vermengende Religion eines
marktwirtschaftlich-demokratischen »Pragmatismus« wirkt angesichts der realen
Lage wie der Versuch, auf Aids mit Klosterfrau Melissengeist oder auf die
Explosion eines Atomreaktors mit einem Löschzug der freiwilligen Feuerwehr zu
reagieren.
Verräterisch ist, dass der Zentral
begriff dieser pragmatischen Quacksalber-Philosophie von Wissenschaft,
Politik und Management, nämlich die
rituelle Beschwörungsformel der »Modernisierung«, kaum weniger
unglaubwürdig, leer, tot und museal
erscheint als die Großbegriffe des alten Arbeiterbewegungsmarxismus. Das
Ende der Kritik ist auch das Ende
der Reflexion, und im reflexionslos dahinwurstelnden postmodernen
Kapitalismus hat das Mantra
»Modernisierung« den Stellenwert einer hohlen Götzenbeschwörung angenommen.
Der Begriff der Modernisierung ist
nicht nur ebenso unwahr geworden wie die Begriffe des Arbeiterstandpunkts
oder des Klassenkampfes. Dieser beiden
gemeinsame Bedeutungsverlust verweist auch auf ein gemeinsames
Wesen und einen gemeinsamen historischen
Ort des alten Marxismus und der kapitalistischen Welt. Es ist die
verborgene innere Identität der verbissenen
Kontrahenten; die immer dann zum Vorschein kommt, wenn sich
der immanente Konflikt allein deswegen
überlebt hat, weil das gemeinsame Bezugssystem brüchig wird. So
gesehen kann nicht der Marxismus
als integrales Moment der Modernisierung tot sein und gleichzeitig der
Kapitalismus lebendig und unbeirrt
eben diese Modernisierung endlos fortsetzen. Vielmehr kann es sich dann
nur um einen Schein leben in einem
Zwischenreich handeln, also um eine Art Zombie- Veranstaltung ohne
wirkliches Leben im Leib.
Darauf deutet auch der
technologische Reduktionismus dieses von allen ursprünglich sozialen,
gesellschaftsanalytischen und ökonomiekritischen Inhalten abgelösten
Modernisierungsbegriffs hin; Wenn der Zugriff auf Internet und Biotechnologie
schon alles sein soll, dann ist das gar nichts, weil Naturwissenschaft und
Technologie nicht für sich stehen und keinen isolierten Fortschritt
hervorbringen können, sondern immer nur im Kontext einer gesellschaftlichen,
sozialökonomischen Entwicklung wirksam sind, die frühere Zustände überwindet.
Eine bloß noch technologische Modernisierung, die den Status quo der
gesellschaftlichen Ordnung nicht mehr antasten will und mit Marktwirtschaft und
Demokratie das Ende der Metamorphose gesellschaftlicher Formen gekommen sieht,
disqualifiziert sich selbst.
Solche Überlegungen geben schon
einen Fingerzeig, auf welche Weise das Ende des Arbeiterbewegungsmarxismus
einzuordnen wäre. Wenn die neue, in ihren Konturen allmählich deutlich werdende
Weltkrise des 21. Jahrhunderts gerade darin besteht, dass die gemeinsamen
Grundlagen der bisherigen Modernisierungsgeschichte obsolet werden, dann ist
damit gleichzeitig gesagt, dass sich der Marxismus der politischen und
gewerkschaftlichen Linken samt seiner theoretischen Reflexion selber noch
innerhalb der kapitalistischen Formen bewegt hat. Seine Kapitalismuskritik
bezog sich also nicht auf das logische und historische Ganze dieser
Produktionsweise, sondern immer nur auf bestimmte, jeweils durchlaufene und zu
überwindende Entwicklungsstufen. Insofern war die marxistische Bewegung der Arbeiterklasse
in ihrem Jahrhundert noch gar nicht der Totengräber des Kapitalismus (so die
bekannte Marxsche Metapher), sondern ganz im Gegenteil die vorwärtstreibende
innere Unruhe, der Lebensmotor und gewissermaßen der Entwicklungshelfer
kapitalistischer Vergesellschaftung. Das marxistische »Noch nicht« im Sinne des
Philosophen Ernst Bloch bezog sich daher gegen dessen Intention in Wahrheit
keineswegs auf die Emanzipation vom Kapitalismus, von seinen repressiven Formen
und Grundzumutungen, sondern vielmehr auf die positive Anerkennung im
Kapitalismus und auf einen Fortschritt zur Modernisierung in der
kapitalistischen Hülle. Das »Noch nicht« bezeichnete die innere Spannung des
Kapitalismus selbst, aber eben noch nicht den Blick darüber hinaus, der erst an
seinen historischen Grenzen möglich wird.
Die innere Ungleichzeitigkeit des
Kapitalismus
Die Perspektive der immanenten
»Ungleichzeitigkeit« in der Herausbildung des modernen gesellschaftlichen
Systems lässt sich auf verschiedenen Ebenen darstellen. So war die noch junge
kapitalistische Produktionsweise in jenem Zeitraum des 19. Jahrhunderts, der
die Lebensspanne von Karl Marx (1818-1883) ausmachte, auf eine bestimmte Weise
in Bezug auf sich selber ungleichzeitig: Einerseits hatte sie ihre eigene Logik
schon so weit entfaltet, dass diese in ihren Grundzügen sichtbar und damit
abstrakt erkennbar geworden war, andererseits waren die spezifisch
kapitalistischen Formen noch vielfältig vermischt mit vorkapitalistischen
Verhältnissen in verschiedenen Stadien des Verfalls und der noch lange nicht
abgeschlossenen Transformation. Wenn sogar das theoretische Bewusstsein dieser
gärenden, sich ständig wandelnden Gesellschaft den jeweiligen Zustand des
Transformationsprozesses mit dem »Kapitalismus als solchem« verwechseln konnte,
so musste natürlich erst recht das praktische, unvermeidlich in die
Tageserfordernisse verstrickte Bewusstsein den Kapitalismus gleichsetzen mit
den un- mittelbaren gesellschaftlichen Erscheinungsformen, denen indes in
vieler Hinsicht noch die Schlacken vormoderner Restbestände anhafteten. Wie der
Kapitalismus auf diese Weise gerade auch für die jeweils herrschenden
Interessen und deren Apologeten als identisch mit einem Stadium seiner noch
unausgegorenen Entwicklung erschien (die patriarchalischen Honoratioren- und
Clan-Kapitalisten des frühen 19. Jahrhunderts etwa könnten sich kaum in den
heutigen Dotcom-Kapitalisten der Globalisierung wieder erkennen), so musste
umgekehrt für die fortschrittlichen, über das jeweilige Stadium
hinausdrängenden Kräfte die Abstoßung von diesem Zustand den Namen einer
Kapitalismuskritik annehmen, auch wenn es in Wahrheit bloß um die
Fortentwicklung des Kapitalismus selber ging.
Der Begriff der Modernisierung war
daher nicht so eindimensional wie heute, sondern mit einer Art
innerkapitalistischen Kritik (man könnte auch sagen: einer fortschreitenden
inneren Selbstkritik des noch unfertigen Kapitalismus) aufgeladen. Dies umso
mehr, als es sich dabei um einen scheinbar sehr klar bestimmbaren
Interessenkampf handelte. Einerseits neigten die selber noch mit vormodernen
Denk- und Verhaltensmustern ausgestatteten Kapitalisten-Subjekte des 18. und
19. Jahrhunderts dazu, die von ihnen genutzten Lohnarbeiter paternalistisch und
mit autoritären Herrenallüren wie persönlich Abhängige zu behandeln, obwohl es
sich bei der »freien Lohnarbeit« der Form nach um Rechtsverträge unter Gleichen
handeln musste. Andererseits klagten die Lohnarbeiter und ihre zunächst
staatlich unterdrückten Organisationengenau diesen Charakter rechtsgleicher
Vertragsverhältnisse gegen den vordergründig persönlichen Herrschaftscharakter
des empirisch noch nicht seinem logischen Begriff entsprechenden
Kapitalverhältnisses ein. Genau deshalb aber wurde der Klassenkampf zum Motor
der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte, und die Kapitalismuskritik
gegenüber den persönlichen Eigentümer-Kapitalisten entsprach in Wahrheit nur
der reinen Logik des Kapitalismus selber, nämlich der Logik eines Systems
strikter formaler Egalität von abstrakten Individuen, die gewissermaßen als
Atome eines ihnen gegenüber verselbständigten ökonomischen Prozesses gesetzt
sind.
Außer den paternalistischen
persönlichen Herrschaftsallüren und den Resten ständischer Sozialverhältnisse
gab es aber auch noch andere Momente der inneren Ungleichzeitigkeit, so etwa
vormoderne kulturelle Muster, die sich gegenüber der abstrakten
betriebswirtschaftlichen Fließ- zeit, dem abstrakten Arbeitstag, dem
vereinheitlichten politisch-ökonomischen Regelwerk, der Normierung des Alltags
und der Dinge, der funktionalistischen Reduktion der Ästhetik usw. in vieler
Hinsicht sperrig zeigten. Auch unabhängig vom Klassenkampf und der damit
verbundenen immanenten Kapitalismuskritik war der kapitalistische
Systemzusammenhang noch nicht ausgereift, zumal selbst in den entwickeltsten
kapitalistischen Ländern (allen voran England) die kapitalistische
Produktionsweise noch keineswegs alle Produktionszweige vollständig erfasst
hatte und die gesellschaftlichen Sphären außerhalb der unmittelbaren
betriebswirtschaftlichen Produktion (Staat, Familie, Kulturleben,
außerökonomische Korporationen etc.) weder ausreichend auf die kapitalistischen
Bedürfnisse zugeschnitten noch durchgehend nach dem Bild kapitalistischer
Rationalität umgeformt waren.
Die Arbeiterbewegung in der »nachholenden
Modernisierung« des 19. Jahrhunderts
In einer anderen Hinsicht stellte
sich die Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung auch als eine
äußere dar. Ein großer Teil der Erde war noch so gut wie gar nicht der Logik
dieser Produktionsweise unterworfen worden, noch nicht einmal in der
oberflächlichen kolonialistischen Form.. Ein erheblicher Teil der kolonialen
Annexionen fand erst im 19. Jahrhundert statt, und selbst die einmal eroberten
Länder und Weltregionen waren natürlich in den Strukturen ihrer
gesellschaftlichen Reproduktion bei weitem nicht derart kapitalistisch
durchdrungen wie die Mutterländer. Als Rohstoffreservoire und eher marginale
Absatzgebiete konnten sie nur teilweise in den kapitalistischen Prozess
einbezogen werden, während das Leben im großen Hinterland, das nur punktuell
politisch-militärisch beherrscht war, noch weitgehend in vorkapitalistischen
Formen verharrte.
Vor allem aber gab es auch
innerhalb Europas selber ein gewaltiges Entwicklungsgefälle. Obwohl der Kapitalismus
eine lange Vorgeschichte
hinter sich hatte, konnte am Ende des 18. Jahrhunderts nur das bereits
ansatzweise industrialisierte England ein modernes kapitalistisches Land
genannt werden, dem gegenüber die Entwicklung auf dem Kontinent relativ
zurückgeblieben war. Innerhalb des kontinentalen Europa wiederum war der
westliche Teil (insbesondere Frankreich und Holland) im Verhältnis zu Mittel-
und Südeuropa weiter fortgeschritten. In Deutschland war noch nicht einmal die
Voraussetzung einer einheitlichen Nationalökonomie und eines dazugehörigen
Nationalstaats herausgebildet. So stand das 19. Jahr hundert in Europa und im
Kreis jener Länder, die man bereits vage als kapitalistische zu bezeichnen
begann, ganz wesentlich im Zeichen einer Aufholjagd. Diese erste nachholende
Modernisierung bildete (in der Konkurrenz mit England und Frankreich) geradezu ein
Paradigma, das am nachhaltigsten die Entwicklung in Deutschland und in Italien
prägt. In Asien kam dann noch Japan hinzu, auf der anderen Seite des Atlantiks
mauserten sich die USA sprunghaft zu einem eigenständigen Fokus industriekapitalistischer
Entwicklung.
Erst dieser Prozess nachholender
Modernisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ jenes
widersprüchliche globale Zentrum von relativ wenigen Ländern entstehen, die
seither in wechselnden Konstellationen und durch verheerende Weltkriege
hindurch die kapitalistische Welt dominieren: Was sich nach dem Zweiten
Weltkrieg als exklusiver Club der OECD konstituierte, in jüngster Zeit als »G7«
regelmäßige globale Gipfelkonferenzen veranstaltet und als Triade (mit den
Zentren EU, Japan und USA)figuriert, besteht immer noch aus genau jenem
Zentralkomplex von Staaten und Nationalökonomien, die das Ergebnis des
angelsächsisch-westeuropäischen »Vorlaufs« und der anschließenden nachholenden
Modernisierung Deutschlands, Italiens und Japans im 19. Jahrhundert waren.
Es konnte nicht ausbleiben, dass
neben der grundsätzlichen inneren auch diese äußere, nationalstaatlich-nationalökonomische
Ungleichzeitigkeit den immanenten Antikapitalismus der alten Arbeiterbewegung
be- stimmte. Wo in dieser oder jener Hinsicht ein Entwicklungsrückstand zu
anderen kapitalistischen Nationen bestand... machte sie sich dieses Problem
positiv zu eigen, und wo dieses Gefälle besonders stark war, nahm diese
Identifikation auch einen besonders ausgeprägten Charakter an. In Deutschland
gehörten die marxistische Sozialdemokratie und die Gewerkschaften zu den
vehementesten Verfechtern der nationalen Vereinigung. Wurde diese
nationalstaatliche Einheit auch letzten Endes durch den preußischen
Militärstaat unter Ägide des Kanzlers Bismarck »von oben« und im Rahmen eines
anachronistischen Kaiserreichs vollzogen, so ist der deutschen Sozialdemokratie
doch bis heute ein besonders finsterer bürgerlicher Patriotismus erhalten
geblieben. In den Konkurrenzverhältnissen, wie sie die Konstellation der.
nachholenden Modernisierung im 19. Jahrhundert kennzeichneten, nahmen
schließlich alle Arbeiterparteien den nationalökonomischen und
nationalstaatlichen Standpunkt »ihres« Landes ein, eine Orientierung, die
bekanntlich dazu führte. dass sich die »befreundeten« nationalen
Arbeiterbewegungen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs wieder
begegnen sollten. Dieses Einschwenken auf die Position der nationalökonomischen
Konkurrenz in der äußeren Ungleichzeitigkeit unter dem Eindruck der
nachholenden Modernisierung stand in einem Verhältnis logischer Notwendigkeit
zur avantgardistischen Rolle der Arbeiterbewegung hinsichtlich der. inneren
Ungleichzeitigkeit des kapitalistischen Systems: Die soziale Opposition nach
innen und der nationale Konformismus nach außen waren in Wahrheit gar nicht so
gegensätzlich, wie es zunächst vielleicht scheinen mochte.
Der exoterische und der
esoterische Marx
In diesem Spannungsfeld innerer und
äußerer Ungleichzeitigkeit des Kapitalismus im 19. jahrhundert ist die
Entstehungsgeschichte der Marxschen Theorie angesiedelt. Marx, selber ein
Dissident des bürgerlichen Liberalismus, konnte gar nicht anders, als dieser
Spannung Rechnung zu tragen. Oberflächlich betrachtet spiegelt Marx Wirken den
inneren und äußeren Widerspruch des Kapitalismus seiner Zeit in doppelter
Weise. Zum einen war Marx (neben Friedrich Engels) die herausragende Figur des
sozialen Seitenwechsels avantgardistischer Intellektueller, die in der Kritik
der be- sonders in Kontinentaleuropa strukturell rückständigen Regierungsformen
von den gemäßigt oppositionellen liberalen Bourgeois zur proletarischen
Opposition der beginnenden Arbeiterbewegung übergingen. Wenn man freilich den
Charakter dieser Bewegung als immanenten Entwicklungsmotor des Kapitalismus
selbst versteht, dann war dieser Seitenwechsel keineswegs so sensationell und
historisch einschneidend, wie es die marxistische Hagiographie immer
hingestellt hat. Der bloße Wechsel des Klassenstandpunkts blieb im Gegensatz
zum Selbstbewusstsein der Akteure ganz im Rahmen der kapitalistischen Logik und
war vor allem von der Enttäuschung über die mangelnde immanente
Fortschrittlichkeit der empirischen, dem damaligen Status quo allzu sehr
verhafteten, allzu konservativen Kapitalistenklasse bestimmt.
Die Grundfigur des daraus
resultierenden dissidenten Denkens bestand in der Idee, die von der
»besitzenden Klasse« des aufsteigenden Kapitalismus nur halbherzig und schleppend
durchgeführten, großenteils sogar liegen gelassenen »bürgerlichen Aufgaben« der
weiteren kapitalistischen Entwicklung (Ausdifferenzierung der bürgerlichen
Rechtsverhältnisse, Homogenisierung des sozialen Raumes, Modernisierung der
familialen und kulturellen Strukturen etc.) gewissermaßen der jungen
Arbeiterbewegung zu übertragen, ein gerade bei Marx immer wieder anklingendes
Motiv, insofern machte die Theorie aber nur bewusst, was ohnehin als
wesentlicher Impuls der Arbeiterbewegung durch ihren Kampf um Anerkennung im
Kapitalismus bereits angelegt war. Und soweit die Marxsche Theorie diesem
Impuls wissenschaftlichen Ausdruck verlieh, konnte sie eben zum
gesellschaftstheoretischen Sprachrohr oder zur wissenschaftlichen Repräsentanz
der Arbeiterbewegung als jenem inneren Entwicklungsmotor des Kapitalismus werden.
Verstärkt wurde diese Rolfe der
Marxschen Theorie auch noch dadurch, dass Marx als Deutscher gleichzeitig aus
der Perspektive der spezifisch deutschen kapitalistischen »Unterentwicklung«
schrieb. »Uns quält«, heißt es schon im Vorwort zur ersten Auflage des
»Kapital«, »gleich dem ganzen übrigen kontinentalen Westeuropa, nicht nur die
Entwicklung der kapitalistischen Produktion, sondern auch der Mangel ihrer
Entwicklung. Neben den modernen Notständen drückt uns eine ganze Reihe
vererbter Notstände, entspringend aus der Fortvegetation altertümlicher,
überlebter Produktionsweisen, mit ihrem Gefolge von zeitwidrigen
gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Wir leiden nicht nur von den
Lebenden, sondern auch von den Toten. Le mort saisit le vif! « ... In solchen
Aussagen wird deutlich, wie sehr der Dissident Marx dem liberalen
Fortschrittsbegriff und dem historischen Entwicklungsschema der Hegeischen
Philosophie verhaftet war, das er lediglich aus einer rein
geistesgeschichtlichen Fassung auf die Geschichte der ökonomischen
Produktionsweisen übertragen oder, wie er selbst es ausdrückte, »vom Kopf auf
die Füße gestellt« hatte. Der Kapitalismus war aus dieser Sicht historisch
einfach »dran«, und um ihn regelgerecht abschaffen zu können, musste man ihn
als historisch notwendige Produktionsweise im Namen einer Entwicklung der
Produktivkräfte erst einmal einführen, aufpäppeln, weiterentwickeln und
gewissermaßen seinem Begriff annähern. Zu umgehen sei er jedenfalls nicht, so
Marx in jenem Vorwort, denn es handle sich um mit »eherner Notwendigkeit sich
durchsetzende« Tendenzen: »Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder
entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft. «. In seinem positiven theoretischen
und in gewisser Hinsicht geschichtsphilosophischen Bezug sowohl auf die innere
wie auf die äußere Ungleichzeitigkeit des Kapitalismus im 19. Jahrhundert kann
Marx als reflektierter Mödernisierungstheoretiker und gerade dadurch als
»Cheftheoretiker«der modernen Arbeiterbewegung gelesen werden. In dieser Lesart
haben wir es mit dem vertrauten Marx des »Klassenkampfs«, des »ökonomischen
Interesses«, des »Arbeiterstandpunkts«, des »historischen Materialismus« usw.
zu tun. Ginge die Marxsche Theorie darin auf, dann würde sie sich nur der
sozialen Akzentsetzung nach, nur durch ihre spezifische Terminologie und durch
ihren geschichtstheoretischen Unterbau von anderen Modernisierungstheorien
unterscheiden. In diesem Sinne wäre das Programm einer bloß immanenten, auf die
verschiedenen Ebenen der Ungleichzeitigkeit bezogenen Kapitalismuskritik heute
abgearbeitet und damit auch Marx erledigt.
Aber in die Marxsche Theorie ist
auch ein ganz anderer Argumentationsstrang eingezogen, der über den Horizont
seiner Zeit weit hinausreicht. Dabei handelt es sich um eine viel tiefer
gehende Kapitalismuskritik, die auch im logischen und historischen Sinne diesen
Namen verdient, weil sie die kapitalistische Produktionsweise grundsätzlich in
ihren elementaren politisch-ökonomischen Formen kritisiert, die alle sozialen
Gruppen, Klassen und Schichten übergreifen und das gemeinsame Bezugssystem der
innerkapitalistischen sozialen Konflikte bilden. Diese zweite und eigentliche
Ebene der Marxschen Kapitalismuskritik gilt nicht mehr bloß einem bestimmten
Modus oder einer bestimmten Entwicklungsstufe oder bestimmten Auswirkungen
dieses gesellschaftlichen Formzusammenhangs, sie ist nicht bloß akzidentiell
oder phänomenologisch, sondern sie betrifft das Wesen oder den Kern der Sache;
sie bezieht sich nicht auf negative Eigenschaften oder Mängel, sondern sie ist kategorisch
oder kategorial, d.h., sie verwirft die grundlegenden
Wesensbestimmungen des Kapitalismus.
Dabei handelt es sich ja nicht um
bloße Bestimmungen des (theoretischen, wissenschaftlichen) Denkens, sondern um
Realkategorien der gesellschaftlichen Reproduktion und Lebensweise, die dann
als Begriffe in der Theorie (z. B. in der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre)
wieder erscheinen. Deswegen lässt sich der Untertitel des Marxschen »Kapital«,
nämlich die »Kritik der politischen Ökonomie«, auch doppelt verstehen: einmal
als Kritik der vor oder unabhängig von jeder Theorie existierenden realen,
objektiven Verhältnisse in ihren elementaren sozialökonomischen Beziehungs-
formen, zum andern als Kritik der damit verbundenen und daraus hervor- gehenden
Denk- und Bewusstseinsformen sowohl des »Alltagsverstands« als auch der
Ideologie und der Wissenschaft.
Es ist ziemlich leicht, die
elementaren kapitalistischen Kategorien zu benennen, aber es ist ziemlich
schwer, sie einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen. Die Abstraktion
»Arbeit«, der ökonomische »Wert«, die gesellschaftliche Darstellung der
Produkte als »Waren«, die allgemeine Geldform, die Vermittlung durch »Märkte«,
die Zusammenfassung dieser Märkte in »Nationalökonomien« mit. bestimmten
Geldeinheiten (Währungen), die »Arbeitsmärkte« als Voraussetzung einer derart
flächendeckenden Waren-, Geld- und Marktwirtschaft, der Staat als »abstraktes
Gemeinwesen«, die Form des abstrakt-allgemeinen »Rechts« (der juristischen
Kodifizierung) aller persönlichen und sozialen Beziehungen und als Form der
gesellschaftlichen Subjektivität, die ausentwickelte, reine Staatsform der
»Demokratie«, die irrationale, kulturell-symbolische Verkleidung der nationalökonomisch-staatlichen
Kohärenz als »Nation« - alle diese Grundkategorien moderner kapitalistischer
Vergesellschaftung, einerseits durch blinde historische Prozesse hindurch
herausgebildet, wurden den Menschen andererseits in einem mehrhundertjährigen
Prozess der Pädagogisierung, Gewöhnung und Verinnerlichung von den jeweiligen
(selber in Bezug auf das Ganze bewusstlosen) Protagonisten und Machthabern
aufoktroyiert mit dem Ergebnis, dass diese Kategorien schon bald geradezu als unüberwindbare
anthropologische Konstanten erschienen, die jeder Kritik spotten.
Es war allerdings eine reife
Leistung der bürgerlichen Aufklärungsphilosophie und der dazugehörigen
Wirtschaftstheorie des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts, dass es ihr
gelang, den vorher nie dagewesenen gesellschaftlichen Formzusammenhang des
Kapitalismus als im Prinzip schon immer existierende Naturgesetzlichkeit des
menschlichen Zusammenlebens zu verkaufen. Diese eigentlich ewigen Kategorien
seien, so hieß es, in der Vergangenheit lediglich fehlerhaft und unvollständig
angewendet worden, weil das nötige Verständnis (die durch Aufklärung erweckte
Vernunft) gefehlt habe. Nachdem aber nunmehr diese Vernunft glücklicherweise
endlich gefunden sei, habe die Geschichte der Irrtümer ein Ende, und die
Menschheit könne in Befolgung der eigentlich schon immer vorhandenen und
gültigen Prinzipien der Gesellschaft schlechthin (sprich: des Kapitalismus)
einer glorreichen Zukunft entgegengehen.
Hegel modifizierte dieses Konstrukt
auf raffinierte Weise, indem er die bei den Aufklärern noch als Fehler und
Irrtümer figurierenden vormodernen Gesellschaftszustände ebenso viele
»notwendige Entwicklungsstufen« umdefinierte, die natürlich allesamt nur den
Sinn gehabt hätten, auf die wunderbare Moderne als Gipfel- und Endpunkt der
menschlichen Entwicklung zuzulaufen. Dass Hegel dieses Stadium ausgerechnet in
der konstitutionellen preußischen Monarchie erreicht sah, zeigt natürlich, wie
sehr auch er die Moderne oder den Kapitalismus (der bei ihm freilich nicht so
heißt, sondern wesentlich hochtrabendere Namen trägt, z. B. den des
»Weltgeistes«) als Ziel der Geschichte mit dem unausgereiften Ist-Zustand
seiner Zeit verwechselte.
So kam es also, dass die moderne
Philosophie im allgemeinen und die Volkswirtschaftslehre (später auch die
ausdifferenzierten akademischen Disziplinen von Soziologie, Politikwissenschaft
etc.) im besonderen den völlig neuartigen kategorialen Zusammenhang der
kapitalistischen Gesellschaft als angeblich natürliche Prinzipien des
Zusammenlebens und des Wirtschaftens auf die gesamte Menschheitsgeschichte
projizierten. Auch heute noch gilt es trotz aller Kritik an einer
ahistorischen, unspezifischen Betrachtungsweise zumindest in den
Wirtschaftswissenschaften als ausgemacht, dass schon der erste Faustkeil, den
ein Vormensch aus dem Stein geschlagen hat, Kapital gewesen sei und einen Preis
auf einem Markt von Subjekten des Warentauschs erzielt haben müsse. Marx blieb
zwar in geschichtsphilosophischer Hinsicht Hegel verhaftet; aber er machte sich
doch nicht nur weidlich lustig über diese haarsträubenden Anachronismen der
Volkswirtschaftslehre und er »historisierte« nicht nur explizit oder implizit
die modernen kapitalistischen Kategorien, sondern er bestimmte sie auch
grundsätzlich als Formen einer zutiefst irrationalen, destruktiven und
letztlich selbstzerstörerischen Form der Gesellschaft.
Aber diese radikale Kritik ist eben
vermengt und verschränkt mit jener Analyse der inneren und äußeren
Ungleichzeitigkeit des Kapitalismus und jener Repräsentanz der bloß auf
Anerkennung »im« Kapitalismus orientierten Arbeiterklasse, so dass Marx teils
in seiner Ausdrucksweise, teils auch im Inhalt seiner Argumentation auf Schritt
und Tritt zwischen einer grundsätzlichen kategorischen Kritik einerseits und
einer »positivistischen« (oder als solche lesbaren) Darstellung andererseits
schwankt, ja im Hinblick auf viele zentrale Begriffe und Argumentationen
offensichtlich in sich widersprüchlich wird. Insofern also muss man vom »doppelten
Marx« sprechen, und zwar genau in Bezug auf dieses Verhältnis von
positivistischer Immanenz und kategorialer Transzendenz in seiner
Theoriebildung. Dabei haben wir es einmal mit einem »exoterischen« (nach außen
gewandten, gut rezipierbaren) und einmal mit einem »esoterischen« (kategorisch
denkenden, schwer zugänglichen) Marx zu tun. Der exoterische Marx ist der
positiv auf die immanente Entwicklung des Kapitalismus bezogene, der
esoterische Marx dagegen der auf die kategorische Kritik des Kapitalismus
bezogene Theoretiker.
Marx und die Arbeiterbewegung:
keine Liebesheirat
Für Marx selber und seine
Rezipienten in der Arbeiterbewegung waren diese beiden ineinander
verschlungenen Momente jedoch nicht auseinander zuhalten. Obwohl Marx schon
früh die Politik als Form einer bloß äußerlichen und abstrakten, vom
Verwertungsprozess des Kapitals abhängigen Gesellschaftlichkeit erkannt hatte,
bildete er sich doch ein, die Arbeiterbewegung könne gerade auf dem Weg des
politischen (staatsbezogenen) Kampfes über die bloß immanente
Interessenvertretung hinausgetrieben werden zu jener noch unscharfen und das
kapitalistisch konstituierte Bewusstsein übersteigenden kategorischen Kritik,
deren Erfüllung er selber gelegentlich als »Traum«, als »ungeheuerlichen Zweck«
oder als Tat eines »enormen Bewusstseins« bezeichnete.
Die Arbeiterbewegung und ihre
großenteils biederen politischen Repräsentanten konnten ihrerseits mit der
implizit oder explizit aufscheinenden kategorischen Kritik so gut wie gar
nichts anfangen. Ein wenig heuchlerisch schob man das Problem gern auf eine
bloße Schwerverständlichkeit der theoretischen Ausdrucksweise und machte sich
absichtlich dem »großen Denker« gegenüber klein, aber nur um klammheimlich den
schlichten AIItagsverstand des geldverdienenden Arbeitsmenschen gegen die
»graue Theorie« und ihre unpraktischen, nutzlosen »Spintisierereien« in
Anschlag zu bringen. Vor diesem Hintergrund erschienen jene angeblich
unverständlichen Ausführungen von Marx zur grundsätzlichen Kritik der
kapitalistischen Formen vielen sonst durchaus wohlwollenden Rezipienten auch
als eine Art »Hegelianischer Flausen« oder geradezu als »philosophischer
Quatsch«. In Wahrheit verbirgt das abstrakt ontologische und erkenntnis-
theoretische, scheinbar praxisferne Räsonnement der modernen Philosophie in
seiner terminologischen Verkleidung eben die Reflexion über die
kapitalistischen Denkformen, die zugleich gesellschaftliche Praxisformen sind.
Während Marx wider sein eigenes
besseres Wissen in der über den bloß gewerkschaftlichen täglichen
Interessenkampf hinausgehenden politischen Form der Arbeiterbewegung das
Vehikel einer grundsätzlichen Formkritik (und damit paradoxerweise auch der
politischen Form selber) erkennen wollte, wurde für die Arbeiterbewegung diese
politische Form gerade umgekehrt zum Vehikel dafür, die gewissermaßen nur aus
den Augenwinkeln betrachtete und geradezu angstbesetzte kategoriale Formkritik
sachte zu umgehen, um statt dessen die (letztlich erfolgreiche) Anerkennung im
Kapitalismus als Subjekt der Arbeit und auf den Arbeitsmärkten zu erstreiten.
So täuschte man sich wechselseitig, und Marx wurde nicht nur in seiner
exoterischen Eigenschaft zum wissenschaftlichen Repräsentanten der
Arbeiterbewegung, sondern gleichzeitig in seiner esoterischen Eigenschaft zum
ewig unzufriedenen theoretischen Grummler und Grantler, Nörgler und
abkanzelnden Schulmeister im Hintergrund, ein getreues Spiegelbild seines
eigenen inneren Widerspruchs im Verhältnis zur geschichtlichen Bewegung der
Arbeiterklasse in den Kapitalismus hinein statt aus ihm heraus.
Die aus diesem äußerst
zwiespältigen Verhältnis notwendig resultieren- de Spannung führte ziemlich
bald dazu, dass die Widersprüchlichkeit der Theorie in ihre Kanonisierung und
Dogmatisierung umschlug, wie es sich stets verhält, wenn die eigene
legitimatorische Weitsicht einen blinden Fleck enthält, der nicht zur Sprache
kommen darf. Marx hatte zwar ironisch bemerkt, dass er »kein Marxist«sei, was
ihm aber nichts nutzte. Denn die Umwandlung und damit Bannung des theoretischen
Widerspruchs in die Ideologie eines »Ismus« war die einzige Möglichkeit, seine
Theorie auf eine Rezeption zurechtzustutzen, die den Bedürfnissen der
Arbeiterbewegung entsprach. Und diese Ideologisierung machte mit Marx das, was
jedem ungleichzeitigen Denker geschieht, der in seiner Zeit und ihr doch voraus
ist: Er wurde nur deswegen als exoterischer Marx bis zum Dogma erhöht, um als
esoterischer Marx erniedrigt und hintenherum getreten zu werden. Am
angestrengtesten durch die »marxistischen« Parteiideologen und akademischen
Gelehrten von Karl Kautsky bis Oskar Negt. Vielleicht auf keinen Denker der
Moderne trifft so sehr der Spruch des polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy
Lec zu wie auf Marx: »Sie haben ihn durch ein Denkmal gesteinigt.«
Der Marxismus und die nachholende
Modernisierung im 20. Jahrhundert
Diese Steinigung des esoterischen
Marx setzte sich nach seinem Tod über mehr als ein Jahrhundert hinweg fort.
Denn das »kurze« zwanzigste Jahr- hundert, bestimmt durch die historischen
Daten Von 1914 und 1989, erlebte nicht den Durchbruch der kategorischen Kritik
in der Marxschen Theorie und damit eine neue Qualität gesellschaftskritischer
Reflexion, sondern ganz im Gegenteil den abermaligen Aufstieg und schließlichen
Absturz des exoterischen, positiv-immanenten Modernisierungs-Marx auf einer
neuen Ebene der historischen Ungleichzeitigkeit im Kapitalismus. Denn das 20.
Jahrhundert bildete - trotz der beiden Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise
(1929-33) - noch nicht das Säkulum der Krisenreife und Transformation des
Kapitalismus, sondern statt dessen wesentlich die Epoche einer zweiten großen
Welle der »nachholenden Modernisierung«. Jetzt erst traten die großen
Weltregionen der kapitalistischen Peripherie, die über- wiegende Mehrzahl der
Menschheit, wie von Marx schon Jahrzehnte zuvor prophezeit, in die
kapitalistische Weltgeschichte ein.
Diese zweite nachholende
Modernisierung differenzierte sich wiederum in zwei miteinander verschränkte
Bewegungen: zum einen in die Heraufkunft des östlichen Staatssozialismus (vulgo
Staatskapitalismus), der es zu Ansätzen eines eigenen Weltsystems brachte, zum
andern in die südliche nationale Befreiungsbewegung der kolonialen Länder,
deren Entkolonisierung und bürgerlich-nationalstaatliche Unabhängigkeit erst
seit dem Ende des Jahrhunderts abgeschlossen ist (endgültig mit der Rückgabe
Hongkongs an China). Der Urknall dieser Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts war
die große russische Oktoberrevolution am Ende des Ersten Weltkriegs, gefolgt
von der chinesischen Revolution im Zuge des Zweiten Weltkriegs und den großen
antikolonialen Befreiungskriegen (Algerien, Vietnam, südliches Afrika) in den
Nachkriegsjahrzehnten.
Es konnte nicht ausbleiben, dass
der exoterische Marx, dessen immanente Modernisierungstheorie in der westlichen
sozialdemokratischen Arbeiterbewegung schon ein wenig verblasst und mit
Versatzstücken der positivistischen bürgerlichen Wissenschaften vermengt worden
war, in der zweiten historischen Welle der nachholenden Modernisierung auch
seinen zweiten Frühling erlebte. Denn indem die peripheren Regionen in den
globalen Horizont des Kapitalismus eintraten, konnten sie nicht bloß auf die
beschränkten eigenen Kulturtraditionen etc. zurückgreifen. Sie benötigten
vielmehr eine universelle westliche Theorie als legitimatorischen Hintergrund,
die gleichzeitig als universelle, auf die kapitalistische Weltgeschichte
bezogene Legitimationstheorie einen historisch oppositionellen Charakter tragen
musste, um für die Konkurrenz der nachholenden Peripherie mit den etablierten
Zentren des Kapitals instrumentalisiert werden zu können.
Der exoterische Marx wurde also von
Theoretikern wie Lenin, Stalin und Mao Zedong erneut aufgegriffen und diesmal
zurechtfrisiert für die Bedürfnisse der neuen historischen Aufholjagd an der
kapitalistischen Peripherie. Diese Bedürfnisse unterschieden sich insofern von
denen der westlichen Arbeiterbewegung, als es nicht einfach um die Anerkennung
der Lohnabhängigen in einem bereits etablierten Kapitalismus ging, sondern um
die nach- holende Etablierung der kapitalistischen Gesellschaftskategorien
selbst, und zwar weit über die Erfordernisse jenes ähnlichen Prozesses der
nachholen- den Modernisierung Deutschlands., Italiens und Japans im 19.
Jahrhundert hinaus. Denn erstens war der Rückstand im Grad moderner
kapitalistischer Vergesellschaftung viel größer als innerhalb des früheren
europäischen Gefälles, zweitens musste die »Aufholjagd« in viel kürzerer Zeit
und auf einem viel höheren Entwicklungsniveau des Weltkapitals durchgezogen
werden, und drittens konnte dies nur in einer prekären Konkurrenz zu einem
bereits global dominierenden Kreis von hoch entwickelten und hochgerüsteten
kapitalistischen Zentralmächten geschehen.
In diesem Kontext erlebte die
Marxsche Theorie eine nochmalige Verbiegung und Reduktion. Die esoterischen
Momente der kategorischen Kritik erschienen nicht einmal mehr als abgehobene
philosophische Reflexion jenseits der praktischen Erfordernisse, sondern
verschwanden auf dem Weg von Lenin zu den Theoretikern der nationalen Befreiung
nahezu vollständig aus der Diskussion. Der soziale Bezug zu einer
Arbeiterbewegung blieb zwar formal erhalten, reduzierte sich aber praktisch auf
relativ kleine Gruppen und gewerkschaftliche Organisationen im Kontext einer
noch dünnen Industrialisierung. Die marxistischen Arbeiterparteien der
Peripherie wurden selber zu bürokratischen Maschinen der »nachholenden
Inwertsetzung« von Gesellschaften, die noch nicht von der kapitalistischen
ökonomischen Form durchdrungen waren. Sie waren nicht bloß Repräsentanten der
inneren Unruhe oder der weiteren rechts- und sozialstaatlichen
Ausdifferenzierung des Kapitalismus wie ihre westlichen Bruder- und
Schwesterparteien, sondern mussten überdies (bei Lenin noch einigermaßen
bewusst) selber in einem abstrakt-gesamtgesellschaftlichen Sinne »Bourgeoisie
spielen«, weil die soziale Bourgeoisie der peripheren Länder einfach zu mickrig
für diese Aufgabe war. Die Identifikation dieses peripheren Marxismus mit der
jeweiligen (in den Exkolonien meistens erst frisch erfundenen und völlig
synthetischen) Nation nahm daher einen noch intensiveren Charakter an als im
Westen.
Die Paradoxie dieses
legitimationsideologischen Marxismus der zweiten nachholenden Modernisierung
überstieg noch bei weitem diejenige der westlichen Arbeiterparteien, denn es
handelte sich ja um das nur aus der besonderen historischen Konstellation
erklärbare Amalgam eines »antikapitalistischen Entwicklungskapitalismus« oder
direkten Staatskapitalismus, der im Spannungsfeld einer besonders krassen
äußeren Ungleichzeitigkeit den Widerspruch der Marxschen Theorie auch besonders
krass ausdrücken musste. Vordergründig erschien und gab sich diese zweite
Rezeption des exoterischen Marx wesentlich radikaler als die erste, aber eben
nicht deswegen, weil sie die verborgene kategorische Kritik des Kapitalismus mobilisiert
hätte und damit zur Wurzel des historischen Verhältnisses vorgedrungen wäre,
sondern ganz im Gegenteil, weil sie einer härteren Belastung der
innerkapitalistischen Ungleichzeitigkeit ausgesetzt war. Als Staatsbürokratien
mussten die marxistischen Arbeiterparteien nicht nur die bürgerlichen Aufgaben
in einem viel emphatischeren Sinne übernehmen als einst im Westen, ja sogar
paradoxerweise die Arbeiterklasse als Menschenmaterial des Verwertungsprozesses
selber erst im großen gesellschaftlichen Maßstab hervorbringen! Wenn sich diese
Hardcore-Version des exoterischen Marxismus als radikal darstellte, dann
handelte es sich in Wahrheit weniger um eine Radikalität der
theoretischen und praktischen Kritik als vielmehr um eine notgedrungene Militanz
der Konkurrenz in der innerkapitalistischen Selbstbehauptung gegenüber den
westlichen Zentren, die sich daher auch einer entsprechend martialisch
ausgerichteten kulturell-symbolischen Darstellung befleißigte und im Zeichen
der Revolutionskriege und nationalen Befreiungskriege des 20. Jahrhunderts den
Insignien der Arbeit, Hammer und Sichel, die stilisierte Kalaschnikow
hinzufügte.
Ohne dass der dabei aufscheinende
Problemzusammenhang mit den Mitteln der Marxschen Modernisierungstheorie auf
den Begriff gebracht werden konnte, führte diese bloß relative Differenz
innerhalb der Marx- Rezeption zum großen Schisma der marxistischen
Weltbewegung. Diese Spaltung, vordergründig durch den scheinbaren Gegensatz von
östlich- südlicher Radikalität und gemäßigtem westlichen Reformismus bedingt,
reflektierte in Wirklichkeit nur den Unterschied im Grad der Ungleichzeitigkeit
und Unabgeschlossenheit der kapitalistischen Durchdringung: In der älteren
Schicht des westlichen Entwicklungswegs ging es um die bloße Anerkennung innerhalb
des bereits ausgeformten modernen Staates, in der jüngeren östlich-südlichen
Schicht um die Eroberung der Staatsmacht zwecks Installation einer modernen
Staatsmaschine als Träger staatskapitalistischer Industrialisierung. Es ist
verständlich, dass die an diese Konstellation gebundene Form einer scheinbaren
(auf die staatliche Machtfrage zentrierten) Radikalisierung der Marxschen
Theorie in den westlichen Zentren nur eine ideologische Minorität mobilisieren
konnte; der Kommunismus (als Etikettierung des neuen staatskapitalistischen
Modernisierungsschubs) blieb im Westen ein bloßer Ableger, eine Art Hilfstruppe
der Sowjetunion und kam daher über den Status einer historischen Fußnote nicht
hinaus, während er seine eigentliche Ausstrahlungskraft auf die großen
peripheren Weltregionen behielt. Die westliche Sozialdemokratie
dagegen, saturiert durch vielfältige Teilnahme an der kapitalistischen
Menschenverwaltung und entsetzt über die rohen Formen der peripheren
marxistischen Entwicklungsdiktatur, entsorgte ihren Marxismus allmählich ganz
und mutierte nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer Legitimation und Programmatik
zu einer matten keynesianischen Sozialstaatstheorie ohne Klassenkampf- und
Revolutions-Rhetorik: Der exoterische Marx war gewissermaßen in den alleinigen
Besitz der historischen Nachzügler übergegangen.
Die Verwurstung des Marxismus im
Kalten Krieg
Das Schicksal der Marxschen Theorie
im 20. Jahrhundert lässt sich nur durch die Dechiffrierung der äußerlichen
Gegensätze im Kontext einer globalen innerkapitalistischen Verwerfung erklären,
in der sich die welt- geschichtliche Bewegung des Kapitalismus erstmals nicht
nur ihrer Logik nach, sondern auch empirisch als Weltkapital darzustellen
begann, dem kapitalistischen Wesen entsprechend in der Form von zerfleischender
Konkurrenz und Großkatastrophen ungeahnten Ausmaßes. Dabei überlagerten sich
mehrere große Entwicklungswellen, deren gegenseitige Beeinflussung nur
vorübergehend stabil erscheinende Systemwelten und Konkurrenzverhältnisse
hervorbrachte. Das »Jahrhundert der (westlichen) Arbeiterbewegung« (ca.
1848-1945) überschnitt sich mit dem »Jahrhundert der nationalen
Entwicklungsrevolutionen« (1918-1989) und dem Kampf, um die
kapitalistische Weltherrschaft innerhalb des Zentrums, der 1945 mit dem Beginn
der »Pax Americana« endgültig entschieden war.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte
sich dieser Gesamtprozess in der Konstellation jener »drei Welten« dar, von der
die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bestimmt war: nämlich der
»Ersten Welt« des alten kapitalistischen Zentrums nunmehr unter unangefochtener
Führung der Vormacht USA, der »Zweiten Welt« des östlichen Staatskommunismus
alias Staatskapitalismus unter Führung der Sowjetunion und schließlich der
»Dritten Welt« jener postkolonialen nationalen Befreiungsbewegun- gen und
Entwicklungsdiktaturen unterschiedlichster Couleur im globalen Süden. Ost und
West, Erste und Zweite Welt standen sich im Kalten Krieg des so genannten
Systemkonflikts gegenüber, während die Dritte Welt sich teils in einem losen
Verbund der Blockfreien (mit deutlich staatssozialistischer Schlagseite)
organisierte, teils zum Schauplatz von Stellvertreter- kriegen der beiden
Systemblöcke wurde.
Die Marxsche Theorie, die in ihrer
umgemodelten exoterischen Gestalt diese ganze Epoche von der Peripherie her
überstrahlte, wurde von beiden Seiten jetzt endgültig bis zur Unkenntlichkeit
entstellt. Hatte am Anfang, als die junge Sowjetunion noch intellektuell und
kulturell mit der westlichen Politik und Geistesgeschichte verbunden war (vermittelt
über die während der zaristischen Zeit emigrierten Sozialisten), das nur
scheinbar emanzipatorische Pathos des »neuen Menschen« und der utopisch
aufgeladenen »neuen Zeit« gestanden, so enthüllte sich sehr bald der staatskapitalistische
Modernisierungscharakter des sowjetischen Regimes und aller folgenden
Entwicklungsdiktaturen. In denen nicht die soziale Emanzipation des Menschen,
sondern seine Verwandlung in das Material einer staatlich gesteuerten Teilnahme
am Weltmarkt auf der Tagesordnung stand. So kann es kaum verwundern, dass
alsbald nicht nur die staatsbürokratischen Arbeits-, Geld- und Marktformen des
frühkapitalistischen Take-off, sondern auch die gewöhnlichen
Modernisierungsverbrechen zum Vorschein kamen, als sich die ideologische
Staubwolke der Revolutionen gelegt hatte.
Der Westen, befangen im Kalten
Krieg mit dem eingeigelten Gegenlager der historischen Nachzügler, ernannte
Marx und dessen Theorie nun zur negativen Repräsentationsfigur für das
totalitäre Reich des Bösen, während ihn der staatskapitalistische Osten zur
legitimatorischen Ikone einer längst verdunkelten Hoffnung für die Regimes der
entwicklungsdiktatorischen Industrialisierung ausmalte. In seiner Verblendung
wollte der Westen in diesem »marxistischen« Osten (und teilweise Süden)
nicht das Bild seiner eigenen Vergangenheit erkennen, obwohl dieser in den
darauf folgenden siebzig Jahren bis zur Lächerlichkeit nicht nur die
kapitalistischen Kategorien,. sondern auch die kapitalistische lebens- und
Konsumweise auf relativ niedrigem Niveau unter einer staatsbürokratischen Hülle
nachzu- ahmen suchte.
Die 68er Bewegung als
Johannistrieb des exoterischen Marx
Am Ende des westlichen
Wirtschaftswunders, jenes großen Nachkriegsbooms der fordistischen Industrien
mit dem Automobil als zentralem Produktions- und Konsumgut, erlebte der
exoterische Marx - eigentlich schon jenseits seiner historischen Zeit - noch
einmal einen unerwarteten dritten Frühling, diesmal in Gestalt der großen
westlichen jugend- und Studentenbewegung, die von verwandten Erscheinungen im
Ostblock (Prager Frühling) und in der Dritten Welt begleitet war. Aber dieser
dritte Frühling war nur noch ein laues Lüftchen, das lediglich die Oberfläche
der Gesellschaft mit einer kulturell-symbolischen Bewegung berührte. Der Versuch,
diese Bewegung mit dem nationalrevolutionären Pathos der Dritten Welt
anzureichern und noch einmal in einem großen strategischen Entwurf die
Rezeption des exoterischen Marx zu einer globalen historischen Kraft zusammen-
zufassen, erschöpfte sich weitgehend in einer revolutionsromantischen
Popkultur. Nur eine winzige Minderheit versuchte diese zum Scheitern
verurteilte strategische Option in quasi-existentialistischen, völlig
isolierten militärischen Kamikaze-Aktionen zu realisieren (so etwa die RAF).
Die Marxsche Theorie wurde dabei
nicht auf der erreichten Entwicklungshöhe der kapitalistischen
Gesellschaftsformen weitergedacht, sondern in einer begrifflich ziemlich
verwahrlosten Gestalt aus der Peripherie re- importiert, deren nachholende
Modernisierung ökonomisch und strukturell bereits im Scheitern begriffen war,
während sie noch ihre letzten politisch-revolutionären Triumphe zu erleben
schien.
Was für die kapitalistischen
Metropolen selber als Rest oder Überhang der alten Modernisierungsfunktion im
Verständnishorizont des exoterischen Marx noch übrig blieb, war ein
kulturrevolutionärer Anschub der 68er Bewegung für die dann folgende
Entfesselung des letzten, postmodernen Stadiums kapitalistischer
Individualität: Die von der Jugend- und Studentenbewegung noch mit
marxistischem Vokabular aufgemotzten Motive der habituellen Kulturkritik, des
Antiautoritarismus, der »sexuellen Revolution« und eines punktuellen
Kampagnenwesens verwandelten sich in ebenso viele avantgardistische Management-
und Marketing-Konzepte, in eine damit verbundene Kommerzialisierung des Intimen
und ein neues Selbstunternehmertum der Arbeitskraft.
Soweit die so genannten neuen
sozialen Bewegungen, die im Gefolge von 1968 bis Mitte der 80er Jahre
yerschiedene Anläufe einer Gegenkultur unternahmen, sich noch als
grundsätzliche gesellschaftliche Opposition (miss)verstanden, bezogen sie sich
immer seltener auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Das Potential
der marxistischen Interpretationen reichte offensichtlich nicht mehr für eine
Erklärung der fortgeschrittenen gesellschaftlichen Wirklichkeit aus. Aber ohne
den Rückgriff auf die Marxsche Theorie fehlte der Analyse die kritische
Schärfe, und die Bewegungen verloren ihren Biss, zerbröselten oder gingen via
Subkultur und lobbyistische Nischenpolitik im Kapitalismus auf.
Die große Irritation nach dem
Ende des Marxismus
Mit dem Absterben auch dieses
Johannistriebs konnte der exoterische Marx endlich für immer in der Versenkung
verschwinden. Aber diese Erschöpfung des marxistischen Paradigmas wurde mangels
historischer und theoretischer Reflexion ihres Stellenwerts so interpretiert,
als müsse damit die Kapitalismuskritik überhaupt als bloße Verirrung ad acta
gelegt werden. Dieser oberflächliche Eindruck schien sich dramatisch zu
bestätigen, als 1989 - ironischerweise pünktlich zum zweihundertsten Jahrestag
der Französischen Revolution - das morsche Reich des östlichen
Staatskapitalismus zusammenbrach und fast lautlos im Orkus der Geschichte
verschwand. Der im Namen des exoterischen Marx viel beschworene Realsozialismus
büßte schlicht seine Realität ein. Und da gab es erst einmal kein Halten mehr:
Noch ganz in der Sichtweise des Kalten Krieges wurde der ebenso un- erwartete
wie unbegriffene Epochenbruch quer durch alle politischen und theoretischen
Lager als endgültiger Sieg von »Marktwirtschaft und Demokratie« ausgerufen,
eine Formel, die uns heute verfolgt wie ein verkaufsfördernder Ohrwurm den
Kunden im »Kaufhaus des Westens«.
Aus der historisch zu kurz
greifenden Sicht des Kalten Krieges schien allerdings das marxistische
Gegensystem und somit die historische Alter- native zum Kapitalismus
gescheitert. Und aus der Sicht einer rapide ab- schmelzenden Linken, die nicht
anders als in der immanenten Weise des exoterischen Marx denken konnte, musste
man dieser Einschätzung kleinlaut zustimmen. Die großen Fluchtbewegungen in
einen kapitalismuskonformen »Realismus« mit entsprechenden bizarren Karrieren
einerseits, die klägliche und verbohrte marxistische Nostalgie einer verlorenen
Minderheit andererseits schienen das Schicksal der Marxschen Theorie endgültig
zu besiegeln. Völlig außer Betracht blieb, dass es auch noch eine ganz andere
Interpretation der Entwicklungen und Ereignisse geben könnte, nämlich im
Horizont jenes verdrängten esoterischen Marx und seiner radikalen kategorischen
Kritik.
Aus dieser ganz anderen Sicht, von
der selbst die theoretische Öffentlichkeit nur widerwillig Notiz nimmt, ist
nicht die historische Alternative gescheitert, sondern ganz im Gegenteil die
nachholende Modernisierung der Peripherie. Konnte die Aufholjagd aus der
Perspektive der kapitalistischen äußeren (nationalen) Ungleichzeitigkeit im 19.
Jahrhundert noch relativ erfolgreich sein, so ist sie im 20. Jahrhundert nach
anfänglichen Erfolgen trotz ungeheurer Anstrengungen zusammengebrochen. Die
Gründe dafür liegen im Entwicklungsstand des kapitalistischen Weltsystems selbst:
Unter den Bedingungen fortschreitender Integration durch Welthandel und Finanzmärkte
musste den historischen Nachzüglern spätestens mit der dritten
(mikroelektronischen) industriellen "Revolution die Puste ausgehen. Denn sie
waren nicht mehr {oder nur um den Preis einer prekären äußeren Verschuldung) in
der Lage, die" Kapitalkraft für diese erneute technologische Aufrüstung des
gesamten Produktionsapparats aufzubringen. Damit verloren sie die
Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt, und In einer Kettenreaktion ging die
Schere zwischen Import- und Exportpreisen (terms of trade) zu ihren Ungunsten
auf, sie konnten nicht mehr ausreichend Devisen verdienen und mussten
schließlich als selbständige Nationalökonomien be- dingungslos kapitulieren.
Inzwischen dämmert selbst den
marktwirtschaftlich-demokratischen Hofsängern und den neoliberalen Hardlinern,
dass die von reihenweisen nationalökonomischen Zusammenbrüchen ausgelöste und
fortschreitende Weltkrise keineswegs durch einen bloßen politisch-ideologischen
und institutionellen Seitenwechsel vom Staatsplan zur Marktkonkurrenz, von der
relativen Abschottung zur Öffnung und von der gescheiterten Einparteien-
Entwicklungsdiktatur zum demokratischen Parlamentarismus bewältigt werden kann.
Diese Krise geht viel tiefer. Wie die keineswegs bewältigten Zusammenbrüche der
südostasiatischen »Tigerländer« mit ihrer angeblichen Wunderwirtschaft gezeigt
haben, sind nicht nur die dezidiert sozialistischen Ökonomien der Peripherie an
historische Grenzen gestoßen. Es wird immer deutlicher: Der westliche
Kapitalismus kann die mit ihren eigen- ständigen Aufholversuchen gescheiterten
historischen Nachzügler nicht in ein unter seiner alleinigen Ägide
vereinheitlichtes Weltsystem integrieren. Die innerkapitalistische
Ungleichzeitigkeit wurde nicht positiv, sondern negativ aufgehoben.
Unter dem Zwang global vereinheitlichter Produktivitäts- und
Rentabilitätsstandards kann bereits jetzt der größere Teil der
Menschheit nicht mehr in den kapitalistischen Gesellschaftsformen weiter-
existieren. Mehr noch: Ganz unzweideutig manifestiert sich die Weltkrise auch
in den kapitalistischen Kernländern selber, wenn auch bis jetzt gedämpft
durch einen abgehobenen neuen Finanzkapitalismus, der selber schon als
Krisenphänomen gedeutet werden kann.
Je klarer die Tatsachen diese
Wahrheit hinausschreien, desto größer wird die Irritation. Soll man etwa die
gerade begrabene Marxsche Kapitalismuskritik wieder ausbuddeln und die
inzwischen abhanden gekommenen Begriffe des Klassenkampfs und einer
alternativen politischen Ökonomie einfach revitalisieren und wiederholen, wo
sie doch offensichtlich einem untergegangenen Zeitalter angehören? Die offizielle
Wissenschaft und die bürgerliche Öffentlichkeit sträuben sich mit einigem
Recht, eine abgehakte und gegenstandslos gewordene Debatte wieder zu beleben.
Doch aber dann gibt es scheinbar keine Möglichkeit mehr, die evidenten
Krisenerscheinungen auf den Begriff zu bringen und historische
gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln (daher auch die bis zur Ignoranz
sture Rede von der »alternativlosen Marktwirtschaft«). Weil nach 150 Jahren
nur der exoterische Marx einer positiven Modernisierungstheorie im
gesellschaftlichen Bewusstsein präsent ist, leidet die Gesellschaftstheorie
unter einer galoppierenden Paralyse.
Marxistische Totenbeschwörungen
Die wenigen Häuflein übrig
gebliebener Marxisten tun größtenteils so gut wie nichts dafür, diesen Zustand
zu ändern. Im Gegenteil, sie bekräftigen diese Paralyse noch und bestätigen
sie, indem wieder und wieder das untergegangene Paradigma des exoterischen Marx
klappernd und mit hilfloser Zwanghaftigkeit abgespult wird.
Die Insignien und Parolen der nachholenden
Entwicklungsrevolutionen sind bereits in der postmodernen Ramschkiste gelandet.
»Hammer und Sichel« tauchen neben religiösen und anderen Zeichen als von ihrem
historisch gewordenen Inhalt abgelöstes Accessoire der Beliebigkeitskultur auf,
Investmentfonds oder Autoverleiher werben für ihre »revolutionären«
Geschäftsideen mit verfremdeten Leninbildern. Aber der Restmarxismus rätselt
unverdrossen über die für ihn weiterhin selbstverständliche qualitative
Differenz zwischen dem entrealisierten Realsozialismus und der kapitalistischen
Produktionsweise, obwohl doch die qualitative Identität praktisch bewiesen
wurde, indem dieser Sozialismus nur deswegen an den kapitalistischen Kriterien
scheitern konnte, weil sie auch seine waren.
Gegenwärtig zeichnet sich eine neue
Rückzugsfront der globalen Linken ab, in der Begriffe des exoterischen Marx
(»Klassenkampf« usw.) mit Elementen der keynesianischen volkswirtschaftlichen
Doktrin (partielle Staats- eingriffe und sozialstaatliche Flankierung des
Kapitalismus etc.) verbunden werden sollen, An der Spitze dieser Tendenz steht
der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der geradezu die »Verteidigung der
keynesianischen Zivilisation« gegen den Vormarsch des Neoliberalismus
ausgerufen hat. Angesichts des Gros von ex-linken »Realisten«, die inzwischen
von der Forderung nach Biliiglohn-Sektoren bis hin zum NATO-Kriegseinsatz alles
blindlings mitmachen, was der Kapitalismus verlangt, erscheint der von
persönlicher Integrität getragene Aufruf Bourdieus zum intellektuellen und
sozialen Widerstand als durchaus sympathisch. Aber diese linksoppositionelle
Positionierung hat keine historische Eigenständigkeit, keine Substanz und keine
gesellschaftliche Perspektive mehr.
Die Bourdieu-lnitiative kann sich
im Gegensatz zur dogmatischen Totenbeschwörung der weltfremd gewordenen letzten
»Gläubigen« nur deshalb äußerlich als undogmatisch und neu darstellen, weil es
sich um eine ideologische Legierung zweier alter und abgelebter, einst
gegensätzlicher Gehalte handelt. Der Bezug auf den exoterischen Marx erscheint
dabei nur noch als rituelle Erinnerung an den Klassenkampf und bleibt
begleitende Rhetorik, während wir es inhaltlich mit kaum mehr als einer matten
keynesianischen Nostalgie zu tun haben. So repetiert etwa die hoffnungslos blauäugige
Forderung nach einer »politischen Kontrolle der transnationalen Finanzmärkte«
das Muster des vergangenen Zeitalters, nämlich die Idee einer
staatlich-politischen Regulation und Moderation der unaufgehobenen
kapitalistischen Realkategorien in einer darüber längst hinweg- gegangenen
Welt. Das »deficit spending« der keynesianischen staatlichen Moderation wurde
von der Inflation der 70er und 80er Jahre verschlungen, die nationalstaatliche
Kontrolle des Geldes durch die Globalisierung ausgehebelt. Dieses Muster hat
daher keinen innerkapitalistischen Realitätsgehalt mehr. Es bleibt ideologische
Reminiszenz, und nur deshalb ist die seltsame Mischehe von Marx und
Keynesianismus möglich, über die sogar der Siebziger-Jahre-Marxismus gespottet
hätte, der selber bloß noch ein historischer Nachklang war. Real ist der
westliche Keynesianismus genauso gescheitert wie der östliche
Staatskapitalismus der zweiten nachholenden Modernisierung.
Nur weil sich inzwischen das
Koordinatensystem der Entwicklung und des gesellschaftlichen Bewußtseins
verschoben hat, kann diese Position formal als fast schon wieder »linksradikal«
erscheinen. Aber die in diesem Zeichen zum wiederholten Rückzugsgefecht sich
sammelnde Linke tritt in Wahrheit gar nicht mehr in ihrem eigenen marxistischen
Namen an, sondern klaubt nur die abgetragenen und abgelegten Klamotten der
bürgerlichen Volkswirtschaftslehre von der historischen Müllkippe auf. Dass wir
es keinesfalls mit einer nochmaligen Wiederkehr des exoterischen Marx zu tun
haben, ist auch daran abzulesen, dass sich die Perspektive Bourdieus nicht mehr
auf die Zukunft eines fieberhaft debattierten neuen kapitalistischen
Entwicklungsschubs bezieht, der wie einst im Mai vermeintlich
»antikapitalistisch« zu besetzen wäre, sondern nur noch auf die entschwundene
Vergangenheit des kapitalistischen Nachkriegsbooms, seiner sozialstaatlichen
Regularien und seiner Expansion des öffentlichen Dienstes.
Die kategoriale Krise und die
Tabuzone der Moderne
Warum sperrt sich das
gesellschaftliche Bewusstsein quer durch das Spektrum der Ideen so sehr gegen
den Gedanken, dass die neue Weltkrise des 21. Jahrhunderts womöglich eine kategoriale
Krise des Kapitalismus sein könnte? Warum kommt der verdrängte und ins
Philosophische oder in eine ferne, für jede praktische Kritik bedeutungslose
Zukunft abgeschobene esoterische Marx so schwer zu seinem Recht? Dafür gibt es
eine ganze Reihe von Gründen. Und alle haben sie etwas mit dem Tiefgang jener
neuen Krise zu tun, die nicht mehr in den bislang gewohnten Handlungs- und
Bewusstseinsformen zu bewältigen ist.
Weil der innere kapitalistische
Entwicklungshorizont verschwunden ist, kann emanzipatorische Opposition nicht
mehr in den Kategorien des modernen warenproduzierenden Systems formuliert
werden. Das bedeutet aber auch, dass nicht mehr einfach ein leicht
definierbarer äußerer Feind bekämpft werden kann (die »besitzende Klasse«, die
reaktionären Kräfte«, der »Imperialismus« der alteingesessenen Mächte usw.),
sondern auch die eigene (kapitalistisch konstituierte) Subjekt- und
Handlungsform zur Disposition steht. Das ist nicht nur schwer zu begreifen,
sondern auch schwer zu ertragen.
Offenbar ist die historische
Entwicklung in eine Tabuzone eingetreten. Nur an der Oberfläche war der
Kapitalismus ein Prozess der Enttabuisierung. In dieser Gesellschaft ist am
Ende ihrer Entwicklung (fast) alles erlaubt, vorausgesetzt allerdings, es kann ge-
und verkauft werden. Die scheinbare universelle Beliebigkeit wird gleichzeitig
aber begrenzt durch die völlig un- beliebigen, gewissermaßen dogmatischen,
eindimensionalen und »alternativlosen« Formen von Wert, Ware, Geld und
Konkurrenz, denen die betriebswirtschaftliche Form und Substanz der »Arbeit«
zugrunde liegt. Diese Diktatur der gesellschaftlichen Form, die inzwischen
sogar die Liebe, den Sport, die Religion, die Kunst usw. erfasst hat, duldet
keine anderen Götter neben sich.
Da dieses Tabu aber nicht allein
aus äußeren Geboten und Verboten besteht, sondern durch die moderne
Bewusstseins- und Subjektform selber gesetzt, also tiefer verankert ist als
alle früheren Tabuzusammenhänge, ist es auch umso schwerer zu durchbrechen. Wer
etwa das System des Geldverdienens als solche in Frage stellt, kann damit
rechnen; vom Alltagsverstand spontan als Fall für die Psychiatrie erklärt zu
werden. Gerade auch den letzten übrig gebliebenen Dinosauriern des exoterischen
Marxismus, dessen Vertreter schon immer mit Angst und Abwehr auf die
esoterischen Konsequenzen ihres Meisters reagiert hatten, erscheint ein solches
Ansinnen als - »Esoterik«, was aus ihrer Sicht allerdings bloß Irrationalität,
Scharlatanerie usw. heißen soll. Die Idee, dass der Kapitalismus selber die
Produktivkräfte über die Grenzen der »Geld verdienenden« Subjektivität des
modernen Menschen hinausgetrieben haben könnte, kann nur auf völligen Unglauben
stoßen.
Um der kategorischen Kritik des
esoterischen Marx an der kapitalistischen Produktionsweise diskursiven Raum zu
verschaffen, muss offenbar erst ein Vorfeld überwunden werden, eben jene Zone
der Tabuisierung von Fragen, die man nicht stellt, und von Dingen, über die man
nicht redet, sondern die man hat. Es geht also um die offene Thematisierung von.
bislang stummen Voraussetzungen, die nicht hinterfragbar waren. Das machte
ja gerade die angebliche »Schwerverständlichkeit« und »philosophische
Abgehobenheit« des esoterischen Marx aus, dass er als erster und einziger
moderner Theoretiker das stumme A priori des warenproduzierenden Systems »zur
Sprache gebracht« hat. Die Volkswirtschaftslehre dagegen und mit. ihr alle
anderen ausdifferenzierten Gesellschaftswissenschaften (die heute endgültig zu
bloßen Hilfswissenschaften, um nicht zu sagen theoretischen Hilfspolizisten der
Volkswirtschaftslehre degradiert sind) haben die kapitalistischen Kategorien
von Arbeit, Wert, Ware, Geld, Markt, Staat, Politik usw. nicht als Gegenstand,
sondern als blinde Voraussetzung ihres »wissenschaftlichen«
Räsonnements. Die Subjektform des Warentauschs, die Verwandlung von
Arbeitskraft in Geld und von Geldkapital in Mehrwert (Profit), wird nicht nach
ihrem »Was« und »Warum«, sondern nur nach ihrem funktionalen »Wie« befragt,
ähnlich wie die Naturwissenschaftler nur das »Wie« der so genannten
Naturgesetze untersuchen. Die erste Hürde einer kategorischen Kritik des
Kapitalismus besteht also darin, diese Kategorien aus dem Status stummer
Selbstverständlichkeit herauszulösen, sie explizit und damit überhaupt erst
kritisierbar zu machen.
Der Fetischismus als stumme
Dimension und der große Sprung der Geschichte
In abstrakter Form, als
methodisches Problem, hat die Kultursoziologie die Fragestellung einer
möglichen Kritik des blind Vorausgesetzten durchaus bereits entwickelt. Die
Verwandlung einer »stummen Dimension« (M. Polanyi) des Impliziten in ein zur
Sprache gebrachtes Explizites, die Thematisierung des bislang Unsagbaren als
Kommunikationsproblem in Krisen- und Übergangszeiten ist zum Topos in
kulturgeschichtlichen Untersuchungen geworden. Aber großenteils wird dieses
Problem nicht mit kritischer, sondern mit affirmativer Intention thematisiert,
so etwa in der systemtheoretischen Reflexion (N. Luhmann) als Konstitution
eines »Hintergrunds von Selbstverständlichkeit« zwecks »Komplexitätsreduktion
«. Die apriorische Stummheit der kapitalistischen Kategorien erscheint dabei
als eine Art Lebenserleichterung, deren fundamentale Krise gar nicht als
Möglichkeit in Betracht gezogen wird.
Soweit das Problem aber als Thematisierungsschub
in krisenhaften Übergängen angesprochen wird, geschieht dies entweder mit Blick
auf weit entfernte Epochen (etwa bei dem Philosophen Karl Jaspers für die so
genannte »Achsenzeit« des 5. Jahrhunderts v. Chr., als ein erster großer Schub
der Trennung von irdischer und göttlicher Welt mit einer Umwälzung der
Gesellschaftsordnungen einherging) oder mit Blick auf implizite Selbstverständlichkeiten
des Alltags, die durch Entwicklungen der gesellschaftlichen Metastruktur zur
Sprache gebracht und in Frage gestellt werden. Diese letztere Explikation von
implizitem Hintergrund ist aber erst recht affirmativ gegenüber dem
Kapitalismus, insofern sie sich weitgehend mit dem deckt, was der
Sozialphilosoph Jürgen Habermas als »Kolonialisierung der Lebens- weit«
bezeichnet hat. Denn als erste und einzige blind-dynamische Gesellschaftsform
ist es ja der Kapitalismus selbst, der permanent implizite Selbstverständlichkeiten
des Alltags, der beruflichen Tätigkeit, des sozialen Zusammenlebens, der Kultur
usw. aus dieser Selbstverständlichkeit herausnimmt und in Frage stellt - aber
eben ganz und gar nicht im Sinne einer sozialen Emanzipation, sondern im Gegenteil
als Totalauslieferung der Menschen an blinde Marktprozesse. Wenn das Problem
der Thematisierung dessen, was bislang nicht Gegenstand der Kommunikation war, in
emanzipatorischer Weise fruchtbar gemacht werden soll, dann ist das nur
möglich, indem der kritische Thematisierungsblick auf die »impliziten Axiome«
des Kapitalismus selber fällt - also mit dem esoterischen Marx auf die
kategorialen gesellschaftlichen Formen, die für die Moderne immer nur den
stummen Hintergrund gebildet haben.
Der zentrale Begriff des
esoterischen Marx, der für diese kritische Thematisierung und damit für den
emanzipatorischen Abschied von der Moderne steht, ist der des »Fetischismus«.
Marx zeigt damit, dass die scheinbare Rationalität der kapitalistischen Moderne
gewissermaßen nur die Binnenrationalität. eines objektivierten Wahnsystems darstellt:
eine Art von säkularisiertem Dämonenglauben, der sich in den handgreiflich
gewordenen Abstraktionen des warenproduzierenden Systems, seiner Krisen,
Absurditäten und destruktiven Resultate für Mensch und Natur manifestiert. In
der Verselbständigung de so genannten Ökonomie, der Fetischisierung von Arbeit,
Wert und Geld, tritt den Menschen ihre eigene Gesellschaftlichkeit als fremde
und äußere Macht gegenüber.
Der Skandal besteht darin, dass
diese unheimliche, geisterhafte und zerstörerische Verselbständigung der toten,
ökonomisierten Dinge zur axiomatischen Selbstverständlichkeit geronnen ist. Mit
seinem Fetischbegriff, den er auch auf Staat, Politik und Demokratie ausdehnt,
leistet der esoterische Marx, was jeder große Entdecker in den menschlichen
Dingen leistet: Er macht das scheinbar Einfache, Alltägliche, die »schweigende
Dimension« des Selbstverständlichen zum Fremden, Erklärungsbedürftigen und
Falschen.
Indem der esoterische Marx so im
Gegensatz zu seinem exoterischen, modernisierungs-immanenten Doppelgänger die
Moderne aus ihrer königlichen Position in der Geschichte herausnimmt,
rechtfertigt und idealisiert er nicht wie die bloß reaktionären, irrationalen
Kritiker der Moderne die Verhältnisse der vormodernen Agrargesellschaften,
sondern stellt umgekehrt die Moderne in den Kontext einer unaufgehobenen
gesellschaftlichen Leidensgeschichte der Menschheit, in den Horizont eines nach
wie vor gültigen »Noch nicht«.
Wenn der klassische Marx im Sinne
des materialistisch gewendeten Hegeischen Entwicklungs- und
Fortschrittsbegriffs die Geschichte als Ganzes in den Blick nimmt, tut er dies
mit dem Begriff einer »Geschichte von Klassenkämpfen«: Er projiziert also nur
den innerkapitalistischen Entwicklungs- und Durchsetzungsprozess auf alle
bisherige Geschichte. Erst der Fetischbegriff des esoterischen Marx macht es
möglich, auf einer höheren theoretischen Abstraktionsebene eine tatsächliche,
nicht bloß durch Rückprojektionen der Moderne gewonnene Gemeinsamkeit aller
bisherigen Gesellschaftsformen zu benennen: So unterschiedlich ihre
Verhältnisse auch immer gewesen sein mögen, niemals hat es sich um
selbstbewusste Gesellschaften gehandelt, die frei über den Einsatz ihrer
Möglichkeiten bestimmen konnten, sondern immer nur um Gesellschaften, die von
fetischistischen Medien verschiedenster Art (Rituale., Personifikationen,
religiös bestimmte Traditionen usw.) gesteuert wurden. Insofern müsste man von
einer »Geschichte von Fetischverhältnissen« sprechen. Das moderne warenproduzierende
System mit seiner irrational verselbständigten Ökonomie stellt demnach nur die
letzte, durch ihre eigene blinde Dynamik vorangepeitschte Form des
gesellschaftlichen Fetischismus dar.
Die Aufgabe, die sich damit stellt,
macht erst die wahre Dimension der Weltkrise im 21. Jahrhundert deutlich. Es
handelt sich, von Marx ausdrücklich mit dieser Kühnheit formuliert, nicht bloß
um den Abschluss der kapitalistischen Geschichte, sondern um das Problem einer
Überwindung der bisherigen Geschichte überhaupt, vergleichbar höchstens mit der
so genannten neolithischen Revolution oder jener Umwälzung der »Achsenzeit«.
Nicht bloß die Epoche des Kalten Krieges ist zu Ende gegangen, sondern die
Weltgeschichte der Modernisierung überhaupt und nicht nur diese spezifisch
moderne Geschichte, sondern die Weltgeschichte von Fetischverhältnissen
überhaupt.
Die vermeintliche
Komplexitätsreduktion durch die kapitalistische Gesellschaftsmaschjne, schön
Immer mehr Ideologie als Wirklichkeit, schlägt endgültig in Destruktion um.
Auch deswegen ist der Sprung so groß und mit Angst verbunden. Aber unerbittlich
verfangen die zur Kenntlichkeit fortentwickelten Krisenverhältnisse: Wo
gesellschaftliche Bewusstlosigkeit war (von der »invisible hand«
des Ahnenkults bis zur »invisible hand« des kapitalistischen Weltmarkts), muss
gesellschaftliche Bewusstheit werden. An die Stelle eines blinden Mediums muss
ein bewusster, von selbstbestimmten (nicht a priori vorgegebenen)
Institutionen organisierter gesellschaftlicher Entscheidungsprozeß jenseits von
Markt und Staat treten.
Postmoderne Mogelpackungen als
letztes Wort der Moderne
Statt die Postulate des
esoterischen Marx angesichts der Weltkrise endlich ernst zu nehmen und zu einer
kritischen Reflexion auf höherer Ebene jenseits des erschöpften
Modernisierungs-Paradigmas zu gelangen, versucht sich die abgerüstete
Gesellschaftswissenschaft an dieser Aufgabe vorbeizumogeln. Nicht nur wird
keine neue Ebene der Reflexion angestrebt, sondern die frühere immanente Reflexionsform
der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte soll über ihr Verfallsdatum hinaus
sogar noch einmal verlängert werden. Der Soziologe Ulrich Beck hat dafür die
Formel der »reflexiven Modernisierung« erfunden. Aber diese inzwischen sehr
beliebte und besinnungslos heruntergebetene Formel ist eine Leerformel und eine
Mogelpackung, denn die hier postulierte Reflexivität bezieht sich gar nicht
mehr auf eine noch umkämpfte weitere Ausformung des Kapitalismus, sondern nur
noch auf eine pure Phänomenologie: Die in ihrem kategorialen kapitalistischen
Zusammenhang sogar mehr denn je blind vorausgesetzte Gesellschaft soll sich
»reflexiv« lediglich zu den einzelnen Erscheinungen und Folgen ihres irren und
destruktiven Tuns verhalten.
Entsprechend kläglich sind die
vorgeschlagenen Rezepte, von der »unentgeltlichen Bürgerarbeit« bis zur
»bürgernahen Verwaltung« usw. Nicht eine neue Gesellschaftsform jenseits von
Markt und Staat wird angestrebt, sondern die so genannte »Zivilgesellschaft«,
die in Wahrheit durch die kapitalistische Kolonialisierung der Lebenswelt
längst weitgehend aufgefressen wurde, soll als Reparaturinstanz in den Poren
und Nischen zwischen Markt und Staat die Krise bewältigen. Diese Perspektive
ist ebenso hoffnungslos unrealistisch wie das Ansinnen, den untergehenden
keynesianischen Sozialstaat wieder zu beleben. Im Grunde genommen läuft sie
bloß darauf hinaus, den Abbau der Sozialleistungen durch private Almosen und
unkritische moralische Selbsttätigkeit kompensieren zu wollen.
Wie man es auch dreht und wendet:
Es führt kein Weg an Marx vorbei, auch wenn das »Zurück zu Marx« sich jetzt nur
noch auf die bislang verdrängte radikale, kategorische Kritik am Fetischismus
der Moderne beziehen kann. Und es trifft diesen esoterischen Marx auch nicht, wenn
man ihn etwa eines schlechten Utopismus verdächtigen würde. Es ist gerade umgekehrt
der exoterische Modernisierungs-Mars, der die Utopisten gnädig in das Pantheon
seiner Vorläufer aufgenommen hat. Utopie kann in der Modernisierungsgeschichte
immer gelesen werden als der Appell an das (ideologische) kapitalistische Ideal
gegenüber der schlechten kapitalistischen Wirklichkeit. Die Utopie ist die
Kinderkrankheit des Kapitalismus, nicht des Kommunismus.
Deshalb ist auch der esoterische
Marx gänzlich un- und antiutopisch. Ihm geht es weder um das Paradies auf Erden
noch um die Konstruktion eines neuen Menschen, sondern um die Überwindung der
kapitalistischen Zumutungen an den Menschen; um ein Ende der kapitalistisch
erzeugten Gesellschaftskatastrophen. Nicht mehr und nicht weniger. Dass dies
nur durch ein Hinausgehen über alle bisherige Geschichte als einer Geschichte
von Fetischverhältnissen möglich ist, liegt nicht an der Hybris der Kritik,
sondern an der Hybris des Kapitalismus selbst. Auch nach dem Kapitalismus wird
es Krankheit und Tod, Liebeskummer und Arschlöcher geben. Aber eben keine
paradoxe, durch abstrakte Reichtumsproduktion erzeugte Massenarmut mehr, kein
verselbständigtes System von Fetischverhältnissen und dogmatischen
gesellschaftlichen Formen mehr. Das Ziel ist groß, gerade weil es an der
utopistischen Überschwänglichkeit gemessen relativ bescheiden ist und nichts
verspricht als die Befreiung von völlig unnötigen Leiden.
Rezensionen
zu "Marx lesen"
Detlef
Grumbach
Rezension
Robert Kurz:
Marx lesen
Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert
Eichborn Verlag, Frankfurt, DM
49,80
NDR
Der Marxismus - daran zweifeln wohl nur wenige - ist tot. Doch zum
Beginn des neuen Jahrhunderts ist nun eine Sammlung Marxscher Texte erschienen,
die helfen sollen, kritisches Denken fit zu machen für die Zukunft. Das Format
entspricht dem der millionenfach verkauften "blauen Bände" der
Marx-Engels-Werkausgabe, die Farbe dagegen ist leuchtend rot. Man glaubt es
kaum, aber so skurril, wie das Ansinnen des Herausgebers auf den ersten Blick
erscheint, ist es gar nicht. Wer sich nie für Marx interessiert hat, wird
vielleicht nicht einmal mit den Achseln zucken. Für jene, die sich seit dem
Aufbruch der Studentenbewegung vor gut dreißig Jahren als "links"
verstehen und sich mit dem Status quo dieser Gesellschaft nicht abfinden
wollen, erweist sich das Anliegen als provokativ und abenteuerlich in gleicher
Weise. Denn Robert Kurz, der schon mit seinen Büchern "Der Kollaps der
Modernisierung" und "Schwarzbuch Kapitalismus" einiges Aufsehen
erregt hat, stellt die in der Arbeiterbewegung und von den Studenten 1968
aufgegriffene Lesart der Marxschen Texte in Frage und spürt einem Aspekt des umfangreichen
Werkes nach, der in den Klassenkämpfen seit Mitte des 19. Jahrhunderts kaum
eine Rolle gespielt hat.
Ausgangspunkt dieser neuen Marx-Lektüre ist eine innere Widersprüchlichkeit
marxistischen Denkens, die - so der Herausgeber - der "inneren Ungleichzeitigkeit"
des Kapitalismus geschuldet ist. "Uns quält", schreibt Marx im
Vorwort zum ersten Band des "Kapitals", "nicht nur die
Entwicklung der kapitalistischen Produktion, sondern auch der Mangel ihrer
Entwicklung". Einerseits geht es in seinem Denken um die Durchsetzung des
Kapitalismus und seiner Produktionsweisen, andererseits um seine Überwindung.
In der politischen Praxis, so die These des Herausgebers, sei vor allem die
eine Seite rezipiert worden. Während Mitte des 19. Jahrhunderts bäuerliche
Produktionsweisen, relativ schwach entwickeltes Handwerk und Manufakturen
nebeneinander existieren, England weit auf dem Vormarsch ist und Deutschland
hinter dem übrigen Europa hinterherhinkt, handelt es sich vor allem erst einmal
um die Entwicklung des historisch fortschrittlichen Kapitalismus, um
"nachholende Modernisierung", wie Kurz es nennt. Im Klassenkampf und
seiner theoretischen Fundierung geht es dann um die Herrschaft über die
kapitalistische Produktion, um die Verteilung von Ressourcen und Gütern, um die
Befriedigung elementarer Bedürfnisse für alle Bürger. Kategorien wie Arbeit,
Wert, Ware, Geld, Markt und Staat werden dabei nicht in Frage gestellt, sie
dienen als Voraussetzung. Das habe sich auch in der Ära des Staatssozialismus
oder besser: Staatskapitalismus, nicht geändert.
Den Marx, der sich in diesem Zusammenhang benutzen ließ, bezeichnet Robert Kurz
als den "exoterischen Marx". Ihm gegenüber stellt er den
"esoterischen Marx". Dieser hat von Anfang an, auch als die
Durchsetzung des Kapitalismus noch historischen Fortschritt bedeutete, dessen
innere Logik und Kategorien einer grundlegenden Kritik unterzogen. Der
esoterische Marx fragt nicht nach dem funktionalen "Wie" der
Warenproduktion, sondern nach dem "Warum". Sein zentraler Begriff ist
der des "Fetischismus". Konnte man vor 150 Jahren noch annehmen, dass
ein Kapitalist seine Arbeiter ausbeute, um sich ein großes Haus, dicke Zigarren
und andere sinnliche Genüsse leisten zu können, wird heute angesichts der
angehäuften Reichtümer, einer zum erheblichen Teil völlig überflüssigen
Warenproduktion und kaum abschätzbarer Risiken deutlich, dass es im Kern um die
Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse gar nicht mehr geht. Oder eben nie gegangen
ist. Das System der kapitalistischen Waren- und Mehrwertproduktion ist - so
wird auf ihrer heutigen Entwicklungsstufe deutlich - ein nicht mehr
hinterfragter Selbstzweck, die "scheinbare Rationalität der
kapitalistischen Moderne" erweist sich als die "Binnenrationalität
eines objektivierten Wahnsystems". Auch als die Frage der Entwicklung
neuer Produktionsweisen noch auf der Tagesordnung stand und nur kapitalistische
Verhältnisse den Rahmen dafür boten, hat Marx dies erkannt, hat er daran eine
mehr oder weniger deutlich formulierte, grundsätzliche Kritik geübt.
Die Auswahl der Texte, die der Herausgeber hier auf 430 Seiten vorlegt, spürt
dieser Kritik nach. Sie versammelt Splitter, Auszüge und längere Passagen, die
in ihren ursprünglichen Zusammenhängen eine wenig beachtete Randexistenz
führen, und ordnet sie in acht jeweils ausführlich eingeleiteten Kapiteln an.
Auch jenen, die "ihren Marx" durchaus gelesen haben, präsentiert Kurz
so einen überraschend neuen Blick auf den Klassiker, der aktuell, radikal und
bei aller fin de siècle-Stimmung und jenseits von Modernisierungsstrategien
zukunftsorientiert ist. Dabei geht es dem esoterischen Marx, so Kurz, nicht um
eine neue Utopie - "die Utopie ist die Kinderkrankheit des Kapitalismus,
nicht des Kommunismus." Aber es geht um nicht weniger als um die "Überwindung
der kapitalistischen Zumutungen an den Menschen, um ein Ende der kapitalistisch
erzeugten Gesellschaftskatastrophen."
Aufklärung über die "blutige
Vernunft" der Aufklärung
KRISIS 25 (2002)
Claus Peter Ortlieb: Die Aufklärung und ihre Kehrseite. Zur Rettung einer "banalen
Einsicht" -- Norbert Trenkle: Gebrochene Negativität. Anmerkungen zu Adornos und Horkheimers
Aufklärungskritik -- Robert Kurz: Blutige Vernunft. 20 Thesen gegen die so genannte Aufklärung und
die westlichen Werte -- Ernst Lohoff: Antikapitalistisches
Frühlingserwachen? Die Globalisierungskritik zwischen Krisenverwaltung und
Emanzipation -- Anselm Jappe: Des
Proletariats neue Kleider: Vom Empire zurück zur Zweiten Internationale -- Rezensionen | Kommentare | Glossen
Wir leben in Zeiten okzidentaler Verbrüderung.
Kein Orden, der nicht Treueschwüre und Dankesbriefe ans Pentagon schickt.
Darüber sollten kleinere Rangeleien (z. B. EU contra USA) nicht hinwegtäuschen.
Auch nicht, dass die Treue nicht persönlich, sondern ganz sachlich verstanden
wird, sie gilt nicht den werten Herren im Weißen Haus, sondern den Herrenwerten
der weißen Männer. Ja, um die Zivilisation und um die Aufklärung geht es, das
ist der letzte gemeinsame Nenner, für den jetzt im Namen der säkularisierten
Religion des Werts Krieg geführt wird.
In den Vereinigten Staaten machen
nicht nur Huntington und Fukuyama auf gerechten Krieg, nein, auch
Linksdemokraten wie Amitai Etzioni und Michael Walzer zeigen, wo und wem sie
sich zugehörig fühlen: dem american dream von freedom and democracy. In einem
Brief von US-Intellektuellen "What we're fighting for: A letter from
America" (zit. nach: Neue Zürcher
Zeitung, 23./24. Februar 2002, S. 7) heißt es ganz hingebungsvoll: "Der klarste
politische Ausdruck des Glaubens an die naturgegebene Menschenwürde ist die
Demokratie." Dass die "amerikanischen Werte" universell sind,
daran zweifelt keiner dieser Intellektuellen. Klar ist, "dass das Beste
von dem, was wir allzu leichtfertig amerikanische Werte' nennen, nicht nur
Amerika gehört, sondern vielmehr das gemeinsame Erbe der Menschheit und somit
eine mögliche Grundlage der Hoffnung für eine auf Frieden und Gerechtigkeit
aufgebaute Weltgemeinschaft ist." Und wem es nicht gehören will, dem wird
man gehörig mit den diversen Stellwägen ins Gesicht fahren. Von der
Kulturindustrie bis zum Kreuzzug.
"Die Prinzipien
des gerechten Krieges lehren uns, dass Aggressions- und Landeroberungskriege
niemals annehmbar sind" - Wovon reden die? Doch nicht etwa von der
Staatswerdung der USA oder deren Rolle nach dem Zweiten Weltkrieg? "Kriege
um des nationalen Ruhmes willen, für Landgewinn oder zu anderen
Nichtverteidigungszwecken dürfen wohl nicht legitim sein" (sic!).
"Die primäre moralische Rechtfertigung eines Krieges ist der Schutz der
Unschuldigen vor sicherem Schaden." - Daher werden die amerikanischen
Bürger dadurch geschützt, dass man die afghanischen Nichtbürger bombardiert.
Dort wirft man dann Flugzettel mit folgendem Inhalt ab: "Das Töten von
Zivilisten als Vergeltung oder sogar um die Aggression von Menschen abzuwenden,
die mit ihnen sympathisieren, ist also moralisch falsch." Und wenn sie
lachen könnten, sie würden, die Bombardierten.
"Gibt es einen
gerechten Krieg? Im Namen welcher Werte lässt er sich rechtfertigen?",
fragt die Neue Zürcher im Vorspann zu besagtem Dokument. Nun denn: Die Antwort
auf die erste Frage liegt in der zweiten. Diese Frage verrät mehr, als eine
Antwort jemals zu Protokoll geben könnte: Die Durchsetzung des Werts und seiner
Werte sind die konstitutionellen Größen jedes gerechten Krieges. Gerechtigkeit
und Ungerechtigkeit fallen hier zusammen, dass es unschöner gar nicht mehr
geht. Nie würde es uns einfallen, diesen Krieg gegen den Terror als ungerecht
zu schelten, nein, er ist geradezu ein neuer Höhepunkt all der gerechten
Feldzüge. Ja, er nähert sich ob des Fehlens handfester ökonomischer Interessen
immer mehr der reinen Gerechtigkeit an. Amerika führt den gerechtesten aller
Kriege. Wer den Krieg weiterhin mit dem Banner der Gerechtigkeit bekämpfen
will, gibt nur zu erkennen, dass er von jenem nicht viel erkannt hat. Was heute
stört, ist nicht, dass zu wenig Gerechtigkeit herrscht, sondern dass die
Gerechtigkeit stets deutlicher ihr wahres Gesicht zeigt. Hinter der
verschmitzten Charakterlarve sitzt die Fratze des Werts, mit der alles
gerechtfertigt werden kann.
Und dieses Recht
versteigt sich in schwindlige Höhen. "Die am 11. September Umgekommenen
wurden widerrechtlich getötet, mutwillig und mit kalkulierter Bosheit - eine
Art des Tötens, die man, um präzise zu sein, nur Mord nennen kann." Gegen
die widerrechtliche Tötung setzen sie also auf die rechtliche Tötung. Mord darf
man das nicht nennen, selbst wenn es solcher ist. Nun will das Imperium ein
internationales Gewaltmonopol durchsetzen. Es will also überall Gewalt
anwenden, genau das, was es den Gewaltpolen verwehrt, sofern sie nicht vom
Imperium gelenkt, toleriert, gefördert oder hofiert werden.
Der Rekurs auf die Gründungsideale, das fade Aufzählen demokratischer
Gepflogenheiten, das stupide Insistieren auf "Grundwahrheiten", etwa
die unermüdliche wie unerträgliche bürgerliche Grundlüge, dass alle Menschen
frei geboren sind, das alles verweist nur darauf, dass es hier führende
Wissenschaftler gibt, die absolut nichts mehr verstehen wollen, aber zumindest
wissen, dass sie Patrioten zu sein haben. Amerika soll nun über die ganze Welt
kommen. Es regieren die Durchhalteparolen. Michael Walzer veröffentlichte am 2.
März 2002 in Die Welt folgerichtig einen Text unter dem Titel "Wir müssen
gewinnen". Doch, was kann da gewonnen werden? Wie soll dieser Sieg
ausschauen? Manchmal beschleicht einen das Gefühl, dass diese Herren nichts
mehr anderes antreibt als der ideologische Instinkt. Dass sie funktionieren wie
Biomaschinen von Demokratie und Wert.
"What we're
fighting for: A letter from America" ist ein beschämendes Dokument. Es ist
aufgeklärtes Geschwätz im Endstadium. Regression pur. Diese Intellektuellen
bewegen sich auf der Ebene vorprogrammierter Arbeitsbienen. Es ist wie das sich
ins Delirium versetzende Raunen der bürgerlichen Vernunft, das sich hier einmal
mehr als der Weisheit letzter Schluss intoniert. Indes jene versiegt. Mehr
sagen solche Schriftstücke nicht aus.
Die ganze Website von www.american.values.org ist übrigens voll mit frömmelndem
Gewäsch der "civil society". Andacht hat Denken ersetzt. Es herrscht
das Gebet. Und führe uns nicht in Versuchung: "Wir verpflichten uns, alles
zu tun, um uns vor den schädlichen Versuchungen - insbesondere der Arroganz und
des Chauvinismus - zu hüten, denen kriegführende Nationen so oft zu erliegen
scheinen. Gleichzeitig bekunden wir einstimmig und feierlich, dass es für
unseren Staat und seine Verbündeten überaus wichtig ist, diesen Krieg zu
gewinnen. Wir kämpfen, um uns zu verteidigen, aber wir glauben auch daran, dass
wir kämpfen, um die universellen Grundsätze der Menschenrechte und der
Menschenwürde zu verteidigen, die die beste Hoffnung für die Menschheit
sind.(...) Wir hoffen, dass dieser Krieg, indem er einem gnadenlosen globalen
Übel ein Ende setzt, die Möglichkeit einer auf Gerechtigkeit gegründeten
Weltgemeinschaft zu stärken vermag." Amen.
***
Sie ruhen in Unfrieden, so könnte man auch den
Zustand der Linken beschreiben. Der ist insgesamt bejammernswert. Genügsamkeit,
Obskurantismus und Durchgeknalltheit bestimmen die Restbestände. Da wollen wir
zwar weder mitspielen, noch das irgendwie mittragen, doch mitnehmen tut es
einen trotzdem. Schmerzlich hatten wir in den letzten Monaten zur Kenntnis zu
nehmen, dass Kritik und Emanzipation, vor allem aber die innerlinke
Kommunikation alles andere als auf dem Niveau der Anforderungen sind. Was uns
besonders stört, ist das wieder um sich greifende Sektensyndrom in der
radikalen Linken, das Wiederaufleben kannibalistischer Orgien. Diese schädigen
nicht nur deren Träger - was nicht schön, aber zu verkraften wäre, sondern
darüber hinaus den ganzen Sektor der Gesellschaftskritik - was schon weniger
lustig ist.
Ein Déjà-vu folgt dem
nächsten. Man fühlt sich zurückversetzt in schlimmste Zeiten der K-Gruppen. Was
man faktisch überwunden glaubte, drängt wieder einmal durch, auch wenn der
Heiland Arbeiterklasse nicht selbst in Erscheinung tritt, sondern durch den
Staat Israel oder irgendeinen nationalen Befreiungskampf ersetzt wurde. Gestus
und Habitus wurden nicht ersetzt. Sie werden vielmehr reinkarniert. Es ist die
Farce der Farce, die hier eine zombiotische Existenz gefunden hat. Das einzige,
was man sich dort noch holen kann, ist eine Leichenvergiftung. Es ist wahrlich
ein Aufstand der Leichen. Die Akteure gleichen Figuren in falschen Filmen, in
letzter Zeit besonders beliebt sind die antifaschistischen Kostümfeste. Ein
gespenstisches Gespenster-Sehen jagt Phantome.
Die Linke ist nicht
weniger verrückt als die Gesellschaft, die sie bekämpft. Im Minimundus fällt
diese Verrücktheit nur umso übler auf, vor allem denen, die sich kritisches
Denken nicht abgewöhnen lassen. Ärgerlich, ja lästig sind vor allem die
kreischenden Fanclubs gleichenden Kindergartenkader, die, sei's in die
Revolution, sei's an die Klassen- oder Befreiungsfront, sei's in einen abendländischen
Kinderkreuzzug geschickt werden. Wir werden die Faszination solcher
Unsinnigkeiten reflektieren müssen, vor allem auch die psychopathologische
Ebene. Insgesamt aber wird die Beschäftigung mit dem Milieu abnehmen, auch wenn
einige Mühlsteine noch beseitigt werden müssen.
Seit dem 11.
September wurde (und vielfach: bewusst!) ein Klima geschaffen, in dem das Atmen
zusehends schwer fällt. Namentlich in antideutschen Bezügen hat ein sich
überschlagender Anti-Antisemitismus jeden Boden unter den Füßen verloren.
Bekenntnis und Jargon prägen dort das Auftreten, wie es schlimmer nicht mehr
geht. Wo Kenntnis fehlt, fällt Bekenntnis nicht schwer, wo Begriffe abgehen,
hilft ein hermetischer Jargon weiter. Mit diesem Markenzeichen erkennt man
zumindest das identitäre Gegenüber als das sichselbstseiende Du. (Ähnliches
gilt selbstredend für diverse ML-, Trotzki-, Stalin- oder Anarchosekten.) Im
schlechtesten Falle fürchten wir, dass ganze Kohorten von Youngsters durch ihre
Zusammenhänge regelrecht verschlissen werden. Von diesen Kinderkreuzzügen,
diesen Deportationen der Ohnmacht, werden nur wenige wohlbehalten zurückkommen.
Unverständliches Kauderwelsch verkennt sich oft als höhere Eingebung. Dass
"tausend jüngere seinen Jargon nachplapperten", hatte schon Günther
Anders zu Recht an den Adorniten gestört (Anders, Ketzereien, München 1982, S.
317). Die antideutsche Provinz suhlt sich in nichts so sehr wie in ihrer
schweren Jargonitis. Jochen Bruhn etwa ist der Großmeister einer
Selbstverdunkelung, die das Unverständliche in die Denkschwäche des Rezipienten
projiziert und nicht in die Formulierungsschwäche des Autors. Indes wäre diese
Geschichte so leicht zu lösen wie Andersens "Des Kaisers neue
Kleider". Man bräuchte in der Dunkelkammer nur ein Licht anknipsen. Den Apologeten,
den frischen wie den unfrischen, sei jedenfalls geflüstert: Wenn sie nichts
verstehen, dann verstehen sie zumindest noch etwas, sollten sie aber
tatsächlich etwas verstehen, dann verstehen sie wirklich nichts mehr. Wo solch
ein Autor dann nicht mehr weiterweiß, greift er regelmäßig in den Schmutzkübel
oder in die Mülltonne, wo er irgendwelche Uralttexte von Robert Kurz ausgräbt
und einem selbstgenügsamen Publikum verfüttert. Das darf dann lachen, ohne zu
begreifen, dass es den Falschen verlacht.
Der Herostratentrupp
der Hardcore-Antideutschen leistet deutsche Wertarbeit. Gründlich. Die
Scheinblüte identitärer Vergatterung missverstehen sie nun gar als Erfolg.
Richtiger ist hingegen, dass hier ein Projekt der Abstoßung schlicht und
einfach einiges kaputtgemacht hat oder im Begriff ist vieles kaputtzumachen.
(Näheres dazu ist in den letzten beiden Ausgaben der Streifzüge (3/2001; 1/2002)
nachzulesen).
Einschub aus:
Streifzüge 3/2001
Roswitha Scholz
Identitätslogik und Kapitalismuskritik
ANMERKUNGEN ZU DEN REAKTIONEN DER LINKEN AUF DIE
TERRORANSCHLÄGE VON NEW YORK UND WASHINGTON
1
Der Terror in den USA und der anschließende
Bombenkrieg gegen Afghanistan haben (nicht nur) in der wertkritischen Linken zu
Verwirrung und Polarisierungen geführt. Einer Position, wie sie
"Bahamas" und mehrheitlich die "Jungle World" vertreten,
die sich beide vorbehaltlos auf die Seite der westlichen Werte und der
westlichen Zivilisation vor dem geschichtlichen Hintergrund der Nazis und des
Holocaust stellen, bis hin zur Extremforderung einer flächendeckenden
Bombardierung der islamischen Länder (Bahamas-Erklärung), stehen u.a. Ansätze
gegenüber, die eine wertkritische Erhellung von objektiven Strukturen der
gegenwärtigen kapitalistischen Entwicklung, also der (welt)gesellschaftlichen
Ursachen dieser barbarischen Terrorangriffe betreiben. Die Gemeingefährlichkeit
der Bahamas-Position in ihrer Zuspitzung liegt dabei auf der Hand.
Im folgenden will ich zeigen, dass es darum gehen
muss, sowohl den übergreifenden Mechanismen und abstrakt-allgemeinen Strukturen
Rechnung zu tragen (also gesellschaftsanalytisch die heutigen Ursachen des
Terrorismus herauszuarbeiten), als auch die spezifisch deutsche Geschichte und
in der Folge auch die Reaktionen hierzulande auf die Terroranschläge ideologiekritisch
ins Visier zu nehmen, ohne das eine mit dem anderen zu verwechseln oder
gleichzusetzen. Beide Ebenen müssen einerseits getrennt, andererseits in ihrer
Vermitteltheit betrachtet werden.
Dies betrifft insbesondere den antisemitischen
Charakter der Anschläge. Dabei gilt es meines Erachtens, die Ansätze von Moishe
Postone, der "Dialektik der Aufklärung" und der "fundamentalen
Wertkritik" auf heutige Verhältnisse bezogen zu verbinden. Mit Postone
gehe ich davon aus, daß die Juden schon seit dem 19. Jahrhundert mit den
zerstörerischen Seiten von Kapitalismus und moderner Zivilisation identifiziert
werden, eine Vorstellung, die schließlich im Holocaust kulminierte. Der
"Krisis"-Position ist dabei insofern recht zu geben, wenn sie verschiedene
Phasen des Kapitalismus und damit verbunden auch verschiedene Formen des
Antisemitismus auseinander zuhalten bestrebt ist, also auf einer
kapitalistischen Entwicklungslogik besteht. Diese Position scheint mir am
ehesten fähig, den gegenwärtigen weltgesellschaftlichen Hintergrund der
Globalisierung angemessen, nämlich als Verfallsprozess des Kapitalismus zu
analysieren. Allerdings plädiere ich dafür, die unterschiedlichen
gesellschaftlichen Qualitäten bei weitem stärker in ihrem historischen
Gewordensein (also auch die aktuellen Entwicklungen und Ereignisse in ihrer
historischen Dimension) zu beachten, als dies bis jetzt in der Theoriebildung
der "Krisis" vor allem in Bezug auf Deutschland geschieht.
Wenn die entsprechenden Bestimmungen prinzipiell von
der Annahme einer "Dialektik der Aufklärung" ausgehen sollen, so
müssen sie auch mittels einer Kritik der Identitätslogik geleistet werden, wie
sie bei Horkheimer und Adorno zu finden ist. In diesem Zusammenhang muss daran
erinnert werden, dass Horkheimer und Adorno die Vernichtung der Juden im
Nationalsozialismus selbst mit der im Kapitalismus dominierenden
Identitätslogik in Verbindung gebracht haben, wonach das Allgemeine über das
Besondere herrscht und von oben her Ordnung gemacht werden muss, d.h. auch
Differenzen und Differenzierungen ausgeblendet werden müssen. Diese Denkform
führte im NS zur Liquidierung der Abweichenden.
Für Adorno und Horkheimer ist es freilich nur der
Warentausch, der diese Denkform bestimmt und wonach Ungleichnamiges gleichnamig
gemacht wird. Dagegen ist hinsichtlich der zugrunde liegenden
gesellschaftlichen Grundform mit der "Krisis" und Postone vom Wert
(bzw. in meinem Verständnis von der Wert- Abspaltung, worauf hier nicht näher
eingegangen werden kann) als Verhältnis auszugehen und nicht bloß vom
Warentausch. Dabei ist es ein Manko der "Krisis"-Position, dass sie bis
jetzt eine mit der Wertkritik einhergehende Kritik der Identitätslogik
weitgehend ausgeblendet hat und noch immer die Tendenz besteht, unterschiedslos
alles unter den Wert-Hut zu packen. Das birgt die Gefahr, noch im kritischen
Wissen vom Wert als Negativprinzip die anstehende Subjekt-Kritik insofern zu
verfehlen, als in der negativen Bestimmung der Subjektform dennoch ein alter
Subjekt-Objekt-Dualismus beibehalten wird.
Ganz und gar identitätslogisch, wenngleich in
anderer Hinsicht, verfährt die "Bahamas"- Position, indem sie noch
nicht einmal eine entwicklungslogische Differenzierung zulässt. Geht sie doch
prinzipiell unhistorisch von einem immergleichen Kapitalismus aus und wird von
ihr im Grunde eine bestimmte historische Konstellation der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts als Denkschablone auf jedwede neue Entwicklung gelegt.
2.
Der Terror in den USA war ganz offensichtlich
antisemitisch motiviert. Postones Thesen bewahrheiten sich hier symbolisch
verdichtet. Die Anschläge zielten aus einer rückwärts gewandten Ideologie
heraus auf die Zerstörung des Abstrakt-Universalistisch-Allgemeinen im
Kapitalverhältnis. Islamischen Fundamentalisten ist es, wie sie immer wieder
bekräftigen, um den Kampf gegen die Juden und Christen, den Westen, zu tun.
Auch wenn sie keinen affirmativen Bezug auf die "Arbeit"
proklamieren, so pochen sie doch auf die Religion als das scheinbar kulturell
"Konkrete".
Dennoch ist ein abstrakter positiver Bezug auf den
Kapitalismus in dieser Situation von radikallinker Seite falsch. Er zeugt
ebenso von falscher Unmittelbarkeit. Dabei wird verdrängt, dass der
Antisemitismus selbst ein durch und durch kapitalistisches Produkt ist. Je mehr
sich die Warenform und darüber auch westlich-universalistische Werte
verallgemeinerten, desto mehr wurden die Juden damit in personalisierender
Weise identifiziert. Erst mit dem Kapitalismus kam eine durchgängige
warenfetischistische Denkform und demzufolge ein ideologisierender positiver
Bezug auf das "Konkrete" und die "Arbeit" auf, ohne daß
gesehen wurde, wie dieses scheinbar Ursprüngliche selbst schon immer Produkt
der warenförmigen Realabstraktion ist. Die Juden wurden fast schon als
Verursacher, auf jeden Fall aber als die eigentlichen Nutznießer des
Kapitalismus angesehen, dessen destruktive Potenzen ihnen egal seien. Dieses
antisemitische Stereotyp ist fester Bestandteil der westlichen Kultur; die in
vieler Hinsicht durchaus zutreffende Rede von der judäo-christlichen Kultur
verschleiert diese Tatsache.
Dabei ist es jedoch wichtig, den Kapitalismus als
historischen Prozess aufzufassen und in diesem Zusammenhang auch den
Antisemitismus jeweils historisch zu bestimmen unter Berücksichtigung von
Kontinuitäten. So unterscheidet sich etwa der eliminatorische fordistische
Antisemitismus der Nazis vom Antisemitismus in der Globalisierungsära, wobei
der heute dominierende Antisemitismus in Deutschland ein sekundärer ist (nicht
trotz, sondern wegen Auschwitz). Gerade eingedenk der Tatsache, dass die Juden
schon seit dem 19. Jahrhundert in der identitätslogischen Setzung mit der
zerstörerischen Erscheinung des Kapitalismus schlechthin identifiziert wurden,
gilt es verschiedene historische Phasen auseinander zuhalten. So handelt es sich
bei den Terroranschlägen in den USA einfach nicht um eine systematische,
fabrikartig-planmäßig betriebene Vernichtung der Juden wie im NS, sondern eben
um die Militanz von selbstmörderischen Terrorakten, auch wenn diese noch so
postmodern ausgeklügelt waren und als solche einer High-Tech-Hybris
gleichzeitig den Stinkefinger gezeigt haben.
Die historische Differenzierung impliziert nicht
zuletzt, dass wir uns heute nicht in positivistisch- platter Manier einfach auf
die Seite der abstrakt-universellen "westlichen Werte" stellen können
gegen einen im Grunde unhistorisch gedachten Antisemitismus, sondern wir müssen
uns dieses Unmittelbarkeitsdenkens entschlagen, um noch viel grundsätzlicher in
der kritischen Theorie und Analyse auf die Ebene des übergreifenden
Abstrakt-Allgemeinen zu gehen. Das bedeutet, eine kritische (negative)
Totalitätsperspektive geltend zu machen, und zwar in ihrer historischen
Dimension; also heute im Hinblick auf den Globalisierungsprozess. Insofern geht
es darum, die "Abstraktionszumutungen" von Moishe Postone noch
zuzuspitzen. Darauf ist freilich erst recht gegenüber antiimperialistischen
Positionen zu bestehen, die ebenfalls positivistisch-platt in einer schon immer
affirmativ gedachten Nation, "Kultur" usw. das unterdrückte Partikulare
retten möchten. Die Parole "Zivilisation ist Völkermord" ist völlig
abwegig, denn "Völker" wurden erst mit der Entstehung der Nation
konstruiert und konstituieren sich seither in rituellen Zwangshandlungen
selbst.
Es verbieten sich somit eine reflexhafte
Scheinanalyse und entsprechend kurz greifende Schlussfolgerungen. Gerade aus
der Perspektive einer übergreifenden Analyse auf der Ebene des
Abstrakt-Allgemeinen in gleichzeitiger historischer Konkretion kann weder für
die USA noch gar für Bin Laden Partei ergriffen werden. Dabei gilt es auch zu
bedenken, dass man sich z.B. wie Stoiber dezidiert auf die Seite des
christlichabendländischen Universalismus schlagen und zugleich stolz darauf
sein kann, mit den demokratisch gewählten Medien-Rechtsradikalen wie Berlusconi
ebenso wie mit Rassisten und Antisemiten vom Schlage Haiders die Köpfe
zusammenzustecken. Der Kontext der Terroranschläge in den USA muss so auf der
gebotenen Abstraktionshöhe, im Weltmaßstab und auf der historischen Stufe der
postmodernen Globalisierung geklärt werden, ohne deswegen irgendetwas zu
entschuldigen. Das heißt auch, sich nicht in oberflächlicher Weise von der
widerlichen und kriegslüsternen Rambo- und postmodernen Gutsherrenart der
US-Funktionseliten provozieren zu lassen, wie sie sich allabendlich in den
Medien präsentiert.
3.
Aus der Perspektive einer Kritik der Identitätslogik
gilt es, nicht nur die historische Dimension, sondern auch länder- und
kulturspezifische Differenzen zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang fragt
es sich insbesondere auch, wie in Deutschland mit seiner Geschichte des NS und
des Holocaust auf die Terroranschläge in den USA reagiert wird. Welche Motive
liegen diesen Reaktionen in der Globalisierungsära zugrunde?
Ein Fehler wäre es dabei, wie etwa die Bahamas immer
noch von einem schweinsbraten- bzw. körnerfressenden Ruralteutonen mit einer
entsprechenden Psychostruktur auszugehen. Stattdessen haben wir es heute mit
einem Typus zu tun, den ich einmal in essayistischer Verallgemeinerung als
"teutonischen Yuppie" bezeichnet habe. Dieser teutonische Yuppie
schätzt die Errungenschaften des postmodern-kapitalistischen
Vergesellschaftungs- und Konsumniveaus durchaus. Deutschland gehört zu den
führenden Weltmarktnationen. Just als indirekte Folge des 2. Weltkriegs und
durch das Eingreifen der USA wurden der BRD ein Wohlstand und eine
Machtstellung zuteil, die den bestialischen Taten im NS eigentlich Hohn
spricht. Dennoch hält sich ob der Kriegsniederlage ein kaum hörbares,
tabuisiertes Grollen, ein Ressentiment gegenüber den (ehemaligen) Besatzern.
Dabei spricht einiges dafür, dass Industrialisierungsschübe hierzulande erst
durch die nationalsozialistische Transitphase (und damit in dieser NS-Form)
vorbereitet wurden; wurde doch der Ausbau des deutschen Sozialstaats als
Voraussetzung für die Individualisierungsprozesse des Nachkriegszeit erst durch
den NS forciert und institutionalisiert, während dabei jeglicher sozialer
Ingrimm in der deutschen "Volksgemeinschaft" aufging. Jene
postmoderne Individualisierung, wie sie heute im Zuge der Globalisierung und
mittlerweile auch in zunehmender Entbundenheit von sozialstaatlichen Leistungen
für das kapitalistische System dringend gebraucht wird, basiert so in
Deutschland im Grunde auf den Leichenbergen von sechs Millionen ermordeten
Juden.
Dieser Zusammenhang, auch wenn er nicht thematisiert
wird, wirkt nach in allen deutschen Reaktionen auf die weltkapitalistische
Entwicklung. In einer Art Hassliebe formuliert man so eine "totale
Beistandschaft", wie Rita Süßmuth während des Golfkriegs Anfang der 90er
Jahre gegenüber Israel und gegenwärtig wieder deutsche Politiker gegenüber den
USA. Ich gebe Holger Schatz recht, wenn er feststellt, dass ein neues
BRD-Nationalbewusstsein sich gerade durch diese bedingungslose Beistandschaft
gegenüber den USA behaupten kann, und zwar eben in einer Zeit, in der das
traditionelle Nationsverständnis durch Globalisierungsprozesse ausgehöhlt wird.
Dabei zeigt sich der deutsche sekundäre Antisemitismus heute, allen
Mahnmaldiskussionen, Gedenktagen und -reden zum Trotz, gerade darin, dass unter
dem Druck der Globalisierung die permanente "Modernisierung" der
Gesellschaft beschworen wird, notwendigerweise der Gesellschaft, wie sie
geworden ist, und in dieser hektischen Betonung des "Neuen" die
Besinnung auf die Opfer in den Hintergrund tritt. Man will also im Grunde
nichts mehr zu tun haben mit der geschichtlichen deutschen Schuld, indem man
bloß noch rituelle Waschungen vornimmt.
Die Situation ist somit mehrfach paradox und die
Gefühle sind ausgesprochen gemischt. Deshalb ist die einfache Deutung einer
Identifikation der deutschen Tätergesellschaft mit den islamistischen
Terroristen auf einer Heideggerschen Todestrieb-Seinsgrundlage mehr als
reduziert. Die Bahamasposition kann Widersprüche und Ambivalenzen kaum
aushalten und selbst dort, wo sie benannt werden, erscheint letztlich doch das
Bild eines selbstmordgeilen Ruralteutonen, bleibt die Analyse also
identitätslogisch. Umgekehrt ist es jedoch ebenso problematisch, wenn man (wie
es teilweise in der "Krisis"-Position erscheint) nur die historisch
neue Situation benennt und die auch historisch bedingten Motivationen
weitgehend ausgeblendet werden.
Stehen traditionellen Stereotypen zufolge die Juden
für die "überzivilisierten Übermenschen", so in der kolonialen
Tradition z.B. die "Schwarzen" für die "unterentwickelten
Untermenschen". In der heutigen Situation sieht man sich in der BRD
gleichermaßen in einer Übermenschen- wie einer Untermenschenposition. Dies ist
die Grundlage für die Identifikation mit den USA wie auch einen damit
zusammenhängenden Wohlstandschauvinismus: aus der Furcht heraus, dass jetzt der
Globalisierungsterror auf die Zentren zurückschlägt und womöglich auch "zu
uns her" kommt. Von daher auch das kitschig inszenierte Mitgefühl mit den
US-Terroropfern. In diesem Zusammenhang ist allerdings ein Verweis etwa auf die
Verhungernden in der Dritten Welt und andere Modernisierungsopfer äußerst
angebracht; denn dabei handelt es sich um keine "Aufrechnung",
sondern um die Kritik einer westlich-wohlstandschauvinistischen
Empfindungsweise.
Eine Konsequenz der spießigen deutschen
Heraushalte-Position, die bloß die Krisengewalt verdrängen möchte, ist die sich
konstituierende Friedensbewegung. In diesem Kontext können das chauvinistische
Bangen um erreichte Lebensstandards und ein vulgärer Antiimperialismus
antiamerikanischen Zuschnitts ein paradoxes Amalgam eingehen, wobei die Angst
vor bin Laden und den USA ungefähr gleich groß ist, weil man befürchtet, dass
die Militärschläge der USA neuen Terror womöglich auch hierzulande auslösen.
Insofern ist eine solche Friedensbewegung scharf zu kritisieren und zu
bekämpfen, ohne deswegen (in bloßer Scheinkritik daran) umgekehrt in die
hysterische Kriegshetze à la Bahamas einzustimmen, die das kapitalistische
Abstrakt-Allgemeine selber bloß abstrakt bejaht und mit ihrer wertkritisch und
antideutsch frisierten, geradezu religiös anmutenden Bekundung der
"totalen Beistandschaft" gegenüber Israel prinzipiell auf einer Linie
mit der Art der Süßmuth-Bekundungen liegt. Eine Friedensbewegung, die
antisemitischen Tendenzen entschieden entgegentritt und das Problem
reflektiert, könnte dagegen unterstützt werden.
In Wirklichkeit hätte vor allem Israel nichts von
einem abstrakt-reduktionstisch begründeten militärischen Kreuzzug gegen
"die" islamischen Länder. Selbst Scharon dürfte sich kaum ernsthaft
für eine solche Haltung einsetzen, die für Israel selbstmörderisch wäre. Man
wagt es kaum in Betracht zu ziehen, aber dies bedenkend könnte man fast meinen,
dass die Bahamas mit ihrer vordergründig absolut pro-israelischen Haltung und
ihrer maßlosen Denunziation in Wahrheit Israel die Pest an den Hals wünschen,
sprich die von einem islamistischen Selbstmordattentäter überbrachte Atombombe.
Das wäre die nahe liegende Konsequenz der Bahamas- Strategie, wie sie sich vor
dem Hintergrund einer solcherart hoch problematischen "Kulturalisierung
des Sozialen" zeigt.
Abwegig erscheint mir in diesem Zusammenhang auch
der Vorwurf des Bahamas-Autors Horst Pankow gegen Robert Kurz, dieser könne ob
seines eher systemischen Kapitalismusbegriffs, der Personalisierungen
vermeidet, keine Schuldigen mehr erkennen, sprich "den Islam" bzw.
die islamistischen Terroristen (während absurderweise Gerhard Scheit inzwischen
den genau umgekehrten Vorwurf einer Personalisierung des Kapitalismus qua
fehlender Parteinahme für die USA erhoben hat). Hier findet eine Projektion
statt, nämlich eine wiederum identitätslogische Gleichsetzung von Nazi-
Deutschland mit den islamischen Ländern.
Antiamerikanische und antisemitische Haltungen
könnten sich künftig umso mehr zeigen, je stärker die ökonomische Lage sich
verschlechtert und der Wohlstandslevel dementsprechend heruntergefahren wird;
auch wenn die Anti-Globalisierungsbewegung, die sich mit der Friedensbewegung
überlappt, infolge der Terroranschläge momentan bemüht ist, einen unverblümten
Antiamerikanismus zu vermeiden. Zu erwarten ist aber auch gleichzeitig, dass
die Rassismen jedweder Couleur zunehmen und sich eine "multikulturelle
Barbarei" (R. Kurz) noch stärker als bisher zeigen wird, die von der
"Dominanzkultur" (B. Rommelspacher) durch verschärfte
Sicherheitsauflagen eingedämmt werden soll. Eine Linke, die dabei wie die
Bahamas den Kampf gegen den Antisemitismus und den gegen den Rassismus platt
prowestlich gegeneinander ausspielt, ist nichts anderes als ein bewusstloser
Teil dieser barbarischen Konstellation.
4.
Eine nicht-identitätslogische Analyse kann nicht
umhin, festzustellen, dass der Antisemitismus in den arabischen bzw.
islamischen Ländern einen anderen Charakter als im Westen und insbesondere auch
in Deutschland hat. Die Selbstmordanschläge in Israel wie in den USA stehen im
Unterschied zur planmäßigen, selektiven und massenhaften Vernichtung der Juden
durch den NS "nur" in einer kriegsmetzlerischen Tradition, wie sie
die konventionellen Kriege ganz allgemein auszeichnen, wenngleich in einer
neuen postmodernen Form; schließlich handelt es sich bei den Tätern um extrem
westgeprägte Hybridexistenzen auf der technischen Höhe der Globalisierung. Auch
müsste dabei die spezifische Geschichte und Beziehungskonstellation: arabische
Länder - Israel - USA und hintergründig auch Deutschland genauer unter die Lupe
genommen werden.
Zwar gab es schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts
im islamischen Raum ebenfalls Gleichsetzungen Jude=Geld. Jedoch ist zu
vermuten, dass es selbst im islamischen Fundamentalismus keine antisemitische
Biologisierung bzw. überhaupt Ontologisierung wie im NS gibt. Würde ein
Angehöriger mosaischen Glaubens zum radikalen Islamismus konvertieren, so würden
seine jüdischen Ursprünge keine Rolle mehr spielen. In den Bahamas, aber auch
bei Matthias Küntzel wird permanent eine Ähnlichkeit zwischen Islamismus und
Nazismus propagiert, die dann letztlich - und schon von der ganzen Intention
her - zur Identität wird.
Dabei sind Selbstmordattentate auch als solche
postmoderne, neue Gewalt- und Barbareiformen, die es in der Vergangenheit
(meines Wissens nur mit Ausnahme von Japan) nicht gegeben hat und die heute in
einer "Selbstlosigkeit" im Sinne von Hannah Arendt gründen, die
ähnliche Erscheinungen aus der Zwischenkriegszeit noch bei weitem übergipfeln.
In den arabischen Ländern war diese Erscheinung noch bis vor kurzem nicht
anzutreffen. Die deutsche Selbstmordsehnsucht im NS war etwas anderes; sie war
eher über das Kollektiv und nicht über Individualisierungsprozesse vermittelt.
Hybridexistenzen, die freiwillig Selbstmordattentate mit einer
quasi-ausgesetzten neoreligiösen Ideologie und insofern
fanatisch-fundamentalistischen Stoßrichtung begehen, waren damals noch gar
nicht denkbar.
5.
Grundsätzlich muss bei solchen Analysen der Tatsache
Rechnung getragen werden, dass es dem kritischen Gesellschaftstheoretiker im
Gegensatz zum positivistischen (Natur)wissenschaftler unmöglich ist, sich im
Sinne eines omnipotenten, allwissenden Subjekts zum Objekt zu verhalten, da er
sich immer als Teil der von ihm untersuchten Gesellschaft weiß. Das heißt auch,
dass wir, sofern wir als Deutsche aufgewachsen sind und der deutschen
"Dominanzkultur" angehören, unter Einbeziehung der intergenerationalen
Übertragung die besondere Qualität des Holocaust im deutschen Kontext mit
seinen Konsequenzen bis zum heutigen Tag berücksichtigen müssen.
In diesem Zusammenhang ist es übrigens
problematisch, auch wenn dies auf einer Metaebene zutrifft, den (deutschen)
Rechtsextremismus, der bekanntlich aus der Mitte der Gesellschaft kommt, ebenso
als zur demokratischen Gesellschaft selbst gehörendes "Reich des
Bösen" zu betrachten wie den islamischen Fundamentalismus im Weltmaßstab.
Das Spezifisch- Partikulare im Kontext der modernen kapitalistischen
Zivilisation wird so nicht berücksichtigt und die eigene Involviertheit in die
deutsche "Dominanzkultur", indem diese im unspezifischen
Abstrakt-Allgemeinen ersäuft wird.
So sehr es jedoch wahr ist, dass ein Gesellschaftstheoretiker
sich niemals außerhalb der Gesellschaft befinden kann und seine Position
jeweils in einem spezifischen kulturellen und historischen Kontext verorten
muss, so wenig darf sich radikale Gesellschaftskritik in einer derartigen
Einsicht gemütlich einrichten. Gerade weil Theorie immer einen
"Zeitkern" (Horkheimer/Adorno) hat, Gesellschaft ein Prozess ist und
in diesem Zusammenhang eine Subjekt-Objekt-Dialektik, eine Dialektik zwischen
Individuum und Gesellschaft bei einem prinzipiellen Übergewicht der
Gesellschaft besteht, verbietet sich eine verdinglichte, statische
Herangehensweise, die unhistorisch ein schon immer gleich bleibend gedachtes
Subjekt- Objekt-Verhältnis logisch zementiert und ontologisiert.
Dabei kann gerade eine neuartige Situation es
erfordern, dieses Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Gesellschaft und
Individuum innovativ zu denken. So erscheint es in der postfordistischen Phase
der letzten Jahre angezeigt, das, was die kapitalistische Welt, die
Gesellschaft "im Innersten zusammenhält", nämlich den Wert als
gesellschaftliche "Grundtatsache" (Adorno), neu zu bestimmen, d.h.
vom alten "Mehrwertmarxismus" zur grundsätzlichen Wertkritik im Sinne
von Arbeitskritik überzugehen. Dies meint, wir haben die Aufgabe, aus der Verstrickung
in die gesellschaftliche Formobjektivität auszubrechen. Insofern sind wir
gezwungen, trotz des Wissens um dieses Drinnen-verhaftet-sein um den Begriff zu
ringen, der dieses Drinnensein überwindet, eingedenk der erreichten
historischen Entwicklungsstufe. Es ist dies vielleicht ein Kennzeichen
kritischer Theoriebildung überhaupt, das sogar für die alte Arbeiterbewegung in
gewisser Weise gültig war.
Sich dieser Verstrickung bewusst zu sein und
zugleich den Versuch unternehmen zu müssen, aus ihr auszubrechen, ist übrigens
selbst noch für antideutsche Positionen, die das bürgerliche
Subjekt-Objekt-Verhältnis wie etwa Gerhard Scheit ontologisieren,
charakteristisch; allerdings eben in affirmativer Wendung, wähnt er sich doch,
indem er sich in verkürzter Kapitalismuskritik umstandslos auf die Seite des
abstrakten Universalistisch-Allgemeinen stellt, seinerseits "draußen"
und gewissermaßen "aus dem Schneider". Konsequent in dieser Weise zu
Ende gedacht, gäbe es somit aus der bürgerlichen Subjekt-Objekt-Ontologie
überhaupt keinen Ausweg. Wir sind verstrickt, verstrickt, verstrickt... müsste
bis ins Unendliche der Refrain lauten.
Wenn dem aber so wäre, dann fragt es sich, wie vom
Wert überhaupt kritisch als von einem "automatischen Subjekt" und
objektiver Grundstruktur gesprochen werden kann. Verharren wir nämlich in der
bürgerlichen Subjekt- Objekt-Ontologie, so ist damit automatisch und
reduktionistisch ein immanent perspektivisches Denken einer im Grunde
wissenssoziologischen Tradition verabsolutiert, das jegliche Möglichkeit des
Erkennens einer objektiven Wahrheit bestreiten muss.
Trotzdem sind wir auch bei Erkenntnis dieses
Zusammenhangs weiter Bestandteil der Gesellschaft, die wir analysieren, und
kommen der Subjekthaftigkeit (Subjektform) nicht aus. Es bleibt uns nichts
anderes übrig, als einerseits unsere Existenz als jeweils historisch,
kulturell, ökonomisch und sozialpsychologisch bestimmte Subjekte zu denken, und
das heißt im hier verhandelten Zusammenhang auch Abwehrmechanismen zu
reflektieren, die mit einem heute in neuer Weise virulenten Antisemitismus
einhergehen; andererseits gilt es aber auch den objektiven, übergreifenden
Totalitätszusammenhang zu denken, in den unsere subjektive Befindlichkeit
eingebettet ist. Wir kommen nicht umhin, die Spannung zwischen diesen beiden
Momenten auszuhalten.
6.
In diesem Zusammenhang ist es geboten, grundsätzlich
die ideologische Ebene und objektive Entwicklungen analytisch auseinander zu
halten, was im "Krisis"-Kontext bislang zugunsten der Objektivität im
Großen und Ganzen vernachlässigt wurde. Die ideologische Dimension, die immer
auch historische Überhänge umfasst, geht nicht in objektiven Mechanismen und
Entwicklungen auf. Ideologische Manifestationen können dem objektiven Prozess
hinterher hinken.
Andererseits geht Ideologie jedoch auch nie in
historischen Überhängen auf und ist immer auch mit objektiven Prozessen
gekoppelt. Auch wenn die Bahamas inzwischen selbst einräumen, dass
gesellschaftlicher Wandel und objektive Strukturen mitberücksichtigt werden
müssen, haben diese bei ihnen letztlich bloß einen akzidentiellen Charakter,
während die ideologische Ebene das Ausschlaggebende ist. Die Vermittlung
zwischen ideologischer und objektiver Dimension wird verfehlt. So wird etwa,
was affektive und Bewusstseinsstrukturen angeht, in der gegenwärtigen BRD immer
noch der selbstmordsüchtig-militaristische, ruralideologische
Weltkriegsdeutsche gesehen, und man muss heute trotz allen Wissens darum, daß
Religion längst obsolet geworden ist, eine klassische bürgerlich-altmarxistische
Religionskritik paradox hingebogen im Sinne eines "ungeglaubten
Glaubens" (so Uli Krug vor allem im Hinblick auf den Islamismus) wie
weiland zu Aufklärungszeiten leisten.
7.
Es dürfen somit insgesamt nicht verschiedene
historische, kulturelle und ideologische Ebenen und Dimensionen, das
Allgemeine, das Besondere, das Spezifische und Partikulare identitätslogisch in
eins gesetzt werden. Nichts verschont uns vor der Mühsal der Ebenen, gerade in
der fragmentierten Totalität der Postmoderne. Andererseits müssen diese
Differenzierungen jedoch unbedingt in der Reflexion durch ein
(welt)gesellschaftliches Band, den Wert, der in der Globalisierungs-Ära gerade
durch seine endgültige weltgesellschaftliche Durchsetzung zugleich brüchig
wird, als miteinander verbunden gesehen werden.
So ist kaum zu übersehen, dass eine verkürzte
Kapitalismuskritik der Globalisierungsgegner mit Nähe zu antisemitischen
Stereotypen den Terroranschlägen in gewisser Weise entspricht und man es auch
so betrachten kann, dass letztere eine Zuspitzung der ersteren darstellen.
Diese unfreiwilligen Zusammenhänge ergeben sich gerade durch die
Globalisierung, die es mit sich bringt, dass jedes einzelne Land nicht mehr für
sich ist, sondern wir eben eine One World haben. Insofern ist Benjamin Barber
zuzustimmen, wenn er sagt, dass McDonald und Djihad sich gegenseitig bedingen.
Dies gilt gleichermaßen für ein postmodernes Insistieren auf Identität als auch
für eine dekonstruktivistische Sicht, die jedwede Identitätsvorstellung
unglaubwürdig zu machen bestrebt ist. Queer-Politik z.B. und die Taliban haben
mehr miteinander zu tun, als ihnen lieb ist. Auch insofern ist es völlig
falsch, zu meinen, man könne sich bloß entweder auf die reaktionäre Seite eines
antiwestlichen Fundamentalismus oder auf die Seite der westlichen
abstrakt-universalistischen Werte in Form des Goutierens einer meines Erachtens
ebenso oberflächlichen Libertinage, die viel mit "repressiver
Entsublimierung" und wenig mit Emanzipation zu tun hat, stellen. Insofern
gehören freilich auch Spaßgesellschaft und Islamismus zusammen. Eine radikal
kritische Position muss diesen inneren Zusammenhang aufzeigen, sich das Recht
auf eine radikale (eben nicht abstrakte) Negation der Weltverhältnisse
herausnehmen und damit beide sich bedingenden Optionen verwerfen.
So darf es auch keineswegs bloß darum gehen, in
ideologiekritischer Reduktion auf die zumal in Deutschland geschichtlich
wirkmächtigen Gefahren einer verkürzten, mit dem Antisemitismus kompatiblen
Kapitalismuskritik bei Globalisierungsgegnern aufmerksam zu machen, die den
Wert nicht als Verhältnis auffassen, ohne gleichzeitig eine Analyse
weltgesellschaftlicher Strukturentwicklungen und eine Kritik an den sozialen
Katastrophen der kapitalistischen Globalisierung zu betreiben. Eine nach dem
Muster der Bahamas innerhalb der Linken "tabubrecherische", die
kapitalistische Globalisierung und Zivilisation in verbogener
gesellschaftskritischer Absicht affirmierende Position stellt so - ceterum
censeo - selber eine verkürzte, identitätslogisch verfahrende
Kapitalismuskritik dar.
Entschlagen wir uns dieses identitätslogischen
Vorgehens, so müssen wir auch sehen, dass in Zeiten der Globalisierung
nirgendwo mehr der Staat wie im NS den Holocaust organisiert, sondern die
Staaten bzw. Staatenbünde einerseits gerade aus den Erfordernissen der
Globalisierung heraus gegen den mörderischen antisemitischen Mob vorgehen,
andererseits jedoch gleichzeitig die affirmative Funktion des Antisemitismus
und überhaupt einer "Fremdenfeindlichkeit" gewissermaßen durch ein
Outsourcing dem "Volk" (in der traditionellen Diktion) bzw. der
"Zivilgesellschaft" (in der postmodernen Diktion) überlassen und
geradezu übertragen.
Ganz abwegig ist dabei Huntingtons These vom
"Krieg der Kulturen", die das Globalisierungsproblem von der
materiell-ökonomischen Ebene ablöst. Eine radikallinke Gegenposition gegen die
falschen Alternativen innerhalb des Globalisierungsprozesses muss hingegen die
materielle Dimension, somit also auch die soziale Frage thematisieren und (ohne
Verzicht auf Ideologiekritik) wieder in den Vordergrund rücken. Auch wenn
selbst von Regierungsseite in wortkosmetischer Absicht "mehr Gerechtigkeit
im Weltmaßstab" als Ziel bemüht wird, ist die soziale Ebene seitens
radikaler Kritik umso mehr zu besetzen. In diesem Zusammenhang hat nicht
zuletzt der krisentheoretische Ansatz seinen Stellenwert, d.h. die Einsicht,
dass heute die Zerstörung der Wertvergesellschaftung durch den Wert selbst
manifest geworden ist. Die Zerstörungskraft des Terrors entspricht dem
Obsoletwerden der Arbeit, den Finanzcrashs usw. Zugespitzt könnte so auch
formuliert werden: Die islamistischen Attentäter sind durch ihre postmoderne
Hybridexistenz, ihre technologische Kompetenz usw. der Wert; der Wert in seiner
Selbstzerstörung.
8.
Als Maßstab der Zivilisationskritik müssen die
Menschenrechte gelten. So sehr es zutrifft, dass schwerste Verbrechen im Namen
der Menschenrechte verübt wurden, so sehr gilt auch, dass noch das Kriterium,
derartige Verbrechen als solche zu benennen, die Menschenrechte selbst
sind.Ansonsten gibt es keine allgemeinen Maßstäbe, Missstände überhaupt wirksam
anzuprangern. Bei dem Empfinden, dass Folter, Mord, Totschlag etc. unmöglich zu
rechtfertigen sind, handelt es sich im Grunde um emotional abgelagerte
Menschenrechtsnormen. Hinter die Menschenrechte darf weder zurückgefallen noch
ihre Kritik als Metakritik ausgeklammert werden; vielmehr ist momentan die
Spannung zwischen diesen gegensätzlichen Anforderungen auszuhalten.
Das heißt allerdings auch, dass es ebenso unmöglich
ist, sich mit dem Gestus radikaler Kritik letztlich doch wieder auf die Seite
der über Leichen gehenden Aufklärung zu stellen. Der Westen und die USA selbst
sind barbarisch, tagtäglich werden elementare humane Normen verletzt. Das zeigt
sich nicht nur an den modernen Kriegen und rassistischen Diskriminierungen in
diesen Gesellschaften bis zum heutigen Tag; auch muss man nicht erst einen
Blick in US-Gefängnisse und Psychiatrien werfen oder die hauptsächlich an
"Schwarzen" vollstreckte Todesstrafe bemühen, um dies zu erkennen.
Dieselbe Barbarei findet sich hierzulande im Knastalltag, in der
Abschiebepraxis, im Umgang mit Herausgefallenen. Die innerdemokratische
Brutalität und Gemeinheit wird im offiziellen wie im linken West- und
US-Patriotismus eskamotiert.
So ist die in der Jungle World gegenüber den
Kritikern an ihrer Kriegsbefürwortung ausgegebene Parole "God bless the
Meinungsfreiheit" nichts als repressive bürgerliche Toleranzideologie, von
der die Weltmacht-Brutalität als Ursprung westlich-zivilisatorischer Werte
abgefeiert wird. Man hört geradezu die Glocken der lila Milka-Kuh klingeln,
wenn in Reklame-Manier die hohlen Demokratenphrasen für bare Münze genommen und
ein kitschiges Freiheitsritual zelebriert wird. Diese Toleranzideologie steht
schon immer positivistisch auf der Seite dessen, was "der Fall ist",
und blendet von vornherein aus, was in radikal kritischer Absicht möglich ist.
Der innerdemokratische Multikulturalismus stellt
dabei übrigens keinen Angriff auf die repressive Toleranz des abstrakten Universalismus
von Aufklärung und westlichen Werten dar, sondern er befindet sich vielmehr
gerade in der Ära des "Kollaps der Modernisierung" ganz in deren
Tradition. Denn nun wird nicht mehr bloß die Gleichheit unter Gleichen, sondern
in paradoxer Verkehrung die Gleichheit in der Differenz im Kontext mit den
bisher inferior gesetzten "Anderen" postuliert. Dies trifft ebenso
für das weithin positiv besetzte Konzept der "hybriden Identitäten"
zu, in dem das austarierungs- und übersetzungsfähige Individuum im Gegensatz
zum klassischen, einheitlichen Aufklärungssubjekt hochgehalten wird.
Ironischerweise gehören gerade die Selbstmordattentäter zu diesem Typus.
9.
Bemerkenswert ist nicht zuletzt, dass in der ganzen
Auseinandersetzung um den Terrorismus Frauen in der westlichen Welt wieder
einmal zu Zeichen werden. Man zieht die geknechteten Taliban-Frauen heran, um
mit der Inhumanität der "Barbaren" Kriegspropaganda zu machen. Frauen
sind das Pfund, mit dem gewuchert wird. Die westlich-bellizistische Seite unter
Einschluss ihrer linken Sekundanten erweckt manchmal gar den Eindruck, dass die
Bomben auf Afghanistan ausgerechnet zur Befreiung der Frauen abgeworfen werden.
Dabei haben Frauen bei der mit den USA verbündeten Nordallianz und im
befreundeten Saudi-Arabien weniger Rechte als zum Beispiel im Iran. Man kann
getrost davon ausgehen, dass die Situation von Frauen in islamischen Ländern
dem Westen in Wirklichkeit am Arsch vorbei geht.
Dabei wird so getan, als würden die westlichen Werte
schon immer die Befreiung der Frauen einschließen, als gehörte nicht ihre
historische Konstruktion als "Andere", per definitionem Ungleiche
wesentlich zur Konstitution der Menschenrechte und damit zu deren negativer
Kehrseite. Suggeriert wird erst recht, dass das hierarchische Geschlechterverhältnis
heute im Westen kein Problem mehr und grundsätzlich gelöst sei, um davon
abzulenken, wie sich die geschlechtliche Asymmetrie in postmodernen Zeiten neu
darstellt, neuartige Geschlechterproblematiken und -Dilemmata hervorruft. Der
Westen stilisiert sich so wieder einmal unberechtigt zum Vorbild für die ganze
Welt.
Jenseits des Geredes von Chancen für Frauen, die im
Zuge der Globalisierung entstünden, sind in Wahrheit auf diese Weise weltweit
eine große Masse von Frauen nicht mehr bloß primär für die Reproduktion,
sondern mittlerweile für "Geld und (Über)Leben" (Irmgard Schulz)
gleichermaßen zuständig gemacht worden, ohne die Möglichkeit der
Existenzsicherung und ohne Überwindung der soziokulturellen
Geschlechter-Asymmetrie. Im solcherart bloß verwildernden postmodernen
Patriarchat hat der Mann als Familienernährer ausgedient und wird von den
Frauen vielleicht sogar noch durchgezogen, wobei die Geschlechterbeziehung
immer unverbindlicher wird bei gleichzeitiger Weiterexistenz männlicher Dominanz.
Dies sind die Real-Konsequenzen der westlichkapitalistischen
"Geschlechterbefreiung" für den größten Teil der Weltbevölkerung im
Zerfallsprozess des Kapitalismus.
Ebenso falsch wie hinsichtlich der
"Frauenfrage" wird in diesem Kontext der Westen auch in Bezug auf das
Sexualverhalten, auf männliche und weibliche Homosexualität etc. als
ultra-aufgeschlossen dargestellt. Die oberflächliche Toleranz gegenüber
Flexi-Transis soll darüber hinwegtäuschen, dass es hier weniger um ein Zulassen
verschiedener sexueller Orientierungen geht, sondern um die Durchsetzung
globalisierungs- kompatibler und durchökonomisierter Flexi-Zwangsidentitäten,
ohne deswegen die zwangsheterosexuelle Grundstruktur zu überwinden. Die
barbarischen Taliban als Frauenfeinde und Gegner der "Perversen"
werden so zur bloßen Projektionsfläche gemacht, um das der bürgerlichen
Gesellschaft zugrunde liegende frauenfeindliche und zwangsheterosexuelle
geschlechtliche Basisverhältnis in der Feier bürgerlicher Zivilität wegblenden
zu können.
Dazu noch eine quasi methodische Schlussbemerkung:
In meinen Thesen fehlt ein systematischer Rekurs auf die Form und Entwicklung
des Geschlechterverhältnisses in der maßgeblichen westlich-kapitalistischen
Zivilisation. Dies habe ich mir deshalb verkniffen, weil dafür erstens hier
nicht der Raum ist und es zweitens immer noch genug Männer und ebenso auch
Frauen gibt, denen bei der Thematisierung der unüberwundenen geschlechtlichen
Asymmetrie die Jalousien heruntergehen, sodaß der Text von vornherein bloß
unter der Perspektive eines "Sonderaspekts" oder vielleicht gar nicht
gelesen würde. Ich kann hinsichtlich der weiteren Problematik nur auf mein
demnächst erscheinendes Buch mit dem Arbeitstitel "Das Unbehagen an den
Differenzen/Klasse, Geschlecht, >Rasse< und postmoderne
Individualisierung" verweisen, in dem die Matrix für die hier formulierten
Thesen entwickelt wird. Im Anschluss an die Kritik der Identitätslogik geht es
dabei darum, im Begriff des Geschlechterverhältnisses
(Wert-Abspaltungsverhältnis) als grundlegendem Vergesellschaftungsprinzip
gleichwohl mit der Vorstellung eines Haupt- und Nebenwiderspruchs zu brechen,
also Rassismus, Antisemitismus und Sexismus nicht voneinander abzuleiten und
sie gleichzeitig durch qualitative Unterschiede, besondere Kontexte und
spezifische Konstellationen hindurch als miteinander zusammenhängend
darzustellen.
Solidarhaft,
Jargonitis, Denunziationismus und vor allem Identifikationismus beherrschen
diese Szene: Wir sind gut, weil uns die anderen für ungut halten, so der
identitätsstiftende Raster. Motto daher: Man darf uns nicht leiden dürfen. Die
Aversion der anderen bestätigt unsere Aversion. Zumindest dies ist gelungen.
Wenige wenden sich diesem Grauen freilich direkt zu. Nicht wenige werden sich
allerdings im Grauen abwenden. Man darf sich da nichts vorlügen. Die
Wild-um-sich-Schlagenden beschädigen nicht nur sich. Dass viel Energie in solch
Auseinandersetzungen verschwendet werden muss, spricht Bände. Dass sie sich
nicht von selbst erledigen (wie wir tendenziell in aller Gutmütigkeit
angenommen haben), sondern erledigt werden müssen.
Die aktuellen Radikalismuswettbewerbe funktionieren als Ranking der Rabiaten.
Wer sich barbarischer aufführt, hat Recht. Wer etwa Scharon Nachgiebigkeit
gegenüber dem "palästinensischen Vernichtungskollektiv" unterstellt
(außerdem will dieser wohl windelweiche Opportunist auch noch einen mickrigen
Palästinenserstaat dulden) oder Bush mangelnde Entschlossenheit gegenüber dem
Terrorismus vorwirft, der ist schon wer in dieser Szene. It's a hit. Um die Aufmerksamkeit
aufrechtzuerhalten, müssen die Hardcore-Antideutschen die Gangart permanent
verschärfen, bis hin zum selbst provozierten Übergriff auf die eigene Truppe,
der dann als wahrhaft schlagender Beweis der eigenen Bedrohung dienen soll.
Ärgerlich ist auch das "Softcore-Antideutschtum". Die unzähligen
"Bahamas-Light"-Varianten sind zwar moderater im Ton, aber immer noch
befinden sie sich in inhaltlicher Geiselhaft. Auf niedrigerem Aggressionslevel
verkünden sie dasselbe.
Ihr Geschäft ist die
Denunziation. Da laufen die Antideutschen zur Höchstform auf, weil es ihre
Äußerungsform ist. Da sind sie deutsch wie tüchtig. Wertarbeiter
sondergleichen. Wie etwa jener berüchtigte Justus Wertmüller, den man einen
Diffamator ersten Ranges nennen könnte. Sozusagen eine halbautomatische Pumpgun
pathischer Projektion. Wer abweicht, und sei's auch nur eine Nuance, wird
erschossen. Denn immer geht es ums Ganze. Wertmüller erspäht Nazis auf den
ersten Blick, zumindest im Nachhinein weiß er nun, dass auf Krisis-Seminaren
"die neofaschistischen Öko-Rauschebärte von der
Silvio-Gesell-Fangemeinde" sich herumtreiben. Wahrlich, man sieht es
diesen Krisis-Leuten direkt an. Robert Kurz darf in der bahamotischen
Hirntragödie bereits als Oswald Spengler auftreten. So jauchzt und jodelt der
Antideutsche: Dass wir inzwischen wie (oder gar: als?) Faschisten zu bekämpfen
sind, wissen wir seit der Dritten Kommandoerklärung der Bahamas, jener mit dem
alles sagenden Titel "Zur Verteidigung der Zivilisation": "Wenn
allerdings Antikapitalismus von den Nürnbergerischen und anderen
islamisch-deutschen Gemeinschaftswerken nicht mehr unterscheidbar ist, wenn er
nicht mehr die Aufhebung der kapitalistischen Vergesellschaftung auf ihrem
höchsten Niveau einfordert und blind ist für die Gefahren eines
Antikapitalismus, der nur noch den vorzivilisatorischen egalitären Schrecken
bereithält, dann muss man ihn bekämpfen wie jede andere faschistische Gefahr
auch" (Bahamas 37).
Wo der
"vorzivilisatorische Schrecken" droht, muss man dieser neudeutschen
Logik entsprechend sich eben nach der Decke des zivilisatorischen Schreckens
strecken. Da wird durchgemixt und aufgemischt, dass es so eine Unfreude ist.
Man lese etwa Wertmüllers völlig abgedrehten Artikel "Unter Bauern"
(Konkret 1/2002). Da wird man eingemeinschaftet, dass man nur so staunt. Aber
ganz ehrlich, die "Abscheu vor den verwirrenden Reizen" (Wertmullah)
treibt uns zur "Denunziation ausgelebter Individualität"(Wertmullah),
schließlich propagieren wir "Verzicht auf den Luxus als
Tugend"(Wertmullah). Und vor "verrücktester Künstlichkeit und
Grenzenlosigkeit" (Wertmullah), da graust es uns ganz besonders. Am
wenigsten halten wir die aus, die "wild entschlossen, ihren Spaß ...
haben" (Wertmullah). Da verstehen wir, die wir sowieso keinen Spaß
verstehen, überhaupt keinen Spaß mehr.
Man muss schon
subjektiv als Belustigung nehmen, was objektiv eine Belästigung ist. Noch nicht
bekannt war dem zivilisationsgeifernden Muezzin allerdings, dass die finsteren
Bauerngestalten seines antideutschen Trauerspiels, also Bové und Bin Laden,
Zapata und Lohoff bei einem geheim gehaltenen Treffen der Welt sogar die
Eliminierung der USA in Aussicht gestellt haben. In der Sonderresolution
"Gegen Stöckelschuhe und Netzstrümpfe. Aufruf zur Vernichtung des
Glücks" wird explizit festgehalten, dass Antideutsche im zu errichtenden
"Bauernsozialismus" als Landarbeiter sich für die Volksgemeinschaft
nützlich machen müssen. Praktische Enturbanisierung bedeutet, dass nach dem
getanen Tagwerk bei naturtrübem Apfelsaft und alpenländischer Volksmusik das
Auswendiglernen von Koransuren und Krisisseiten auf den leuchtenden Pfad führen
soll. Auch der berüchtigte Anti-Antisemitismus darf dann nur noch ungekeult
vertreten werden. Oh Justus, so ist es und nicht anders.
Sollte das kollektive
Gezwänge in der Bahamas-Stube tatsächlich den Vorschein "ausgelebter
Individualität" darstellen, ist Flucht angesagt. Aber vielleicht ist
"ausgelebt" sowieso als vorbei, tot, beendet, vorüber und gewesen zu
lesen. So trifft dann selbst noch der durchgeknallteste Geisterseher ungezielt
ins Schwarze. Am ehesten noch sind die Wertmullah-Banden in ihrer Gemütlichkeit
mit Stammtischen in der Oberpfalz zu vergleichen. Wenn sich da wie dort das
Glück ankündigt, ziehen wir das Unglück vor. Aber was soll man noch sagen: Wer
dem Glücksversprechen bürgerlicher Provenienz aufsitzt, ist ein Komplize des
Glücksverbrechens desselben.
***
Nach all den Zerwürfnissen stellt sich
dringlicher denn je die ganz banale Frage: Wer ist unser Publikum? Wen wollen
wir ansprechen? Kurzum: Die sich hartnäckig durchsetzende implizite
Orientierung auf die radikale Linke und ihre Restbestände sollte denn doch
entschiedener hinterfragt werden. Jene unterläuft mehr, als sie jemals
beschlossen wurde. Nicht, dass die radikale Linke kein Bezugsfeld darstellt,
ist gemeint, wohl aber doch, dass es sich dabei nicht um das primäre oder gar
einzige handeln soll. Sowohl in der Krisis selbst als auch in den
Außenpublikationen müssen wir dem deutlicher Rechnung tragen. Nicht alles, was
uns so passiert, müsste uns auch passieren. Vieles, was bisher eher zufällig
sich gestaltete, sollte doch mehr unter das Kommando ausgesprochener Absichten
gestellt werden.
Die Alternative zur linksradikalistischen Durchgeknalltheit kann aber nicht in
der Neuauflage reformistischer Illusionen à la ATTAC liegen. Dieser Sozialstaats- und Polit-Romantizismus
krankt an allen Ecken und Enden. Auch wenn zugegeben werden soll, dass dort zur
Zeit die Entwicklungsmöglichkeiten einzelner Segmente und vor allem Individuen
besser einzuschätzen sind als in den sich abkapselnden Sektensümpfen. Was auch
ein wichtiger Gesichtspunkt ist.
Nehmen wir zum
Beispiel die so genannte Anti-Globalisierungsbewegung: "Mischt euch
ein" contra "Mischt sie auf" (Jungle
World 45/2001) ist unserer Meinung nach eine
unfruchtbare Gegenüberstellung, an der man lediglich Identitäten festmachen
kann. Damit hat es sich aber schon. Kritik hat nicht nur pointiert zu sein, sie
hat auch sensibel zu agieren. Sie muss Einstiegsmöglichkeiten bieten. Die Luken
sind nicht dichtzumachen, sondern offen zu halten. Uns geht es darum, sich die
Bewegungen als gesellschaftliche Mischmaschinen genauer anzuschauen, über
Möglichkeiten und Grenzen zu sprechen. Einmischen wird aufmischen nicht
ausschließen. Vice versa. Außerdem gilt es die Position nicht immer gleich zur
Konfrontation zu steigern, zumindest wenn man sich strategische Optionen offen
halten will, die sich jenseits der Rechthaberei bewegen.
Über die
Ideologiekritik hinaus wird es notwendig sein, selbst eine adäquate Sozialkritik
zu leisten, die die Verkürzungen der Kapitalismuskritik (wenn auch anderer
Natur) auch bei sich selbst bemerkt. Dieses Terrain ist zu besetzen. Was früher
soziale Frage hieß, darf weder den Traditionalisten überlassen werden, noch
darf es sträflicherweise aufgegeben werden, weil man dort zu Recht ein
Einfallstor nationaler Propaganda vermutet. Wertkritik heißt nicht bloß zu
zeigen, dass die Wertvergesellschaftung eine paradoxe Gesellschaftsform
darstellt, sondern auch, dass selbst die immanenten "Fortschritte"
sich gleichsam erschöpfen, d.h. von der Unmöglichkeit in der Unmöglichkeit zu
sprechen, nicht die Möglichkeiten in der Unmöglichkeit herbeizuphantasieren.
Jene verlangt aber auch: Kein Feld, kein Thema ist ob seiner Widrigkeiten
auszuschließen.
In diesem
Zusammenhang wird es wichtig sein, den Realismus gründlich zu demaskieren (vgl.
ansatzweise Robert Kurz, Der Zusammenbruch des Realismus, Krisis 14), ja überhaupt
Wünsche und Vorschläge nicht dem Kriterium der Sachlichkeit unterzuordnen. Wer
heute bloß einfordert, was aktuell erfüllbar erscheint, domestiziert sich zum
Erfüllungsgehilfen der Herrschaft. Darf man also Unrealistisches fordern?
Zweifellos, man muss es sogar. Aber um seriös zu bleiben, hat man gleichzeitig
die Unhaltbarkeit desselben mit in die Debatte bringen. Das klingt vorerst
etwas verrückt, aber nur diese Verrückung lässt einerseits ein konsequentes und
konkretes Nein zu den Zumutungen zu, ohne gleich wieder selbst den Illusionen
aufzusitzen.
Die Alternative dazu wäre ein
abstraktes Nein, doch das hilft nicht viel weiter. Was strategische Option
meint, ist diesseits von Attentismus und reiner Kritik. "Wer nicht Nein
sagt zur kapitalistischen Totalität, dem geschieht es schon recht, den
kapitalistischen Zumutungen ausgeliefert zu werden", dieser zynische und
elitäre Standpunkt ist unserer nicht. Zwar lässt sich Arroganz gegenüber
diversen Beschränkungen nie so ganz vermeiden, sie sollte sich allerdings nicht
zur Tugend erheben. Notorische Besserwisser gibt es schon genug.
Wie Kritik sich nicht auf Erfahrung
reduzieren darf, so darf sie diese auch nicht subtrahieren. Damit ist kein
plattes Anknüpfen zu verstehen, wohl aber ein Auslegen und Darlegen derselben,
ein Kenntlichmachen ihrer formbestimmten Resonanz. Das ist aber doch etwas
anderes als ein schlichtes Abtun. Übersetzungen sind notwendiger denn je, will
Kritik auch verstanden werden, nicht eine Geheimwissenschaft einiger
Erleuchteter bleiben. Solche Kritik, da mag sie noch so niveauvoll und
substanziell sein, wird über kurz oder lang in ihrer Abgehobenheit verhungern.
Solange keine Perspektive in Sicht,
d.h. eine solche weder begreifbar geschweige denn greifbar ist, wird der
Widerstand aber immer in die alten Formen zurückfallen, wird er retten wollen,
was zu retten ist, auch wo gar nichts zu retten ist. Dieses Festhalten an
vermeintlich emanzipatorischen Errungenschaften der Zivilisation gegen diese wird
selbst immer weggetretener. Der positive Bezug auf herkömmliche Versatzstücke
von Formprinzipien ist übrigens etwas, das von Bahamas bis ATTAC gar viele
vereint. Ob dann mehr der Amoklauf oder die Biederkeit als Fluchtpunkt dient,
ist oftmals eine Frage der persönlichen Psyche. Über die in Zukunft
wahrscheinlich mehr gesprochen werden muss, als dies bisher üblich gewesen ist.
In etwa: Wie konstituiert sich der Gesellschaftskritiker? Warum neigt dieses
fragile Konstrukt in seiner Negation der Charaktermasken so überproportional
zum Irresein? Welchen Stellenwert hat der grassierende Obskurantismus in der
radikalen Linken? Nicht, dass wir das jetzt alles wüssten, aber fragen wird man
schon noch dürfen, nein: müssen!
***
Die Krisis schert
einmal mehr aus. Nicht nur Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit stehen zur
Disposition, nein, ebenso Aufklärung und Zivilisation, Vernunft und
Sachlichkeit. Man wird sich ihrer ganz frevelhaft, vor allem ohne vornehme
Zurückhaltung annehmen. Intensive Beschäftigung ist angesagt. Nicht nur ein
Vorgeschmack, sondern bereits der erste Gang befindet sich in dieser Ausgabe.
Wir wünschen guten Appetit und natürlich einen guten Magen, ob der nicht immer
leicht verdaulichen Kost.
Eröffnet wird das
Menü mit dem Beitrag Die Aufklärung
und ihre Kehrseite. Zur Rettung einer "banalen Einsicht"
von Claus
Peter Ortlieb. Angesichts der
allgemeinen Aufklärungs-Renaissance nach dem 11. September insistiert er auf
dem Grundgedanken der "Dialektik der Aufklärung", dass der
Irrationalismus der Aufklärungsvernunft nicht fremd und äußerlich
gegenübersteht, sondern in ihr selbst angelegt ist. Weil die neuzeitliche
Vernunft, die Vernunft der bürgerlichen Epoche, sich allein auf die Form und
nicht auf den Inhalt des Denkens bezieht und das Gefühl zu einem ihr
feindlichen Prinzip erklärt, bringt sie notwendig die Gegenaufklärung als ihr
Komplement hervor. Beiden gemeinsam ist, dass sie Denken und Fühlen voneinander
isolieren, der Unterschied liegt nur in der Betonung des einen oder anderen.
Angesichts dieser Scheinalternative eine Lanze für die Aufklärung zu brechen,
verkennt den Zusammenhang mit ihrer Kehrseite, verkennt die Selbstdestruktion
der Aufklärung, die in ihrer Eigendynamik freilich über die bürgerliche
Gesellschaft keineswegs positiv hinaus, sondern vielmehr auf die Zerstörung von
Gesellschaftlichkeit überhaupt verweist.
Diese Diagnose wirft
die Frage auf, wie denn dann Kritik überhaupt noch möglich sein soll. Ortlieb
wendet sich gegen den Vorwurf, wer sich weigere, im aktuellen Krieg der spiegelbildlichen
Wahnsysteme von Islamismus und "westlichen Werten" Partei zu
ergreifen, suggeriere eine Position außerhalb der Totalität. Wäre dieser
Vorwurf schlüssig, träfe er jede Kritik am gesellschaftlichen Ganzen und würde
sie damit für unmöglich erklären. Doch so beschränkt sind die Mittel der
Aufklärung und die Möglichkeiten rationalen Denkens und Argumentierens nun auch
wieder nicht. Die Trennung von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt
schließt nicht aus, sich selbst, das eigene Denken oder auch die Totalität der
Gesellschaft, in der man sich bewegt, zum Erkenntnisobjekt zu machen. Kritik
der Aufklärungsvernunft heißt nicht, dass wir nicht in ihren Formen denken
müssten; als kapitalistisch konstituierte Individuen können wir gar nicht anders.
Das schließt ein Bewusstsein von der eigenen Situation, das verbunden ist mit
der Hoffnung, aus ihr hinauskommen zu können, aber nicht aus.
Auch Norbert Trenkle setzt
sich in seinem Text Gebrochene Negativität
mit der Aufklärungskritik von Horkheimer und vor
allem von Adorno auseinander. Er zeigt, dass diese Kritik trotz ihrer fraglosen
Radikalität sich letztlich selbst zurücknehmen muss, weil sie bestimmte
Basisannahmen der Aufklärung teilt und nicht in Frage stellt. Das Grundproblem
besteht darin, dass Horkheimer und Adorno mit einem historisch unspezifischen
Begriff von Vernunft operieren. Die neuzeitliche Vernunft erscheint als
logischer Kulminationspunkt einer Entwicklung, die im Grunde schon mit der
Menschwerdung überhaupt, mit der Ablösung des Menschen von der Natur, beginnt.
Der qualitative Bruch, den die Aufklärungsvernunft mit ihrem strikten
Formalismus und ihrer Subjekt-Objekt-Spaltung gegenüber dem Denken früherer
historischer Epochen darstellt und der sie als spezifisch historische, an die
Warengesellschaft gebundene Denkform ausweist, gerät darüber in Vergessenheit.
In dieser Hinsicht stehen Horkheimer und Adorno mit beiden Füßen auf dem Boden
der Aufklärung, die sich bekanntlich ja zum Höhepunkt einer
epochenübergreifenden, universellen Entwicklung menschlicher Reflexion
mystifiziert hat, um sich damit zugleich der Kritik zu entheben.
Spiegelverkehrt pessimistisch reproduzieren die beiden Autoren diese
Mystifizierung und kommen daher auch nicht umhin, die bürgerliche Gesellschaft
als historisch notwendigen Fortschritt auf dem Weg einer möglichen menschlichen
Emanzipation zu verklären. Auch wenn diese Möglichkeit vertan wurde, vermeinen
sie doch, in der Aufklärungsvernunft zumindest noch ein "Residuum von
Freiheit" zu entdecken, das Anlass zur Hoffnung gibt. Die Kritik am
herrschaftlichen Charakter insbesondere des Kantschen Denkens muss daher
ständig zurückgenommen werden - notfalls auch gegen Sinn und Wortlaut des
Textes. Dagegen hält Trenkle, dass die "Begierde der Rettung" nicht
in der Aufklärung, sondern trotz ihr fortlebt. Dass es der Aufklärung entgegen
aller Anstrengung nicht gelingt, den Gedanken an Befreiung von Herrschaft
auszulöschen, ist ihr nicht als Verdienst anzurechnen, sondern verweist nur
darauf, dass sie an ihrem eigenen totalitären Anspruch scheitert. Insofern gibt
es nichts zu Ende zu bringen, was die bürgerliche Gesellschaft verraten oder
verdrängt hätte.
Diesen Grundgedanken
spitzt Robert Kurz in seinen 20 Thesen gegen die so genannte Aufklärung und
die "westlichen Werte" unter dem bezeichnenden Titel Blutige Vernunft weiter
zu. Die apodiktische Thesenform rechtfertigt sich durch die unsägliche mediale
Wiederaufbereitung von Eurozentrismus, Aufklärungshuberei und
Selbstglorifizierung des westlichen Gesamtimperialismus nach dem 11. September,
als hätte es nie eine kritische Reflexion über die "Dialektik der
Aufklärung", über Kolonialismus, "Subjekt",
"Fortschritt" usw. gegeben. Hatte sich diese Tendenz schon bei den
demokratischen Bombenphilosophen in den Weltordnungskriegen der 90er Jahre
angedeutet, so ist sie nun hemmungslos und gesellschaftlich allgemein geworden,
bis in das linksradikale Restsegment hinein.
Deshalb geht es dem polemischen "Thesen-Anschlag" von Robert Kurz um
eine längst überfällige intellektuelle Polarisierung in der Neuformulierung
radikaler Kapitalismuskritik.
Mit der Kritik der
Arbeitsontologie ist die Kritik der bürgerlichen Konstitution noch nicht
vollendet; sie muss auch durch die repressiven statt befreienden Konstrukte des
in der modernen Theoriegeschichte sedimentierten Aufklärungsdenkens hindurch;
erst dann ist der Rubikon überschritten. Dieser entscheidende Schritt der
Wertkritik ist allerdings nicht möglich, ohne das geschlechtliche
Abspaltungsverhältnis systematisch aufzunehmen, wie es bislang eher parallel
zur Theoriebildung der Krisis hauptsächlich in den Texten von Roswitha Scholz
thematisiert wurde. Nur auf diesem Weg ist eine emanzipatorische radikale
Kritik der Aufklärung möglich, die das Verhältnis von Aufklärung und
reaktionärer Gegenaufklärung als negative Identität und als innerbürgerlichen
Scheingegensatz dechiffrieren kann, ohne sich auf die falschen Alternativen der
an ihr Ende gelangten kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte vergattern zu
lassen.
Die Verweigerung
einer Parteinahme im Kampf des westlichen Gesamtimperialismus gegen seine
eigenen Barbarisierungsprodukte, in der aktuellen Situation die einzig mögliche
wertkritische Position gegen das Ganze des weltgesellschaftlichen
Bezugssystems, muss fundiert werden durch eine Kritik des blutigen immanenten
Wechselspiels von kapitalistischer Rationalität und Irrationalität. Der
vorliegende Thesentext versteht sich als Einstieg in diese Auseinandersetzung
um den Zusammenhang von Wertvergesellschaftung, Abspaltungsverhältnis und bürgerlich-identitätslogischem
Aufklärungsdenken. Es ist bewusst keine betulich differenzierende und
relativierende Abhandlung mit Verbeugungen nach allen Seiten, sondern auch der
Form nach eine scharfe Positionsbestimmung, die zum Ärgernis und Stachel für
das in der radikalen Linken noch lange nicht überwundene
"männlich"-identitätslogische Aufklärungsdenken werden will, wie es
sich in den affirmativen Exzessen der letzten Monate von seiner dümmsten und
hässlichsten Seite gezeigt hat.
Einem anderen nicht
weniger aktuellen Thema wendet sich Ernst
Lohoff in seinem Beitrag Antikapitalistisches Frühlingserwachen? zu: der "Antiglobalisierungsbewegung". Auch
wenn die verbreitete Euphorie sicherlich übertrieben war, die nach Genua
bereits eine neue APO zu erkennen glaubte, stellt der Protest doch zweifellos
einen oppositionellen Aufbruch nach langen Jahren der Bewegungsflaute dar.
Darüber hinaus birgt er auch einige neue Qualitäten, wozu insbesondere sein
transnationaler Charakter, aber auch sein Verzicht auf Vereinheitlichung,
hierarchische Strukturen und identitäre Abgrenzung gehört. Doch diese Momente
stellen zugleich auch eine Schwäche dar, denn sie verweisen auf eine äußerst
unklare gesellschaftskritische Ausrichtung. Die proklamierte und praktizierte
Offenheit ist oft nicht viel mehr als das beliebige Nebeneinander unvereinbarer
Positionen. Darin birgt sich die Gefahr einer Fremdbestimmung durch den Markt
der Meinungen und die Vorgaben der offiziellen Politik, die das Ringen um
Autonomie zur Farce macht. Dagegen hält Lohoff, dass die bewusste Abkehr von
der Vorstellung des politischen Einheitssubjekts weder Verbindlichkeit und
Kohärenz noch die klare Abgrenzung des kritischen vom herrschenden Bewusstsein
überflüssig macht. Eine radikal gesellschaftskritische Strömung kann sich nur
formieren, indem sie beides in einer gegenüber dem alten Subjektmodus
veränderten Weise herstellt.
Radikale
Gesellschaftskritik darf sich nicht einreden, der Antiglobalisierungsprotest
gehe schon von selbst in die richtige Richtung. Noch verkehrter ist es
allerdings, ihn einfach nur äußerlich abzukanzeln - eine insbesondere in den
Kreisen, die mit einem ideologiekritischen Reduktionismus operieren,
verbreitete Unsitte. Wer sich weigert, im Dubiosen am
Anti-Globalisierungsprotest wesentlich auch die Misere gesellschaftskritischer
Theorieproduktion wiederzuerkennen, verrät völlige Ignoranz gegenüber der
Frage, wie sich Widerstand und kritisches Bewusstsein unter den heutigen
Bedingungen überhaupt formieren können und welche Rolle gesellschaftskritische
Theorie dabei selber spielen kann. Eine praktische Neuorientierung auf
radikalen Antikapitalismus ist nur denkbar, wenn sie mit einer theoretischen
Neubestimmung zusammenfindet. Kritische Kritik, die als Gralshüter eines
vorgeblich feststehenden antikapitalistischen Wissensschatzes auftritt,
kaschiert mit ihrer Beckmesserei nur ihre eigene Zahnlosigkeit, ihr eigenes
Versagen.
Im gleichen
thematischen Zusammenhang nimmt Anselm Jappe
sich in Des Proletariats neue Kleider jenes Buch vor, das
derzeit im globalisierungskritischen Spektrum große Furore macht und von
einigen sogar als das Kommunistische Manifest des 21. Jahrhunderts gefeiert
wurde: "Empire" von Michael Hardt und Antonio Negri. Jappe kann diese
Einschätzung gelinde gesagt nicht teilen. Er sieht in dem Buch im Grunde nur
eine postmodern veredelte Neuversion des italienischen Operaismus der siebziger
Jahre, der seinerseits nichts anderes war als eine Neuversion des
Traditionsmarxismus. Was darüber hinwegtäuschen mag, ist zunächst vor allem der
eklektische Umgang mit Theorie, wie ihn Hardt und Negri an den Tag legen, und
die Tatsache, dass nicht mehr vom guten alten Proletariat, sondern von der
"Multitude" geredet wird, die sich bei näherem Hinsehen aber nur als
dessen Wiedergeburt entpuppt. Hatte etwa der Operaismus in seiner radikalen
Subjektemphase die Kämpfe der Arbeiterklasse und anderer Ausgebeuteter zum
eigentlichen Motor der gesamten historischen Entwicklung des Kapitalismus,
einschließlich seiner Krisen, verklärt, so soll nun auch die Herausbildung des
supranationalen Empire eine Reaktion der Souveränität auf den Druck der
"Multitude" gewesen sein.
Insgesamt ist das
Buch theoretisch sehr viel altbackener, als es zu sein vorgibt. Zu einer Kritik
des gesellschaftlichen Formprinzips dringt es nicht ansatzweise vor und eine
ökonomiekritisch entwickelte Krisenanalyse sucht man vergeblich, auch wenn
andauernd von der Krise die Rede ist, die aber nur das ganz normale
Funktionieren des Kapitalismus anzeigen soll. Es verwundert daher auch nicht, dass
von einer kategorialen Arbeitskritik in Empire nichts zu finden ist. Im
Gegenteil. Ganz wie im traditionellen Marxismus wird die Arbeit sogar zum
Ausgangspunkt der Emanzipation, wobei es allerdings nun die "immaterielle
Arbeit" sein soll, der diese Ehre zukommt. Begrifflich gerät dabei einiges
durcheinander. Die Kooperation soll der immateriellen Arbeit völlig immanent
sein, sie trete nicht von außen hinzu. Deshalb könne diese Arbeit sich selbst
verwerten und sei kein variables Kapital. Kein Wunder, dass dieses Loblied der
lebendigen Arbeit die mehr als bloß dubiose Vorstellung nach sich zieht, sie
werde von der ihr äußerlichen, toten Arbeit ausgesaugt wie von einem Vampir.
Im Kommentar- und
Debattenteil knüpft Udo Winkel
zunächst am Schwerpunkt dieser Krisis-Nummer an und
legt einige Unsystematische Gedanken zur
Aufklärungsproblematik vor. Es folgt
der Artikel von Roger Behrens Jeder ist sein eigenes Würstchen. Oder: Naive und kritische
Theorie - eine nicht ganz unpolemische
Besprechung des Buches von Axel Honneth "Das Andere der
Gerechtigkeit". Anschließend liefert Ernst
Lohoff in Frankenstein kann es nicht
richten einige kritische Anmerkungen zu
Anselm Jappes Artikel "Gene, Werte, Bauernaufstände" aus Krisis 24.
Die Debatte zu diesem Text wird in der nächsten Nummer fortgesetzt. Torsten Liesegang nimmt
in Die Wiederkehr
der Popliteratur als Farce die literarischen Ergüsse einer jüngeren Generation von Modeautoren wie Benjamin
von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Florian Illies u.a. auseinander. Es folgt
ein weiterer Artikel von Ernst Lohoff,
Die Geister, die sie riefen, in dem vor aktuellem Hintergrund die Korruption als
endogenes Phänomen des Kapitalismus analysiert wird. Und abschließend
rezensiert Udo Winkel in Legende vom
Werden und Mythos der Nation zwei
neuere Publikationen von Patrick J. Geary und Andreas Dörner, die sich kritisch
mit der Nationenbildung in Europa und in Deutschland auseinandersetzen.
Es bleibt der
Ausblick auf die nächste Nummer: Sie wird sich schwerpunktmäßig mit dem
Verhältnis von gesellschaftskritischer Theorie und Praxis auseinandersetzen,
eine Fragestellung also, die ganz unmittelbar auch die Krisis selbst und ihre
Aktivitäten betrifft, weshalb ihre Behandlung natürlich auch selbstreflexiven
Charakter haben wird. Außerdem werden weitere Beiträge zur Kritik der
Aufklärung folgen, ein Schwerpunkt, der uns noch über längere Zeit beschäftigen
wird. Auf Widerspruch zu den in dieser Krisis-Ausgabe dazu veröffentlichten
Artikeln, die auch unter uns nicht unumstritten waren, sind wir gefasst. Ja wir
würden uns wundern, käme er nicht. Es sei also dazu eingeladen, ihn auch
schriftlich zu äußern. Die Debatte ist eröffnet.
Ankündigungen sind an
dieser Stelle schon viele gemacht worden, doch da wir es mit dieser Nummer
geschafft haben, weitgehend in unserem Zeitplan zu bleiben - woran die
Tätigkeit der neuen Redaktion nicht ganz unschuldig war - wagen wir die
Aussage, dass Krisis 26 noch im Spätherbst dieses Jahres erscheinen wird.
Franz Schandl und Norbert Trenkle für die Redaktion
Aus dem Editorial der krisis 25, 2002
Udo
Winkel
UNSYSTEMATISCHE
GEDANKEN ZUR AUFKLÄRUNGSPROBLEMATIK
Diskussionsbeitrag
zur Aufklärungs- und Wissenschaftsproblematik angeregt durch die vorgelegten
Artikel und Papiere und den kontroversen Diskurs
Du glaubst, du seist dem Kloster entronnen? Es
muss jetzt jeder sein Leben lang ein Mönch sein
Sebastian
Franck
Wenn wir die Warensubjekte kritisieren, heißt
das nicht, dass wir schon keine mehr wären
Claus Peter Ortlieb
I.
Wer die
Aufklärung zum notwendigen Ausgangspunkt für jedes kritische Denken und
jegliche Reflexion erklärt, wie in sich widersprüchlich und dialektisch diese
auch gesehen werden mag, kann sich darauf berufen, dass sie natürlich Bedingung
der Möglichkeit der Reflexion in der und über die Moderne ist und in-
sofern unhintergehbar bleibt. Jede Fetischform bringt notwendigerweise, durch
die vollzogene Objektivierung ein "Subjekt-Objekt-Verhältnis" und
damit Reflexion hervor, wie mystifiziert diese auch sein mag. Die Aufklärung
kritisiert die Fetischformen der vorbürgerlichen Gesellschaften, wobei die
Religionskritik nicht über den Priesterbetrugsvorwurf hinauskommt. Noch Lenin
bezeichnete die Religion als "Opium fürs Volk", eine Verballhornung
des jungen Marx, der in Anknüpfung an Feuerbach ("Der Mensch schuf Gott
nach seinem Bilde") und ihn transzendierend vom "Opium des
Volks" gesprochen hatte: "Das religiöse Elend ist in einem der
Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das
wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt
einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist."(Karl
Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, in: Karl Marx /
Friedrich Engels Studienausgabe, Bd. 1, Ffm 1966, S. 17) Eine Kritik der
Aufklärung auf ihrem Boden kommt nicht über den Stand von Adornos und
Horkheimers "Dialektik der Aufklärung " oder Adornos Kantkritik
hinaus; ihre Apologeten fallen zumeist weit hinter ihre Vorbilder zurück. Auch
das Aufklärungsdenken bleibt "Geist geistloser Zustände", eben Geist
der fetischisierten, verdinglichten und verselbständigten Beziehungen in der
bürgerlichen Gesellschaft. "Geistvolle Zustände" wären erst solche,
die durch bewusstes, Bedingungen und Folgen berücksichtigendes, menschliches
Handeln hergestellt werden.
II.
In jeder
Wissenschaftsgeschichte ist nachzulesen: Die moderne Wissenschaft beginnt seit
der Renaissance als Naturwissenschaft, deren Ergebnisse dann auch auf die
Gesellschaft übertragen werden, so auch im Selbstverständnis der Protagonisten.
Noch Comte sah seine Soziologie als die Krönung der Naturwissenschaften
an. Doch was bedeutet Beobachten, Messen, Quantifizieren und labormäßiges
Umgehen mit der Realität anderes als die Zurichtung der äußeren Natur und auch
der inneren menschlichen. Es geht hier nicht, wie auch kritische
Wissenschaftler annehmen, um Übertragung naturwissenschaftlicher Theoreme und Methoden,
etwa der Mechanik, auf die verdinglicht Gesellschaft, sondern um den
Blickwinkel der "zweiten Natur" auf die erste, ihre Verfügbarkeit und
Benutzbarkeit. Schon Francis Bacon schrieb sowohl über die neue Wissenschaft
Novum Organum (= das neue Werkzeug), die uns Macht über die Natur verleiht, als
auch über die neue Gesellschaft Nova Atlantis, die kraft der neuen Wissenschaft
zu einem irdischen Paradies werden soll. Die so konzipierten
Naturwissenschaften waren ein wesentliches Moment der Herausbildung der
kapitalistischen Produktionsweise und, in der industriellen Revolution, ihrer
endgültigen Durchsetzung. Hobsbawn spricht hier zu recht in Bezug auf die
politische französische und die industrielle englische von einer
"Doppelrevolution".
III.
Paradigmatisch
für die Auseinandersetzung mit der Aufklärung bleibt der "doppelte
Marx": Der historisch gewordene exoterische Marx der Arbeiterbewegung, der
wie diese dem Aufklärungsdenken verhaftet blieb, und der esoterische, erst
heute in sein Recht tretende, fundamentale Kritiker der bürgerlichen
Gesellschaft. Wobei neben der "Kritik der politischen Ökonomie" auch
eine Beschäftigung mit Marx' Frühschriften, seine Kritik Hegels und der
Deutschen Ideologie lohnend bleibt. So schreibt Marx etwa in seiner
Proudhon-Kritik, "dass alles, was existiert, dass alles was auf der Erde
und im Wasser lebt, durch Abstraktion auf eine logische Kategorie zurückgeführt
werden kann, dass man auf diese Art die gesamte wirkliche Welt ersäufen kann in
der Welt der Abstraktionen, der Welt der logischen Kategorien - wen wundert
das?" (Karl Marx: Elend der Philosophie, in MEW 4, S. 127-28)
IV.
Da die
fetischistische Subjekt-Objekt-Spaltung notwendigerweise den
"weiblich" besetzten, emotionalen Bereich, der nicht in Rationalität
und im System aufgeht, abspalten muss, tritt dieser immer wieder in
mystifizierter Gestalt in Erscheinung. So etwa, wenn die Lebensphilosophie das
Kantsche Ding an sich in den buchstäblichen Lebenstrieb verwandelt. Damit
bleiben Aufklärung und Gegenaufklärung oder Aufklärungskritik polar aufeinander
bezogen, oberflächlich sich ausschließend, doch wesentlich sich gegenseitig bedingend
und daher auch im Zusammenhang zu kritisieren. Um Sombart zu paraphrasieren:
wir wollen auf dem kapitalistischen Höllenfeuer weder rational gesotten noch
irrational. gebraten werden. Der Irrationalismus bleibt die Kehrseite des
Rationalismus.. Wenn Claus Peter Ortlieb in seinem Beitrag in dieser Krisis-Ausgabe schreibt, dass der Antisemitismus
"zum ganz normalen Wahnsinn des Aufklärungsdenkens" gehört, ist
dieser Zusammenhang angesprochen. Lessing kann in "Nathan dem Weisen"
die Gleichberechtigung der
Juden
postulieren ("Ringparabel"; im Vergleich zu Judentum und Islam
schneidet das Christentum übrigens zu Recht am schlechtesten ab), einige
Jahrzehnte später vertritt der berüchtigte Turnvater Jahn einen völkischen
Antisemitismus, der überhaupt in der Romantik eine weite Verbreitung findet:
Der Beginn des modernen Antisemitismus ist tatsächlich eine Ausgeburt des
Aufklärungs-Gegenaufklärungs-Syndroms.
V.
Gerade weil die
Aufklärungsvernunft abstrakt formbestimmt ist, kann sie als ahistorische
überhistorisch jedwedem Interesse subsumiert werden. Gegen die Privilegien der
vorbürgerlichen Gesellschaft standen die großen Postulate der französischen
Revolution für die Freiheit und Gleichheit der bürgerlichen Monade in der
subjektlosen Form. Die Brüderlichkeit blieb in der Konkurrenz auf der Strecke;
von Schwesterlichkeit war überhaupt nicht die Rede. Schon der junge Marx hat die
bürgerlichen Denker kritisiert, dass es für sie zwar eine Geschichte gegeben
habe, aber keine mehr gäbe. Hatte noch Voltaire den Absolutismus als
"beste aller Welten" verspottet, schien diese mit der Durchsetzung
des Aufklärungsdenkens nun erreicht. Es gibt nur noch Bewegung und Veränderung
innerhalb der Form - so noch ausdifferenziert und variationsreich in der
Luhmannschen Systemtheorie -, ihre Sprengung ist nicht mehr vorgesehen. Auch
die Arbeiterbewegung verstand sich als Streiterin gegen die ja tatsächlich noch
vorhandenen Privilegien, setzte auf die politische Revolution, die, wie schon der
junge Marx wusste, "die Grundmauer stehen lässt", und setzte in ihrem
Kampf erst die Verallgemeinerung des bürgerlichen Individuums durch. Doch die
politische Emanzipation ist die "letzte Form der menschlichen Emanzipation
innerhalb der bisherigen Weltordnung". (Marx)
VI.
Claus Peter
Ortlieb (ebd.) geht richtig da- von aus, dass "das begriffliche Denken,
wie es die Aufklärung hervorgebracht ...hat, ... die Trennung von erkennendem
Subjekt und erkanntem bzw. zu erkennenden Objekt" voraussetzt. Anders als
in der "Form der Subjekt- Objekt-Trennung", "lässt sich Analyse
und Kritik nicht" nur "darstellen", wenn "sie sich in
dieser Gesellschaft verständlich machen" will, sondern sie ist in dieser
Formbestimmtheit überhaupt nur möglich.
Die
Soziologie kann so Gesellschaft nur als durch soziales Handeln konstituiert, im
Anschluss an Max Weber, oder als vorgegebene "realite sui generis",
im Anschluss an Emile Durkheim, fassen (siehe hierzu meine Thesen
"Objektivismus und Subjektivismus in der Soziologie" in Krisis 24).
Auch der Marxismus bleibt in der Polarität von gesellschaftlichen Naturgesetzen
und politischem, sprich voluntaristischem Handeln befangen; Diamat und
Personenkult bedingen sich. Erst die Zusammensicht im Anschluss an Marx - die
von den Menschen konstituierten Verhältnisse verselbständigen sich ihnen
gegenüber, der Mensch wird vom eigenen Produkt beherrscht - führt im Denken und
in der Reflexion über diese Dichotomie hinaus, wobei ohne Sprengung der Form
die reale Paradoxie natürlich weiter reproduziert wird. Erst von hier aus wird
das Begreifen der Geschichtlichkeit der gesellschaftlichen Formen und die
Dechiffrierung der Fetischformen als bewusstes Moment möglich. Schon der junge
Marx formuliert in der "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" - in
Transzendierung der junghegelianischen Religionskritik - als Aufgabe: "Es
ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht,
nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung (in ihren unheiligen
Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die
Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik
der Theologie in die Kritik der Politik" Marx/Engels Studienausgabe, ebenda, S.
18) und, so wäre zu ergänzen, die positive Wirtschaftswissenschaft in die
"Kritik der Politischen Ökonomie". Und auch daran sei erinnert, dass
er hier dem Kantschen kategorischen Imperativ der Aufklärung entgegensetzt:
"Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste
Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle
Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein
geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist..." (ebenda, S.
24)
Inzwischen
ist die "Gestalt" des Kapitalismus "alt geworden" und die
"Eule der Minerva beginnt ihren Flug" tatsächlich erst "in der
Dämmerung" (Hegel). Die Unhaltbarkeit der Zustände ermöglicht überhaupt
erst eine transzendierende Perspektive. Doch ob wir diese bewusst "ins
Jenseits der bestehenden Gesellschaft" (Luxemburg) setzen können, ist
letztlich eine praktische Frage. Notwendig bleibt der qualitative Bruch, wie
ihn schon Marx in der "Deutschen Ideologie", freilich im
klassentheoretischen Verständnis, formulierte: "... dass sowohl zur
massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung
der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur
in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass
also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine
andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur
in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu
schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu
werden." (ebenda, S. 132). Veränderung und Selbstveränderung als Momente
einer "umwälzenden Praxis" bleiben das einzige Mittel gegen die drohende
Barbarei. Der "theoretische Pol" kann und muss kritisch versuchen,
Einschätzungen von entstehenden Bewegungen zu leisten und mögliche
Perspektiven deutlich zu machen. Dazu gehört auch, die Perspektivlosigkeit des
Aufklärungsdenkens aufzuzeigen. Hier hat Ideologiekritik ihren Stellenwert:
"Wenn der Purpur fällt, muss auch der Herzog nach" (Schiller).
"Im positiven
Bezug auf die Aufklärung sind sich die Kriegstrommler freilich mit ihren
friedensbewegten Gegnern durchaus einig."
Claus Peter Ortlieb
DIE AUFKLÄRUNG
UND IHRE KEHRSEITE
Zur Rettung einer "banalen
Einsicht"
"Natürlich sind die islamistische Ideologie
und ihr Terror nur die Kehrseite der
bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Zivilisation.
Und die Linken kommen jetzt allerorten
mit dieser banalen Einsicht wie mit
dem Ei des Columbus daher." 1
Als ein
scheinbar probates Rezept gegen die offensichtliche Irrationalität der
islamistischen Selbstmordattentate auf das World Trade Center und das Pentagon
feiert nach dem 11. September 2001 die im Sumpf der Postmoderne bereits
versunken geglaubte Aufklärung ihre Wiederauferstehung. Jedenfalls ist sie und
sind die "westlichen Werte", die es gegen diesen "Akt der
Barbarei" zu verteidigen bzw. in Stellung zu bringen gelte, seither in
aller Munde.
Die
Aufklärung als letzter Rettungsanker
Ganz
im Sinne von Huntingtons "Kampf der Kulturen" bringen die
Bellizisten, von Berlusconi bis zu den Bahamas, mehr oder weniger
unverhohlen zum Ausdruck, dass unter dem von den Terroristen angegriffenen
"zivilisierten Teil der Menschheit" der "abendländische" zu
verstehen sei. Im "Krieg gegen den Terror" sind die Reihen fest zu
schließen und dazu erst einmal die Verräter in den eigenen Reihen dingfest zu
machen: "Mit ihrem Multi-Kulti-Gewese betreiben saturierte Alt-68er Verrat
an der Aufklärung", so etwa die Bahamas, während Berlusconi da eher
die militanten Globalisierungsgegner im Auge hat.
Im
positiven Bezug auf die Aufklärung sind sich die Kriegstrommler freilich mit
ihren friedensbewegten Gegnern durchaus einig. Ulrich Wickert etwa, zur
Institution gewordener Gutmensch des Deutschen Fernsehens, der es immerhin
wagte (dann aber angesichts des öffentlichen Aufschreis und drohender
persönlicher Konsequenzen sogleich wieder den Kopf einzog), Osama bin Laden und
George W. Bush die gleichen Denkstrukturen nachzusagen, bezieht sich dabei mit
einem Voltaire-Zitat ebenfalls auf die westlichen Werte der Aufklärung,
insbesondere die "Toleranz".
Offenbar
lässt sich heute so gut wie jede politische Position unter Berufung auf die
Aufklärung begründen, der damit eine ähnliche ideologische Bedeutung zuwächst
wie dem christlichen Glauben im Dreißigjährigen Krieg. Das allerdings könnte
darauf verweisen, dass es mit dem Rekurs auf die Aufklärung nicht mehr so weit
her ist und sie nach ihrer Wiedererweckung nur noch ein Gespensterdasein
fristet. 2
Schließlich
scheinen die Gewichte anders verteilt, spielen völkische, offen antisemitische
und antiamerikanische Haltungen ebenso wie etwa der vor allem in den USA
beheimatete protestantische Fundamentalismus eine immer größere Rolle,
Positionen also, die sich selber in die Tradition der Gegenaufklärung stellen und
nicht erst von ihren jeweiligen Gegnern dorthin gestellt werden müssen. Die für
die weit überwiegende Mehrheit ja zu keiner Zeit tatsächlich eingelösten
"Versprechen der Modeme" haben ihren Glanz verloren, ihnen wird
schlicht nicht mehr geglaubt. Da andererseits ein kritisches Bewusstsein der in
der Warengesellschaft selbst liegenden systemischen Ursachen dafür fehlt, hat
die Gegenaufklärung seit etlichen Jahren erheblichen Zulauf. Zu besichtigen ist
das aktuell an den im "Kampf gegen das Böse" sich wähnenden
Gotteskriegern aller Couleur, auch denjenigen, die sich dabei auf die
Aufklärung berufen. Auf der anderen Seite umstellt sich die Zivilgesellschaft
mit immer mächtigeren Sicherheitsapparaten, um die bürgerlichen Freiheiten
lieber selbst abzuschaffen, bevor der unsichtbare, als außen stehend
imaginierte Feind es tut, ein Selbstmordattentat der besonderen Art, dessen
verquere Logik auch den Kabarettisten natürlich nicht entgangen ist.
Seit
Horkheimers und Adornos "Dialektik der Aufklärung" 3 ist
mehr als nur eine Ahnung davon möglich, dass Vernichtungswahn und Gewaltexzesse
keine aus der Urgeschichte immer mal wieder hervorbrechenden, angeblich dem
nach wie vor ungebändigten Tier im Menschen geschuldete Atavismen, sondern
vielmehr genuine Produkte der Moderne sind, dass es also die Aufklärung selbst
ist, die ihr scheinbares Gegenteil hervorbringt. Wie das geschieht und welche
Strukturmerk- male der Aufklärung dafür verantwortlich sind, wäre mit Bezug auf
Horkheimer I Adorno und gegebenenfalls über sie hinaus zu untersuchen.
Ausgerechnet die Szene, für die Adorno das A und 0 aller Gesellschaftskritik
darstellt und deren Mitglieder sich zum Teil als "orthodoxe Adomiten"
bezeichnen, macht nun aber das direkte Gegenteil, indem sie die Erkenntnis des
Zusammenhangs von Aufklärung und Gegenaufklärung, von Zivilisation und Barbarei
einfach sistiert, um sich im Kampf der Kulturen beherzt auf eine Seite schlagen
zu können. In einer innerhalb von drei Tagen nach den Anschlägen vollzogenen
Kurzschluss-Reaktion von der Bahamas-Redaktion vorgemacht, wurde das in dem
über einige Wochen sich hinziehenden zivilgesellschaftlichen Diskurs in der Jungle
World ausgeführt, von dessen Übereinstimmung im Ergebnis dann wiederum die Bahamas-Redaktion
ehrlich verblüfft war. Die platten Werbeparolen "Fanta statt
Fatwa", "Sherry statt Sharia" in einer ehedem zumindest partiell
kapitalismuskritischen Zeitschrift fassen dieses Ergebnis adäquat zusammen.
Während die Zivilgesellschaft gerade dabei ist, sich aus Sicherheitsgründen
selbst zu massakrieren - schließlich befinden wir uns im Krieg -, werfen sich
ehemalige KritikerInnen ihr an den Hals, was Günther Jacob 4 zutreffend
so kommentiert: "Kritik am Kapitalismus ist gut und schön, aber wenn's
drauf ankommt, weiß man doch, was man an ihm hat." Dass er in den
Metropolen immer noch erträglicher ist als in Afghanistan oder anderen vom
Weltmarkt ausgespuckten Regionen, dient auch seinen neuen Freunden als ebenso
besinnungsloses wie zynisches Argument zu seinen Gunsten..
Theoretisch
ambitioniertere Autoren des antideutschen Spektrums versuchten sich
demgegenüber erst einmal in Schadensbegrenzung, was notwendigerweise zu
einigermaßen dunklen Formulierungen führen musste, nachzulesen etwa in dem
Artikel "Das Böse ist nicht das Böse" von Gerhard Scheit, aus dem das
Eingangszitat stammt. Dass "die islamistische Ideologie und ihr Terror nur
die Kehrseite der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Zivilisation" sind,
wird hier immerhin noch konzediert, zugleich aber als "banale Einsicht"
bezeichnet. Im laufenden Diskurs und bereits in dem Artikel[ selbst hatte das
ausschließlich die Funktion, die Einsicht ob ihrer Banalität sogleich zu
entsorgen, was denn auch von Erfolg 'gekrönt war: "Flugzeugbomben sind
nicht die Kehrseite der Moderne" ist ein Artikel von Martin Janz 5
untertitelt, der zur Begründung dieser Behauptung allerdings nichts beiträgt.
So weit her scheint es mit der Einsicht also auch in der radikal sich gebenden
Linken nicht zu sein.
Und
in der Tat ist sie alles andere als banal, sind die Untersuchungen und
Erkenntnisse von Horkheimer und Adorno doch eher verschüttet denn Allgemeingut.
Anders ist jedenfalls nicht zu erklären, dass jetzt die Aufklärung als
Heilmittel gegen eine Krankheit angepriesen wird, die sie selbst permanent
hervorbringt. Im Folgenden soll es darum gehen, die Konsequenzen der Aufklärung
und ihres Denkens ein wenig auszuleuchten, in der Hoffnung, damit die oben
konstatierte Einsicht etwas widerstandsfähiger zu machen, als sie zurzeit zu
sein scheint.
Der doppelte
Aufklärungsbegriff
"Seit
je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel
verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen.
Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm
der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen
und Einbildung durch Wissen stürzen." 6 Diese Sätze, mit
denen die "Dialektik der Aufklärung" beginnt, enthalten bereits das
ganze mit ihr intendierte Programm ebenso wie die damit verbundenen
theoretischen Probleme. Horkheimer und Adorno wollen zeigen, dass das im
Nationalsozialismus und in Auschwitz sich manifestierende "triumphale
Unheil" von der Aufklärung selbst hervorgebracht werde, dass also
Aufklärung in ihr Gegenteil umschlage. Dabei bedienen sie sich allerdings,
hierin dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, eines transhistorischen Begriffs
der Aufklärung, der mit der bürgerlichen Epoche, dem "Zeitalter der
Aufklärung", das sie doch erst in die Welt setzte, gar nichts zu tun hat,
sondern vielmehr ein allgemein menschliches Phänomen beschreibt. Horkheimer und
Adorno reproduzieren damit das Verständnis, das die Aufklärung von sich selbst
hat. Wäre nun aber auf dieser Basis ihr Programm tatsächlich durchführbar, das
notwendige Umschlagen von Aufklärung in Barbarei nachzuweisen, so bliebe nur
noch Resignation. Diese pessimistische Wende hat ihre Kritische Theorie in der
Tat vollzogen.
Es
zeigt sich freilich, dass ihnen der Nachweis nicht wirklich gelingt, jedenfalls
nicht auf der Grundlage des zunächst eingeführten Aufklärungsbegriffs. Was sie
für ihre Argumentation zusätzlich benötigen, ist die Verstrickung von
Aufklärung in Herrschaft, die in diesem Begriff der Aufklärung an sich nicht
enthalten ist, sondern von außen hinzukommt. Das wird dadurch verschleiert,
dass auch der Herrschaftsbegriff historisch nicht spezifiziert wird und
schwammig bleibt, indem etwa zwischen Naturbeherrschung ("den Menschen als
Herren einsetzen") und gesellschaftlicher Herrschaft nicht geschieden
wird. Letztlich bleibt dann aber die Formulierung von der Selbstzerstörung der
Aufklärung unbegründet, war nur alle bisherige Aufklärung keine "wirkliche
Aufklärung". 7
Es
fehlt der Nachweis, dass Aufklärung notwendig in Herrschaft verstrickt
ist. Mit dem transhistorischen Aufklärungsbegriff des allgemeinen
Sprachgebrauchs, den auch Horkheimer und Adorno einführen, kann er nicht
gelingen, sondern dazu ist ein Bezug auf die bisherige Aufklärung und somit ein
historischer Begriff derselben erforderlich, der die Aufklärung dort verortet,
wo sie entstanden ist, nämlich in der im 17. und 18. Jahrhundert sich
entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Implizit gehen Horkheimer und Adorno
auch gar nicht anders vor: Ihr Gegenstand ist die bürgerliche Gesellschaft und
deren Denken seit der Zeit der Aufklärung, selbst dort noch, wo sie deren
Verhältnisse in die frühe Antike rückprojizieren. Anders gesagt: Horkheimer und
Adorno verwenden außer dem in den ersten Sätzen eingeführten Begriff der
Aufklärung noch einen zweiten, historischen, 8 der auch hier
zu Grunde gelegt werden soll. In dieser Weise gelesen, lässt sich die
"Dialektik der Aufklärung" weiterhin fruchtbar machen, ist ihr
Programm tatsächlich durchführ- bar. Um das zu zeigen, versuche ich mich im
Folgenden an einer Lesart, von der ich weder behaupten will, dass sie die
einzig mögliche sei, noch dass sie die authentische Sicht der Autoren wirklich
treffe, was sich ohnehin nicht mehr überprüfen lässt. 9
Ein
adäquater Begriff der Aufklärung ist allein mit ihrem Ziel, sie wolle "die
Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen", noch nicht
zureichend gefasst, sondern zu ihm gehört auch die besondere Art von Vernunft,
die Denken und Handeln leiten soll: "Denken ist im Sinn der Aufklärung die
Herstellung von einheitlicher, wissenschaftlicher Ordnung und die Ableitung von
Tatsachenerkenntnis aus Prinzipien, mögen diese als willkürlich gesetzte
Axiome, eingeborene Ideen oder höchste Abstraktionen gedeutet werden. ...
Erkenntnis besteht in der Subsumtion unter Prinzipien. Sie ist eins mit dem
Urteil, das dem System eingliedert. Anderes Denken als solches, das aufs System
sich richtet, ist direktionslos oder autoritär. Nichts wird von der Vernunft
beigetragen als die Idee systematischer Einheit, die formalen Elemente festen
begrifflichen Zusammenhangs. Jedes inhaltliche Ziel, auf das die Menschen sich
berufen mögen, als sei es eine Einsicht der Vernunft, ist nach dem strengen
Sinn der Aufklärung Wahn, Lüge, Rationalisierung, mögen die einzelnen
Philosophen' sich auch die größte Mühe geben, von dieser Konsequenz hinweg aufs
menschenfreundliche Gefühl zu lenken." 10
Auch
wenn uns Warensubjekten die Vorstellung schwer fällt, dass es einmal anders
gewesen sein soll: Diese Art der Vernunft, die sich allein auf die Form und
nicht auf den Inhalt des Denkens richtet und immer - implizit oder explizit -
mit gemeint ist, wenn von Aufklärung gesprochen wird, ist die historisch
spezifische Vernunft der bürgerlichen Epoche, die es vorher und in anderen
Gesellschaften nicht gegeben hat. Kant, auf den sich Horkheimer und Adorno hier
beziehen, ist sich dessen wohl bewusst gewesen, wenn er (in der "Kritik
der reinen Vernunft") von einer "Revolution der Denkart"
spricht. Dieser Vernunftbegriff ist mit der Aufklärung unauflöslich verbunden.
Weil es schwer und streng genommen sogar unmöglich ist, sich eine andere
Vernunft als die eigene zu denken, wird das leicht vergessen. Hier genau aber
liegt der blinde Fleck des Aufklärungsdenkens, das für ein Naturverhältnis
hält, was historisch entstanden, durch menschliches Handeln konstituiert und
daher auch veränderbar ist.
Aufklärung
und Herrschaft
Das
Ansehen, das die Aufklärung auch und gerade bei kritischen ZeitgenossInnen
immer noch genießt, liegt in ihrem Anspruch, auf den auch Horkheimer und Adorno
abheben ("die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen"}
und der sich gegen Herrschaft zu richten scheint. Das Pathos eines Kampfes des
die Tatsachen aufdeckenden "kalten Auges der Wissenschaft" gegen den
"tausendjährigen Perlmutterdunst von Aberglauben und alten Wörtern"
und die damit verbundene Herrschaft "selbstsüchtiger Machthaber",
hier in den Worten von Bertolt Brecht 11, hat die Aufklärung
von Beginn an begleitet. Aber der Anspruch lässt sich von seiner Verwirklichung
durch die nur der abstrakten Form verpflichtete und aller inhaltlichen
Kriterien bare Aufklärungsvernunft nicht trennen; diese aber ist alles andere
als frei von Herrschaft. Dem Aufklärungsdenken entgeht das, weil es sich
Herrschaft immer nur als eine von Personen vorstellen kann, weshalb es in der
verwirklichten Demokratie trotz des gegenteiligen Wortsinns - gesellschaftliche
Herrschaft eigentlich nicht mehr geben dürfte.
Der
dieser Anschauung zu Grunde liegende Herrschaftsbegriff ist anachronistisch geworden.
Er gehört der Epoche an, gegen die sich die bürgerliche Gesellschaft erst
durchsetzen musste. Die Aufklärungsvernunft hat dem aufsteigenden Bürgertum in
seinem Kampf gegen den Feudalismus immer auch als ein ideologisches Instrument
gedient: So wie die Natur universellen Gesetzen folge, denen al- les ohne
Ausnahme unterworfen sei, gelte dies auch für eine "natürlich" oder
"vernünftig" organisierte Gesellschaft; für Privilegien sei in ihr
kein Platz. Es ist klar, dass diese Denkfigur von der bürgerlichen Klasse nur
als Argument verwendet wurde, solange es gegen die Privilegien des Adels ging;
klar auch, dass sie von der Arbeiterbewegung leicht aufgegriffen werden konnte,
welche so in ihrem Kampf um die Anerkennung auch der besitzlosen Massen als
freie und gleiche Staatsbürger nicht nur die Geschichte, sondern auch die Natur
auf ihrer Seite zu haben glaubte. Falsch aber wird der Begriff von Herrschaft
als persönlicher Abhängigkeit und ungleicher Verteilung von Rechten, wenn
hierin das Wesen noch der heutigen Verhältnisse der entwickelten bürgerlichen
Gesellschaft erblickt wird. Die inzwischen abgeschlossene
Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus bestand nicht darin, eine neue Klasse
in alte Adelsrechte einzusetzen, sondern vielmehr in der Abschaffung feudaler
Strukturen, die der Kapitalverwertung im Wege stehen, welche den warenförmigen
Verkehr der Freien und Gleichen voraussetzt.
Doch
auch die Herrschaft der kapitalistischen Vernunft ist Herrschaft: Die Freiheit
und Gleichheit der Bürger ist ihre Freiheit und Gleichheit in der als
Naturverhältnis begriffenen allgemeinen gesellschaftlichen Form, die mit dem
subjektlosen Prinzip des Werts gesetzt ist. Seine blind anerkannte Gültigkeit
ist für die Aufklärung und ihr Denken konstitutiv, sei es nun als Gleichheit
vor dem Recht, als individuelle Freiheit zur Konkurrenz innerhalb der
"ehernen Gesetze des Marktes" oder als gesetzesförmige, objektive
Erkenntnis, in der, die äußere Natur heute einzig noch begriffen werden kann.
Ein Herrschaftsverhältnis ist damit vor allem auch gegenüber der inneren Natur
gesetzt: Wer dabei sein will, muss sich selbst beherrschen, den "inneren
Schweinehund" domestizieren. Wer das verweigert oder sich in anderer Weise
dem gesetzesförmigen Funktionieren versagt, gilt als unvernünftig, unmündig,
nicht geschäftsfähig, kurzum: ohne Wert.
"Derjenige
nun, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger
(citoyen, d. i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois). Die dazu
erforderliche Qualität ist außer der natürlichen (dass es kein Kind, kein Weib
sei) die einzige: dass er sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin irgend ein
Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk oder schöne Kunst oder
Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d. i. dass er in den
Fällen, wo er von Andern erwerben muss, um zu leben, nur durch Veräußerung
dessen, was sein ist, erwerbe, nicht durch Bewilligung, die er anderen gibt,
von seinen Kräften Gebrauch zu machen, folglich dass er niemanden als dem
gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Worts diene. 12
In
diesen Sätzen des großen Philosophen der Aufklärung ist bereits vieles von dem
angelegt, was die Gegenaufklärung zu bieten hat, und nur teilweise sind sie der
Beschränktheit seines historischen Standorts geschuldet. Bürgerrechte hat, wer
etwas zu Markte tragen kann, auch wenn es bei Kant noch nicht die eigene
Arbeitskraft ist und die Dienstleistungsgesellschaft natürlich außerhalb seines
Horizonts liegt. Wo immer auch die Linie jeweils gezogen wird, konstitutiv
bleibt das Moment der Ausgrenzung: Wer sich der Warenform entzieht, weil er
ihren Normen nicht genügen kann oder will, bleibt draußen: Kinder, Frauen und
"Wilde", die hier gar nicht erst genannt werden müssen - so
selbstverständlich ist das. Die Bürgerrechte sind die Rechte des weißen Mannes,
für alle anderen sind sie zumal in Krisenzeiten leicht zurücknehmbar. Durch die
Hintertür kommt so auch die persönliche Herrschaft wieder herein, wo doch
"nur" die Herrschaft des Prinzips gemeint war.
Dass
die zweifelhaften, nur um den Preis der Unterwerfung unter die abstrakte Form
zu habenden Glücksversprechen der Moderne für die große Mehrheit zu keiner Zeit
eingelöst wurden, ist kein Betriebsunfall, sondern liegt im Programm - dem
Programm der Aufklärung. Gegen die Vorstellung, die herrschende Misere
ausgerechnet damit beheben zu wollen, die Aufklärungsideale nun endlich zu
verwirklichen, spricht auch alle empirische Evidenz der neuzeitlichen
Geschichte, in der ja genau dies geschehen ist. Sich darüber hinweg zu lügen,
bedarf schon einer der herrschenden Volkswirtschaftslehre 13 entlehnten
Geschichtsphilosophie, die davon ausgeht, dass alle bisherige Geschichte eine
Geschichte der Betriebsunfälle gewesen sei.
Aufklärung
und Moral
Dass
kein inhaltliches Ziel auf die Aufklärungsvernunft sich berufen könne, wie
Horkheimer und Adorno feststellen, entspricht dem Bild, das die "positive
Wissenschaft" aller Fächer von sich selber hat. Ihr Feld ist das Reich der
Tatsachenfeststellungen und des rationalen Argumentierens. Mit Affekten,
Moralvorstellungen oder Weltanschauungen hat sie der Sache nach nichts zu tun,
und alle ihre methodischen Mühen richten sich darauf, diese Art von
"Verunreinigungen" draußen zu halten, auch wenn das nur selten
wirklich gelingen mag. 14 Soweit es um die Beschreibung
dessen geht, was westliche Wissenschaft ausmacht und welche Stellung sie
innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt, ist dem Positivismus Recht zu
geben. Jede Kritik an ihm, wie sie in der Studentenbewegung aufkam und heute
vor allem vom Feminismus fortgeführt wird, muss daher zu kurz greifen, wenn sie
sich allein auf die Wissenschaft bezieht und die Warenform ausklammert, und sie
ist einfach nur falsch, wenn sie sich auf die Aufklärung beruft, deren
zwingende Konsequenz der Positivismus schließlich ist.
Die
bürgerliche Dichotomie von Vernunft und Gefühl hat zur Folge, dass keinerlei
Moral sich vernünftig begründen lässt, womit freilich Gesellschaftlichkeit
überhaupt in Frage gestellt ist: "Die Morallehren der Aufklärung zeugen
von dem hoffnungslosen Streben, an Stelle der geschwächten Religion einen
intellektuellen Grund dafür zu finden, in der Gesellschaft auszuhalten, wenn
das Interesse versagt." 15 Angesichts ihrer Vergeblichkeit
haben diese Bemühungen im Laufe der Geschichte der westlichen Philosophie
ständig abgenommen und sind heute praktisch eingestellt. Als letztes Ergebnis
dieser Entwicklung bleibt der Positivismus, der derartige Fragen gar nicht mehr
kennt bzw. sie für nicht verhandelbar erklärt.
Darin
zeigt sich, dass es eine kapitalistische Moral nicht gibt, auch wenn die im
Aufstieg begriffene bürgerliche Gesellschaft dazu durchaus ihre eigenen
Vorstellungen hervorbrachte, etwa in Gestalt der protestantischen Ethik, die
die Arbeit als Selbstzweck zur moralischen Pflicht und jeden Genuss zumindest
für anrüchig er- klärte, oder auch als Gefühl für Gerechtigkeit, das am
Gleichheitsideal sich orientiert. Der kapitalistischen Dynamik und ihrer
Vernunft halten derartige Moralvorstellungen, ständig zur Disposition gestellt,
nämlich ebenso wenig stand wie die aus vorkapitalistischen Verhältnissen
überkommenen. 'Der Kapitalismus zehrt gewissermaßen moralisch von seinen
Subjekten, und im selben Maße, wie sich die Warenform als allgemeine Form
durchsetzt und auch die Privatsphäre durchdringt, wird die Moral aufgezehrt.
"Während aber alle früheren Veränderungen ... neue, wenn auch aufgeklärte
Mythologien an die Stelle der älteren setzten, ... zerging vor dem Licht der
aufgeklärten Vernunft jede Hingabe als mythologisch, die sich für objektiv, in
der Sache begründet hielt. Alle vorgegebenen Bindungen verfielen damit dem
tabuierenden Verdikt, nicht ausgenommen solche, die zur Existenz der
bürgerlichen Ordnung selbst notwendig waren. Das Instrument, mit dem das
Bürgertum zur Macht gekommen war, Entfesselung der Kräfte, allgemeine Freiheit,
Selbstbestimmung, kurz, die Aufklärung, wandte sich gegen das Bürgertum, sobald
es als System der Herrschaft zur Unterdrückung gezwungen war. Aufklärung macht
ihrem Prinzip nach selbst vor dem Minimum an Glauben nicht halt, ohne das die
bürgerliche Welt nicht existieren kann." 16
Diese
selbstzerstörerischen Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft rufen die
Gegenaufklärung auf den Plan. Wenn sich Gefühle nicht durch Vernunft begründen
lassen, sei auf diese eben zu verzichten. Der Irrationalismus isoliert,
"darin wie in anderem dem letzten Abhub der Aufklärung, dem modernen
Positivismus verwandt, das Gefühl, wie Religion und Kunst, von allem was
Erkenntnis heißt. Er schränkt zwar die kalte Vernunft zugunsten des
unmittelbaren Lebens ein, macht es jedoch zu einem dem Gedanken bloß
feindlichen Prinzip. Im Scheine solcher Feindschaft wird Gefühl und schließlich
aller menschliche Ausdruck, ja Kultur überhaupt der Verantwortung vor dem
Denken entzogen, verwandelt sich aber dadurch zum neutralisierten Element der
allumspannenden Ratio des längst irrational gewordenen ökonomischen Systems.
Sie hat sich seit den Anfängen 'auf ihre Anziehungskraft allein nicht verlassen
können und diese durch den Kultus der Gefühle ergänzt. Wo sie zu diesen
aufruft, richtet sie sich gegen ihr eigenes Medium, das Denken, das ihr selbst,
der sich entfremdeten Vernunft, immer auch verdächtig war." 17
Gerade
weil sie das Gefühl zu einem der Vernunft feindlichen Prinzip macht, steht die
Gegenaufklärung nicht im Widerspruch zur Aufklärung, sondern ist ihr
Komplement. Beiden gemeinsam ist, dass sie Denken und Fühlen voneinander
isolieren, der Unterschied liegt nur in der Betonung des einen oder anderen.
Angesichts dieser Scheinalternative eine Lanze für die Aufklärung zu brechen,
verkennt den Zusammenhang mit ihrer Kehrseite, verkennt die Selbstdestruktion
der Aufklärung, die in ihrer Eigendynamik freilich über die bürgerliche
Gesellschaft keineswegs positiv hinaus, sondern vielmehr auf die Zerstörung von
Gesellschaftlichkeit überhaupt verweist: Wenn alle überkommenen
Moralvorstellungen aufgezehrt sind, bleibt als letzte moralische Pflicht
diejenige zur Selbsterhaltung in der kapitalistischen Konkurrenz übrig.
"Soweit Verstand, der am Richtmaß der Selbsterhaltung groß wurde, ein
Gesetz des Lebens wahrnimmt, ist es das des Stärkeren. Kann es für die
Menschheit wegen des Formalismus der Vernunft auch kein notwendiges Vorbild
abgeben, so genießt es den Vorzug der Tatsächlichkeit gegenüber der verlogenen
Ideologie." 18
Insofern
ließe sich vielleicht doch von einer kapitalistischen Moral sprechen. Es ist
die Moral der Stärke und des mitleidlosen Stärkeren, wie sie heute im Zuge der
postmodernen Krisenverdrängung prahlerisch sich bereits auf Autoaufklebern an-
preist: "Eure Armut kotzt mich an." In der Rede vom
"entfesselten Kapitalismus" wird der sich abzeichnende Endpunkt einer
Dynamik der Demoralisierung durch- aus wahrgenommen, kann aber nur noch hilflos
beklagt werden. Die dagegen propagierten Rezepte sind solche der
Gegenaufklärung und bestehen im vergeblichen Einziehen moralischer Maßstäbe,
die längst zerstört sind und daher keine allgemeine Verbindlichkeit mehr
erlangen können. Dabei würde es völlig ausreichen, auch die "letzte
Pflicht" noch, die zur Konkurrenz, zusammen mit der Warenform zu
destruieren. Leider ist das nur der Logik nach einfach, nicht faktisch, weil es
jenseits der Aufklärung und ihres Denkens liegt.
Die
gegen Mitleid und Mitgefühl gerichteten Konsequenzen daraus, bis hin zum Mord,
sind in der neuzeitlichen Philosophie früh aufgezeigt worden, wie Horkheimer
und Adorno am Beispiel de Sades und Nietzsches exemplifizieren: "Die
dunklen Schriftsteller des Bürgertums haben nicht wie seine Apologeten die
Konsequenzen der Aufklärung durch harmonistische Doktrinen abzubiegen
getrachtet. Sie haben nicht vorgegeben, dass die formalistische Vernunft in
einem engeren Zusammenhang mit der Moral als mit der Unmoral stünde. Während
die hellen das unlösliche Bündnis von Vernunft und Untat, von bürgerlicher
Gesellschaft und Herrschaft durch Leugnung schützten, sprachen jene
rücksichtslos die schockierende Wahrheit aus." 19
Immerhin
ist die Wahrheit noch schockierend, sonst müsste sie nicht verdrängt werden und
"den Hass entzünde(n), mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche
heute noch verfolgen." 20 Sie schockiert allerdings
immer weniger, man gewöhnt sich an alles. Der enge Zusammenhang von Wirtschaft,
Politik und Verbrechen gilt fast schon als Gemeinplatz, und der
"Machtmensch", der in Verfolgung seiner Ziele über Leichen geht, darf
eher mit schaudernder Bewunderung als mit Entsetzen rechnen. Allein im privaten
Bereich hätten wir es gern etwas gemütlicher und lassen uns nur die Nerven
durch die täglich ins Wohnzimmer flimmernden Rambos kitzeln, die sich
abschalten lassen, wenn sie es zu schlimm treiben, was ihre Funktion als
Leitbild allerdings kaum noch beeinträchtigt. Die "Kollateralschäden" 21
des Waren produzierenden Systems schließlich, die täglich mehr als
zwanzigtausend Hungertoten ebenso wie die Opfer der zur Aufrechterhaltung der
eigenen zivilisatorischen Standards angeblich erforderlichen Kriege für
Menschenrechte und gegen den Terror, gehören in dieser Wahrnehmung immer schon
einer anderen Welt an; sie brauchen noch nicht einmal billigend oder bedauernd
in Kauf genommen zu werden, da sie doch mit unserem Handeln anscheinend so
wenig zu tun haben wie die Opfer von Naturkatastrophen. 22 Der
allgemeine Schock, den die Attentate von New York und Washington in den
kapitalistischen Zentren auslösten, dürfte denn auch weniger mit der Tat selbst
oder dem Mitgefühl für die Opfer als mit der im Medienspektakel vermittelten
Botschaft zu tun haben, demnächst selbst zu den Kollateralschäden zu gehören.
Verschwörugstheorien,
Antisemitismus, Vernichtungswahn
Der
als Naturverhältnis begriffenen, durch allgemeine Gesetzmäßigkeiten geregelten
Gesellschaft steht im Aufklärungsdenken der- mit einem freien Willen begabte,
mündige Bürger gegenüber. Die neoliberale Behauptung, es gebe keine Gesellschaft,
sondern nur Einzelne, bringt diese Vorstellung konsequent auf den Punkt: Denn
ihr zufolge ist alles, was durch menschliches Handeln beeinflusst wird, auf
einzelne Willensentscheidungen zurückzuführen, ob nun demokratisch legitimiert
oder nicht. Alles andere sei Natur. Diesem Denken entgeht, dass auch ein
gesellschaftlicher Zusammenhang, der gar keiner mehr zu sein scheint, durch
menschliches Handeln erst konstituiert wird. Ihm entgeht ebenso, dass umgekehrt
die Subjekte ihrer Form nach erst von der besonderen Gesellschaft
hervorgebracht werden, in der zu leben sie gezwungen sind. Kurzum: Ihm entgeht
die Historizität der gesellschaftlichen Form wie die der von ihr konstituierten
und sie konstituierenden Subjekte.
Was
es nicht gibt, kann auch nicht die Ursache von etwas sein. Kriege, Krisen,
ökonomische Zusammenbrüche und andere Katastrophen mit der Gesellschafts- form
in Zusammenhang zu bringen, in der sie stattfinden, nämlich der eigenen, kommt
dem Aufklärungsdenken daher nicht in den Sinn. In seinem Weltbild hat jede
Wirkung ihre Ursache entweder in Naturgesetzen oder freien
Willensentscheidungen. Da jene schon ihrem Begriff nach nicht zur Rechenschaft
gezogen werden können, sind diese verantwortlich zu machen, müssen es also
Menschen bösen Willens sein, die als Schuldige zu überführen sind. 23
Noch der Marxismus kennt
diese gut aufklärerische, ergo verschwörungstheoretische Variante, die das
Kapital nicht als gesellschaftliches Verhältnis versteht, sondern als Gruppe
profit- gieriger , mächtiger Männer, die im Hintergrund die Drähte ziehen, um
die eigene Macht zu erhalten und auszubauen, die Sachzwänge der
Kapitalverwertung dafür allenfalls als Vorwand benutzend. Nimmt man noch die
Ontologisierung respektive Verherrlichung der Arbeit hinzu, auch sie dem
Aufklärungsdenken nicht gerade fremd, so landet man zwanglos und folgerichtig
beim Antisemitismus, dem zufolge der Wert schaffenden Arbeit und dem für sie
unumgänglichen Sachkapital das Finanzkapital als im Dunkeln operierende,
zerstörerische Macht gegenüberstehe. 24 Antisemitismus wird
hier verstanden als Personifizierung des als leidvoll erfahrenen Abstrakten,
für das, solange es unbegriffen ist, die Bosheit lebendiger Menschen verantwortlich
gemacht und die Lösung aller Probleme daher in ihrem Tod gesucht werden muss.
Die darin enthaltene Logik ist die des Aufklärungsdenkens. Dass es die Juden
sind, die den daraus sich ergebenden Hass auf sich ziehen, liegt dagegen nicht
mehr in dieser Logik, sondern lässt sich nur aus der europäischen Geschichte
und Tradition erklären.
Mir
geht es hier nicht darum, die Ursprünge des Antisemitismus und seine
Erscheinungsformen im Detail nachzuzeichnen, sondern allein um den Nachweis,
dass er mit dem Aufklärungsdenken nicht nur kompatibel ist, sondern aus ihm
geradezu zwangsläufig folgt. Auch der Schritt, positiv besetzte
Kollektivsubjekte wie "Rasse", "Volk" oder
"Nation" zu imaginieren und den dunklen Mächten entgegenzustellen,
liegt noch ganz auf dieser Linie der Vorstellung freier Willensentscheidungen
als einziger Ursache von Veränderungen im Rahmen der als Naturverhältnis
gedachten Gesellschaft, hier gepaart mit der Erfahrung der Ohnmacht des
Einzelnen. Erst wenn es darum geht, die Imaginationen mit Inhalt und Leben zu
erfüllen, ist die Gegenaufklärung gefragt. Keine Ideologie von Rasse, Blut und
Boden ließe sich mit der Vernunft noch begründen, auch keine der gemeinsamen
Religion. Der hierin sich manifestierende Fundamentalismus jeglicher Provenienz
resultiert aus dem inneren Widerspruch der Warengesellschaft und hat nur in
Krisenzeiten und -regionen besonderen Zulauf, kann aber gerade in der Krise
materiell wenig bewirken. Er ist deshalb darauf verwiesen, sich negativ zu
definieren und trägt damit die Tendenz zum Vernichtungswahn in sich, wie etwa
Joachim Bruhn am Beispiel des deutschen Nationalwahns exemplifiziert:
"...
was der ordinäre Nationalismus, wie er unter Demokraten gang und gebe
ist, in der Reklame fürs Modell Deutschland höflich verschweigt, das
muss dem Individuum im Ausnahmefall, der die Krise ist, die gesteigerte und
selbstbewusste Form dieses Nationalismus, der Nationalsozialismus, auf
den Kopf zusagen, auch wenn es das Individuum vermutlich diesen kosten wird: Du
bist nichts, Dein Volk ist alles!
Weil
aber die autonome Verfügung übers unverwechselbar eigene Wesen, die das Recht
auf nationale Selbstbestimmung ausmachen soll, schon daran scheitern muss,
dass keiner weiß, was das eigentlich sein soll: deutsch, darum gesellt
sich zur Verblendung die Enttäuschung, und dem individuell erzwungenen Wahn
folgt die kollektiv gewollte Wut. Das deutsche Wesen, das doch so
ungeheuer positiv sein soll, kann nirgends anders sich zur Geltung bringen als
in der Verfolgung, kann unmöglich anders sich darstellen als ex negativo in der
Fahndung nach den, Un- deutschen '. Der Wille zur Identität erzwingt als seine
Rechtfertigung und sein gutes Gewissen die Vorstellung, man müsse die ,Minderwertigen'
verfolgen und die ,Überwertigen' vernichten, damit das eigene Wesen freie Bahn
bekommt. Der Nationalist ist daher die, verfolgende Unschuld' (Karl Kraus) in
Person." 25
Das
hier beschriebene Muster ist deutsch insofern, als die Deutschen es im
Nationalsozialismus ins Extrem getrieben und perfektioniert haben, auch wenn es
für Deutschland selbst zurzeit keine größere Rolle spielt als für andere Länder
des kapitalistischen Zentrums. Zusammen mit der deutschen Ideologie, der
Definition des Staates über die angeblich gemeinsame Abstammung 26
ist es aber ein Exportmodell, besonders für die ökonomisch bereits
zusammengebrochenen Regionen, wobei es nicht zwangsläufig die Juden sein
müssen, die das Ziel des Hasses und der Vernichtung bilden. Als Muster ist es
verallgemeinerungsfähig und erscheint auch im Islamismus und anderen
Fundamentalismen, 27 womit freilich nicht gemeint ist, dass der
darin enthaltene Antisemitismus mit dem nationalsozialistischen einfach
identisch wäre; 28 das trifft weder auf den realökonomischen
Hintergrund noch auf den systematischen und selektiven Charakter der
Vernichtung noch auf die hier in Rede stehende ideologische Ebene zu: Allein
schon die grundlegende Vorstellung, Opfer der Modernisierung zu sein, bedurfte
in Deutschland eines unvergleichlich höheren Maßes an wahnhafter Wahrnehmung
als heute in der kapitalistischen Peripherie. 29
Unhaltbar
aber ist es, zur Abwehr des Antisemitismus die Aufklärung als Gegenbild aus der
Tasche zu ziehen, so als hätte diese mit jenem nichts zu tun. Antisemitismus
gehört zum ganz normalen Wahnsinn des Aufklärungsdenkens, bis hin zu
Vernichtungsphantasien. Erst der Schritt, diese real werden zu lassen, bedarf
der Kräfte der Gegenaufklärung und ist kaum denkbar ohne eine wie immer
geartete Ideologie der Volksgemeinschaft, die sich nur negativ definieren kann.
In der letzten Konsequenz schließlich, die allein in Deutschland/gezogen wurde,
nämlich die Vernichtung nicht den Zufälligkeiten der Pogrome zu überlassen,
sondern sie systematisch zu betreiben, indem sie zum Staats ziel erhoben und
mit allen Mitteln be- triebswirtschaftlicher Rationalität und Effektivität
verfolgt wird, im "Antisemitismus der Vernunft", wie Hitler ihn
nannte, fallen Aufklärung und Gegenaufklärung unauflöslich ineinander.
Der Standort
der Kritik
Wer die
Aufklärung kritisiert, tut das notwendigerweise mit ihren Mitteln; andere
stehen uns nicht zur Verfügung. aus dieser in der Tat paradoxen Situation
lassen sich nun offenbar beliebig absurde Schlüsse ziehen: Der Weigerung, im
Krieg der Wahnsysteme, deren eines das andere hervorbringt, Partei zu
ergreifen, wird vor- gehalten, sie suggeriere "eine eigene Position
außerhalb der Totalität" 30 des Kapitals, sie flüchte
"in den erkenntnistheoretischen Wahn, selbst außerhalb der One World zu
sein" 31 Wenn das schlüssig wäre, dann wäre Kritik am
gesellschaftlichen Ganzen unmöglich, dann dürfte es aber auch so etwas wie
Selbstreflexion und Selbstkritik nicht geben. Doch so beschränkt sind die
Mittel der Aufklärung, sind die Möglichkeiten rationalen Denkens und
Argumentierens nun wieder nicht - jedenfalls nicht per se, es sei denn, man
wollte sich von vornherein auf die Sonder" form der
mathematisch-naturwissenschaftlichen Methodik beschränken, die freilich für die
westliche Wissenschaft aller Fächer paradigmatisch geworden ist.
Das
begriffliche Denken, wie es die Aufklärung hervorgebracht und kultiviert hat,
setzt die Trennung von erkennendem Subjekt und erkanntem bzw. zu erkennendem
Objekt voraus. Das schließt aber keineswegs aus, sich selbst, das eigene Denken
oder auch die Totalität der Gesellschaft, in der man sich bewegt, zum
Erkenntnisobjekt zu machen. Nun geschieht auch dies immer in der Form der
Subjekt-Objekt-Trennung, anders lässt sich Analyse und Kritik nicht darstellen,
will sie sich in dieser Gesellschaft verständlich machen. Die
ideologiekritische Rede etwa vom "notwendig falschen Bewusstsein"
versetzt die so Sprechenden in eine Position, in der sie selber davon
ausgenommen sind, sonst könnten sie nicht sagen, es sei "falsch",
womit dann das falsche Bewusstsein seine Notwendigkeit auch schon verloren
hätte. Doch was folgt daraus? Ginge es nach der oben genannten Argumentation,
wäre Ideologiekritik unmöglich und die IdeologiekritikerInnen, die sie
vorbringen, dürften sich entweder selbst nicht mehr ernst nehmen oder müssten
fortan schweigen. Aber es handelt sich hier; gar nicht um einen logischen
Widerspruch, sondern um eine reale Paradoxie, nämlich die des Kritikers in der
von ihm kritisierten Gesellschaft. Wenn wir die Warensubjekte kritisieren,
heißt das nicht, dass wir schon keine mehr wären. Und Kritik der
Aufklärungsvernunft heißt nicht, dass wir nicht in ihren Formen denken müssten;
als kapitalistisch konstituierte Individuen können wir gar nicht anders. Das
schließt ein Bewusstsein von der eigenen Situation, das verbunden ist mit der
Hoffnung, aus ihr hinauskommen zu können, aber nicht aus. Ohne diese Hoffnung
gäbe es keine Kritik.
Nun
kann Kritik der Warengesellschaft und der Aufklärung aber wiederum auch nicht
einfach in der Fortführung des Aufklärungsdenkens, so wie es hier kritisiert
wurde, bestehen; kein Weg führte da hinaus. Es muss noch etwas hinzukommen. Zum
einen ist es das Bewusstsein der Geschichtlichkeit der gesellschaftlichen Form.
Um es in Umkehrung eines in einschlägigen Kreisen beliebten Spruchs aus-
zudrücken: Nur wer den Kapitalismus begreift, kann ihn abschaffen wollen. Wer
ihn nicht begreift, versteht ihn als Naturverhältnis, und das lässt sich nicht
abschaffen, noch nicht einmal ändern. Zum" anderen ist es das Bewusstsein,
als KritikerIn ebenso wie die vorgebrachte Kritik immer schon Bestandteil des
zu begreifenden Gegenstands und damit seinen Begrenztheiten und Widersprüchen
unterworfen zu sein. Ob beides zusammen ausreicht, ist damit noch nicht gesagt,
auf jeden Fall aber überschreitet es das bloße Aufklärungsdenken. Adorno hat
das in seiner Auseinandersetzung mit der empirischen Sozialforschung deutlich
gemacht, indem er den Vorrang der Methode (der Aufklärungsvernunft) vor dem
Gegenstand, der sich durch den Begriff nie vollständig fassen lässt,
bestreitet:
"Eine
zugleich atomistische und von Atomen zu Allgemeinheiten klassifikatorisch
aufsteigende Sozialwissenschaft ist der Medusenspiegel einer zugleich
atomisierten und nach abstrakten Klassifikationsbegriffen, nämlich denen der
Verwaltung, eingerichteten Gesellschaft. Aber diese adaequatio rei atque
cogitationis bedarf erst noch der Selbstreflexion, um wahr zu werden. Ihr Recht
ist einzig das kritische. In dem Augenblick, in dem man den Zustand, den die
Researchmethoden treffen zugleich und ausdrücken, als immanente Vernunft der
Wissenschaft hypostasiert, trägt man, willentlich oder nicht, zu seiner
Verewigung bei. ...
...
Unwahr wird der isolierte Social Research, sobald er die Totalität, weil sie
seinen Methoden prinzipiell entgleitet, als ein krypto-metaphysisches Vorurteil
ausmerzen möchte. Die Wissenschaft wird dann auf das bloße Phänomen vereidigt.
Indem man die Frage nach dem Wesen als Illusion, als ein mit der Methode nicht
Einzulösendes tabuiert, sind die Wesenszusarnmenhänge - das, worauf es in der
Gesellschaft eigentlich ankommt - a priori vor der Erkenntnis geschützt." 32
Will
man nicht alles, was von der Aufklärungsvernunft nicht erfasst werden kann, für
nichtexistent erklären, ist nach Erkenntnisweisen jenseits der positiven
Wissenschaft zu suchen: "Weil aber Gesellschaft aus Subjekten sich
zusammen- setzt und durch ihren Funktionszusammenhang sich konstituiert, ist
ihre Erkenntnis' durch lebendige, unreduzierte Subjekte der ,Sache selbst' weit
kommensurabler als in den Naturwissenschaften, welche von der Fremdheit eines
nicht seinerseits menschlichen Objekts dazu genötigt werden, Objektivität ganz
und gar in den kategorialen Mechanismus, in abstrakte Subjektivität
hineinzuverlegen. ...
...
Nicht nur ist ..., wie der Positivismus zugestände, das Objekt der Erkenntnis
durch das Subjekt vermittelt, sondern ebenso umgekehrt: Das Subjekt seinerseits
fällt als Moment in die von ihm zu erkennende Objektivität, den
gesellschaftlichen Prozess." 33
Ob hinsichtlich
der Naturwissenschaften hier dem Positivismus nicht unnötig Raum gegeben wird,
ob dort also der Zwang zum kategorialen Mechanismus wirklich aus der Fremdheit
des Gegenstands rührt, lasse ich einmal dahingestellt. Auch die Frage, ob es
"unreduzierte Subjekte" überhaupt gibt, wäre ein Thema für sich wie
vieles, was im vorliegenden Text nur kurz gestreift wurde. Wichtig aber er-
scheint mir die in Adornos Worten enthaltene Aufforderung, sich weder von den
gesellschaftlichen Verhältnissen noch durch die mit ihnen verschränkte
Aufklärungsvernunft dumm machen zu lassen, die von sich behauptet, die einzig
mögliche Form menschlicher Erkenntnis zu sein. Es geht hier nicht darum, dem
Gefühl gegenüber der Vernunft wieder zu seinem Recht zu verhelfen, das wäre in
der Tat nur gegenaufklärerisch. Es geht darum, die Erkenntnisressource zu
nutzen, die außerhalb der durch die Aufklärungsvernunft vorgeprägten
Wahrnehmung darin liegt, dass wir als Warensubjekte die bürgerliche Form und
ihre Widersprüche sowohl mit uns herumschleppen als auch durch unser Handeln
konstituieren und da- her vielleicht mehr von ihr wissen können, als wir gemeinhin
wahrhaben wollen.
Die Frage ist
weniger, ob es eine kritische Theorie der Gesellschaft geben, 34
sondern ob sie praktisch wirksam werden kann; letztlich erweist sich ihre
Möglichkeit an ihrer Wirkung. Die Chancen dafür stehen nicht gut. Nachdem die
Aufklärung mit der ihr eingeschriebenen Selbstzerstörung weit vorangekommen
ist, bleibt innerhalb der bürgerlichen Form nur noch die Gegenaufklärung im
Rennen, wie sich nicht nur an der fortschreitenden Irrationalität der
gesellschaftlichen und politischen Realität und ihrer ideologischen
Wahrnehmungsraster, sondern auch an den vielen privaten Fluchten in die
Esoterik zeigt. All das geschieht unter Aufrechterhaltung der
naturwissenschaftlich-technischen Kompetenz, in der allein das
Aufklärungsdenken sich heute noch austoben kann. 35 Wer
diesen Zustand für eine Zumutung hält, hat Recht, müsste dann jedoch bei der
Suche nach Alternativen schon über die Warengesellschaft hinausblicken. Jetzt
aber das Heil in der Aufklärung zu suchen, so als hätte es deren mehrhundertjährige
Destruktionsgeschichte nicht gegeben, heißt auf ein totes Pferd zu setzen.
1 Gerhard Scheit, Das Böse ist
nicht das Böse, Jungle World vom 2. Oktober 2001).
2 Einen Beleg für diese Vermutung
lieferte der Spiegel in seinem Weihnachtsheft (Nr. 52 vom 22.12.01), in
dem er unter dem Titel "Der Glaube der Ungläubigen. Welche Werte hat
der Wes- ten?" einen offenbar ernst gemeinten, doch ebenso gedanken- wie
substanzlosen Besinnungsaufsatz zum Thema "Die unverschleierte Würde des
Westens" schreiben ließ. Glaubt man der Ankündigung, so "treten
Intellektuelle im Kampf gegen den islamischen Terror mit neuem Selbstbewusst-
sein für die Werte der freien Welt ein." Woher das neue Selbstbewusstsein
plötzlich kommen soll, weiß allerdings niemand zu sagen.
3 Im Folgenden: DdA; Max Horkheimer
/ Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1988,
Erstveröffentlichung 1947.
4 Konkret 11 /2001.
5 Jungle World vom 7.
November 200]
6 DdA, S. 9.
7 Siehe auch Rolf Wiggershaus, Die
Frankfurter Schule, München 1988, S. 372, dessen Interpretation dieser Lesart
folgt.
8 Ihn zu entdecken wird dadurch erschwert, dass er nicht im Abschnitt
"Begriff der Aufklärung" (DdA, S. 9-
49), sondern unter "Juliette oder Aufklärung und
Moral" (DdA, S. 88-127) bestimmt wird.
9 Es ist insofern möglich, mit einer "Fehlinterpretation" der
"Dialektik der Aufklärung" nachzuweisen. Die
"richtige" zu liefern, ist hier aber gar nicht
die Intention. Für eine genauere Auseinandersetzung mit dem Text
vgl. Norbert Trenkles Beitrag "Gebrochene
Negativität" in diesem Heft.
10 DdA, S. 88/89.
11 Bertolt Brecht, Leben des
Gallileo, Gesammelte Werke 3, Frankfurt 1967, S. 1339 ff.
12 Immanuel Kant, Über den
Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die
Praxis (1793), in Werkausgabe, Band XI, Frankfurt 1977 (stw), S. 151. In einer
Anmerkung da- zu heißt es weiter: "Derjenige, welcher ein opus verfertigt,
kann es durch Veräußerung an einen anderen bringen, gleich als ob es sein Eigentum
wäre. Die praestatio operae aber ist keine Veräußerung. Der Hausbediente, der
Ladendiener, der Taglöhner, selbst der Friseur sind bloß operarii, nicht
artifices (in weiterer Bedeutung des Worts) und nicht Staatsglieder, mithin
auch nicht Bürger zu sein qualifiziert. Obgleich der, welchem ich mein
Brennholz aufzuarbeiten, und der Schneider, dem ich mein Tuch gebe, um daraus
ein Kleid zu machen, sich in ganz ähnlichen Verhältnissen gegen mich zu
befinden scheinen, so ist doch jener von diesem, wie Friseur vom Perückenmacher
(dem ich auch das Haar dazu gegeben haben mag), also wie Taglöhner vom Künstler
oder Handwerker, der ein Werk macht, das ihm gehört, so lange er nicht bezahlt
ist, unterschieden. Der letztere als Gewerbetreibende verkehrt also sein Eigentum
mit dem Anderen (opus), der erstere den Gebrauch seiner Kräfte den er einem
Anderen bewilligt (operam). - Es ist, ich gestehe es, etwas schwer die
Erfordernis zu bestimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein eigener
Herr ist, Anspruch machen zu können," Warum nur müssen die Philosophen
immer auf den Friseuren herumhacken? Auch über seinen eigenen Stand scheint
sich Kant nicht klar gewesen zu sein. Von dem Verkauf seiner Bücher wird er ja
nicht gelebt haben.
13 Die hält sich bekanntlich durch
den Glauben am Leben, dass die immer wieder auftretenden ökonomischen
Katastrophen, die es der Theorie nach gar nicht geben dürfte, nicht etwa gegen
die Theorie sprechen, sondern der ökonomischen Unvernunft der Akteure
geschuldet sind, die am laufen- den Band Betriebsunfalle in einer ihrer Natur
nach eigentlich krisenfreien Marktwirtschaft verursachen.
14 Schließlich leben ganze Fächer
davon, falsches Bewusstsein zu verbreiten noch über das "notwendig falsche
Bewusstsein" hinaus, das Ideologie laut Marx ist, indem sie unter dem
Deckmantel positiver Wissenschaft Märchen als Tatsachen verkaufen und zu diesem
Zweck alle methodischen Standards fahren lassen. Dagegen kann aufklärerische
Kritik durchaus befreiend wirken; vgl. als ein Beispiel Michael R. Krätke:
Neoklassik als Weltreligion, in Kritische Interventionen 3, Die Illusion der
neuen Freiheit, Hannover 1999.
15 DdA, S. 92.
16 DdA, S. 99/100.
17 DdA, S. 98.
18 DdA, S. 106.
19 DdA, S. 126.
20 DdA, S. 127.
21 Dieses im militärischen Jargon
entstandene Wort trifft unsere Sicht als Warensubjekte auf die Katastrophen um
uns herum nur allzu genau und musste deswegen zum "Unwort" des Jahres
1999 er- klärt werden.
22 Dass inzwischen auch die meisten
Naturkatastrophen Katastrophen der "zweiten Natur", also durch
menschliches Handeln verursacht sind, wird bei dieser Gelegenheit gleichfalls
verdrängt.
23 Wenn man nichts mehr versteht,
sind Verschwörungstheorien fast immer ein geeignetes Gegenmit- tel. Auch nach
den Selbstmordattentaten von New York und Washington hatten sie Konjunktur.
Bereits die angesichts der mageren, genau genommen gar nicht vorhandenen
Beweise doch überraschend schnelle offiziöse Einigung auf bin Laden als
Drahtzieher setzte von vornherein voraus, dass es den großen Dunkelmann geben
müsse, der alle Fäden in der Hand hält, etwa nach dem Muster der Oberschurken
in James-Bond-Filmen. Und die Gegenseite bewies ihre Modernität da- durch, dass
sie diese Konstruktion der individuell handelnden Verschwörer sogleich
mediengerecht
24 Was den Nationalsozialisten das
"raffende Kapital", war Lenin die "Finanzoligarchie". Für
eine genauere Darstellung des Zusammenhangs von Marxismus-Leninismus und
Antisemitismus sowie dessen Fortexistenz im gegen die USA und Israel gerichteten
"Antiimperialismus" siehe Robert Bösch: Unheimliche Verwandtschaft, Krisis
16/17, 161-175. Dass sich auch das "schaffende Kapital" selbst,
etwa in Gestalt eines Henry Ford, dieser Sichtweise anschließen kann,
verwundert angesichts ihres logischen Zusammenhangs mit dem Aufklärungsdenken
nicht weiter, siehe Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus, Frankfurt 1999, S.
482 ff.
25 Joachim Bruhn: Was deutsch ist.
Zur kritischen Theorie der Nation, Freiburg 1994, S. 8/9.
26 Vgl. Robert Kurz: Schwarzbuch
Kapitalismus, Frankfurt 1999, S. 299 ff.
27 So etwa, wenn dem Dschihad eine
eigenständige Rolle zuwächst, die er im Islam nie hatte. Auch die verschiedenen
ethnisch begründeten Konflikte, die nur noch dazu zu dienen scheinen, die
Plünderung durch Warlords und ihre Gangs zu kaschieren, haben teilweise ein Maß
an sinnloser Vernichtung angenommen, das mit dem Ziel der Plünderung nur
unzureichend rationalisiert wäre.
28 Das unvermittelte Gleichsetzen
verschiedener empirischer Sachverhalte ist eines der wesentlichen, zu
kritisierenden Merkmale der Aufklärungsvernunft und ihrer Erkenntnis qua
"Subsumtion unter Prinzipien". Vgl. Roswitha Scholz: Identitätslogik
und Kapitalismuskritik, Streifzüge 3/2001, 24- 28.
29 Mehr als problematisch ist es
daher, den Islamismus als "deutschen Sonderweg für den Islam" zu
bezeichnen, wie es Matthias Küntzel tut (Jungle World vom 23. Februar
2002), wobei er sich aus- gerechnet auf Bassam Tibi beruft, der sich mit seinem
Buch "Der Krieg der Zivilisationen" (Hamburg 1995) als
"deutscher Huntington" einen Namen gemacht hat und dem Westen eine
allzu große "Demut" in der internationalen Politik attestiert.
30 Gerhard Scheit: Das Böse ist
nicht das Böse, Jungle World vom 2. Oktober 2001.
31 Gerhard Scheit: Gesichtspunkt
Auschwitz, Konkret 12/2001.
32 Theodor W. Adorno: Der
Positivismus streit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1969, S. 87/88 und
S. 93/94
33 Ebd., S. 22/23
34 Die Frage lässt sich streng
genommen ihrer Logik nach nicht beantworten. Es ist die Frage nach der
Notwendigkeit des "notwendig falschen Bewusstseins" (s.o..). Ließe
sie sich positiv im Sinne der Zwangsläufigkeit eines Naturgesetzes beantworten,
so wäre auch jede Kritik davon erfasst und da- her nicht möglich. Jede
"Ableitung" eines derart hermetischen, von der Warenform konstituierten
"Verblendungszusammenhangs", in den ja dann auch besagte Ableitung
fiele, würde sich damit sogleich selbst dementieren, woraus aber leider nicht
schon folgt, dass das Gegenteil wahr ist. Dar- auf können wir nur hoffen.
35 Auch dies ist noch einmal ein
Beleg dafür, wie wenig Aufklärung und Gegenaufklärung zueinander in Widerspruch
stehen. Die Selbstmord-Attentäter des 11. September mit ihrer Verbindung von
technischem Können und fanatischem Vernichtungswillen sind dafür ein Beispiel,
wie denn überhaupt der Islamismus eher in den natur- als in den
geisteswissenschaftlichen Fakultäten der arabischen Länder beheimatet ist.
KRISIS 26 (Dezember 2002)
Robert Kurz: Negative Ontologie. Die
Dunkelmänner der Aufklärung und die Geschichtsmetaphysik der Moderne -- Karl-Heinz
Wedel: Die Höllenfahrt des Selbst. Von Kants
Todesform des sinn-losen Willens -- Roger Behrens: Emanzipatorische Praxis und kritische Theorie des Glücks -- Birgit Niemann: Die Renaissance des biologischen Menschens.
Anmerkungen zur Gentechnologie --
Anselm Jappe: Waren die Situationisten die letzte Avantgarde? -- Rezensionen | Kommentare | Glossen
Als wir vor über zwei Jahren
im Kreis der Krisis-Redaktion mit einer gründlichen Neulektüre der
Aufklärung begannen, waren wir fest davon überzeugt, uns damit ziemlich weit
vom aktuellen gesellschaftlichen Diskurs zu entfernen. Aufklärungskritik schien
ein geradezu esoterisches Unterfangen zu sein, weit entfernt von den empirischen
Entwicklungen im globalisierten Krisenkapitalismus und den laufenden gesellschaftlichen
Diskursen. Nach den Anschlägen vom 11. September vergangenen Jahres hat sich
die Situation radikal verändert. Mit einem Mal sind die so genannten westlichen
Werte von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten wieder das Pfund, mit dem allgemein
gewuchert wird. Vergessen ist die (freilich immer schon verkürzte) Kritik des
abstrakten westlichen Universalismus, wie sie mit dem postmodernen Diskurs in
Mode gekommen war. Wenn es ernst wird, besinnen sich die Warensubjekte eben
doch auf ihre ideologischen Fundamente, werden fundamentalistisch. Die
schrillen Töne, in denen die Aufklärung neuerdings wieder beschworen wird,
verweisen allerdings darauf, dass dieser Diskurs entgegen seinem
hinausposaunten Selbstverständnis keinesfalls so "rational" ist. Hinter der in
dreihundert Jahren reichlich verschlissenen Fassade der "westlichen Werte" lugt
unübersehbar die nackte Angst hervor. Vorbei die Zeit, in der es schien, als
könne man es sich - das nötige Maß an Realitätsverleugnung vorausgesetzt - in den
Gewinnersegmenten des Weltmarkts ganz bequem einrichten, obwohl ein Großteil
der Welt in Hunger, Krieg und Zerstörung versinkt. Nicht nur greift nach dem
Platzen der "New Economy" der Krisenprozess deutlich spürbar auch auf den
Lebensalltag metropolitaner Mittelschichten über. Langsam sickert auch ins
Alltagsbewusstsein die Erkenntnis ein, dass es keinen sicheren Rückzugsort auf
dieser Welt mehr gibt. In Zeiten flottierender Gewalt kann selbst ein normaler
Bürotag in Manhattan, das Auftanken eines Autos in Washington, ein Urlaub in
der Südsee oder der Besuch eines Musicaltheaters in Moskau jederzeit den Tod
bringen.
Besonders
ekelhaft ist, wie ungeniert nun die rassistischen Töne erneut erklingen.
Unter dem Eindruck der Bedrohung
kommt der innere Kern der Aufklärung zum Vorschein, den einflussreiche
Ideologen wie der Vordenker der US-amerikanischen Neokonservativen Samuel
Huntington bereits Anfang der Neunziger unverblümt wieder hervorgekehrt hatten,
nachdem er in den Zeiten des fordistischen Nachkriegsbooms und unter den
Auspizien der so genannten "Systemkonkurrenz" ein wenig im Verborgenen blieb.
Als Gegenbild zur angeblichen westlichen Aufgeklärtheit muss vor allem die
böswillige Karikatur eines fanatischen Islams herhalten, der die wunderbaren
Segnungen der Aufklärung nie empfangen
hat. Neu ist das nicht. Immer
schon war die Aufklärungsvernunft wesentlich ein Versuch, "die Angst zu
vertreiben, die sie allererst selbst erzeugt", wie Böhme/Böhme es in Das Andere der Vernunft
treffend ausgedrückt haben. Die Angst
vor der eigenen Gewalttätigkeit, Brutalität und Zerstörungspotenz, die sie sich
nie eingestehen und daher stets verdrängen und auf ein konstruiertes "Anderes" projizieren
musste.
Für
sich genommen ist die Renaissance des kolonialistisch-rassistischen Diskurses höchst
grotesk in einer Zeit, in der die gesamte Welt nach einem langen historischen Prozess
dem Diktat der Warenproduktion vollständig unterworfen ist. In Zeiten des
Kolonialismus hatten die westlichen Welteroberer es immerhin tatsächlich noch
mit anderen Kulturen und Gesellschaften zu tun, die sie freilich nie als solche
gelten ließen, sondern immer schon als projektives Gegenbild zum eigenen, aufgeklärten
Selbst konstruierten, das sich darüber überhaupt erst definierte. Vom Standpunkt
der abendländischen Vernunft aus galten sie als befangen in der Natur, triebhaft,
beherrscht von unkontrollierten sinnlichen Begierden, faul, gewalttätig, abergläubisch,
barbarisch und dergleichen mehr. Damit wurde nicht nur jede kolonialistische Gräueltat
als "zivilisatorisch" rechtfertigt, die Aufklärung immunisierte sich zugleich
gegen jede grundsätzliche Kritik, indem sie sich selbst aus der Geschichte
herausnahm. Als vorgeblicher Gipfelpunkt der zivilisatorischen Entwicklung konnte
sie beanspruchen, den Maßstab abzugeben, an dem alles andere zu messen sei. Nun
aber hat es der Westen im Islamismus auch ganz real mit einem durch und durch
modernen Phänomen zu tun. Wenn dieses trotzdem im alten kolonialistischen Raster
interpretiert wird, indem man etwa terroristische Aktionen islamistischer Gruppierungen
auf den Koran und die Sharia zurückführt, dann ist das gleich eine doppelte
Verdrängungsleistung. Verdrängt wird nicht nur, dass dieses vorgeblich Andere
ein Konstrukt, eine Imagination, die Rückseite der Aufklärungsvernunft und
logisch-historisch untrennbar mit ihr verbunden ist. Sondern auch, dass das,
was da nun als Bedrohung der an sich doch so friedlichen und lebenswerten Welt
des Kapitalismus erscheint, das ureigenste Produkt seiner eigenen Durchsetzungsgeschichte
und ihres Scheiterns ist.
Manch
verräterischer Ausrutscher lässt durchblicken, wie eng der Heilige Kriegerwahn des
Westens mit dem seiner Kontrahenten aus dem neu erfundenen "Reich des Bösen"
verwandt ist. So etwa ein vor demokratischem Pathos nur so triefender
Leitartikel des Chefredakteurs der ZEIT, Josef
Joffe, kurz nach den Anschlägen auf das WTC
und das Pentagon (DIE ZEIT 31.10.2001): "Weil der Terror wie ein Schmarotzer im Gewebe der
Globalisierung hängt, müssen die Staaten mit ihren gewalttätigen Machtmitteln
das Übel quarantänisieren und eliminieren, ohne den Wirt zu beschädigen. Ohne
Globalisierung weder Bewegungsfreiheit noch Wachstum; das Ziel bin Ladens wäre
erreicht". Hier fehlt wirklich gar nichts: die biologistische Metapher vom Schmarotzer
und dem gesunden Wirt, die Verschwörungsphantasie und der eliminatorische
Wunsch - nur dass es jetzt nicht mehr das "internationale Judentum" ist, das
den guten Kapitalismus der ehrlichen Arbeit bedroht, sondern der islamistische
Terror. So findet zusammen, was zusammengehört. Angst und Bange kann einem
freilich werden bei all dem, was sich gegenwärtig weltweit abspielt und
zusammenbraut. Doch es ist die verwirklichte Aufklärungsvernunft selbst, die
hier zur Kenntlichkeit kommt. Umso widerlicher der Versuch, gerade sie noch
einmal von allem Makel reinwaschen zu wollen. Es sind gerade Linksintellektuelle
- oder solche, die es einmal waren - die sich besonders eifrig an diesem
unappetitlichen Geschäft beteiligen. Im Merkur beispielsweise
konnten wir schon letztes Jahr direkt nach den Anschlägen die
Stammtischweisheit lesen, das Problem bestehe darin, dass der Islam keine
Aufklärung durchlaufen habe; und in einer neueren Ausgabe mit dem Titel Lachen
kommen die Herausgeber Scheel und Bohrer auf die originelle Idee, in
arabischen Ländern sei die Selbstironie nicht zuhause - im Gegensatz natürlich
zum überlegenen Lachen des Westens, das die Kraft der Respektverweigerung und
Selbstdistanzierung habe. Lachhaft ist das allemal. Jedoch es ist blutig ernst
gemeint. Als Frontstellung nicht nur gegen den neuen islamistischen
Kistenteufel, sondern auch als prophylaktische Abwehr jeder möglichen
grundsätzlichen Kapitalismuskritik, die von vorneherein als
"zivilisationsfeindlich" abqualifiziert werden soll.
Selbst
die so genannte "Spaßgesellschaft", Inbegriff organisierter Konsumfröhlichkeit mit
zusammengebissenen Zähnen, erscheint dem Merkur (und nicht nur ihm) plötzlich
als zivilisatorische Errungenschaft, die es gegen islamistische
Fundamentalisten und kulturkritische Pessimisten zu verteidigen gilt. Die RTL Comedy-Show
als das Endstadium der Aufklärung? Das trifft in der Tat den Nagel auf den
Kopf. Wer darin aber nur eine Form unfreiwillig komischer Selbstkritik zu erkennen
vermag, kann eigentlich nur Mitglied, oder wenigstens Sympathisant, von
al-Qaida sein. Darin wissen sich alle Demokraten von Condolezza Rice und Samuel
Huntington über Joschka Fischer und Oriana Falacci bis hin zu den
Bonsai-Savonarolas des "antideutschen" Sektenwesens einig.
Radikale
Aufklärungskritik, wie wir sie in Krisis 25 begonnen haben und
nun in der vorliegenden Nummer fortsetzen, muss angesichts dieser
gesellschaftlichen Konstellation mit Widerständen rechnen, die keinesfalls nur
auf der Ebene des rationalen Diskurses angesiedelt sind. Das macht eine nicht
unerhebliche Schwierigkeit aus. Umgekehrt heißt es aber natürlich nicht, dass
jede Kritik der Kritik nur ein aufklärungsberauschtes Abwehrmanöver sei. Wir
bewegen uns hier zweifellos auf schwierigem Terrain. Kontroversen sind da unvermeidlich,
ja, unabdingbar. Es versteht sich von selbst, dass das Ausloten dieses Terrains
uns noch über längere Zeit beschäftigen wird. Viele Fragen stellen sich
überhaupt erst im Vorangehen und nicht wenige sind auch im Kreis der Krisis-Autorinnen
und Autoren umstritten, so etwa die nach der des Standpunkts der Kritik, wie
sie Anselm Jappe in dieser Nummer in Eine
Frage des Standpunkts aufwirft. Daneben
findet der Schwerpunkt Aufklärungskritik seine Fortsetzung in den Artikeln
Negative Ontologie von Robert Kurz,
Die Höllenfahrt des Selbst von Karl Heinz Wedel
sowie Emanzipatorische
Praxis und kritische Theorie des Glücks von
Roger Behrens. Die
in Krisis 24 eröffnete und im
letzten Heft fortgeführte Auseinandersetzung um die Gentechnik wird mit einem
externen Diskussionsbeitrag, der den kapitalistischen Zugriff auf das
menschliche Genom zum Gegenstand hat, fortgesetzt: Die Renaissance des biologischen Menschen von Birgit Niemann. Die
Autorin ist Molekularbiologin und Mitglied
des Gen-ethischen Netzwerkes e.V. In Waren
die Situationisten die letzte Avantgarde? setzt sich Anselm Jappe
mit dem Verhältnis von Fetischismus und moderner
Kunst auseinander, Franz Schandl präsentiert in Finale des Rechts einige Thesen zum Ausbrennen des Prinzips der Rechtsform
und Robert Kurz analysiert in Gesellschaftliche
Naturkatastrophen die destruktive Verschlingung von erster und zweiter Natur am Beispiel
der immer häufigeren Überschwemmungs- und Dürrekatastrophen.
Bleibt noch anzumerken, das fast zeitgleich mit dieser
Krisis-Ausgabe auch das neue Buch
von Robert Kurz Weltordnungskrieg. Das
Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der
Globalisierung in der edition krisis im Horlemann Verlag erschienen ist.
Norbert
Trenkle für die Redaktion im Dezember 2002
Aus dem Editorial der krisis 26, 2003
Kurz, Robert
Weltordnungskrieg
Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des
Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung
Erschienen im Horlemann-Verlag
Aus der Einleitung siehe Weltordnungskrieg und im
Folgenden das Kapitel
Der Nahe Osten und das
antisemitische Syndrom
Im Prozess der Barbarisierung und Selbstzerstörung
des herrschenden Weltsystems gibt es einen Brennpunkt, in dem sich die
destruktive kapitalistische Globalisierung, die Geschichte und die
Ideologiebildung der modernen Welt an ihren historischen Systemgrenzen auf
besondere Weise bündeln - und das ist der Nahe Osten mit Israel und dem so
genannten Palästinakonflikt im Zentrum. Vordergründig scheint es hier zunächst
um das wichtigste Feld des westlichen Öl-Imperialismus zu gehen. Und im
Hinblick auf das krude Interesse der kapitalistischen Verbrennungskultur ist
das natürlich auch völlig richtig. Aber darin geht dieser Konflikt bei weitem
nicht auf; er enthält noch eine ganz andere, wesentliche Dimension: nämlich die
Logik des Antisemitismus als zentraler kapitalistischer Krisenideologie und
die damit verbundene Konstitution des Staates Israel, der eben deswegen kein Staat wie andere
Staaten ist.
Kapitalistische
Verbrennungsreligion und Ölregimes
Dennoch wäre das Bild unvollständig und falsch,
würde man im Hinblick auf den Nahost-Konflikt vom Interessen-Hintergrund des
westlichen Öl-Imperialismus völlig absehen. Da der Nahe Osten aus
natürlich-geografischen Gründen der Lagerstätten die Hauptquelle des
Treibstoffs für die kapitalistische Weltmaschine ist und bleibt, muss sich hier
auch der weltpolizeiliche Zugriff des "ideellen Gesamtimperialisten"
konzentrieren. Das ist ein nicht unwesentlicher Aspekt der kulturalistischen
Feinddefinition gegen den Islam; denn gerade an den geheiligten Quellen der
kapitalistischen Verbrennungsreligion, in der sich der irrationale Selbstzweck
der "Verwertung des Werts" gewissermaßen energetisch materialisiert,
müssen die islamistischen Barbarisierungsprodukte der Globalisierung natürlich
als besonders "störend" und gefährlich empfunden werden (weitaus mehr als
etwa in Pakistan oder Indonesien).
Wie in jeder anderen Hinsicht verwickelt sich der
"ideelle Gesamtimperialismus" aber auch und gerade auf diesem spezifischen
Terrain von Globalisierung und weltpolizeilichem Zugriff in unauflösliche
Widersprüche, die hinter der praktischen Zweckrationalität den objektivierten
Wahn des Systems und seiner Macher aufscheinen lassen.
Dies betrifft zunächst die Art und Weise der
Positionierung gegenüber der arabisch-moslemischen Welt selbst. Die offene
westliche Militärdiktatur über den gesamten Raum der zentralen Ölförderung
wäre ein kaum dauerhaft durchzuhaltender Notstand mit wahrscheinlich
katastrophalen Rückwirkungen auf das fragile Babel-Gebäude des abgehobenen
transnationalen Finanzkapitals. Deshalb muss die gesamtimperiale Weltpolizei
nach durchaus traditionellem Muster unbedingt darauf setzen, autochthone
Regimes der Region an sich zu binden und sie als legitimatorische Subsouveräne,
"Flugzeugträger" und militärische Hilfssheriffs zu benutzen.
Im brodelnden Hexenkessel eines Raums, in dem
hunderte Millionen von Menschen leben und Jahr für Jahr mehr von ihnen unter
dem Juggernaut-Rad der kapitalistischen Globalisierung sozial zermalmt werden,
kann eine derartige weltpolizeiliche Strategie letzten Endes nur schief gehen.
Der Ölreichtum, aufgrund seines besonderen Status im Gefüge des Weltsystems
ein materialisierter spekulativer Gegenstand mit deshalb wild schwankendem
Preisniveau, hat extrem ausschließenden Charakter:
Die überwältigende Mehrzahl der Araber wird auf ein
Armuts- und Elendsniveau gedrückt, während sich die winzige Oberschicht des
energetischen Krisenreichtums mit einer selbst für Dritte-Welt-Verhältnisse
außergewöhnlichen Obszönität darstellt. Die binnenökonomischen "Entwicklungsprojekte"
der diversen arabischen Öl-Regimes, besonders derjenigen in der Golf-Region
mit den bei weitem größten Fördermengen und Reserven, sind trotz der immensen
Kapitalkraft großenteils verbal und kosmetisch geblieben; die
"Petro-Dollars" wurden und werden in ihrer Masse postwendend in die
transnationalen Finanzmärkte gepumpt statt in Realinvestitionen angelegt und
bilden ein Segment des globalen "fiktiven Kapitals" im spekulativen Finanzüberbau
der dritten industriellen Revolution.
Insgesamt zerfallen die nahöstlichen Öl-Regimes der
arabischen Länder und des Iran allerdings in zwei auch heute noch abgeschwächt
sichtbare unterschiedliche Formen, die auf ursprünglich ganz entgegengesetzte
Ausgangspunkte verweisen. Zum einen handelt es sich um typische ehemalige
Regimes nachholender Modernisierung mit inzwischen durch die Bank
gescheiterten, aber in der Vergangenheit ernst gemeinten
Industrialisierungsprojekten, mit republikanischer Staatsform und diktatorischem
"Führerkult", wie ihn etwa Saddam Hussein oder Ghaddafi repräsentieren.
Zum ändern haben wir es mit der Form nach archaischen Monarchien zu tun, die
ein klerikal-feudales Schreckensregiment ausüben und einer Hollywood-Version
des "finsteren Mittelalters" oder der pubertären Phantasie eines Karl May
entsprungen sein könnten. Waren die republikanisch-diktatorischen
Modernisierungsregimes wie in Ägypten, dem Irak, Algerien usw. in der Regel
laizistisch, so stellten die (durchwegs sunnitischen) Monarchien, Sultanate,
Emirate etc. und ihre bizarren Prinzengarden von Anfang an synthetische
"Gottesherrschaften" mit einer erzreaktionären islamistischen Legitimation
dar, deren religiöser Ausdruck in keiner Weise auf den vormodernen Islam
zurückgeht, sondern ganz im Gegenteil ein Resultat der absurden, in sich
widersprüchlichen Einbindung in kapitalistische Moderne und Weltmarkt ist.
Das gilt ganz besonders für das saudische
Wüstenregime, das in seiner jetzigen staatlichen Gestalt überhaupt erst im 20.
Jahrhundert entstand. Die Dynastie der Saudis gründet sich auf die sunnitische
religiöse Bewegung der Wahhabiten, die Ende des 18. Jahrhunderts von dem
Sektenführer Abd al-Wahhab gegründet wurde und den Wüstenscheich Ibn Saud für
sich gewann. Den Wahhabiten ging es von Anfang an um die reaktionäre Wendung zu
einer phantasmatischen "ursprünglichen Form" des Islam, verstanden als
rohe Buchstäblichkeit und verbunden mit besonders rigiden rituellen
Äußerlichkeiten, drakonischer Henkersherrschaft und extremer Unterdrückung der
Frauen. In Gestalt der saudischen Monarchie hat dieses religiöse Wahngebilde,
eine frühe moslemische Version der heute im postmodernen Zerfallsprozess global
und massenhaft sich ausbreitenden quasipolitisch-religiösen Sektenbewegungen,
die äußere Form eines modernen Staatswesens angenommen und sich mit dem
kapitalistisch vermittelten Ölreichtum aufgeblasen.
Eine Zwischenstellung zwischen den gescheiterten
laizistischen Modernisierungsregimes und den monarchisch-reaktionären
Gottesherrschaften, die von vornherein nur religionspolitische Nischenformen
und gleichzeitig ein unselbständiges Segment des globalen Finanzkapitalismus
bildeten, nimmt das Regime des schiitischen Islamismus im Iran ein, das aus
dem gewaltsamen Sturz der Schah-Monarchie (1979) hervorgegangen ist: Hier
überschneiden sich Modernisierungsversuche im Hinblick auf Industrieprojekte
und rückwärtsgewandte Gottesherrschaft, republikanische Form und
quasi-religiöse Konstitution, sodass sich (abgesehen von der mehr religiösen
als politischen Ikonisierung der Figur Khomeini) kein "Führerprinzip" wie
in den laizistischen Diktaturen herausbilden konnte.
Im Krisenprozess der Globalisierung sind nun
inzwischen die eigenständigen Modernisierungsversuche auch im Nahen Osten
derart vollständig ruiniert und aufgerieben worden, dass ein Verwilderungs-
und Konversionsprozess sämtlicher Regimes eingesetzt hat. Die letzten
Dinosaurier-Diktatoren der gescheiterten Industrialisierung, die gleichzeitig
nicht mehr wie im Kalten Krieg zwischen den Supermächten lavieren können,
werden unberechenbar und neigen zu herostratischen Abenteuern wie etwa Saddam
Hussein; unter den bröckelnden Fassaden der Staatsformen macht sich wie auch
sonst in der Welt eine bewaffnete Clan- und Bandenherrschaft breit; und das
ideologische Moment der gesellschaftlichen Allgemeinheit verlagert sich mehr
und mehr auf die Form des militanten pseudoreligiösen Wahns.
Die Religion kann dabei auf der Basis von
kapitalistischer Warenproduktion und Weltmarkt weder zur reproduktiven
Konstitution der Gesellschaft wie in den vormodernen agrarischen
Zivilisationen zurückkehren noch kann sie an die Stelle der modernen Politik
treten; sie wird vielmehr im Nahen Osten so extrem wie nirgendwo sonst zur
destruktiven und mörderischen Krisenideologie, die das unhaltbare Regime kapitalistischer
Konkurrenzverhältnisse nicht überwindet, sondern in einer phantasmatischen
Gestalt zuspitzt und dem Todestrieb der modernen Vernunft in ihrem weltlichen
Scheitern Ausdruck verleiht. Weil der Nahe Osten in vieler Hinsicht einen
Brennpunkt der aktuellen weltkapitalistischen Widersprüche bildet, nimmt der
manifeste Todestrieb dort auch besonders drastische gesellschaftliche Ausmaße
an. In diesem Sinne gehen sämtliche moslemischen Länder des Nahen Ostens, auch
die bislang laizistischen, in einen islamistischen Zersetzungsprozess über und
laden sich mit scheinreligiösen Hassideen auf.
Es ist bezeichnend, dass der gesamtwestliche Öl- und
Sicherheitsimperialismus unter Ägide der USA seine Herrschaft über diesen
zentralen strategischen Raum von Anfang an in erster Linie vermittels der
reaktionären monarchischen Gottesherrschaften zu festigen suchte. Nicht die
vordergründig der westlichen Lebensweise eigentlich viel näher stehenden
laizistischen Modemisierungsregimes wurden als autochthone Sub-Repräsentanten
bevorzugt, sondern die im Sinne der Modernisierung bloß dysfunktionalen,
klerikal-politischen Alptraumregimes der saudischen Monarchie, der Sultanate,
Emirate und Folter-Königreiche; und nicht obwohl, sondern gerade weil sie ihrem
Wesen nach sich als besonders finster und gleichzeitig ökonomisch wie
militärisch absolut unselbständig darstellen. Keineswegs zufällig waren es
andererseits Staaten wie der Irak, Libyen und die schiitisch-islamistische
Republik des Iran, die zu "Schurkenstaaten" erklärt wurden, obwohl dort
zum Beispiel die Position der Frauen auch heute noch erwiesenermaßen relativ
besser ist als in den reaktionären Gottesmonarchien.
Der "ideelle Gesamtimperialismus" hat sich
zielsicher die instabilsten, absurdesten, wie einem blutigen Märchen
entsprungenen Wahn- und Terror-Regimes der zentralen Ölregion als "befreundete
Mächte" ausgesucht. Indirekt und unfreiwillig ist es ein doppeltes
Eingeständnis: nämlich erstens, dass der westliche Herrschaftsanspruch seinem
Wesen nach selber bösartig und irrational ist; und zweitens, dass "Entwicklung"
und "Modernisierung" gerade für die wichtigste Region der Ölförderung
trotz gegenteiliger offizieller Ideologie in Wirklichkeit niemals vorgesehen
waren. Es bedurfte der Teufelspakte mit den schlimmsten, reaktionärsten, von
Anfang an durch islamische Bigotterie und Terrorherrschaft der (archaisch
interpretierten) "Scharia" gekennzeichneten Feudalmonster, um den schnöden
und scheinrationalen Interessen-Materialismus der kapitalistischen Verbrennungskultur
in der zentralen Ölregion abzusichern. Je mehr "Schurkenstaaten" der
Westen definiert, desto mehr sehen seine eigenen Freunde und Helfer in den
Krisenregionen wie Hollywood-Schurken oder wie von Hieronymus Bosch erfundene
Figuren aus.
Die Nemesis einer derartigen Ausgeburt imperialer
Legitimation ließ nicht auf sich warten. In den Brüchen und Erschütterungen der
Globalisierung, von denen die sozialökonomische Grundlage sämtlicher Regimes
des Nahen Ostens ins Wanken gebracht oder schon hinweggefegt wurde, bilden
gerade die mit dem Westen befreundeten klerikal-feudalen Regimes den Schoß,
der die Dämonen des "antiwestlichen" Islamismus ohne jede emanzipatorische
Lebensperspektive gebiert. Wie auch sonst in der Welt und wie in seinem eigenen
Inneren sind es auch hier und vor allem hier die eigenen Kreaturen des
"ideellen Gesamtimperialismus", die in der neuen Qualität
gesellschaftlicher Zersetzungsprozesse aus seinen politisch-strategischen
Labors entfliehen und mit besonderer Intensität als "Störfaktoren" eines
blind zuschlagenden Terrors durch das Ölimperium irren.
Keineswegs zufällig ist es gerade die wahhabitische
Version einer besonders primitiven und brutalen islamistischen Sektenreligion,
wie sie gleichzeitig die saudische Staatsreligion bildet, die zum Quellgrund
eines Großteils des islamischen terroristischen Untergrunds und seiner
Strömungen geworden ist. Die Fürsten des Terrors mit dem zu trauriger
Berühmtheit gelangten Osama bin Laden an der Spitze, ihre Ideologen,
Organisatoren und Helfershelfer sind zu neunzig Prozent Abkömmlinge der feudal-klerikalen
Clans, auf die sich der Westen stützt, weil ihre Schreckensgestalt seinem
eigenen imperialen Herrschaftsanspruch am besten entspricht. In der immer
weniger beherrschbaren sozialökonomischen Krise werden jedoch die selbstgezüchteten
Dämonen viel unberechenbarer und gefährlicher als die übrig gebliebenen Dinosaurier
der gescheiterten Modernisierungs-Regimes. Der Westen bekommt mit den
wahhabitischen und verwandten geheimen Terrorgesellschaften nicht nur, was er
verdient, sondern auch, was er selbst gepäppelt und herangezogen hat.
Der Antiimperialismus und die
antisemitische Krisenideologie
Weil die völlig anachronistischen klerikal-feudalen
und gleichzeitig finanzkapitalistischen Ölregimes immer schon eine viel zu
unsichere Stütze waren, bedurfte es allerdings einer zweiten, anders gearteten
Sicherungsmacht in der zentralen Ölregion; und es ist kein Geheimnis, dass der
Staat Israel weitgehend, wenn auch nicht widerspruchsfrei diese Funktion eines
Knüppels des westlichen "ideellen Gesamtimperialismus" gegen die von
antiwestlichen Ressentiments in ihren Ländern bedrohten, unsicheren Kantonisten
der arabischen Regimes als bitteren Preis für seine Existenz ausüben muss. Nur
deshalb wurde Israel von den USA protegiert, mit modernsten
Hightech-Waffensystemen üppig aufgerüstet und von den westlichen Staaten massiv
alimentiert. Aus eigener Kraft wäre Israel bis heute ökonomisch nicht
lebensfähig, jedenfalls nicht auf dem jetzigen Lebensniveau, das sich mit
seinen westlich-hochentwickelten Standards (allerdings mit demselben internen
Gefälle von Reichtum und Armut wie inzwischen auch im Westen) krass von den
umliegenden arabischen Ländern abhebt.
Diese ökonomischen und politisch-militärischen
Tatsachen wurden und werden immer wieder von traditionell linken
"antiimperialistischen" Positionen gegen Israel mit wütender Aggressivität
geltend gemacht; eine Feindbestimmung, die dem Kontext des selber längst
gescheiterten Paradigmas "nationaler Befreiung" als einer Form
nachholender Modernisierung in der südlichen Peripherie des Weltmarkts
entstammt. Bis heute gilt Israel in der gesamten Dritten Welt als
imperialistischer Scherge und "Unrechtsstaat", den es eigentlich gar nicht
geben dürfte. Die eigenen Interessen, die Israel dabei vertritt, werden allein
als subimperialer oder quasi-kolonialer Anspruch wahrgenommen; der israelische
Nationalismus und Expansionismus qua Siedlungsbewegungen und militärischer
Eroberung geradezu als Inbegriff des Nationalismus schlechthin und die
ethno-religiöse Selbstdefinition des israelischen Staates (die offizielle und
juristische Diskriminierung nichtjüdischer Staatsbürger eingeschlossen) als
Inbegriff des Rassismus schlechthin verstanden.
Die sowjetische Gegenweltmacht der historischen
Nachzügler an der Peripherie des Weltmarkts mit "marxistischer"
Legitimationsideologie hatte sich stets um ein Bündnis mit den laizistischen
arabischen Modernisierungs-Regimes bemüht und unter dem Begriff des
"Zionismus" ein antiisraelisches Feindbild aufgebaut, in dem sich das
Bündnis Israels mit dem westlichen Kapitalismus und Imperialismus reflektierte
- "Israel war während des Kalten Krieges ein geschätzter militärischer
Verbündeter (der USA), sein Militär testete Waffensysteme, sein Geheimdienst
stand für Operationen zur Verfügung, die die CIA nicht ausführen konnte"
(Birnbaum 2002). In der Epoche des Kalten Krieges übernahm der größere Teil der
politischen Linken in der ganzen Welt unter dem Titel des "Antizionismus"
dieses Feindbild. Israel wurde gänzlich unter die damals vorherrschende
Konfliktkonstellation der "nationalrevolutionären" antiimperialistischen
Bewegungen der Dritten Welt gegen das westliche Imperium der Pax Americana
subsumiert. Der Preis, den Israel für seine Existenz an den Imperialismus
zahlen musste, wurde in ein "antiimperialistisches" Argument gegen diese
Existenz umgemünzt.
Damit mussten jedoch ein ganz anderer Aspekt und
eine viel wesentlichere Dimension der weltkapitalistischen Entwicklung
ausgeblendet bleiben, die der traditionelle Antiimperialismus aus seiner
verkürzten Perspektive nicht wahrnehmen konnte und wollte. Dieser Sichtweise
entging nämlich die entscheidende Rolle des Antisemitismus in der bürgerlichen
Ideologiebildung und damit eine zentrale Widerspruchsebene des Imperialismus
selbst. Zwar hatte die Linke stets Auschwitz und den Holocaust als großes
Verbrechen der Nazis gebrandmarkt, aber dennoch die Rolle des Antisemitismus
eher heruntergespielt und jedenfalls nicht als wesentlich oder konstitutiv für
den Nationalsozialismus im besonderen und den Kapitalismus im allgemeinen
begreifen wollen.
Diese spezifische Begriffslosigkeit lässt sich
letzten Endes wiederum aus dem allgemeinen Defizit erklären, dass die
marxistische, arbeiterbewegte und antiimperialistische Linke im Zentrum wie in
der Peripherie auf die gesellschaftlichen Kategorien des Kapitalverhältnisses
(des modernen warenproduzierenden Systems) beschränkt blieb: also eben auf jene
Option einer juristisch-politischen staatsbürgerlichen Gleichstellung,
Beteiligung und Mitregierung der "Arbeiterklasse" und ihrer Institutionen
einerseits; und auf die Option jener nachholenden Modernisierung und
eigenständigen Teilnahme am Weltmarkt als nationalökonomisches und
nationalstaatliches Subjekt andererseits. Aus dieser Perspektive, in der (bei
den Sozialdemokraten wie bei den Leninisten) eine objektive Grenze und Krise
der kapitalistischen Gesellschaftskategorien als undenkbar erschien, musste
sich die Aufmerksamkeit auf den sozialökonomischen und politischen, scheinbar
rationalen Interessengehalt und Interessenhorizont der Ideologiebildungen
konzentrieren. Mit anderen Worten: Die Ideologie wurde dem Interesseninhalt von
Subjekten des warenproduzierenden Systems zugeordnet - "Arbeiterklasse"
gegen "Kapitalistenklasse", "nationale Befreiung" gegen
"Imperialismus".
Der moderne Antisemitismus konnte so bestenfalls als
eine Art sekundäres ideologisches Täuschungsmanöver der "herrschenden
Klasse" oder als spezifische konkurrierende Interessen-Ideologie des
"Kleinbürgertums" verstanden werden, womit die "Arbeiterklasse" oder
die "unterdrückten Völker" von ihren eigentlichen Interessen abgelenkt
werden sollten (Manipulationstheorie). Völlig ausgeblendet blieb dabei wiederum
die ideologische Dimension des gemeinsamen, die Klassen und Nationen
übergreifenden und historisch objektivierten gesellschaftlichen
Formzusammenhangs von abstrakter Arbeit, Wert, Warenform, Geld,
betriebswirtschaftlicher Produktion, Markt (Weltmarkt) und Staat. Dieser
Formzusammenhang erschien vielmehr praktisch wie theoretisch als
unüberschreitbare ontologische Grundlage von Gesellschaftlichkeit überhaupt.
So musste Unbegriffen bleiben, dass das moderne
warenproduzierende System nicht nur vordergründig und oberflächlich
divergierende "Interessen" innerhalb dieser Form ideologisch ver- und
einkleidet, sondern aus den Widersprüchen und Krisen der gemeinsamen, alle
sozialen Kategorien umfassenden modernen Form-Konstitution auch gemeinsame,
klassen-übergreifende Ideologiebildungen aufsteigen, die viel wesentlicher und
gefährlicher sind als die durchsichtige und oberflächliche Legitimation von
kapitalistisch geformten "Interessen" der diversen Klassen, sozialen
Schichten und Funktionsträger. Alle Momente von "Weltanschauung",
Erklärungsmustern und handlungsleitenden Ideen, die nicht klassen-soziologisch
ableitbar schienen, wurden so in ihrer Tragweite missverstanden und eben als
bloße Täuschungsmanöver abgetan.
Die arbeiterbewegte und marxistische Linke, auch und
gerade die radikale Linke (und die anarchistische Linke nicht weniger) bemerkte
so nicht einmal, dass sie selber wesentliche Bestandteile der bürgerlichen
Ideologie positiv aufgenommen hatte als "Erbe" der protestantischen und
aufklärerischen Ideologie- und Geistesgeschichte in der Herausbildung des
warenproduzierenden Systems. Dazu gehörte insbesondere die Heiligsprechung des
Abstraktums "Arbeit", das in seinem Charakter als repressiver Selbstzweck
direkt aus den Ideen des Protestantismus und der so genannten Aufklärung des
18. Jahrhunderts in die Ideologie der Arbeiterbewegung übergegangen war. Indem
ausgerechnet die "Arbeit" als zentraler Bezugspunkt vermeintlich dem
Kapital gegenüber geltend gemacht wurde, spielte die Linke lediglich einen
Aggregatzustand des Kapitals gegen den anderen aus. "Arbeit" erschien so
nicht als das, was sie ist, nämlich die spezifisch kapitalistische
Tätigkeitsform ("abstrakte Arbeit" bei Marx), also ein ganz und gar dem
Kapital angehöriger Begriff und ein entsprechendes reales Verhältnis, sondern
als ontologische Menschheitskategorie.
Aus dieser zentralen ideologischen Gemeinsamkeit mit
dem bloß äußerlich und soziologisch verkürzt als Gegner definierten Kapital
mussten zwangsläufig weitere, uneingestandene Gemeinsamkeiten einerseits und
jene völlige Unterschätzung der klassen-übergreifenden Krisen- und
Vernichtungsideologien von Rassismus und Antisemitismus andererseits
erwachsen. Weil die westliche Arbeiterbewegung, die östlichen Regimes
nachholender Modernisierung und die südlichen "nationalen Befreiungsbewegungen"
nur innerhalb der gemeinsamen gesellschaftlichen Formen des Kapitals agierten
und mit der "Arbeit" die kapitalistische Tätigkeitsform affirmierten,
konnten sie auch nur eine verkürzte Kritik des Kapitalverhältnisses
formulieren, die weit hinter die Marxsche Begrifflichkeit des Kapitals als
eines irrationalen Fetisch-Verhältnisses zurückfiel. Teils wurde nur die
mangelnde staatliche Regulationsfähigkeit des warenproduzierenden Systems durch
dessen bürgerliche Repräsentanz beklagt, teils die Unterordnung der
"produktiven Arbeit" unter das "Finanzkapital" kritisiert, ohne den
inneren, vermittelten (und auf wachsender Stufenleiter krisenhaften)
Zusammenhang von "produktiver Arbeit" und "Finanzkapital"
(zinstragendem und spekulativem Geldkapital) zu erkennen.
Diese notorisch verkürzte Kapitalismuskritik wies
stets Berührungspunkte mit der antisemitischen Ideologie auf. Denn der
Antisemitismus konnte gerade dadurch zur mächtigen Krisenideologie der Moderne
aufsteigen, dass er die inneren Widersprüche der kapitalistisch konstituierten
Gesellschaft und aller ihrer Subjekte veräußerlichte und sozial-biologistisch
naturalisierte: "Die Juden" wurden zur negativen Repräsentanz des
"unproduktiven" Finanzkapitalismus und zur Inkarnation aller destruktiven
Erscheinungen der modernen warenproduzierenden Gesellschaft erklärt, anknüpfend
an einschlägige Zuschreibungen schon seit dem Mittelalter und der frühen
Neuzeit (etwa bei den antisemitischen Hetztiraden eines Martin Luther).
Demgegenüber sollten die "ehrliche Arbeit" und das "produktive
Kapital" als positiver Gegenpol gesetzt werden; bei den Nazis bekanntlich
als ideologische Gegenüberstellung von "raffendem" ("jüdischen")
Kapital und "schaffendem" ("deutschen" oder "nationalen")
Kapital. An die Stelle einer Kritik der realen, klassen-übergreifenden Formen
des warenproduzierenden Systems trat so die bösartige, auf eine besondere,
"rassisch" definierte Gruppe von Subjekten bezogene Zuschreibung nach der
Devise: Arbeit", Wert, Ware, Geld und Kapitalform wären wunderbar und
segensreich, wenn bloß die Juden nicht wären. Diese Zuordnung, die den an sich
irrationalen Systemzusammenhang in einer zusätzlichen Dimension sekundärer
Irrationalität zu "erklären" vorgab, stieg zur mordideologischen Welterklärung
schlechthin auf.
Die Ideologie von Arbeiterbewegung und
antikolonialer "nationaler Befreiungsbewegung" grenzte sich zwar stets
von den offen antisemitischen Strömungen ab, indem sie sich statt auf den
phantasmatischen "Rassengegensatz" auf den sozialen Klassengegensatz und
den nationalen Interessengegensatz von kolonialen bzw. postkolonialen
Nationalökonomien/Nationalstaaten und westlichem Imperialismus berief.
Aber erstens blieb auch diese rationaler anmutende
soziale "Befreiungsideologie" ähnlich wie der Antisemitismus auf der
subjektiven Ebene von schieren Willens- und Machtverhältnissen stehen, ohne die
Ebene der Konstitution dieser Subjekte (also deren Geformtheit durch die
Kategorien des warenproduzierenden Systems) zu berühren. Nicht die Negativität
des gemeinsamen Formzusammenhangs, also auch der eigenen Subjektform, rückte
ins Visier der Kritik, sondern allein die negative "Macht" der
"Gegensubjekte": bei den Antisemiten die zugeschriebene subjektive Macht
und Bosheit der "jüdischen Gegenrasse", bei der Arbeiterbewegung die
subjektive Macht und vermeintliche "Verfügungsgewalt" der "sozialen
Gegenklasse", bei den "nationalen Befreiungsbewegungen" die
subjektive Macht und globale Eingriffsgewalt der imperialen Zentralmächte.
Weil sie auf derselben logischen Ebene von bloß
"gesetzter", nicht aus dem gesellschaftlichen Formzusammenhang
hergeleiteter Willens-Subjektivität stehen blieben wie der Antisemitismus,
resultierend aus einer ähnlich (wenngleich nicht identisch) verkürzten
Kapitalismuskritik, konnten Arbeiterbewegung, "nationale Befreiungsbewegung"
und radikale Linke sich ihrer impliziten Berührungspunkte mit dem Antisemitismus
nicht bewusst werden. Dies galt erst recht für die Ontologisierung und Anbetung
der "produktiven Arbeit", die sie ebenfalls mit den Antisemiten teilten.
Damit musste jedoch zweitens auch die
klassen-übergreifende Gefährlichkeit der antisemitischen Ideologie Unbegriffen
bleiben. Die Verkürzung auf den klassensoziologischen Horizont der
kapitalistisch konstituierten Form des Interesses und die überhistorische
Ontologie der "Arbeit" ließen die Illusion entstehen, als wären "Arbeiterklasse"
und "unterdrückte Völker" qua ihrer kapitalistisch vorgegebenen Interessen
und ihrer existentiellen Ontologie bereits "an sich" (unabhängig von ihrem
wirklichen Bewusstsein) transzendierende Kräfte, deren angeblich
"objektive" system-über-windende Potenz nur abgerufen zu werden brauchte
qua sozialer "Kämpfe". Die ihrer konstituierten Subjektform inhärente Form
der Konkurrenz schien eine bloß äußerlich von der subjektiven
"Gegenmacht" aufgedrungene, "uneigentliche", im Grunde fremde
Verhaltensweise zu sein; somit auch der Antisemitismus eine
"klassenfremde", bloß irrtümlich oder manipulativ aufoktroyierte
Ideologie.
Diesem Denken musste völlig entgehen, dass die
soziale Emanzipation vom Kapital Verhältnis zwar prinzipiell möglich ist,
jedoch keineswegs "an sich" durch die "objektive" Stellung
bestimmter Klassen oder anderer moderner Subjekte im Gefüge des
warenproduzierenden Systems bereits angelegt; eine objektivistische Illusion,
wie sie auch noch Marx im Gegensatz zu seiner eigenen kritischen Theorie der
Moderne als eines gesellschaftlichen Fetisch-Verhältnisses formuliert hatte.
Vielmehr sind alle Subjekte dieses Systems ohne Ausnahme, also auch die
"Arbeiterklasse", die "unterdrückten Völker" usw. qua ihrer eigenen,
vom System konstituierten Form (Reproduktions- und Subjektform) gleich weit
entfernt vom Übergang zur Emanzipation von dieser negativen gesellschaftlichen
Form. Die Entstehung von radikal kritischem Bewusstsein gegen diese Form (ein
Bewusstsein, an das die radikale Linke bis heute nicht herangekommen ist,
geschweige denn die sozialen Bewegungen) ist möglich; aber allein aus der
negativen Verarbeitung der Erfahrungen von Leid und Zumutung in dieser Form,
nicht aus einem positiven ontologischen Grund. Es gibt keine ontologische
Bestimmung, die "außerhalb" oder "unterhalb" des Systems angesiedelt
wäre (etwa in der Form der Arbeit) und somit als objektiver Hebel angesetzt
werden könnte, um das repressive und destruktive gesellschaftliche Verhältnis
zu kippen.
Deshalb sind soziale und andere "Kämpfe" nicht
per se schon emanzipatorisch, auch nicht die "Kämpfe" von Arbeiterklasse,
unterdrückten Gruppen, Minderheiten usw. Vielmehr ist der "Kampf in der Form
der Konkurrenz die allgemeine Bewegungsform des kapitalistischen Systems
selbst. Dies gilt auch für die verschiedenen Formen der Fortsetzung der
Konkurrenz mit anderen Mitteln, besonders der unmittelbaren Gewalt.
Über die Form der Konkurrenz, also auch über die
eigene Subjektform hinauszukommen, erfordert ein - wie Marx sich einmal
ausgedrückt hat - "enormes Bewusstsein", das keineswegs von den
Verhältnissen selbst nahe gelegt wird. Was sich vielmehr spontan entwickelt,
ist die Konkurrenz bis aufs Messer innerhalb der konstituierten gemeinsamen
Subjektform. Dabei bildet die Konkurrenz zwischen Lohnarbeitern und
Repräsentanzen des Kapitals (Management, Unternehmerverbänden etc.) nur eine
Ebene in den vielschichtigen Verlaufsformen der Konkurrenz. Dazu gehört
selbstverständlich die Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalien selbst, zwischen
den verschiedenen Branchen, zwischen den Fraktionen und Gruppierungen der
Lohnarbeiter, zwischen den Nationalökonomien/Nationalstaaten usw.; aber auch
die "ethnische", rassistische Besetzung der Konkurrenzverhältnisse und
schließlich (als äußerste Reaktion) deren antisemitische
Schein-Transzendierung.
Genau dieser Zusammenhang eines komplexen Netzes von
vielfältigen Linien der Konkurrenz ist keineswegs subjektiv-manipulativ,
sondern objektiv begründet durch die allgemeine Subjektform des
warenproduzierenden Systems qua Arbeit, Geld und Staat, während der
emanzipatorische Ausbruch aus dem "eisernen Gehäuse" dieser Form überhaupt
nicht objektiv im Sinne einer Determination des Verhaltens begründet sein kann.
Das warenproduzierende System und seine abstrakt-irrationale Tätigkeitsform
als unüberwindbare ontologische Bestimmung vorausgesetzt, kann es sehr wohl im
"objektiven" Interesse von Lohnarbeitern liegen, die Konkurrenz nationalistisch,
rassistisch usw. zu besetzen oder sich ihr qua antisemitischer Ideologie
phantasmatisch entziehen zu wollen.
Sicherlich gab es in der Geschichte der
Arbeiterbewegung auch so etwas wie eine transzendierende Sehnsucht nach
Befreiung vom Joch der Konkurrenz, nach einer solidarischen Gesellschaft
jenseits des modernen Systems. Diese überschießenden Momente mussten jedoch
unabgegolten bleiben, eben weil sich die bisherigen sozialen Bewegungen der
Moderne nicht zu einem Begriff dieser Transzendenz und daher auch nicht zu
einem entsprechenden Handeln aufschwingen konnten.
Die verkürzte Kapitalismuskritik innerhalb der
Formen des Kapitals selbst blieb notwendigerweise auch in den Verlaufsformen
der Konkurrenz stecken. Das gegenseitige Abschlachten der Lohnarbeiter in den
Weltkriegen war daher kein Verrat und kein Verhalten gegen ihre ontologische
Natur, sondern die Konsequenz ihrer affirmierten statt kritisierten Subjektform
selbst. Weder die politischen Arbeiterparteien noch die Gewerkschaften (allein
dieses Auseinanderfallen in eine politische und eine soziale Repräsentanz
verweist schon auf die bürgerliche Form-Konstituiertheit der Arbeiterbewegung)
konnten jemals eine solidarische Kraft über die Konkurrenzverhältnisse hinaus
entwickeln. Die Aufhebung der Konkurrenz blieb partiell und auf das Motiv der
bürgerlichen Gleichstellung beschränkt, die Einbettung in die Konkurrenzverhältnisse
als solche dagegen universell.
Wie schon im alltäglichen, institutionell regulierten
Interessenkampf die sozialen Bewegungen von der Logik der Konkurrenz
durchdrungen wurden, so auch in der Gewaltexplosion der Weltkriege zwischen den
nationalimperialen Mächten. Dabei wurde das soziale Risiko der universellen
Konkurrenz unmittelbar als Todesrisiko manifest und damit die letzte Konsequenz
der modernen allgemeinen Subjektform sichtbar. Dasselbe kann über die Macht des
Antisemitismus und die Niederlage der europäischen Arbeiterbewegung gegen
Faschismus und Nationalsozialismus gesagt werden. Auch diese Katastrophe war
eine Folge der Involvierung in das System der universellen Konkurrenz. Es
besteht sogar ein direkter Zusammenhang zwischen der Fortsetzung der Konkurrenz
durch die Weltkriege und durch das Aufkommen des Antisemitismus in allen
Klassen und Schichten. Gewerkschaften, marxistische Parteien und selbst die
radikale Linke waren nur gemacht für die Austragung des vermeintlich
"rationalen" Interessengegensatzes in der Formhülle des
warenproduzierenden Systems. Selbst die militante Zuspitzung des Kampfes
verließ nie diesen Raum bürgerlicher Rationalität. Die Linke verschloss sich
dem an sich irrationalen Charakter des Systems, und deshalb wurde sie auch in
den Krisen regelmäßig vom machtvollen Ausbruch dieser Irrationalität überrollt.
Während die Linke auch noch bei den schwersten Krisenbrüchen das gar nicht mehr
realisierbare "rationale Interesse" in der bürgerlichen Form trotz des
temporären objektiven Zusammenbruchs dieser Form aufrecht erhalten wollte,
machte der Antisemitismus die Irrationalität des Interesses selbst als
Ausgrenzungs- und Vernichtungswillen geltend und gewann gerade dadurch
machtvolle gesellschaftliche Wirkung.
Der Antisemitismus ist (im Unterschied zum
gewöhnlichen Rassismus) nicht eine Besetzung der Konkurrenz neben anderen,
sondern die ultima ratio der Konkurrenz in einer Situation, in der die
immanent-scheinrationale Austragung der Konkurrenz ausweglos wird. In einer
solchen Situation droht die allgemeine bürgerliche Subjektform selbst zu
zerbrechen. Der Antisemitismus verspricht einen Ausweg, ohne diese gemeinsame
Subjektform des Systems in Frage zu stellen, indem er das Problem irrational
und mörderisch veräußerlicht. So kann er trotz und gerade wegen seiner
intellektuellen Primitivität eine klassen-übergreifende Anziehungskraft auf
eine große Masse von kapitalistisch konstituierten Individuen ausüben, vom
Arbeitslosen bis zum Manager, vom landlosen Bauern der Dritten Welt bis zum
Ölprinzen, vom Maschinenschlosser bis zum Investment-Banker, von der allein erziehenden
Mutter bis zum Model, vom Sonderschüler bis zum akademisch gebildeten
Intellektuellen.
Mit anderen Worten: Das antisemitische Syndrom
bildet die letzte und äußerste krisen-ideologische Reserve des modernen
warenproduzierenden Systems. Der Antisemitismus lauert in der allgemeinen
bürgerlichen Subjektform selbst; er wird regelmäßig in den Einbrüchen der
Krise abgerufen, und zwar umso massiver, je heftiger die Krise sich äußert. So
war die Epoche der Weltkriege und der großen Weltwirtschaftskrise mit einer
beispiellosen Welle des Antisemitismus verbunden. In Deutschland, das in der
spezifischen Geschichte seiner kapitalistischen Nationsbildung eine besonders
aggressive, eliminatorische Version des antisemitischen Syndroms mit besonderer
sozialer Tiefenwirkung ausgebrütet hatte, überflutete diese Welle die staatlichen
Institutionen selbst: Der Antisemitismus wurde hier in der Situation der Weltwirtschaftskrise
nicht bloß als Ventil für die angestaute soziale Aggressivität der Konkurrenzverhältnisse
genutzt, sondern zur Staatsdoktrin erhoben und als Menschheitsverbrechen des
Holocaust realisiert.
Keineswegs zufällig bildete der deutsche
Nationalsozialismus gleichzeitig eine gesellschaftliche Formierung, in der sich
der Todestrieb aus der leeren Form kapitalistischer Subjektivität heraus in
einem bis dahin beispiellosen Ausmaß manifestierte. Denn die Logik des
Antisemitismus und der inhärente Todes- und Vernichtungstrieb kapitalistischer
Subjektivität liegen dicht beieinander; der latente irrationale Drang nach
Weltvernichtung im metaphysischen Vakuum des Werts und seiner selbstzweckhaften
Verwertungsbewegung drückt sich in der äußersten Zuspitzung als Vernichtungswunsch
gegen die Juden und gleichzeitig als Selbstvernichtungswunsch, als Wunsch nach
der Vernichtung von physischer Existenz überhaupt aus.
Rein äußerlich, militärisch und machtpolitisch,
haben die Nazis den Zweiten Weltkrieg verloren; aber in der bislang
weitestgehenden Realisierung des im Innersten des Kapitals lauernden
Weltvernichtungswunsches waren sie enorm erfolgreich in der Identität von
fabrikmäßiger Judenvernichtung und organisierter Selbstvernichtung. Die auf
oberflächliche bürgerliche Rationalität vergatterte Linke, die nicht an die
Kritik der basalen kapitalistischen Formen herankam und daher auch nicht an die
Kritik und Abschüttelung ihrer eigenen kapitalistisch konstituierten
Subjektform, musste so notwendig auch die Leere dieser Form, die darin liegende
dämonische Potenz der schieren Irrationalität und deren Vernichtungskonsequenz
verfehlen, also auch das Wesen des modernen Antisemitismus.
Die Kehrseite dieses katastrophalen Defizits war
nach dem Zweiten Weltkrieg der ebenso defizitäre frischfröhliche Antizionismus
der Linken, der den Judenstaat nicht in seiner welthistorischen,
weltkapitalistischen Dimension als Konsequenz des modernen Antisemitismus
erkennen wollte, sondern Israel unter das antiimperialistische Paradigma der
nationalrevolutionären Bewegungen der Dritten Welt subsumierte, deren
Kapitalismuskritik noch weitaus stärker verkürzt war als diejenige der
westlichen Arbeiterbewegung.
Der Staat Israel und sein paradoxer
weltkapitalistischer Status
Gewiss lassen sich dem Staat Israel, der
selbstverständlich Bestandteil der kapitalistischen Weltökonomie ist, der Form nach
alle negativen Attribute moderner Staatlichkeit und des modernen
warenproduzierenden Systems zuweisen. Aber aufgrund seines besonderen
Charakters, weil er letzten Endes ein unfreiwilliges Produkt der Nazis und der
Vernichtungslogik kapitalistischer Subjektivität in ihrer äußersten Zuspitzung
ist, enthält dieser Staat als erster, letzter und einziger ein entscheidendes
Moment der Rechtfertigung, das übrigens sämtlichen nationalrevolutionären
Staatsbildungen der Dritten Welt (die ja auch samt und sonders sehr bald eine
hässliche Fratze anzunehmen begannen) von vornherein abging. Es ist ein
kapitalistischer Staat und somit ein Ausdruck kapitalistischer Subjektform, der
aber gleichzeitig in paradoxer Verschränkung die äußerste Notdurft und Notwehr
gegen die Konsequenz dieser Subjektform selbst darstellt.
Und natürlich lässt sich gegen den Zionismus, der ja
ideell ein Produkt der europäischen nationalistischen Formierung des 19. und
frühen 20. Jahrhunderts war, grundsätzlich dieselbe Kritik vorbringen wie
gegen den modernen Nationalismus überhaupt; allerdings nur, wenn man den
spezifischen Kontext seiner Entstehungsgeschichte ignoriert und ihn ganz
abstrakt und isoliert als Nationalismus neben anderen Nationalismen
betrachtet. Aber der Zionismus lag eben nicht auf derselben Ebene wie die
übrigen Nationalismen. Er war vielmehr gerade ein sekundäres Produkt der
leidvollen jüdischen Erfahrung, dass die europäischen Nationen, und mit
besonderem Nachdruck der Ausgrenzung Deutschland und Österreich, nicht zur
Integration der Juden willens und fähig waren, sondern vielmehr den
Antisemitismus als das Konstrukt des "Anderen" (der Alterität) benötigten,
um sich selbst als positive nationale Identität setzen zu können.
Diese Setzung der Alterität nahm auch andere Ausdrucksformen
an, so den kolonialen Rassismus und die kulturalistische Abgrenzung der
europäischen Nationen untereinander; aber der Antisemitismus bildete die
extremste Ausprägung. Was für den jüdischen Staat als Staat gilt, trifft somit
auch für den zionistischen Nationalismus als Nationalismus zu: als Notwehr
gegen den primordialen europäischen Nationalismus selbst und dessen
antisemitische Setzung der Alterität kann er das, was er ist, nur in paradoxer
Verschränkung mit seiner eigenen Negation sein.
Dasselbe gilt für die unzureichenden, das moderne
warenproduzierende System nicht entscheidend transzendierenden sozialistischen
Bestandteile des Zionismus. Diese blieben natürlich ebenso verkürzt und in ein
nationalstaatliches Bezugssystem eingebunden wie die Kapitalismuskritik der
westlichen Arbeiterbewegung (aus deren Gedankenwelt die sozialistischen
Elemente des Zionismus ja auch entlehnt waren) und erst recht der nationalen
Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. In der Verbindung mit Staatsapparat
und nationalem Pathos musste sich der zionistische Sozialismus wie die
Arbeiterparteien der übrigen Welt an jene die europäische Nationalisierung
begleitende sozialregulative Tendenz annähern, wie sie vom späten 19. Jahrhundert
bis zum Zweiten Weltkrieg die allgemeine Entwicklungsgeschichte der kapitalistischen
Zentren bestimmte; etwa in Gestalt des Bismarckschen Sozialstaats und später
sozialdemokratischer Regierungsbeteiligungen, allgemein in der Herausbildung
von Arbeits- und Sozialbürokratien, des Weifare-Staates usw. - eine
Entwicklung, die bekanntlich in Proto-Formen fordistischer Regulation auch
Faschismus und Nationalsozialismus kennzeichnete. Eine perfide Verdrehung ist
es jedoch, dem Zionismus seinen Anteil an einer allgemeinen, übergreifenden
Strukturentwicklung spezifisch anzukreiden und das verkürzte sozialistische
Moment dabei in Verbindung zu bringen mit dem nationalen Sozialismus der
Nazi-Mörder.
Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Hinsichtlich
der sozialistischen Qualität des Zionismus (genauer: des so genannten
Arbeiter-Zionismus) lässt sich sogar empirisch ein besonderer emanzipativer
Aspekt feststellen: In Gestalt der Kibbuzim nahm dieses Moment in Israel
nämlich gerade nicht wie sonst überall eine repressiv-staats-kapitalistische,
sondern eine selbstverwaltet-genossenschaftliche Form an, die nirgendwo auf der
Welt eine ähnliche Bedeutung erlangen konnte. Selbstverständlich war auch diese
Form noch an das warenproduzierende System gefesselt; sie enthielt jedoch im
Anspruch der nicht-warenförmigen Binnenbeziehung, in ihren Aspekten der
Reproduktion jenseits von Geld und Staat, ein darüber hinausweisendes Moment;
wenn auch mit einer in vieler Hinsicht engstirnigen Gemeinschaftsideologie
verbunden.
Alles, was sich gegen den Nationalismus im
allgemeinen sagen lässt, trifft somit für den Zionismus nur bedingt und in
paradoxaler Verschränkung mit seinem Gegenteil zu. Israel ist trotz seiner
quasi kolonialen Beziehungen und Verhältnisse in der nahöstlichen Weltregion
kein wesentlich koloniales Projekt, wie es im selber längst bankrotten
nationalrevolutionären Diskurs der Dritte-Welt-Bewegungen immer wieder
bezeichnet worden ist, sondern es ist wesentlich ein Not- und Rettungsprojekt
angesichts des mit der modernen Subjektform verbundenen antisemitischen
Syndroms.
Deshalb kann von einem emanzipatorischen Standpunkt
aus Israel auch nicht der Prozess gemacht werden, weil es faktisch seine
Gründung wie seine Weiterexistenz und militärische Absicherung dem westlichen
Ölimperialismus verdankt. Genau umgekehrt muss gesagt werden, wie beschämend
und bedrückend es ist, dass das Existenzrecht Israels keine andere Garantie hat
als diese niederträchtige; beschämend gerade für die Linke in aller Welt, die
nie imstande war, diesem Existenzrecht eine bessere Garantie oder auch nur
Hilfestellung zu geben, ja dieses Existenzrecht nicht einmal selber
grundsätzlich anerkennen wollte. Die verkürzte, bloß oberflächliche,
unreflektiert in der kapitalistischen Subjekt- und Interessenform agierende
Kapitalismuskritik von Arbeiterbewegung, nationaler Befreiungsbewegung und
bisherigem Linksradikalismus ist historisch selber eine Bedingung dafür, dass
Israel notgedrungen sein Existenzrecht nicht anders erlangen konnte als in der
Anlehnung an den westlichen Ölimperialismus.
Genau diese Art der Garantie ist jedoch äußerst
widersprüchlich und damit unsicher. Der "ideelle Gesamtimperialismus" des
Westens stützt die Existenz Israels nicht aus einem Bewusstsein über den
wirklichen Zusammenhang von Antisemitismus und Zionismus heraus, der ihm
vielmehr völlig gleichgültig ist. Mehr noch: Weil gleichzeitig der
Antisemitismus die letzte ideologische Reserve des Systems bildet, fallen das
öl-imperialistische Motiv einerseits und das Motiv der ideologischen "Krisenbewältigung"
qua Duldung oder sogar Entfesselung des antisemitischen Syndroms als nicht zu
vermittelnder Widerspruch auseinander.
In einer zugespitzten Weltsituation ist es durchaus
nicht undenkbar (wenn auch keineswegs aktuell abzusehen), dass der "ideelle
Gesamtimperialismus" Israel fallen lässt und im Hinblick auf seine inneren
Widersprüche das antisemitische Ventil öffnet. In demselben Maße übrigens, wie
das westliche Augenmerk sich auf die kaspischen Ölreserven richtet, droht auch
auf dieser Ebene des vulgären Interesses die prekäre Garantie für das
Existenzrecht Israels zu verfallen. Eine weitere Variante der Abkehr von Israel
könnte darin bestehen, dass der Westen im Falle einer den Weltkapitalismus
existentiell bedrohenden Ölkrise (etwa durch akute Destabilisierung und
drohenden Umsturz in den Ölmonarchien) Israel den arabischen finanzkapitalistischen
Feudalmonstern zum Fraß vorwirft, um seine Weltwirtschaft zu retten.
Das Ende der "nationalen
Befreiungsbewegungen" und der Spuk der palästinensischen Staatsgründung
Die linke, antiimperialistische Kritik des Zionismus
(der Begriff der Kritik ist hier eigentlich unpassend; eher handelt es sich um
einen schwelenden Hass, der sich vielleicht gerade auch aus einer Ahnung vom
zweifelhaften Charakter der eigenen Motive speist) musste so an der wahren
Natur des Problems völlig vorbeigehen. Alles, was die nationalrevolutionären so
genannten Befreiungsbewegungen der Dritten Welt gegen den Zionismus vorbringen
konnten, galt erstens in potenzierter Form für sie selbst; und zweitens
ermangelten sie gänzlich jener tieferen Dimension der Rechtfertigung, wie sie
dem Zionismus aus der weltkapitalistischen antisemitischen Potenz und speziell
aus dem deutschen Menschheitsverbrechen zuwachsen musste. Die im übrigen, wie
sich längst herausgestellt hat, illusionäre Legitimierung einer eigenständigen
nationalökonomisch-nationalstaatlichen Teilhabe als Subjekt des Weltmarkts war
nicht nur viel schwächer als die zionistische, sondern auch von Anfang an
überall in der Dritten Welt (und egal in welcher ideologischen Einfärbung) mit
repressiven staatskapitalistischen Zwangsverhältnissen und jenen Ausgeburten
eines zutiefst anti-emanzipatorischen "Führer-Kults" verbunden.
Nachdem unter den Bedingungen von dritter
industrieller Revolution und Globalisierung das Paradigma
antiimperialistischer "nationaler Befreiung" gegenstandslos geworden ist
und die entsprechenden Regimes oder Bewegungen selber längst in barbarische
Zersetzungsprozesse übergegangen sind, hat sich auch der dazugehörige linke und
marxistische Diskurs erledigt, oder er nimmt in Bezug auf den Zionismus und auf
die Kapitalismuskritik offen antisemitischen Züge an und entfernt sich gänzlich
von den ursprünglichen emanzipatorischen Intentionen: eine Entwicklung, wie sie
allerdings schon immer latent im kategorial verkürzten und schlecht immanenten
Verständnis des antiimperialistischen und sozialistischen Denkens angelegt war
und jetzt in seinem Scheitern manifest wird.
Das jämmerliche Ende des
antiimperialistisch-nationalrevolutionären Paradigmas in der Globalisierung
zeigt sich an vielfältigen Erscheinungsformen der moralischen Verwahrlosung und
Barbarisierung der am Weltmarkt gescheiterten Entwicklungsregimes, an der
Verwandlung von übrig gebliebenen Führern der ehemals linken Guerilla in
gewöhnliche Warlords der Plünderungsökonomie, in Drogenbarone, Lösegeld-Erpresser
usw. Dort, wo der Anspruch einer nationalrevolutionären Staatsbildung
uneingelöst geblieben ist, aber dennoch aufrecht erhalten wird, obwohl die weltkapitalistische
Entwicklung längst darüber hinausgegangen ist, nimmt die Verwilderung und
Verwahrlosung des absurd gewordenen Anspruchs besonders drastische und
hässliche Formen an.
Das gilt wiederum ganz unabhängig von den jeweiligen
staatlichen Besonderheiten oder kulturellen Differenzen, zum Beispiel für die
Bewegung der Kurden ebenso wie für die tschetschenischen Aufständischen oder
die tamilischen Separatisten, um nur einige zu nennen. Die barbarische
Repression durch selber völlig instabile, vom Weltmarkt überrollte ex-imperiale
Großstaaten wie die Türkei und Russland oder durch ein Ethno-Regime wie das
singhalesische in Sri Lanka lässt sich dadurch ebenso wenig rechtfertigen wie
die nicht minder barbarischen Zugriffe der neuen gesamtimperialen Weltpolizei.
Aber die "nationalen Befreiungsbewegungen" bilden unter den veränderten
Weltverhältnissen keine Alternative mehr, nicht einmal eine illusorische; was
eben nur heißt, dass keine "Modernisierung" mehr mit emanzipatorischem Anspruch
besetzt werden kann, weil es auf dem Boden des modernen warenproduzierenden
Systems und seiner Ausgeburt der Nationalstaatlichkeit keine Entwicklung mehr
gibt, sondern nur noch gesellschaftliche Desintegration und Barbarei.
Diese veränderte historische Situation wird an
keinem der unverwirklicht geblichenen, dem Überhang der alten Epoche
zugehörigen nationalrevolutionären Projekte so deutlich wie gerade dem
palästinensischen, das mit Israel in feindlicher Intimität auf paradoxe Art
verbunden ist. Sind schon die realisierten Staatsgründungen der einstmals mit
mehr bürgerlich-aufklärerischen als kommunistischen Idealen aufgeladenen
Trikont-Bewegungen inzwischen am Weltmarkt und damit an ihrer eigenen
bürgerlichen Verfasstheit und Subjektform gescheitert, so nimmt das irreal
gewordene palästinensische Projekt jenseits dieses Realisierungs-Horizonts
geradezu schauerliche Züge an. Es ist das Zombie-Projekt einer toten Epoche,
das kein überschießendes emanzipatorisches Moment mehr besitzt, sondern nur
noch als bösartiger Wiedergänger spukt.
Der Spuk der PLO, verkörpert in Jassir Arafat als
der tragischen Figur eines historischen Untoten, verweist allerdings auf den
an sich immer schon negativen Charakter vermeintlich emanzipatorischer
nachholender moderner Staatsbildungen. Nachdem im Zuge der kapitalistischen
Globalisierung diese Illusion endgültig verflogen ist, wird auch empirisch
deutlich, dass das "Recht auf einen eigenen Staat" oder das "Recht auf
Staatsgründung" das genaue Gegenteil von sozialer Befreiung darstellt. Unter
den Bedingungen des beginnenden 21. Jahrhunderts könnte sich diese Parole nur
als das "Recht" entpuppen, "autonom" vor den Gesetzen der globalen
kapitalistischen Verwertungslogik kapitulieren und den Prozess der sozialen
Degradation eigenständig vollstrecken zu "dürfen". Genauso gut könnte man
das "Recht auf einen eigenen Konkursverwalter" oder das "Recht auf einen
eigenen Folterknecht" von eigenem Ethno-Fleisch und Blut fordern.
Insofern bildet die Staatsvision der PLO tatsächlich
einen der letzten Ausläufer der bürgerlichen Aufklärungsideologie, die sich zur
Kenntlichkeit ihres zutiefst repressiven und destruktiven Gehalts entpuppt
hat. Was die Palästinenser brauchen, ist kein "eigener Staat", sondern der
autonome Zugang zu materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen, die heute
durch die Form "Staat" gerade im Namen des globalisierten ökonomischen
Terrors mit ebenso harten wie sinnlosen Restriktionen belegt werden. Das
Beharren auf der längst obsoleten nationalstaatlichen Option, bei den Bewohnern
Palästinas das späteste und daher in seiner Irrationalität am leichtesten
historisch durchschaubare ideologische Konstrukt einer institutionellen und
kulturellen Einkleidung des warenproduzierenden Systems, nimmt zutiefst
pathologische Züge an.
Der palästinensische Phantom-Staat ist folgerichtig
der erste, der schon vor seiner offiziellen Gründung in den Prozess der
Zersetzung und Verwesung übergegangen ist. Staatsbildung und Entstaatlichung
fallen hier unmittelbar zusammen, ein historisches Paradoxon. Noch bevor sich
ein übergreifender Staatsapparat mit eigener Legitimation und Geschichte
herausbilden konnte, treten Clan-Strukturen, Warlords und Mafia-Strukturen an
dessen Stelle.
Gleichzeitig wird der palästinensische säkulare
Staat schon vor seiner Gründung von der pseudo-religiösen Islamisierung
überrollt. Als Überrest der laizistischen Modernisierungsimpulse steht die PLO
auf verlorenem Posten. Die islamistischen Bewegungen von Hamas und Dschihad
beginnen, ihr den Rang abzulaufen, und indem sie in diese Richtung zu
Zugeständnissen gezwungen ist, verliert das Staatsgründungsprojekt der PLO
zusehends seine modernisierungs-politische Legitimation.
Was übrig bleibt, ist die blanke Irrationalität des
blinden Hasses ohne jede gesellschaftspolitische Perspektive. Das ideologische
moderne Konstrukt des ethnopolitisch formierten "Volkes" erlebt in der
palästinensischen Version seine grauenhafte Realdekonstruktion: Indem dieses
konstruierte "Volk" sich in den abstrakten Universalismus des
Religionskrieges flüchtet und indem es seine eigenen Kinder auf "Selbstmordakademien"
schickt, gibt es faktisch zu, dass es keine Hoffnung auf Zukunft mehr hat; dass
es schon kein potentielles "Staatsvolk" mehr ist, sondern nur noch eine
dumpfe Masse von ziellos Verzweifelten.
Auch diese palästinensische Version einer
postmodernen Zerfallsgesellschaft, die schon keine Gesellschaft mehr ist, wird
durchzogen von den Strukturen entgrenzter männlicher Gewalttätigkeit und der
,,Verwilderung des Patriarchats". Zwar stellt es einen Gipfel postmoderner
"Chancen" -Individualisierung dar, dass inzwischen vereinzelt auch
halbwüchsige Palästinenserinnen ihr ungelebtes Leben als
Selbstmordattentäterinnen wegwerfen (und es ist ein Gipfel in der Verwilderung
des Patriarchats, dass sie von bärtigen Männern dazu ausgebildet werden). Aber
dennoch bleibt auch die palästinensische Identität von Vernichtung und
Selbstvernichtung im wesentlichen diejenige männlicher
Konkurrenz-Subjektivität.
In diesem Klima der absoluten Ziel- und
Zukunftslosigkeit jenseits einer denkbaren Nationsbildung ist auch der
Antisemitismus, mit dem sich der palästinensische Hass längst aufgeladen hat
(Nazi-Traktate aller Art zirkulieren im palästinensischen "Bildungswesen"
ebenso wie die unsägliche Hetzschrift und primitive Fälschung der so genannten
"Protokolle der Weisen von Zion" usw.), von anderer Natur als der europäisch-deutsche.
Im Prozess der nationalen Konstitution, der besonders beim historischen
Nachzügler Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert mit einer ethno-kul-turalistischen
und biologistischen, auf Herder und Fichte zurückgehenden Ideologie des
"Völkischen" einherging, bildete der (in Deutschland und Österreich
eliminatorische) Antisemitismus das Ferment dieser "völkischen" Formierung
des Nationalstaats indem er die Juden als negative Alterität konstruierte.
Aber in der palästinensischen Version kann dieses
Ferment gar nicht mehr wirken auch nicht mit einer anderen kulturellen
Konnotation, weil die staatliche Entbindung des palästinensischen
Nationalkonstrukts im Zeitalter von Globalisierung und Krisenkapitalismus nur
eine Totgeburt sein kann. Die "völkische" Formierung zerfällt schon in
ihre postnationalen (in diesem Fall islamistischen) Zersetzungsprodukte, bevor
sie überhaupt institutionell greifen konnte. Der Antisemitismus in der
aktuellen palästinensisch-arabischen Version, der keine gesellschaftlich
formierende Kraft mehr besitzt, wird direkt und damit weitaus offener als bei
den Nazis zum Moment des Todestriebs völlig desorientierter kapitalistischer Subjektivität;
er erscheint deshalb auch unmittelbar als die Wahnidee von
Selbstmordattentätern.
Die physische Zerstörung der ohnehin dürftigen
palästinensischen Infrastruktur durch die Kriegführung Scharons mag zur
Legendenbildung eines "heroischen Kampfes" beitragen; allerdings bedurfte
es nicht erst der Kriegsverbrechen der israelischen Armee und der gehässigen
israelischen Zerstückelungspolitik in Bezug auf das potentielle
palästinensische Territorium, um den Palästina-Staat bereits vor seiner Gründung
vollständig zu ruinieren. An sich schon ist ein palästinensischer Staat aus
eigener Kraft (sprich: Fähigkeit zur Teilnahme am Weltmarkt, nichts anderes
zählt mehr) noch viel weniger lebensfähig als der israelische; noch nicht
einmal auf gemeinarabischem Armutsniveau. Mangels realer
Entwicklungsmöglichkeiten war der PLO-Ap-parat von Anfang an auf den Status
eines Almosen-Empfängers der arabischen Liga (vor allem natürlich der
Ölprinzen), der EU, der USA usw. (ungefähr in dieser Reihenfolge) reduziert und
ist als solcher nach zahllosen Zeugnissen von Korruption völlig ausgehöhlt. Vor
der jüngsten Intifada waren bereits Schießereien und Auftragsmorde zwischen
rivalisierenden Gruppen so alltäglich wie in anderen Zusammenbruchsregionen
auch. Die innerpalästinensischen "Abrechnungen" der eigenen
Barbarisierungsprodukte stehen der israelischen Repression kaum nach und sind
erst durch die Kriegspolitik Scharons vorübergehend in den Hintergrund gerückt.
Dass nicht nur die Palästinenser selbst, sondern
auch die EU, die USA und der westliche "ideelle Gesamtimperialismus", ja
sogar teilweise die israelische Politik an der völlig obsoleten
Staatsgründungs-Option für die Palästinenser festhalten, zeigt den Grad an
Desorientierung und Wirklichkeitsfremdheit des gesamten offiziellen
"Realismus" an. Niemand will wahrhaben, dass die alten,
bürgerlich-aufklärerischen Formeln von Emanzipation, "Entwicklung",
Demokratie usw. vollständig entwertet und ungültig geworden sind. Solange sich
nicht eine qualitativ neue, radikal antikapitalistische und ihrem
Selbstverständnis nach von vornherein transnationale, poststaatliche soziale
Oppositionsbewegung herausbildet, kann das Verhängnis der gesellschaftlichen
Auflösungs- und Selbstzerstörungsprozesse nur weiter seinen Lauf nehmen; in
Palästina so buchstäblich selbstmörderisch und perspektivlos wie nirgendwo
sonst. Die erschreckend hilflosen und begriffslosen Äußerungen der wenigen
verbliebenen Vertreter kritischer Intelligenz im palästinensischen und
gesamtarabischen Raum können daran nichts ändern, weil sie nur Ausdruck der
Tatsache sind, dass bis jetzt nicht einmal die äußerste Not das Denken dazu
bewegen kann, sich von den obsoleten Paradigmen des vergangenen Zeitalters zu
lösen.
Israel als "Alien" der
kapitalistischen Welt und der arabische Neo-Antisemitismus
Von dieser bitteren Diagnose ist allerdings Israel
keineswegs auszunehmen. Das ist gerade deshalb umso tragischer, weil Israel
eben nicht bloß ein Staat unter Staaten und ein Konkurrent des virtuellen
palästinensischen Staates ist, sondern gleichzeitig ein auf die ganze Welt
bezogenes Paradigma gegen den mit kapitalistischen Reproduktionsformen
untrennbar verbundenen Antisemitismus - und damit trotz seiner Involviertheit
in das westlich-imperiale Gefüge gleichzeitig ein Widerstandspotential gegen
die letzte krisenideologische Reserve des Weltkapitals. Die schiere Existenz
Israels bildet eine Art Garantie dafür, dass sich der Marsch des
warenproduzierenden Weltsystems in die Barbarei noch nicht vollenden kann;
nicht weil dem Staat Israel an sich eine besondere metaphysische Qualität
innewohnt, sondern genau umgekehrt deswegen, weil die israelische Realexistenz
mit den letzten Konsequenzen der kapitalistischen Realmetaphysik unvereinbar
ist.
Insofern verlangt die (unfreiwillige) Bedeutung
Israels im Hinblick auf die kapitalistische Weltkrise auch eine viel genauere
Analyse, als sie etwa der palästinensischen oder jeder anderen
Krisengesellschaft der Peripherie zukommt; denn es handelt sich bei der
israelischen Entwicklung zwar um einen analogen Krisenprozess, der jedoch mit
einer zusätzlichen, direkt das Schicksal der ganzen Welt mitentscheidenden Bedeutung
aufgeladen ist.
Israel kann freilich als das, was es in seiner
modernen staatlichen Existenz ist, überhaupt nur existieren, solange es selbst
kein Bewusstsein über das weltgeschichtliche Wesen dieser Existenz hat. Die
Paradoxie dieser Existenz ist im kapitalistischen Dasein der jüdischen Menschen
überhaupt angelegt: So unreflektiert wie alle anderen Alltagsmenschen (oder auf
dem Gebiet des begrifflichen Denkens: so verkürzt wie alle anderen modernen
Theoretiker) auch wollen sie in ihrer falschen Unmittelbarkeit zunächst nichts
anderes als "arbeiten", ihr "Geld verdienen", "Wissenschaftler
sein" usw. und sich irgendwie eine stinknormale kapitalistische Identität
bilden. Der tief in der Moderne wurzelnde, mit der kapitalistischen Subjektform
als solcher verwachsene Antisemitismus jedoch lässt dies nicht zu. Je normaler
die jüdischen Individuen sein wollen, desto grausamer tritt ihnen die
Fremddefinition entgegen, die sie als schlechthinnige Alterität bestimmt. Ihr
schierer Wille zur Normalität fällt in eins mit der schieren Abnormität oder
Monstrosität des Kapitalverhältnisses.
Der jüdische Konformismus, auch in seiner Staat gewordenen
Form als Mitglied der scheinheiligen "Völkergemeinschaft" (sprich: der
Konkurrenz- und Mordgemeinschaft von National- und Staatsungeheuern), ist
immer schon damit konfrontiert, in all seiner sogar überdeterminierten
Anpassungsleistung gleichzeitig a priori als "Alien" gesetzt zu sein.
Diese Verungeheuerlichung des Jüdischen, wie sie dämonisch 'den zerreißenden
Selbstwiderspruch kapitalistischer Subjektivität darstellt, geht weit über alle
"normalen" Konkurrenzverhältnisse, Rivalitäten, Rassismen und auch die
kolonialistische kulturelle "Exotisierung" hinaus.
In allen diesen Negativbeziehungen und Setzungen von
Alterität erkennt sich doch die kapitalistisch formierte Menschheit in ihrem
bürgerlichen, negativen Menschsein durch alle Auseinandersetzungen hindurch
wieder. Der Antisemitismus jedoch ist das Andere der Konkurrenz selbst: Er
setzt eine absolute Fremdheit, die nichts anderes ist als die gesellschaftliche
Selbstentfremdung des warenproduzierenden Wesens, das als metaphysisches
Subjekt der leeren Wertform nicht von dieser Welt und doch in dieser Welt ist;
und er veräußerlicht diese absolute Selbstentfremdung in Gestalt des Juden als
des schlechthin Anderen und unversöhnbar Fremden, also auch des nicht mehr
politisch Vermittelbaren und Befriedbaren.
Das gilt auch für den Staat Israel als Staat. So
können die Israelis nur Staatsvolk und Staat unter Staaten sein, indem sie
gleichzeitig für alle anderen das absolut Andere als abstrakte Negativität
darstellen, ob sie wollen oder nicht. Dieser Zusammenhang ist von jüdischen
Autoren innerhalb wie außerhalb Israels immer wieder in aller Schärfe benannt
worden, so von Nathan Glazer 1975: "Juden haben meistens so sein wollen wie
alle anderen. Sogar die Gründung des Staates Israel erfolgte ironischerweise
in dem Bestreben, Juden so sein zu lassen wie alle anderen auch: Sie würden nun
einen Staat haben, wären nicht mehr länger ein sonderbares, heimatloses Volk,
sondern ein Volk wie alle anderen. Aber es ist anders gekommen. Israel hat den
besonderen Status der Juden verstärkt, nicht vermindert. Kein anderer Staat
weiß so sehr, dass ein verlorener Krieg seine Zerstörung und sein Verschwinden
bedeuten würde" (zit. nach: Eisenstadt 1987/1985, 576).
Dabei muss allerdings unterschieden werden zwischen
dem "besonderen Status" der Juden im Sinne der welthistorischen und
weltpolitischen Stellung des Staates Israel im Kontext des modernen
Antisemitismus und seiner gesellschaftlichen Funktion einerseits, und dem
spezifischen, unmittelbar feindlichen Konkurrenz-Verhältnis zu sämtlichen
arabischen Nachbarn andererseits, das keineswegs von vornherein mit dem
modernen (primär westlichen) Antisemitismus verbunden war. Deshalb ist die
arabische Feindschaft gegen Israel zumindest in ihren Anfängen nicht
unmittelbar gleichzusetzen mit dem weltgesellschaftlichen "besonderen
Status" der Juden oder gar dem eliminatorischen Antisemitismus der Nazis.
Ursprünglich bezieht sich die Nichtanerkennung
Israels bei den Arabern (gerade dort, wo sie offiziell ist) nur auf die
staatliche Existenz, nicht auf die physische oder soziale Existenz der
Menschen. Mit anderen Worten: Den Juden in Palästina wird (in Umkehrung des
palästinensischen Problems) das "Recht auf einen eigenen Staat" aberkannt,
nicht das Lebensrecht. Sie sollen als Bürger eines phantasierten palästinensisch-arabischen
Staates leben, der Intention nach ebenso subaltern und in "Home-lands"
eingepfercht wie jetzt umgekehrt die Palästinenser unter israelischer Staatsherrschaft.
Was natürlich bedeuten würde, dass es kein Israel als Zufluchtsort für die
Verfolgten des globalen Antisemitismus mehr gäbe. Aber diese Seite des Problems
hat die palästinensisch-arabische Seite sowieso nie interessiert. Die
palästinensischen Vertreter sprechen bestenfalls von sich als den "Opfern der
Opfer", ohne den Kontext der kapitalistischen Weltgesellschaft und ihrer
destruktiven Widersprüche reflektieren zu wollen.
Aber diese Haltung ist eben zunächst noch nicht
dasselbe wie der eliminatorische Antisemitismus der Nazis oder überhaupt der
westliche Antisemitismus. Die Juden sind im arabisch-islamischen Raum
ursprünglich nicht als die absolute Alterität im Nations-, Staatsbildungs- und
Modernisierungsprozess gesetzt. Bis heute gibt es in den meisten nahöstlichen
Ländern jüdische Gemeinden mit Synagogen und relativ unbehelligten
Existenzmöglichkeiten, auch in der islamistischen Republik des Iran. Der
natürlich vorhandene Migrationsdruck in Richtung Israel ist nicht großen Verfolgungswellen
geschuldet, sondern entstammt anderen (kulturellen und vor allem sozialen)
Motiven. Selbst beim gegenwärtigen Stand der Hass-Eskalation würde eine
militärische Niederlage Israels wahrscheinlich außer zum Verlust seiner
staatlichen Existenz zwar auch zu traditionellen Rache-Gemetzeln, Plünderungen
und Vertreibungen führen, was grauenhaft genug wäre, nicht aber zum
fabrikmäßigen Judenmord nach dem Muster der Nazis, der eben nicht das Resultat
eines typischen modernen Interessenkonflikts an der Reibungsfläche realer
Gegensätze war, sondern direkt aus dem Inneren der allgemeinen kapitalistischen
Subjekt-Metaphysik kam - also auf einer ganz anderen Abstraktionsebene sich
vollzog, und der gerade deswegen so extrem und leidenschaftslos durchgeführt
wurde. Die Singularität von Auschwitz wird durch die arabische Judenfeindschaft
nicht aufgehoben.
Wenn sich das palästinensisch-arabische
Hasspotential gegen Israel inzwischen tatsächlich mit Momenten des importierten
europäisch-westlichen Antisemitismus und dessen gesellschaftlicher Funktion als
Krisenideologie auflädt, etwa in der Hetze palästinensischer Medien und im
"Bildungswesen" der Autonomiebehörde, so ist dies weniger dem realen
Gegensatz der hautnahen Interessen-Auseinandersetzung um Land. Wasser usw.
geschuldet, sondern vielmehr dem negativen Aufgehen beider Konfliktparteien im
destruktiven Prozess der kapitalistischen Globalisierung, der die
interessenmäßige Realität des Konflikts irreal oder surreal und die Subjektform
sämtlicher Interessen obsolet macht.
Aber sogar beim modernen Antisemitismus kommen die
Araber als Bestandteil der kapitalistischen Welt gewissermaßen zu spät. Sie
können diese krisenideologische Reserve nicht mehr wie die Nazis als
gesellschaftlichen Formierungsprozess mobilisieren. Die antisemitische
irrationale Welt- und Krisenerklärung kann unter den Bedingungen der
Globalisierung nirgendwo mehr eine staatliche Form als organisiertes
Vernichtungsprogramm im gesellschaftlichen Maßstab annehmen, schon gar nicht in
Palästina. Eben deswegen ist der eliminatorische Impuls dabei gleichzeitig
unmittelbar auto-aggressiv (Selbstmordattentäter); er vermischt sich praktisch
mit den elementaren kapitalistischen Konkurrenzverhältnissen der materiellen
Reproduktion vor Ort und ideologisch mit den religionspolitischen
Zerfallsprodukten von Staatlichkeit: auch dies ein Unterschied zu den Nazis;
ganz abgesehen von der Differenz zwischen Erster und Dritter Welt, die auch im
formell homogenen Raum der Globalisierung erscheint und die ideologischen
Muster färbt.
Vom Zionismus zur Herrschaft der
Ultras: Die
innere Krise der israelischen Gesellschaft
Israel seinerseits wird als kapitalistischer Staat
unter kapitalistischen Staaten nicht nur die absolute Alterität nicht los,
sondern durchläuft gleichzeitig im planetarischen kapitalistischen Raum
dieselben Krisenprozesse wie alle anderen Staaten auch; und aufgrund seiner
prekären, alimentierten ökonomischen Existenz mit im Vergleich zum Westen
besonderen Gefährdungspotentialen. Da Israel jedoch, um kapitalistischer Staat
sein zu können, seine wahre Legitimation selber nicht wissen darf oder nur in
einer ganz äußerlichen Weise (zwar positiv als Zufluchtsort für die vom
Antisemitismus verfolgten Juden, aber nur mit einem selber äußerlichen,
verkürzten Verständnis von der Natur dieses Antisemitismus), muss es ebenso
regressiv und bösartig auf die Krise reagieren wie alle anderen, von denen es
als die absolute Andersheit definiert wird: Der jüdische Drang nach
bürgerlicher Normalität reproduziert sich auch in der negativen Form. Das als
Alterität gesetzte Israel kann zwar natürlich nicht den Antisemitismus als
letzte innere Reserve bürgerlicher Subjektivität mobilisieren, aber es ist in
Wahrheit dennoch in dieser Welt und von dieser Welt, integraler Bestandteil
ihrer Entwicklung und damit auch ihrer Entwicklung zur Barbarei.
Die aufgezwungene Alterität macht Israel nicht zur
positiven historisch-gesellschaftlichen Alternative und seine Menschen nicht
zu anderen Menschen. Bleibt der antiarabische Rassismus im Westen eine
rassistische Äußerung neben anderen und ist nicht dafür geeignet, in der
drohenden Selbstzerstörung des bürgerlichen Subjekts als Projektion der
Selbstentfremdung auf ein äußeres Objekt zu dienen, so muss er in Israel als
Notbehelf und Ersatz für die dort nicht mögliche antisemitische Krisenform
kapitalistischer Subjektivität dienen. Insofern geht Israel seinen eigenen Weg
in die Barbarei, der sich allerdings in seinen Erscheinungsformen von dem der
arabischen feindlichen Nachbarn kaum unterscheidet.
Wie überall in der Welt erweist sich auch in Israel
die reaktionäre religionspolitische Mobilisierung als genuines
Zersetzungsprodukt kapitalistischer Subjektivität und Staatlichkeit; hier eben
mit antiarabischen Projektionen aufgeladen. Und auch in Israel hat der dem
Globalisierungsprozess folgende Barbarisierungsprozess eine Vorgeschichte;
genauer gesagt: Es werden alte und in der Vergangenheit scheinbar verblasste
innere Gegensätze neu besetzt und gerade in diesem speziellen Fall aggressiv
mit den äußeren amalgamiert. Der führende israelische Soziologe und Historiker
Shmuel N. Eisenstadt (Hebräische Universität Jerusalem) hat Mitte der 80er
Jahre eine umfassende Untersuchung über "Die Transformation der israelischen
Gesellschaft" (Eisenstadt 1987/1985) vorgelegt, die in dieser Hinsicht als
äußerst aufschlussreich gelten kann.
Entscheidend ist dabei der Umstand, dass der
säkulare Arbeiter-Zionismus von Anfang an in den jüdischen Gemeinden sowohl der
verschiedenen Weltregionen als auch innerhalb des Staates Israel auf den
erbitterten Widerstand der orthodoxen und ultra-orthodoxen Religiösen stieß.
Tatsächlich haben die Ultra-Orthodoxen (die so genannten Haredim), in Israel
keineswegs eine kleine Minderheit, den jüdischen Staat bis heute so wenig
anerkannt wie die militantesten Palästinensergruppen und islamischen Staaten.
Dieser innerjüdische Konflikt geht weit zurück; er speiste sich stets aus dem
Affekt der klerikalen Reaktionäre gegen die moderne Verweltlichung und
innerkapitalistische Interessenpolitik - gewissermaßen die jüdische Version der
"modernen Antimoderne", also der bloß regressiven und autoritären
bürgerlichen Gegenaufklärung ohne jedes Moment emanzipatorischer Kritik.
Im Unterschied zur westlichen Welt gingen diese
reaktionär-autoritären Kräfte jedoch in Israel nicht einfach als
rechtsradikale Strömung in der bürgerlichen Politik auf. Sie bildeten zwar
Parteien und nahmen an der Politik teil, jedoch auf eine ganz äußerliche und
rein taktische Weise, während sie im Prinzip antistaatlich blieben.
Antistaatlich jedoch natürlich nicht in irgendeinem Sinne anarchischer
Emanzipation, sondern einzig und allein als Programm einer direkten
Unterordnung des Lebens unter den spezifisch religiösen Fetischismus mit einer
quasi-religionspolitischen Mobilisierung.
Wie aus der Untersuchung Eisenstadts hervorgeht,
wurden die Ultra-Orthodoxen im Laufe der israelischen Entwicklung zunächst als
eine Art Dinosaurier des Judentums betrachtet, die irgendwann aussterben
würden. Unter dem Eindruck des Holocaust erhielten sie als Einwanderer weit
reichende institutionelle Zugeständnisse, damit sie trotz ihrer Ablehnung des
Staates Israel in diesem Staat leben konnten. Das alles musste nicht als
schwerwiegend und verhängnisvoll erscheinen, solange sich listen sich auch mit
der ethnopolitischen "Orientalisierung" zu verbinden begann: ein Gebräu
von religiösem Fundamentalismus, extremistischem Nationalismus und Ethnopolitik
in einer einzigen Mixtur; geradezu ein Musterbeispiel von zerstörerischer
Barbarisierungspolitik in Krisenzeiten.
Mindestens ebenso problematisch ist die Anreicherung
der israelischen Gesellschaft mit einem zweiten, anders motivierten
rassistischen Potential; nämlich durch die seit dem Zusammenbruch der
Sowjetunion geradezu lawinenartige Immigration aus Russland und den
GUS-Staaten: "Tagtäglich kann man auf dem Ben-Gurion-Flughafen eine Aeroflot-
oder eine Transaero-Maschine sehen, die eine Ladung Immigranten aus den
untersten Schichten der ehemaligen Sowjetunion abliefern" (Kampfner
2002). Der "jüdische" Charakter, ohnehin wie alle anderen
Ethno-Definitionen ein historisches Konstrukt und wie der Staat Israel selbst
nur durch den weltweiten Antisemitismus legitimiert, ist bei vielen dieser
Immigranten eher zweifelhaft; sind doch die Zustände in der ex-sowjetischen
Zusammenbruchsgesellschaft vielerorts derart grauenhaft, dass selbst die
Migration in das bedrohte Israel als sozialer Ausweg erscheint. Gemäß dem
israelischen Rückkehrgesetz müssen die Immigranten "belegen, dass sie einen
jüdischen Großelternteil haben. Entsprechende Papiere kann man sich in den meisten
exsowjetischen Städten jederzeit gegen Geld beschaffen" (Kampfner 2002).
Ähnlich wie bei der Migration der so genannten deutschstämmigen Russen in die
BRD zeigt sich hier die Zweifelhaftigkeit und Doppelbödigkeit "ethnischer"
Kriterien überhaupt; diese sind stets nach zwei Seiten hin rassistisch
besetzbar, sowohl im einschließenden als auch im ausschließenden Sinne.
Die immigrierten Russen wirklicher oder gefälschter
jüdischer Herkunft, meistens aus der russischen Unterschicht der so genannten
"Sows" stammend, haben das Profil der israelischen Gesellschaft weiter
verändert: "Heute stellen sie ein Sechstel der Gesamtbevölkerung. Über
Generationen geprägt durch die sowjetische Diktatur und entsprechend mental
konditioniert, wissen diese Sows über Israel nur wenig und über die Araber
überhaupt nichts. Während sie früher die .Schwarzen' aus den mittelasiatischen
oder transkaukasischen südlichen Sowjetrepubliken hassten, richten sie ihren
Hass nunmehr auf die Palästinenser und auf die muslimischen Länder, die Israel
umgeben.. . Die einzigen Sows, die regelmäßig Kontakt mit den Palästinensern
pflegen, sind die organisierten Kriminellen, die so lukrativen Tätigkeiten
nachgehen wie der Hehlerei mit gestohlenen Autos oder Waffenschmuggel ins
Westjordanland und in den Gaza-Streifen. Die Waffen bekommen sie von
israelischen Soldaten, die damit ihren Drogenkonsum finanzieren" (Kampfner
2002).
Praktisch alle der immigrierten "Sows" sind
konsequent säkular ausgerichtet und haben mit dem religiösen Wahn der
Ultra-Orthodoxen nichts am Hut. Aber sie haben den säkularen Teil der Israelis
eben nicht im emanzipatorischen Sinne verändert. Denn was sie mitbringen und
neu orientieren, ist der ganz gewöhnliche säkulare Rassismus kapitalistischer
Unterschichten, der mit dem religiös motivierten widersprüchlich verschmilzt:
"Es ist nicht die Religion, die sie antreibt. Die meisten Sows haben keine.
Sie bilden mit anderen Gruppen der israelischen Gesellschaft eine zufällige und
unheilige Allianz, die die politische Landschaft stark verändert hat"
(Kampfner 2002).
Zusätzlich verschärfend musste wirken, dass Israel
als integraler Bestandteil der kapitalistischen Weltgesellschaft gleichzeitig
natürlich deren ökonomischer und ideologischer Mainstream-Tendenz unterworfen
ist. Unter der globalen Ägide des Neoliberalismus mit den grundsätzlichen
Vorgaben von Privatisierung, Deregulierung und Globalisierung mussten alle
sozialistischen Momente des Zionismus ihre Bindekraft einbüßen. Insbesondere
die Idee der Kibbuzim wurde weder intellektuell noch praktisch zeitgemäß
erneuert, sondern erlebte einen quantitativen und substantiellen Verfall. An
die Stelle der engen Gemeinschaftsideologie trat keine weitergehende Kritik der
kapitalistischen Subjektform, sondern wie überall in der Welt die schrittweise
Kapitulation vor den beiden eng miteinander verbundenen postmodernen Erscheinungen
von abstrakter Individualisierung qua Markt- und Konkurrenzzwang einerseits und
militantem Religions- bzw. Ethno-Kulturalismus andererseits.
In vordergründig politischer Hinsicht führten alle
diese Entwicklungen schon bald zu einer völligen Verschiebung der israelischen
Machtverhältnisse: Der säkulare Arbeiter-Zionismus wurde mehr und mehr an die
Wand gedrückt; es kam zu einem ,,anfangs langsamen, aber kontinuierlichen
Aufstieg von Gachal, dem späteren Likud-Block" (Eisenstadt, a.a.O., 526),
der politischen Mitte der reaktionär-barbarisierenden Tendenz mit einem ganzen
Kometenschwarm von ultra-religiösen, ultranationalistischen und
ethno-politischen Parteien, Splittergruppen, Sekten und fanatischen
Kampforganisationen, die heute mindestens das Zünglein an der Waage für Regierungsbildungen
sind: "Die Likud-Regierung von Ariel Scharon stützt sich auf sowjetische
Einwanderer, sephardische Juden und Ultraorthodoxe" (Kampfner 2002).
Diese Tatsachen der gesellschaftspolitischen
Entwicklung Israels werfen erst recht ein grelles Licht auf die unheimliche
Ignoranz des traditionellen linken "Antiimperialismus": Während dieser
weiterhin seine "antizionistischen" (immer schon und heute bis zur
Kenntlichkeit antisemitisch aufgeladenen) Parolen brüllt, ist der säkulare
Arbeiter-Zionismus in Wahrheit von den antizionistischen reaktionären und
postmodern-antizivilisatorischen Kräften Israels selbst längst überrollt
worden. Auch in dieser Hinsicht ist der "nationalrevolutionäre"
Antiimperialismus nur noch anachronistisch. Der Aufstieg des Likud-Blocks ging
mit einer systematischen Delegitimierung des ursprünglichen zionistischen
Denkens einher und war nahezu identisch mit einem doppelten, sowohl nach außen
wie nach innen gerichteten Zersetzungsprozess der israelischen Gesellschaft.
In der Orientierung nach außen verwandelte sich die
defensive Haltung gegenüber den Arabern in militante Feindseligkeit,
kulturalistische Arroganz und aggressive Eroberungsideen. Diese ideologische
Ausrichtung der rapide an Einfluss gewinnenden Ultras schlug sich praktisch in
einem neuen, rechtsextremistisch formierten Siedlungsprogramm nieder. Die 1974
gegründete Gush Emunim ("Block der Gläubigen") predigte ein neues, nicht
mehr sozialistisches, sondern religiös-nationalistisches "Pionier"-Ideal
mit dem Ziel, die arabischen Einwohner zu vertreiben und letzten Endes die
besetzten Gebiete Israel einzuverleiben: "Die Siedlungspolitik in Judäa und Samarien
schlug tatsächlich neue Richtungen ein, nachdem die Likud-Regierung an die
Macht gekommen war... Der Siedlungsprozess unter den Likud-Regierungen wies
einige typische Merkmale auf. Das erste davon war sein enormes Ausmaß. Während
in der Zeit von 1967 bis 1977 rund vierzig neue Siedlungen gegründet worden
waren, entstanden von 1976 bis 1983 fast doppelt so viele... Das zweite Merkmal
des Siedlungsprozesses unter den Likud-Regierungen betraf die Lage der neuen
Siedlungen. Während der Zeit des Arbeiterblocks hatte man Siedlungen in
Gebieten errichtet, die keine oder nur sehr wenige arabische Einwohner
aufwiesen... Die Ortswahl für neue Siedlungen veränderte sich dann weitgehend
unter den Likud-Regierungen. Ziel war es nun, ein Maximum an jüdischer Präsenz in
allen Teilen der Westbank zu schaffen. Statt Gebiete mit dichter arabischer
Bevölkerung auszusparen, bevorzugte man gerade diese Bezirke für
Siedlungsneugründungen und errichtete sogar Siedlungskerne in den großen
arabischen Städten wie Nablus, Ramallah und Hebron. Die genaue Lage der neuen
Siedlungen richtete sich nach der Identifizierung einer bestimmten Stätte mit
einer biblischen Siedlung..." (Eisenstadt, a.a.O., 754 f.).
Diese Besiedelung folgte keinem universellen Ideal
mehr wie der Arbeiter-Zionismus, also auch nicht einem impliziten Anspruch,
dass Platz für alle Verfolgten sein soll und sich darüber hinaus alle Menschen
überall niederlassen können, sofern dies nicht auf Kosten anderer geht. Ganz im
Gegenteil repräsentiert Gush Emunim eine ethno-politische "Säuberungs" - und
Enteignungspolitik mit einer völlig irrationalen (biblischen)
Legitimationsgrundlage. Dabei machte der heutige israelische Regierungschef
schon in den frühen 80er Jahren von sich reden: "Die allgemeine Siedlungspolitik
... stand unter der dynamischen Leitung von Ariel Scharon..." (Eisenstadt,
a.a.O., 757). Es war deshalb kein Zufall, dass unter Scharons Führung als
Verteidigungsminister 1982 der erstmals rein aggressive, nicht von außen
aufgezwungene Libanon-Feldzug geführt wurde, der in dem berüchtigten Massaker
von Sabra und Schatila bei Beirut gipfelte: Dort ermordeten mit Israel
verbündete christliche Milizen unter den Augen der israelischen Armee und mit
offenbar stillschweigender Billigung von Scharon mehr als 800 palästinensische
Zivilisten.
Nach innen ging die Rechtswende der israelischen
Gesellschaft wie auch sonst in der Welt mit einem steigenden Grad von
Korruptionsfällen und vor allem mit einer unversöhnlichen Spaltung einher, die
bereits in den 80er Jahren zu einer immer aggressiveren rechten Gewaltrhetorik
gegen die israelische Linke führte: "Diese Spaltungstendenzen verbanden sich
mit einem erheblichen Maß an zumindest verbaler Gewalt und Gesetzlosigkeit auf
vielen Ebenen, die ... in zahlreichen Lebensbereichen auch später anhielten.
Dies zeigte sich im Alltagsverhalten, im Straßenverkehr und in der hohen
Unfallrate. In engem Zusammenhang mit dieser Gewalt stand die zunehmende
Intoleranz gegenüber Gegnern, einschließlich der Neigung, sie mit extrem
abwertenden Bezeichnungen zu belegen. Diese Gefühle der Zwietracht und
Feindseligkeit, die heftig zum Ausdruck gebracht wurden, fanden sich vor allem
bei den Gruppen, die dem Likud nahe standen" (Eisenstadt, a.a.O., 745 f.).
Die Delegitimierung des Arbeiter-Zionismus ließ
keinen Aspekt aus, weder die Kibbuzim noch der Gewerkschaftsverband Histadrut
blieben verschont: "Von besonderer Wichtigkeit waren die plötzlich
ausbrechenden Hetztiraden ... gegen die Kibbuzim, dieses zentrale Symbol des
zionistischen Modells..." (Eisenstadt, a.a.O., 735). Wie die Kibbuzim litt
auch die Gewerkschaftsbewegung unter dem doppelten Druck von kapitalistischer
Krise und neoliberaler Globalisierung einerseits und rechtsradikal-religionspolitischer
Hetze andererseits: "Generell verlor die Histadrut mehr und mehr ihre Stellung
als Partner der Regierung bei der Formulierung ihrer Wirtschaftspolitik. Sie
wurde oft ins Abseits gedrängt..." (Eisenstadt, a.a.O., 771). Nicht einmal
die historische Rolle der zionistischen Hagana, des militärischen Kerns der
israelischen Staatsgründung, wurde von diesem Prozess der Delegitimierung
ausgenommen: "Sogar die Geschichte des Kampfes gegen die Briten und für die
Unabhängigkeit wurde umgeschrieben - vor allem mit dem Ziel, die Rolle der
Hagana bei all diesen Vorgängen herunterzuspielen" (Eisenstadt, a.a.O.,
767).
Am Ende seiner Untersuchung gibt Eisenstadt der
Hoffnung Ausdruck, dass Israel trotz dieser Entwicklung zu einem neuen
"dynamischen Gleichgewicht" finden und die selbst zerstörerischen
Tendenzen überwinden könnte. Leider haben die 90er Jahre das genaue Gegenteil
bewiesen. Die Ermordung von Ministerpräsident Jitzhak Rabin im November 1995
durch einen jungen religiös-nationalistischenjüdischen Fanatiker bildet nur die
Spitze eines Eisbergs, an dem Israel durch seine eigene fundamentalistische
Barbarisierung zu scheitern droht. In dieser Hinsicht liest sich die Untersuchung
von Michael Karpin und Ina Friedman, "Der Tod des Jitzhak Rabin" (1998),
im Original unter dem Titel "Murder in the Name of God" erschienen, wie
eine unheilvolle Fortsetzung der Analyse von Eisenstadt. Karpin und Friedman,
die zu den bekanntesten israelischen Journalisten zählen, zeigen in über weite
Strecken schonungsloser Offenheit, wie weit die religiös-fundamentalistische
und rechtsradikalnationalistische Zersetzung der israelischen Gesellschaft
inzwischen fortgeschritten ist, und zwar wiederum nach außen wie nach innen.
Dass mit Rabin noch einmal eine zionistisch-säkulare Regierung ins Amt gekommen
war, konnte zwar dem Willen der israelischen Mehrheit nach Frieden und
Ausgleich zugeschrieben werden; aber das blutige Ende dieser bloß Episode
bleibenden Politik verweist auf die bereits herangereifte Macht der
fundamentalistischen Tendenz.
Sowohl vor als auch nach der Ermordung Rabins war
eine bis heute anhaltende Forcierung der militanten Siedlungs- und
Enteignungspolitik gegen die arabische Bevölkerung zu beobachten, deren Ausmaß
selbst US-amerikanische Unterhändler regelmäßig erschreckte. Schon Eisenstadt
wies im letzten Teil seiner Untersuchung auf den rassistischen Charakter der
Siedlungsideologie und ihrer Unterstützung in den Spitzen der israelischen
Gesellschaft hin; wie er schreibt, "rechtfertigten auch manche religiöse
Gruppen ein extrem xenophobisches Verhalten, das sich auf die biblischen
Beschuldigungen gegen Amaiek berief (Eisenstadt, a.a.O., 787). Der
Likud-Ministerpräsident Begin hatte die Palästinenser öffentlich als
"zweibeinige Tiere" entmenschlicht; und in demselben Maße, wie die
Mehrheit der orthodoxen Rabbiner in Israel immer offener den jüdischen
"Gottesstaat" propagierte, wurde auch dieser Rassismus lauter. Der
Rabbiner Jitzhak Ginzburg, einer der extremistischen Hardliner, verfasste ein
Dekret, "wonach Jüdisches Blut und nichtjüdisches Blut nicht dasselbe'
seien" (Karpin/Friedman 1998, 18). Und der berüchtigte Rabbi Meir Kahane,
einer der Ideologen der fundamentalistischen Rechten, der 1990 selber bei einem
Auftritt in New York ermordet wurde, "bezeichnete ... alle Araber als eine
,Epidemie... Bakterien, die uns vergiften'..." (Karpin/Friedman, a.a.O.,
69).
Solche Leute waren schon vor mehr als einem
Jahrzehnt in Israel ungefähr so "marginalisiert" wie etwa ein Jörg Haider
in Österreich; zu Kahanes Begräbnis in Jerusalem "kamen etwa 15.000
Trauergäste, und kein Geringerer als der Oberrabbiner von Israel, Mordechai
Eliyahu, hielt die Totenrede... Zu denen, die gekommen waren, um Kahane die
letzte Ehre zu erweisen, gehörten auch zwei Minister und eine Reihe von
Knessetabgeordneten der Rechten" (Karpin/Friedman, a.a.O., 70).
Das rassistische Motiv wurde zum Treibsatz für eine
nicht abreißende Serie von Gewalttaten israelischer Siedler. So stürmte, um nur
ein frühes Beispiel zu nennen, im Sommer 1983 eine Gruppe maskierter
Extremisten in die Universität von Hebron, tötete mit Gewehr- und Granatfeuer
drei Palästinenser und verwundete zahlreiche weitere. In der Folgezeit wurden
reihenweise Bombenanschläge auf arabische Bürgermeister verübt. Herostratische
Groß-Anschläge auf die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem und andere moslemische
Symbole wurden geplant, wenn auch rechtzeitig verhindert. Selbst bekannte
politische Führer der Rechten beteiligten sich persönlich an Gewalttaten, so
das Mitglied der rechten "Aktionszentrale" gegen Rabin, Gadi Ben-Zimra. Im
Alltag terrorisierten gerade die exponiertesten, oft winzigen Siedlergruppen
im Schutz der Armee ihre palästinensischen Nachbarn, warfen ihre Gemüsestände
um, beschossen ihre Häuser, zerstörten ihre Autos usw. Erschreckend war der
Selbstmordanschlag des Arztes Dr. Baruch Goldstein aus der berüchtigten
Siedlung Kiryat Arba bei Hebron, der am 25. Februar 1994 mit einem
Schnellfeuergewehr 30 Palästinenser beim Morgengebet niedermähte, bevor er
selbst von wütenden Überlebenden gelyncht wurde. Goldstein erlangte in weiten
orthodoxen und nationalistischen Kreisen den Rang eines "Märtyrers", von
denen er sogar als "Opfer des arabischen Terrors", ja als "den Opfern des
Nazi-Holocaust gleichgestellt" bezeichnet wurde (Karpin/Friedman, a.a.O.,
104, 177).
Alle diese Gewaltausbrüche von
nationalistisch-rassistischem Hass und religiösem Wahn waren organisiert und
nicht bloß vereinzelt. Von der Armee auf Geheiß der Likud-Regierung mit Waffen
versorgt, bildeten die Siedler eigene private Milizen, die sich bald selbst
gegenüber der Likud-Administration zu verselbständigen und als "bewaffneter
Untergrund" gesetzlos und willkürlich zu agieren begannen: wiederum in
auffälliger Parallele zu den palästinensisch-arabischen feindlichen Nachbarn.
Die innere Zersetzung Israels hatte damit bereits die Warlord-Ebene erreicht.
Die weltliche israelische Presse bezeichnete "die Brennpunkte der
Siedlergewalt dann auch bald als .Wildwestbank'..." (Karpin/Friedman,
a.a.O., 64).
Paradoxerweise deuteten die Haredim und
Ultra-Nationalisten in demselben Maße, wie sie die Autorität und die
Institutionen des Staates Israel aushöhlten und zersetzten, gleichzeitig die
legitimatorische Grundlage dieses Staates radikal um: Während ihr
fundamentalistischer Aktivismus den Staat nach innen zerstörte, sollte er nach
außen die überdimensionalen Ausmaße eines "Groß-Israel" annehmen. Aus dem
weltlichen Zufluchtsort der Zionisten wurde der biblisch mystifizierte Ort
eines religiösnationalistischen Heilsversprechens; und aus dieser Sicht einer
rechtsradikal-religiösen fundamentalistischen "Antipolitik" kann eine
Grenzziehung überhaupt nicht das Resultat von Verhandlungen sein. Stattdessen
behauptet die fanatische Gläubigkeit, "es gebe nur eine Richtlinie, um die
Grenzen des Landes Israel festzulegen: Gottes Versprechen gegenüber dem
Erzvater Abraham (!): .Deinen Nachkommen will ich dies Land geben, von dem
Strom Ägyptens an bis an den großen Strom Euphrat' (l. Mose 15,18). Heute
umfassen diese Grenzen den größten Teil des Nahen Ostens, von Ägypten bis zum
Irak (!)..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 15).
Im Prozess der Verschmelzung von religiösem
Fundamentalismus, säkularem Nationalismus, Rassismus und Ethnopolitik
verwandelte sich die Lehre von der Erlösung durch den Messias in ein
postpolitisches Konstrukt, das sich selbst als religionspolitische
"Revolutionierung" der israelischen Gesellschaft definierte: "Die ,neomessianistische
Revolution' wurde von Synagogen und Bildungseinrichtungen aus gesteuert.
Synagogen waren nicht mehr nur Bethäuser, sondern auch Zentren der politischen
Indoktrination, Jeschiwas nicht mehr nur Stätten der Gelehrsamkeit, sondern
Kaderschmieden der großisraelischen Bewegung... Ein riesiger Propaganda-Apparat
wurde aufgebaut, unter anderem von angeblich unpolitischen Verbänden, die
Steuerfreiheit genossen... Eine .Erweckung' dieses Ausmaßes hatte es seit dem
Aufstieg des Zionismus ein Jahrhundert zuvor in der jüdischen Welt nicht mehr
gegeben..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 291).
Nach innen agierte die neo-messianische,
theokratische Bewegung für ein phantasmatisches Groß-Israel mit ebenso
zunehmender, theologisch-talmudisch legitimierter Gewaltsamkeit wie nach
außen. Auch diese innere, vor allem gegen die säkulare Linke gerichtete Gewalt
begann früh, parallel zur rassistischen Siedlergewalt in den besetzten
Gebieten. Den Startschuss gab ein Zwischenfall im Februar 1983: "Yonah
Abrushmi, ein von der zügellosen Rhetorik der Rechten getriebener verbitterter
junger Mann, warf in der Nähe des Amtssitzes des Ministerpräsidenten eine
Handgranate in eine Menge von "Frieden jetzt"'-Demonstranten. Ein Mann, Emil
Grunzweig, starb bei diesem Anschlag, elf weitere Menschen wurden
verletzt" (Karpin/Fried-man, a.a.O., 155).
Gewalt und Gewaltrhetorik der theokratischen
und/oder nationalistischen Rechten in teils offenen, teils sublimen Formen
haben seitdem nicht nachgelassen. Der Ermordung von Rabin ging eine lange
Hetzkampagne voraus, in der mehrfach öffentlich sein Tod gefordert wurde; nach
dem so genannten Din Rodef, der talmudischen Todesstrafe für jüdische Verräter,
hatten ihn "gespenstische Rotten" von fundamentalistischen Rabbis
tagelang vor seinem Amtssitz auf pseudo-mittelalterliche Weise verflucht. Und
dieser Mord wurde von einem bereits erschreckend großen Teil der israelischen
Gesellschaft teils passiv hingenommen, teils klammheimlich und in vielen
Fällen sogar offen bejubelt. Der Mörder, Yigal Amir, wird von vielen Teenagern
als "Held" angehimmelt, erhält massenhaft Fanpost usw. Und die mehr oder
weniger stille Billigung oder wenigstens Verharmlosung dieses Mordes geht bis
weit in die höchsten Kreise der politischen Rechten: "Fast zwei Jahre nach dem
Mord wiederholte Sharon, zu der Zeit Minister in Netanjahus Regierung, die
Behauptung der rechtsradikalen und extremistischen Rabbiner: Jitzhak Rabin
habe seinen Tod durch seinen Starrsinn selbst verschuldet"
(Karpin/Friedman, a.a.O., 301).
Analog zur globalen Amok-Kultur mit ihrer Verbindung
von Aggression und Selbstvernichtung brütete die theokratisch-nationalistische
Rechte Israels auch dieselbe Rechtfertigung des Selbstmordattentats aus wie die
Islamisten, wobei die Tat des Massenmörders Goldstein als Präzedenzfall
betrachtet wurde. Und ähnlich wie bei den Islamisten diente die militante
Umdeutung religiöser Begriffe diesem Unterfangen: "Kiddush ha-Shem war, bevor
er mit dem messianischen Eifer der Gush-Emu-nim-Siedler verknüpft wurde, ein
Selbstopfer, mit dem anstelle des erzwungenen Glaubensübertritts der Tod
gewählt wurde... Goldsteins aggressive Verwandlung dieses Selbstopfers wurde
von den jüdischen Fanatikern rasch gutgeheißen... In einem Buch mit dem Titel
Baruch ha-Gever (,Gesegnet ist der Mann') priesen sie sein .Selbstopfer' als
höchsten Ausdruck religiöser Überzeugung und forderten andere auf, es ihm
gleichzutun. Rabbiner Elitzur Selga ... schrieb, die rabbinischen Heiligen
hätten nie die Goldsteinsche Spielart der Selbstmordmission verurteilt.
.Offenbar ist ein noch gewisserer Tod, etwa indem man sich und seine Feinde mit
einer Granate in die Luft jagt, ebenfalls als edle Tat sanktioniert'..."
(Karpin/Friedman, a.a.O., 67). Deutlicher könnte nicht gesagt werden, dass der
akute und manifeste Todestrieb kapitalistischer Vernunft in jedes ideelle
Gewand schlüpfen kann.
In kultureller und gesellschaftspolitischer Hinsicht
verschärfte sich der radikal-theokratische Anspruch an die israelische
Gesellschaft und gegen die säkulare Linke ebenfalls in den 90er Jahren; und
wiederum in peinlicher Affinität zu den feindlichen arabischen Nachbarn.
Ähnlich wie die Wahhabiten und alle anderen Islamisten wettern die
ultra-orthodoxen und religions-nationalistischen Kräfte heute nicht nur verbal
gegen "die hohle Kultur des Westens" (Karpin/Friedman, a.a.O., 23), den
modernen Materialismus, den Ausverkauf patriarchaler Werte usw., sondern sie
wollen mehr als jemals zuvor der Gesellschaft ihre irrationalen Gebote
aufzwingen. Genau wie bei den Islamisten steht dabei eine militante
Sexualfeindlichkeit an vorderer Stelle. Selbst gemäßigte Orthodoxe sind
entsetzt über den institutionellen Druck, den die puritanischen Haredim
inzwischen in dieser Hinsicht ausüben können. So nannte etwa 1997 Professor
Yehudah Friedländer, Rektor der BarIlan-Universität, "Beispiele für die
Veränderungen aus dem Umkreis seiner eigenen Familie... .Streng beachtet wird
die äußere Etikette; so verbietet man den Mädchen schlichtweg, in Socken
umherzulaufen... Streng überwacht wird die Länge der Röcke und die Höhe der
Schlitze... '. Den Vätern wurde verboten, die Schuljahr-Abschlussfeier ihrer
Töchter zu besuchen, weil dort ein Mädchenchor auftrat... Der Leiter der
Grundschule seines Sohnes verbot es dem Jungen, im Sommer ein von der
Hebräischen Universität veranstaltetes Wissenschaftscamp zu besuchen... ,Vor
hundert Jahren haben sie noch nicht in den (Privatangelegenheiten)
herumgestöbert, heute stürzen sie sich auf die geringste Kleinigkeit, und sei
sie noch so persönlich'..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 73 f.).
Die institutionelle Macht der rabbinischen
Orthodoxie und Ultra-Orthodoxie beherrscht weite Teile des zivilen Rechts,
weil diese nie säkularisiert worden sind. Diese Macht führt zu unerträglichen
Schurigelungen des persönlichen Lebens auch bei allen, die mit der Religion gar
nichts am Hut haben: "Für die Juden Israels heißt dies, dass sie vom orthodoxen
religiösen Establishment kontrolliert werden, und im Laufe der Jahre hat sich
diese Regelung verheerend auf die bürgerlichen Rechte zahlloser
Staatsangehöriger ausgewirkt. Wegen des Klammergriffs der orthodoxen Kleriker
kann kein jüdischer Israeli, selbst der gefestigtste Atheist, außerhalb seines
,Glaubens' heiraten.. . Tausenden von israelischen Kindern, die im Ausland
adoptiert wurden, wird der Übertritt zum Judaismus verwehrt, weil ihre Eltern
nicht dem orthodoxen Lebensstil folgen. Frauen ist es kategorisch untersagt,
vor den rabbinischen Gerichten auszusagen, an die man sich zwecks Ehescheidung
wenden muss..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 76).
Auch die orthodox-rabbinische Frauenverachtung und
Frauenunterdrückung gleicht der islamistischen (natürlich auch der traditionell
christlichen und überhaupt der patriarchalen und krisenideologisch
neo-patriarchalen in der ganzen Welt) aufs Haar. In den strenggläubigen
Gemeinden ist die misogyne Haltung auch praktisches Alltagsgesetz, das sich
als Reif auf die individuellen Liebesbeziehungen legt, wie etwa der beklemmende
Film "Kadosh" von Amos Gitai zeigt. Und qua institutioneller Macht dehnt
sich dieses pseudo-archaische Alltagsgesetz der Frauenunterdrückung in vielfältiger
Weise auf das säkulare israelische Leben aus.
Dasselbe gilt für die damit eng zusammenhängende
Schwulenverachtung und Schwulenverfolgung, die von den ultra-orthodoxen
Gläubigen genauso ausstrahlt wie von den säkularen Rassisten der "Sows".
Zu den gehässigen Angriffen der Ultras auf Rabin vor dem politischen Mord gehörte
immer wieder der Slogan "Rabin ist ein Homo" (Karpin/Friedman, a.a.O.,
113). Dieselbe militante Homophobie wie bei den Islamisten findet sich nicht
nur bei den israelischen Ultras, sondern auch bei ihren Unterstützern und
Vordenkern in der jüdischen Diaspora, nicht zuletzt in den USA, wo sie in den
jüdischen Gemeinden äußerst umstritten sind. So unterstützte der rechtsradikale
New Yorker Rabbiner Abraham Hecht (ein Held auch der israelischen Rechten) die
Wahl des später durch drakonische Maßnahmen gegen die Armen bekannt gewordenen
Bürgermeisters Giuliani mit antischwulen Hetztiraden: "Als er sich 1989 für
Giuliani einsetzte, verkündete er, sein Kandidat werde in einer von Übeln wie
vorehelichem Sex, Abtreibungen und homosexuellen Verbrechen (!) korrumpierten
Stadt endlich aufräumen, und er unterstützte (wie der örtliche Ku-Klux-Klan)
die milde Bestrafung eines Mörders durch einen texanischen Richter, weil dessen
Opfer nach dem Wort des Richters .Schwuchteln' waren" (Karpin/Friedman,
a.a.O., 220).
Mit der rassistisch und nationalistisch zugespitzten
neo-archaischen Ideologie geht eine abermals dem Islamismus ebenso wie den
westlichen synkretistischen Sekten entsprechende rituelle Zwanghaftigkeit
einher. Nach den verheerenden palästinensischen Selbstmordattentaten versuchen
beispielsweise ultra-orthodoxe Fanatiker, die Leichenteile "ethnisch" zu
sortieren, damit nicht Körperteile eines fremdrassigen Attentäters
versehentlich zusammen mit jüdischen beerdigt werden. Von der religiösen
Rechten werden gegen den Willen der säkularen Bevölkerung immer mehr religiöse
Einschnürungen des Alltagslebens durchgesetzt, die inzwischen weit über die
unmittelbaren institutionellen Befugnisse der Ultra-Orthodoxen hinausreichen.
Mit jedem neuen politisch-koalitionstechnischen Zugeständnis an die religiösen
Parteien verwandelt sich das Gesicht Israels. Das Land ist einerseits im Sinne
des politischen Systems eine kapitalistische Demokratie westlicher Prägung, die
jedoch wie gesagt von den Haredim nie anerkannt wurde; andererseits gleicht der
israelische Alltag in vieler Hinsicht bereits dem eines Gottesstaats nach dem
Muster der Taliban.
Es ist ganz offensichtlich, dass hier zwischen zwei
einander ausschließenden Welt- und Lebensentwürfen eine katastrophale
Zerreißprobe heranreift. Hatte Eisenstadt seine soziologisch-historische
Analyse von 1984 noch mit der Hoffnung auf inneren Ausgleich beendet, so ist
die Einschätzung des inneren Zustands Israels bei Karpin/ Friedman 14 Jahre
später nur noch rabenschwarz: "Das Land, so sehen es die Israelis immer wieder,
sitze auf einem Pulverfass mit brennender Lunte. Als größte Bedrohung gilt
ihnen nicht der fundamentalistische Terrorismus oder ein Krieg mit den
Nachbarn, sondern die Auflösung von innen her... (Als) bei einer Gallup-Erhebung
für Ma'ariv am zweiten Jahrestag des Attentats die Frage gestellt wurde, ob das
Land der Einheit oder dem Bürgerkrieg näher sei, urteilten mehr als doppelt so
viele Israelis (56 gegenüber 21 Prozent), es sei dem nationalen
Geschwistermord näher als dem inneren Frieden" (Karpin/Friedman, a.a.O.,
427).
Wenn die drohende gewaltsame Entladung des inneren
Widerspruchs in Israel bis jetzt vertagt wurde, so ist dies natürlich in erster
Linie auf die Zuspitzung des äußeren Konflikts mit den Palästinensern seit
Beginn der so genannten Al-Aksa-Intifada zurückzuführen. Die antisemitischen
Hetztiraden, die Selbstmordattentate und die quasimilitärische Formierung
durch palästinensische Warlord-Milizen haben nicht nur schlechthin den äußeren
Widerspruch wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt, sondern auch die eigene
rassistische, fundamentalistische und nationalistische Energie der israelischen
Rechten erst einmal nach außen gelenkt, zumal diese Rechte inzwischen den
gesellschaftlichen Mainstream bildet und das institutionelle Ruder fest in der
Hand hat.
Dementsprechend sieht auch das Vorgehen der
israelischen Armee in den besetzten Gebieten unter der Scharon-Regierung aus,
das nicht mehr als Akt der Selbstverteidigung einer militärisch-technisch weit
überlegenen Macht interpretiert werden kann. Naturgemäß hat sich die
rechtsgerichtete Ultra-Tendenz der Gesellschaft wie überall in der Welt am
heftigsten in der Armee durchgesetzt. Es ist nicht nur desinformierender
palästinensischer Propaganda geschuldet, wenn auch die Berichte westlicher
Journalisten und israelischer oppositioneller Gruppen und Hilfsorganisationen
inzwischen eine ganze Reihe von Kriegsverbrechen der israelischen Armee aufzählen.
So wurden mutwillig Privathäuser, historische
Monumente und völlig unmilitärische Einrichtungen zerstört: "In Ramallah
verwüsteten die Soldaten das Gesundheitszentrum der Union, zerstörten die
Optiker-Station, das Büro für den Verleih medizinischer Geräte und das
Jugendzentrum... Das Kultusministerium in Ramallah wurde erst am 2. Mai... von
den Besetzern geräumt. Sie hinterließen lauter verwüstete, verschmierte und
besudelte Büros, zerstörte Computer und leere Registerregale.... selbst die
Toilettenschüsseln wurden zerschlagen. In der Stadtverwaltung von Ramallah sprengten
die Soldaten den Haupttresor der Finanzbuchhaltung auf und entfernten sämtliche
Harddisks aus den Computern. Im Erziehungsministerium ... ließen sie die
Unterlagen für die nächsten Abschlussexamen und die Beglaubigungsstempel für
Abgangszeugnisse mitgehen; zur Abrundung pflügten sie den Blumengarten mit ihren
Kettenfahrzeugen um. Nach Auskunft des Kultusministers Abderabboh entwendeten
die Soldaten im Grundbuchamt sämtliche Unterlagen über den Bodenbesitz, was im
Lichte der fortschreitenden Enteignung für jüdische Siedlungen ein schmerzlicher
Verlust wäre... Laut zahlreichen Zeugenaussagen ... richteten die Soldaten auch
in Schulen und in vielen Privatwohnungen Zerstörungen an und ließen Wertsachen
oder Bargeld mitgehen" (Neue Zürcher Zeitung, 8.5.2002).
Die Berichte über die Durchsuchung und Plünderung
großer Geschäftszentren nicht nur in Ramallah, über das Ausrauben von
Zivilpersonen usw. sind so zahlreich und übereinstimmend, dass man von ihrem
Wahrheitsgehalt ausgehen kann. So heißt es über israelische
Schützenpanzerbesatzungen, dass diese "vor Läden, Goldschmieden, Banken und
Computergeschäften gehalten und diese geplündert hätten" (Wieland/Schäfer
2002). Angeblich nach Waffen durchsuchten Studenten wurden die Geldbeutel
abgenommen. Teile der israelischen Armee verhalten sich im "ethnischen Feindesland"
ganz der globalen Entwicklung entsprechend; das Vorgehen in den Palästinensergebieten
ist ansatzweise zum Teil der weltweiten Plünderungsökonomie geworden.
Bei Raub und Plünderung ist es nicht geblieben. Im
April 2002 legten bei einer Pressekonferenz in Jerusalem Sprecher von acht
internationalen Menschenrechtsgruppen Berichte über außergerichtliche
Exekutionen und Folter durch israelische Soldaten vor. "So hörte man von einer
Gruppe von zehn Frauen, die sich nach einem Feuergefecht auf die Straße
wagten: Mit erhobenen Armen flehten sie die Soldaten an, den hilflosen
Verletzten beizustehen. Ihre Anführerin, die Ärztin Dr. Kadah, wurde
erschossen, die anderen Frauen schwer verletzt" (Neue Zürcher Zeitung,
17.4.2002).
Das oberste israelische Gericht musste die Folter
von palästinensischen Gefangenen ausdrücklich verbieten, was einem
Eingeständnis gleichkommt, dass die Folter verschiedenen Grades in Israel wie
in den Militärdiktaturen der Dritten Welt schon in der Vergangenheit zum Alltag
gehört hat. Carmi Gillon, der designierte israelische Botschafter in Dänemark,
rief Proteste hervor, als er auch nach diesem Urteil noch öffentlich die
Folterung von palästinensischen Gefangenen rechtfertigte. Dass der Vorwurf der
Folter auch bei der jüngsten israelischen Militäroffensive wieder massiv und
mit Details erhoben wurde, zeigt an, dass diese Praktiken weiterhin angewandt
werden. Über das Schicksal von Marwan Barghuti, Mitglied des palästinensischen Exekutivrates,
der von der israelischen Armee im April 2002 festgenommen worden war, hieß es
in Presseberichten: "Barghuti werde vom israelischen Inlandgeheimdienst Shin
Bet durch Schlafentzug gefoltert... Außerdem werde er immer wieder viele
Stunden lang auf einem mit Nägeln gespickten Stuhl festgebunden. Seine Hände
und Füße seien dabei so fixiert, dass er nicht aufrecht sitzen könne. Dabei
habe er sich derart starke Verletzungen an Rücken und Händen zugezogen, dass er
in eine Krankenstation gebracht worden sei. Dort habe der Kontakt mit den
Vertretern der Menschenrechtsorganisation stattgefunden. Seine Peiniger hätten
Barghuti angedroht, seinen in der israelischen Stadt Ashkelon inhaftierten Sohn
zu töten" (Neue Zürcher Zeitung, 25.5.2002).
Erscheinungen wie Kriegsverbrechen, Folter usw.
können nicht allein schuldhaften Einzeltätern zugeordnet werden, zumal diese
Verbrechen in der Regel gar keine oder nur eine milde Bestrafung als
"Heldendelikte" erfahren (in Israel ebenso wie in Russland,
Restjugoslawien und anderswo); vielmehr sind solche Taten immer auch ein
Spiegelbild der Gesellschaft, aus der sie hervorgehen. Die Greueltaten der
israelischen Armee, die nicht mit der Barbarisierung der palästinensischen
Gesellschaft gerechtfertigt werden können, verweisen auf die Barbarisierung der
israelischen Gesellschaft selbst, die gerade in dieser Hinsicht ein integraler
Bestandteil der kapitalistischen Weltgesellschaft ist.
Wenn der innere Widerspruch Israels noch nicht in
großem Maßstab gewaltsam aufgebrochen ist, so ist dies nicht allein dem
"Export" von Gewalt und theokratisch-rechtsradikalen Hasspotentialen durch
die erneute äußere Konfrontation mit dem komplementär barbarisierten
palästinensischen Gegner zuzuschreiben. Ein weiterer Faktor ist das Zurückweichen
der säkularen Linken und selbst der bloß lebensweltlich säkularen Kräfte
Israels. Dass die Arbeitspartei schon längst den Weg aller Sozialdemokratien
gegangen ist, dürfte kaum überraschen. Die Ermordung Rabins hat nicht etwa
kritische Potentiale freigesetzt, sondern die Reste des ideologisch längst
aufgeweichten Arbeiter-Zionismus noch weiter nach rechts getrieben;
vergleichbar der Entwicklung sämtlicher Sozialdemokratien zu Beginn des Ersten
Weltkriegs. Auch damals hätten sämtliche sozialdemokratischen Führer von
Rechtsradikalen erschossen werden können (was mit Jean Jaures in Frankreich
tatsächlich geschah), und die Burgfriedenspolitik wäre trotzdem weitergegangen.
Hinzu kommt, dass das Bewusstsein der säkular
orientierten israelischen Jugend, gerade der linken, ebenso wie das ihrer
europäischen und nordamerikanischen Altersgenossen stark von der
warenkonsum-hedonistischen abstrakten Individualisierung der so genannten
Postmoderne geprägt ist, die dem Vormarsch der anderen Seite derselben Tendenz,
nämlich des ethno-kulturalistischen Fundamentalismus, kaum Paroli bieten kann.
Eine darüber hinaus ideell durch postmodeme Theorien abgerüstete Linke, die
Kapitalismus und Barbarei zu bloßen "Diskursereignissen" verharmlost, muss
selber harmlos werden, was sich natürlich besonders in den Krisenregionen fatal
auswirkt, wie der linke israelische Hochschullehrer Ran HaCohen feststellt:
"Diese jungen Israelis verstehen sich als radikal, friedensorientiert, gegen
die Besatzung eingestellt und dazu verdammt, unter rückwärts gewandten
Fanatikern zu leben. Zur selben Zeit aber ermöglicht ihnen dieselbe
Bewusstseinsstruktur, sich an die Besatzung anzupassen... Die intellektuelle
Mode, die .Postmodernismus' genannt wird - im Westen eher auf dem absteigenden
Ast, doch quicklebendig im provinziellen Israel -spielt dabei eine wichtige
Rolle... Weil es keine Wahrheit gibt, können wir auch gegen nichts Widerstand
leisten und nichts wirklich unterstützen... Worte sind wichtiger als
Handlungen. Sprache ist die Grundlage von allem. Diskursanalyse ist der Schlüssel
zu allem... Der israelische Fall bietet einen eindrucksvollen Beweis dafür, wie
gefährlich diese Ideologie sein kann" (HaCohen 2002).
Unter allen diesen Umständen und Bedingungen kann
die Ausschaltung der zurückweichenden säkularen Linken durch die rechte
Administration vorerst auf kaltem Wege vor sich gehen. So sagt etwa die
Direktorin des Cohn-Instituts an der Universität Tel Aviv, Rivka Feldhay, über
die Situation der säkularen und linken Intellektuellen an den Hochschulen:
"Israels ultranationale Ministerin für Bildungsfragen, Limor Livnat, versucht
uns zu isolieren und zu behindern. Forschung und Lehre werden hier in Israel
durch einen Rat für akademische Ausbildung finanziert. Die neue Ministerin hat
dieses Gremium in den vergangenen Monaten neu besetzt, um die
Universitäten zugunsten von regierungsnahen
Wissenschaftlern zu schwächen. Mit Erfolg... (Wir) sind darauf angewiesen, dass
die Europäer uns zu Hilfe kommen. Nicht mit Boykotten. Sondern indem sie ihren
guten Namen in die Waagschale werfen, um gegen die Regierungspolitik zu
protestieren" (Feldhay 2002).
Auch im Alltag müssen säkulare Linke immer mehr
damit rechnen, angefeindet und angepöbelt zu werden; Künstler und
Intellektuelle ziehen sich allmählich aus bestimmten, von Ultra-Orthodoxen
beherrschten Vierteln Jerusalems und anderer Städte zurück. Trotzdem bringt
die linke Opposition immer noch Hunderttausende von Demonstranten auf die
Straße, Nach Angaben der 1982 (als Reaktion auf den von Scharon befehligten
Einmarsch in den Libanon gegründeten) Verweigerer-Organisation Yesh Gvul ("Es
gibt eine Grenze") haben seit Herbst 2000 mehr als tausend israelische
Soldaten, darunter höhere Offiziere, den Dienst unter der Scharon-Regierung in
den besetzten Gebieten verweigert: "Es ist nicht das erste Mal, dass Israelis
den Dienst an der Waffe verweigern, doch haben sich noch nie so viele
Mitglieder von Kampfeinheiten - Reservesoldaten und -Offiziere - öffentlich für
eine Verweigerung in den besetzten Gebieten ausgesprochen" (Dachs 2002).
Dieser noch anhaltende Widerstand ändert jedoch
nichts daran, dass die säkulare Linke insgesamt geschwächt ist und um ihre
soziale und institutionelle Zukunft, ja bei einer Rückverlagerung der
theokratisch-nationalistischen Aggressionspotentiale nach innen auch um Leib
und Leben fürchten muss. Die Eskalation der inneren Widersprüche droht nicht
zuletzt durch eine absehbare katastrophale Wirtschaftskrise ausgelöst zu
werden. Israel, zusammen mit Palästina ohnehin wie viele andere Weltregionen
durch den Prozess der kapitalistischen Globalisierung und die Abhängigkeit vom
Zufluss transnationalen Finanzkapitals bereits trotz aller Alimentierungen
schwer angeschlagen, ruiniert sich zusätzlich durch die immensen Militärkosten,
die auf die soziale Reproduktion zurückschlagen. Die Scharon-Regierung sitzt
auch auf einem sozialökonomischen Pulverfass. Die ökonomische Krise, die
periodisch zu Regierungskrisen führt, stellt unerbittlich die Frage, welche
Teile der israelischen Bevölkerung sozial über die Klinge springen müssen. Und
die Ultra-Parteien haben bereits unmissverständlich deutlich gemacht, dass es
alle ihnen missliebigen säkularen Schichten sein sollen; eine Absicht, der
durch die Entfesselung der inneren Hasspotentiale nachgeholfen werden kann.
Das Wissen um diese Entwicklung schlägt sich in
einer "Abstimmung mit den Füßen" nieder: Hunderttausende von säkularen
Israelis sind dabei, auszuwandern, oder tragen sich mit dieser Absicht: "Noch
nie in seiner jungen Geschichte hat es in dem traditionellen Einwanderungsland
so viele potenzielle Auswanderer gegeben... Nicht nur Kanada, Australien und
die USA wirken wie ein Magnet auf viele Israelis: Auch Vanuatu, ehemals die
Neuen Hebriden, republikanischer Inselstaat im Pazifischen Ozean... In Tel
Aviv haben sich ... bereits 2000 Familien in die kooperative
.Mondragon'-Gesellschaft eingetragen, welche für 4500 Dollar Landparzellen von
jeweils 3000 Quadratmetern in Vanuatu verkauft. Doch das ist erst der Anfang,
denn .Mondragon' hat rund 80.000 Hektar Land für 150 Jahre gepachtet, um es
aufgestückelt an auswanderungswillige Israelis zu verkaufen. Das gäbe über
50.000 Parzellen, also Platz für über eine Million Menschen" (Landsmann
2001).
Es hat etwas zutiefst Deprimierendes und Erschütterndes,
wenn auf diese Weise immer mehr säkulare Juden dem vermeintlichen Zufluchtsort
und der vermeintlichen Heimat Israel den Rücken kehren, davon getrieben sowohl
von palästinensischen Terrorkommandos als auch von der inneren unheimlichen
Allianz aus religiösen Fanatikern, Ultra-Nationalisten, Ethno-Politikern und
säkularen Rassisten. Je mehr die säkulare Linke Israels durch diesen
tragischen Exodus ausblutet, desto rapider schreitet die innere Zersetzung und
Barbarisierung der israelischen Gesellschaft notwendigerweise fort.
Natürlich stellt sich die Frage, wie diese traurige
gesellschaftliche Entwicklung Israels im Hinblick auf den "ideellen
Gesamtimperialismus" des kapitalistischen Zentrums zu bewerten ist. Auf
keinen Fall kann es für eine emanzipatorische, antikapitalistische Position um
eine "Äquidistanz" zu Israelis und Palästinensern in dem Sinne gehen, dass
bloß auf die komplementäre Barbarisierung der beiden ineinander verschlungenen
Gesellschaften im Kontext der allgemeinen Globalisierungskrise verwiesen wird.
Das wäre deswegen zu kurz gegriffen, weil durch einen derartigen Krisen-Positivismus
die Funktion des weltweiten Antisemitismus und damit die besondere Bedeutung des
Staates Israel ausgeblendet würde.
Israel ist immer beides zugleich: ein peripherer
kapitalistischer Staat unter kapitalistischen Bedingungen in einer zentralen
Krisenregion einerseits; und ein spezifisches Widerstandsprodukt gegen die
antisemitische letzte krisenideologische Reserve des Imperialismus andererseits.
Deshalb ist die staatliche Existenz Israels eben von anderer Qualität als
diejenige aller anderen Staaten. Während es nicht mehr im Horizont der sozialen
Emanzipation liegen kann, dass die Palästinenser einen eigenen Staat bilden,
sondern hier bereits die poststaatliche Perspektive der Befreiung aktuell
geworden ist, bleibt die Existenz und die Verteidigung des Staates Israel eine
entscheidende flankierende Bedingung für die Konstitution einer transnationalen
globalen Emanzipationsbewegung neuen Typs, die sich nicht durch die Öffnung
des antisemitischen ideologischen Ventils das Verlangen nach Befreiung
austreiben lässt. Mit anderen Worten: Unter allen Ländern ist Israel dasjenige,
das im Rahmen einer neuen emanzipatorischen Weltbewegung am letzten die
staatliche und "nationale" Existenz hinter sich lassen kann.
Das gewissermaßen doppelte Dasein Israels als
gewöhnlicher kapitalistischer Krisenstaat und als globaler Bezugspunkt
kapitalistischer Krisenideologie verlangt eine entsprechende doppelte Herangehensweise
radikaler Gesellschaftskritik. Die Verteidigung der Existenz Israels muss für
eine neue Kapitalismuskritik unbedingt sein; denn diese Verteidigung bildet
eine conditio sine qua non für den emanzipatorischen Gehalt der Kritik. Die
unbedingte Verteidigung der Existenz Israels kann gleichzeitig nicht von der
realen gesellschaftlichen Entwicklung Israels als kapitalistischer Krisenregion
abstrahieren. Denn die Reduktion gesellschaftlicher Entwicklung auf die
ideologische Sphäre und damit die Reduktion der Kritik auf Ideologiekritik, gar
in zusätzlicher Engführung auf das antisemitische Syndrom, würde das Verhältnis
von Gesellschaft und Ideologie auf den Kopf stellen und die Ideologiekritik
selber in Ideologie verwandeln.
Insofern ist es auch falsch, aus der Perspektive
radikaler Kritik die Geschehnisse im Nahen Osten ausschließlich unter das
krisenideologische Aufblühen des Antisemitismus im Westen und speziell in
Deutschland zu subsumieren, um dann unter dem Vorwand, die Thematisierung der
gesellschaftlichen Entwicklung in Israel "nütze" bloß dem Antisemitismus,
diese reale Entwicklung auszublenden oder sogar schönzufärben.
Der Antisemitismus kann nicht unabhängig von seiner
gesellschaftlichen Grundlage, dem modernen warenproduzierenden System,
analysiert und bekämpft werden. Abgelöst von der gesellschaftlichen
Wirklichkeit schlägt die Kritik in Affirmation um, wie die gegenwärtige
ideologisch reduzierte Auseinandersetzung um den Antisemitismus bis in die
radikale Linke hinein zeigt. Hatte die kritische Theorie immer den wesentlichen
inneren Zusammenhang von Kapitalismus und Antisemitismus, von Auschwitz und der
deutschen Geschichte des Kapitalismus hervorgehoben, so soll nun genau
umgekehrt radikale Kapitalismuskritik als solche mit dem Schandmal des
Antisemitismus gebrandmarkt werden, um die Linke mundtot zu machen. Eine Linke,
die diesem Druck nachgibt, muss sich selbst aufgeben: Der ideologiekritische
Reduktionismus einer totalen Subsumtion von Gesellschaftskritik unter die
Kritik des Antisemitismus entpuppt sich dann als platte Verteidigung des
gesamtimperialen Weltkapitalismus im falschen Namen einer Kritik des
Antisemitismus, die gerade dadurch in sich unwahr werden muss.
Der Beruf kritischer Theorie kann es nicht sein, für
den Nahen Osten "Friedenspläne" auf der Basis des kapitalistischen
"Realismus" auszuhecken. Auf dieser Basis wird es sowieso niemals und
nirgends Frieden geben. Der Beruf kritischer Theorie ist die unbestechliche
Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, aus der die radikale Kritik dieser
Verhältnisse als immanente Konsequenz hervorgeht. In diesem Sinne kann es
hinsichtlich der komplexen Beziehung von antisemitischer Krisenideologie (in
der ganzen Welt, im Westen und auch speziell in Deutschland und Österreich),
gesellschaftlicher Entwicklung in Israel und so genanntem Palästinakonflikt nur
darum gehen, die Verteidigung der Existenz Israels zu verbinden mit einer
Unterstützung der israelischen säkularen Linken und einem gemeinsamen Kampf
gegen den weltweiten Barbarisierungsprozess des warenproduzierenden Systems.
Diese notwendige Verbindung hat ihre Sachhaltigkeit
gerade in der primären Verteidigung Israels als Staat gewordene Existenz des
Widerstands gegen das globale antisemitische Syndrom; denn diese Existenz ist nicht
nur von außen, sondern ebenso von innen gefährdet. In den 90er Jahren hat in
der israelischen Gesellschaft ein Bruch stattgefunden, der selbst den
gemeinsamen Bezug auf die Erinnerung an den Holocaust grundsätzlich in Frage
stellt. So erklärte der Ultra-Rabbiner Chaim Miller: "Unsere Absicht ist eine
strikte Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen in Sachen Holocaust"
(zit. nach: Der Spiegel 8/1995). Der Chef der ultrareligiösen
Agu-dat-Israel-Partei, Mosche Feldmann, "verlangte die Einrichtung einer
alternativen Gedenkstätte für Gläubige" (ebda.) Diese Abspaltung droht die
säkularen jüdischen Opfer der Nazis selbst noch aus der Erinnerung zu
eliminieren: Die "wahren" Opfer sind dann einzig noch die streng
Religiösen, wie die "wahren" lebenden Juden ebenfalls nur die Ultras sein
sollen. Eine derartige innere Delegitimierung des zionistischen Projekts stellt
den historischen Ort Israels in Frage, soweit die Kriterien von Inklusion und
Exklusion grundsätzlich verlagert werden und nicht mehr der globale Antisemitismus
die (negative) Legitimationsgrundlage bildet, sondern ein die säkulare jüdische
Linke ausgrenzender positiver Ethno-Nationalismus.
Israel ist auf absehbare Zeit von der kapitalistisch
weit zurückgebliebenen arabischen Welt nicht militärisch im traditionellen
Sinne zu besiegen. Von außen wie von innen ist es stattdessen durch den
Todestrieb kapitalistischer Vernunft in Frage gestellt; durch
Selbstmordkommandos womöglich mit atomaren oder biologischen Sprengsätzen
ebenso wie durch die rassistisch-theokratische Selbstzerstörung. Das Kalkül des
westlichen Ölimperialismus könnte gerade ein gewaltsames Zerbrechen der
israelischen Gesellschaft von innen heraus zum Anlass für eine Neuorientierung
in der Region nehmen, die gleichzeitig die Bahn für die antisemitische
Krisenideologie im Westen selbst frei machen würde.
Eine Wortmeldung
aus Wien zum Buch "Weltordnungskrieg"
Aus: Streifzüge 1/2003
Nachgedachtes und Vorausgesetztes
von Gerold Wallner
Robert Kurz hat ein neues Buch vorgelegt. Darin beschreibt
er den Zustand des abendländischen Denkens, wie er sich angesichts der Krise,
in der sich der globale bürgerliche Zusammenhang befindet, darstellt. Das Buch
entfaltet das journalistische und polemische Talent seines Autors, wo es darum
geht, die Aporien und Widersprüche der wirtschaftlichen und politischen
Entwicklung zu geißeln, zugespitzte Stumpfsinnigkeiten und apologetische
Geisterbeschwörungen an Hand der bekannten Schulen zu denunzieren und einen
Ausblick auf den Totentanz der Selbstvernichtung zu werfen, der als
wahrscheinlichste Alternative gemalt wird, sofern dem Selbstläufer Kapitalismus
nicht in den Arm gefallen wird. Kurz verfasst seine Philippika gegen eine
bürgerliche Geselligkeit, die sich nicht mehr im Bann hält und ihre zerstörerischen
Potenzen entfesselt; am Vorabend eines Kriegs ist dieses Buch entstanden,
gerade rechtzeitig, um den Verfall der staatlichen Garantien der bürgerlichen
Existenz zu kommentieren. Legalität und Verfassung - auf nationaler wie
diplomatischer Ebene - spielen keine Rolle mehr. Gesatztes Recht wird durch die
Proklamation ersetzt. Die Menschenrechte setzen die Gesetze außer Kraft und
nehmen ihre Stelle ein. Sie garantieren die Versammlungsfreiheiten der Armeen
an jedem Ort - fiat justitia pereat mundus.
Nicht zufällig heißt das neue Buch von Robert Kurz
"Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des
Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung".
Dennoch ist vor allem der Untertitel etwas
irreführend, denn die Polemik, die Kurz entfaltet, richtet sich nicht nur gegen
den Imperialismus, sondern auch gegen das, was sich "Linke" nennt,
und "das Ende der Souveränität" könnte getrost auch dieser Linken
zugeschrieben werden - was Kurz ja auch tut. Und so ersteht diese "Linke"
denn auch als dem bürgerlichen Universum zugehörig, als Fleisch von diesem
Fleisch, nicht nur in demokratischen Modernisierungen, nicht nur in
republikanischen Versprechungen, sondern auch im imperialen Todestrieb.
Was Kurz in seinem Buch vor allem anspricht, ist das
einheitliche Vorgehen von Imperialismus und verdemokratisierter Linken,
erscheine sie nun im Mönchsgewand der inquisitorischen Verteidigung oder in der
Narrenkappe der Klassenkämpfer, die sich rühmen, noch jede weitere Ausdehnung
der imperialistischen Macht und neue Anwendung und Strukturierung ihrer Mittel
sei einem zuvor errungenen Erfolg im Klassenkampf - nein, nicht einmal dies -,
einem gerade so hinlänglichen Widerstand zu verdanken.
Es wird diese Buchbesprechung eine sein, die sich
mit dem befasst, was Kurz ausgelassen hat, aus journalistischer Verkürzung wie
auch aus verlängerter Polemik. Befassen werden wir uns mit dem Vorausgesetzten
und Mitgedachten. Da ist zunächst ein Terminus, der immer wieder auftaucht:
"die Krise der dritten industriellen Revolution", "der
unbewältigbar gewordene globale Krisenkomplex". Dies wird bei Kurz nicht
weiter erklärt, sondern als in der Debatte bekannt vorausgesetzt. Nun ist der
Begriff der Krise zwar bei der Beschreibung der bürgerlichen Reproduktion kein
unbekanntes Phänomen, er taucht aber in der Regel als zyklischer Durchgang auf,
als Reinigung, als Krisis im medizinischen Sinn, als Chance der
Weiterentwicklung. Dies ist umso sonderbarer, als das bürgerliche Weltbild kein
zyklisches ist; der eigenen Bewegung wird nur die eine Richtung zu mehr
Fortschritt, zu Reproduktion auf höherer Stufenleiter, zu immer mehr Reichtum
und Durchsetzung der bürgerlichen Vergesellschaftung erlaubt und zugesprochen.
Sollte es doch zu einem Stillstand kommen, dann ist dieser immer auch in der Folge
dahingehend mystisch verklärt, dass mit der linearen Bewegung zum Besseren und
schließlich Besten auch die zyklische Bewegung zur Korrektur verschwindet, im
erlösten Zustand also beide Bewegungen der bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben
erscheinen.
Diese bestätigende Sicht der Dinge hat sich auch
das, was sich Linke nennt, zu eigen gemacht: Sie sieht in der Krise
konjunkturelle Durchgänge in der Organisation der kapitalistischen
Reproduktion. Weil sie gelernt hat, dass der Kapitalismus seine Krisen hat,
sucht und sieht sie die Krise als Beweis der Lebendigkeit dieses Systems von
gesellschaftlicher Organisation und Reproduktion. Und weil es weiter besteht
(trotz und gerade wegen seiner Krisen), besteht auch die Linke weiter als
regulierende Antwort, als ausgleichendes Element, als Verdopplung einer
zyklischen Stabilisierung.
Als umso ketzerischer muss also aufgenommen werden,
dass in der marxistischen Tradition es immer eine Tendenz gab, die die lineare
Fortschrittsbewegung nicht als eine zum Besseren der Menschheit sah, nicht zu
einer Erfüllung der Menschheitsgeschichte, sondern diese Erfüllung von der
Überwindung eben dieser Gesellschaftsformation abhängig machte. Noch
häretischer war es, auch die Krisen nicht als notwendige Durchgangsstadien,
Entwicklungskorrekturen und Marktbereinigungen zu sehen, sondern in ihr immer
schon die Bruchlinien zu sehen, an denen die Reproduktion zum Erliegen kam. Und
immer schon war diese Vorstellung einer Bruchlinie, einer inneren Schranke mit
der Vorstellung eines Kapitalismus verbunden, der nicht Herr seiner selbst war,
sondern ein selbstreferenzielles System, das auf die eine oder andere Weise
sein Absterben hinauszögert.
Es sind diese Begriffe von finaler Krise, die nun
auch Kurz verwendet und argumentiert. Auch er behauptet einen Kapitalismus, der
sich seiner Grundlagen begeben hat: bei Kurz ist es der Verlust der
Ausbeutungsfähigkeit.
Nun ist allerdings ein Problem, dass für einen
Großteil der so genannten Linken die Krise noch immer als ein Datum aufgefasst
wird. Das bedeutet, dass Krise einfach wie ein Schwarzer Freitag daher kommt,
wie ein Börsenkrach, der sich an Hand der Selbstmordfälle und der verlorenen
Vermögen empirisch festmachen lässt. So ist aber Krise in der Tradition einer
von Marx hergeleiteten Krisentheorie (Marx in seiner dunklen prophetischen
Sicht, Luxemburg mit ihrem Festmachen am momentanen barbarischen Ausbruch und
ihrer Forderung nach sofortigem Sozialismus nebst Gutem Leben, Adorno, der
angesichts einer von ihm beschriebenen Gesellschaft die Alternative Sozialismus
oder Barbarei nicht mehr sieht und die übrig gebliebene Barbarei beklagt, Kurz
in einer aktuellen Sicht, die das Publikum auffordert, angesichts seiner
Zeugenschaft das Erleben der ersten Anzeichen eines finalen Untergangs in
Engagement zu übersetzen und Stellung zu beziehen) - dieser Krisenbegriff also
immer nur so abzuleiten, dass aus dem gegebenen - und zwar immer schon
gegebenen - Prozessieren der Wertverwertung sich seine barbarische Seite
enthüllt. Dies heißt eben nicht, dass ein Umkippen ab einem gewissen, empirisch
festzustellenden Datum dingfest gemacht wird; vielmehr heißt es: zu jedem
Zeitpunkt des verwertenden Prozessierens sind wir damit konfrontiert, dass sich
die Unmöglichkeit, sich in dieser Welt gütlich einzurichten, enthüllt.
Genaueres, historisch Verfolgbares steht in Kurz' "Schwarzbuch des
Kapitalismus". 1
Jedenfalls ist die Crux die, dass in diesem
Zusammenhang Krise nicht verstanden werden kann als ein Hereinbrechendes, ein
Menetekel, das zum Sturz des einen Tyrannen führt und Platz für seinen
dynastischen Nachfolger schafft. Krise wird hier immer gefasst als die dunkle
Seite des Kapitalismus, als das stets einlösbare Versprechen seiner
barbarischen Zerstörungspotenz und deren Gewalt, sich der zivilen Fesseln zu
entledigen. 2 So also wird Krise im Zusammenhang mit der
polemischen Diskussion, die Kurz im Buch vom Weltordnungskrieg entfaltet, zu
einem prozessierenden Verhältnis, das nur noch nach sinnlichem Erleben, nicht
aber nach wissenschaftlicher Empirie verlangt. Überhaupt entzieht sich ein so
gefasster Krisenbegriff dem empirischen Nachweis. Wenn etwa Kurz (in seinen
Artikeln und im "Schwarzbuch") behauptet, die Krise der dritten
industriellen 3 Revolution sei als finale gekennzeichnet
dadurch, dass die ausgestoßene, wegrationalisierte Masse an vorrevolutionärer
Arbeitskraft nicht mehr durch die neue Organisation von toter Arbeit auf
höherer Stufenleiter eingesogen, wettgemacht und überkompensiert werden könne,
um einen neuen Produktivitätszyklus in Kraft zu setzen, dann ist dies empirisch
nicht nachvollziehbar und nicht beweisbar (genauso wenig wie eine andre
Beschreibung krisenhafter Phänomene, zum Beispiel der tendenzielle Fall der
Profitrate. Immer handelt es sich bei diesen Beschreibungen um theoretische
Extrapolationen erfahrener Unzulänglichkeiten - der Arbeitslosigkeit, des
Konkurses, der Armut).
Andrerseits ist die herkömmliche Beschreibung des
Fordismus - bezogen auf seine Produktivität, sein Wirtschaftswunder und auf den
nicht eingetretenen Fall seiner Finalität 4 - auch erst als
Prophezeiung aus dem schon bekannten Geschehen her möglich. Schlichtweg
angenommen, der Kalte Krieg hätte seinen Verlauf nur ein bisschen anders
genommen; etwa dass Glenn Ford nicht so gut gelandet wäre wie Juri Gagarin,
hätte unsere heutige Gegenwart in eine andre Richtung führen können mit dem
ganzen gelobten Fordismus, und die vaticinatio ex eventu würde heute anders
aussehen.
Plötzlich wären Marshall-Plan und Wirtschaftswunder
faux-frais gewesen, um Vietnam wäre nie gekämpft worden etcetera, etcetera.
Natürlich ist dieses Argument ein dummes, und ich will mich in Konjunktive
nicht weiter vertiefen. Mir geht es hier nur darum, angesichts so getaner
Kontingenzen nicht unbedingt aus einem Geschehenen eine einzige unabdingbare
Notwendigkeit als einzig Mögliches (noch dazu ex eventu) her zu leiten. Dieses
damals Geschehene war nicht determiniert in dem Sinn, dass heute daraus
Destilliertes schon damals nur das nun bekannte Ergebnis und sonst keins hätte
zeitigen können.
Anders gesagt: wer die Welt in der Epoche des
Fordismus betrachtet und daraus eine finale Krise erschlossen hätte, hätte
nicht weniger Zustimmung oder Ablehnung als Kurz heute zu erfahren gehabt. Dies
etwas polemisch zur Kritik der Finalität der Krise und in dieser polemischen
Haltung zugegebener Maßen verkürzt; aber aus dem gesamten Kontext der
Diskussion lässt sich zweierlei Krisenbegriff herausschälen: einerseits Krise
als zyklische Wiederkehr innerhalb der linearen Fortschrittsbewegung der
bürgerlichen Gesellschaft, nur dazu angetan, innerhalb dieser linearen Bewegung
Reinigungs- und Umbruchsdaten zu liefern, Marken der Entwicklung eben. 5
Andrerseits gibt es den elaborierten Begriff einer Krise, der sich nicht von
datierten Konjunktureinbrüchen herleitet, sondern von den Zumutungen, die, aus
und mit der fetischistischen Vergesellschaftung entstanden und als Struktur in
wandelbarer Erscheinung immer vorhanden, Gutes Leben und eine maßvolle
Reproduktion der Leute zugunsten maßloser Reproduktion der Werte
verunmöglichen. Was als Krise in diesem Zusammenhang beleuchtet wird, hat daher
auch den Charakter des Legitimationsverlusts - in die Krise gerät nicht nur das
System, sondern auch der Konsens.
Was Kurz also in seiner Polemik als krisenhafte
Entwicklung der dritten industriellen Revolution bezeichnet, ist der
prozessierende Charakter des gesamten Kapitalismus in seiner Totalität. Was
dabei als finaler Charakter bezeichnet wird, ist die Einsicht in Widersprüche
und Aporien, die ein Funktionieren dieser Produktions- und Vergesellschaftungsweise,
gemessen an gelungener Reproduktion und Gutem Leben, als unmöglich erscheinen
lassen. Was als empirische Beschreibung Kurz dabei anbietet, gemessen an der
Entwicklung von Börsenkursen, Arbeitslosenstatistiken und fallierenden Nationalökonomien,
ist nicht das Material, das eine Prophetie über den Untergang des Systems
untermauert. Vielmehr ist es der Hinweis darauf, dass Gutes Leben und
gesicherte Reproduktion ohne Wachstum 6 denkbar und möglich
sind, und wir uns um unsrer selbst willen mit dieser Vorstellung vertraut
machen müssen. So enthält der Begriff der finalen Krise auch ein Moment des
Programmatischen, aus Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat.
Keinesfalls aber müssen wir uns finale Krise so
denken, dass wir jetzt dem Zusammenbruch der bürgerlichen Geselligkeit zusehen
können, als wäre es ein Lehrstück. Wobei wir zusehen, ist ein Prozess, den die
Leute schon immer beobachten konnten. Und wir wollen nicht vergessen: der
Untergang der modernen christlichen Antike hat sich über wenigstens zwei
Jahrhunderte gezogen und wurde im Bewusstsein der Damaligen höchst
unterschiedlich interpretiert, wenn auch die Zeitzeugenschaft an der langen
Katastrophe, am schleichenden Verfall unbestritten war. Rom ist auch nicht an
einem Tag zerstört worden. Ein anderer Bezug, der in Kurz' Philippika fehlt -
wie eine Darstellung, was unter finaler Krise zu verstehen ist -, ist der auf
die Leute selbst. Die Menschen tauchen in seiner Polemik nur auf als
Erscheinungsformen ihrer bürgerlichen Vergesellschaftung, ihrer Geselligkeit:
sie treten nur auf und werden wahrnehmbar im Konsens (oder als Opfer dieses
Konsenses). Diesen Konsens zu demaskieren und zu destruieren, unternimmt Kurz.
Insofern richtet sich sein Buch hauptsächlich an "Linke", durchaus
auch in diesem abgelutschten Sinn, auch um zu zeigen, wo die traditionelle
Linke seit ihrer sozialdemokratischen Geburt gelandet ist (oder schon immer
war). Die Hauptstoßrichtung dieser Argumentation geht aber nicht dahin, ein
neues Subjekt revolutionärer Affenliebe zu suchen, zu finden und zu
präsentieren. Hier geht es nur um die Abstoßung von der bürgerlichen
Subjektform selbst (so weit dies in einer Polemik gelingen kann, die selbst im
Rahmen dieser Subjektformgebundenheit daherkommt) und um die Abstoßung von einem
Teil des bürgerlichen Subjekts in Gestalt der "Linken".
Es verweist nun auf den Zustand dieser
"Linken", dass auch sie empirisch nicht gefasst werden kann. Sie ist
amorph als Begriff und als Gebilde, und das erlaubt dann eben nur einen Text,
der eine Äußerung einer Strömung oder Schule nach der anderen herausnimmt und
auf ihren argumentativen Gehalt hin untersucht. Wenn Kurz dann zur Klarstellung
kommt, einig ist die "Linke" nur in der Demokratie, wie immer auch
die jeweiligen Positionen in der bürgerlichen Konkurrenz besetzt werden, dann
demaskiert er diese "Linke" als dieser demokratischen Veranstaltung
der bürgerlichen Verfasstheit und Geselligkeit zuordbar.
Es erklärt sich auch der spezifisch argumentative,
polemische Charakter dieses Rundumschlags dadurch, dass es keine vermittelnde
und vermittelbare Stellung zu einem einmal erkannten Übel geben kann. Insofern
erhebt sich natürlich die Frage nach der eigenen Stellung verknüpft mit der
Frage nach der Stellung der aus dem Reproduktions- und Organisationszusammenhang
Geworfenen. Die Frage bleibt im Buch unbeantwortet, oder nur negativ aufgelöst.
Manchmal taucht an den Rändern der Argumentation wie ein Blitz ein kurzer
Ausblick auf ein Jenseits auf:" Weltkibbuz" steht irgendwo - als
Ahnung hingeworfen, nicht argumentiert und nicht durchdacht. Aber die Frage
nach unsrer Position wird vielleicht gerade dadurch angesprochen, dass die
Antwort nebelhaft ist. Da schwingt etwas vom Guten Leben und von der
Gemeinschaft mit.
Da schwingt etwas mit von einem Paradigmenwechsel:
wenn alle Erscheinungen der Subjekte - seien sie auch klassen- und standesmäßig
konstituiert - als konsenstragende und -bildende Form gelesen werden müssen,
die in ihrer Konsensfähigkeit schon so weit gehen, die widersprüchlichsten
Parameter, was Stand, Geschlecht, Geschichte, Tradition, Interessen, Ansprüche,
Gesundheit, Ernährung betrifft, in ihrer mehrheitsfähigen, Mehrheiten
erheischenden Gestalt in sich zu vereinen; wenn das so ist, dann kann die
Überwindung dieser Gesellschaftsformation nicht durch ein einziges, besonders
ausgezeichnetes Segment dieser Gesellschaft gedacht werden.
Der Ansatzpunkt wird also nicht mehr die Frage nach
dem Subjekt der Umwälzung sein (alle oder niemand, im Prinzip), sondern nach
dessen Objekt; nicht wer, sondern was. Hier wird die lebensweltliche Dimension
so eines in den Text eingestreuten "Weltkibbuz" deutlich. Es wird
gefragt werden müssen nach dem Inhalt von Gutem Leben. Es wird gefragt werden
müssen nach Geschwindigkeit und Entwicklung in Form von Gemächlichkeit, nach
Kommunikation in Form von Rückkopplung und Redundanz, nach Reichtum in Form von
Verschwendung und Luxus. Es wird gefragt werden müssen, ob und wie Probleme
einer Lösung zugeführt werden sollen. Ist - beispielsweise - der demokratische
Terror des Mehrheitsentscheids samt Minderheitenschutz erst einmal gebrochen,
wird ein entstehendes Problem gar nicht mehr danach verlangen, durch
demokratischen Bescheid, bürgerliche Exekution und Verantwortung und
anschließende Evaluierung bewältigt zu werden unter Garantie der
Einspruchsrechte der Anrainer und unter Berücksichtigung der
volkswirtschaftlichen Interessen. Ganz allgemein traue ich mich zu sagen: die
Dichotomie von Problemstellung und -lösung wird aufgehoben werden können
zugunsten eines work in progress, in dem die Hierarchie der Problemstellung
ebenso verschwindet wie die beschließende Mehrheit zugunsten einer
prozessierenden Einhelligkeit das Feld räumen wird. Dass eine sogetane
Gesellschaftsformation sich nicht nur mehr Zeit nehmen, sondern auch mehr Zeit
haben wird, versteht sich dann von selbst.
Ich bin über die Besprechung des Buches
"Weltordnungskrieg" von Robert Kurz hinausgegangen, als Rezensent
habe ich das Thema verfehlt. Das liegt am Buch. Interessant ist der
Hintergrund, auf dem es verfasst wurde.
Anmerkungen
1 Lektüre empfohlen, keine Absicht
der Werbung damit verknüpft, eher das Angebot auch eines Vergnügens der
Lektüre, Stil und Inhalt besser und interessanter als im
"Weltordnungskrieg", sinnliche Freude nicht nur an Polemik sondern
auch an persönlicher gemeinsamer Teilhabe von Autor und Publikum; inhaltliche
Einschränkung, Warnung und gefällige Ermahnung: das Buch verknüpft über das
oben im Text von mir Gesagte hinaus den Begriff der Krise auch noch mit der
Verunmöglichung des Guten Lebens durch die kapitalistische Vergesellschaftung.
Und flugs erhält der Krisenbegriff noch die Dimension der sinnlichen
Erfahrbarkeit; nicht die kapitalistische (ökonomische) Reproduktion ist in
Frage gesellt, sondern im Gegenteil - um diese zu gewährleisten - deine eigene.
Und das trifft auf jede Epoche zu, das Kapitel von der ursprünglichen
Akkumulation gilt in saecula saeculorum.
2 Wenn es je einen Sinn gehabt hat -
das Gerede vom Faschisten, den es in uns zu entdecken gibt -, dann genau in
diesem Zusammenhang.
3 Rsp. der
informationstechnologischen, mikroprozessierenden, bioreproduzierenden; wir
sehen, der Begriff ist gar nicht mehr so sehr an ein alleiniges
wissenschaftliches und gesellschaftliches Substrat gebunden.
4 An den Fordismus war immer eine
doppelte Erscheinung des Proletariats gebunden: zum einen das Proletariat, das
endlich versorgt im Wohlstand lebt, zum anderen das Proletariat, das endlich
wie ein Mann aufsteht und die massierten Produktionsmittel übernimmt (vor dem
Weltkrieg) oder sie durch die Bestreikung der Massenfabrik ad absurdum führt
(nach dem Weltkrieg).
5 In dieser Sicht ist auch mit einem
Ende der bürgerlichen Bewegung zum Fortschritt als einem Erreichen des Ziels
der Geschichte verbunden, dass Krisen nicht mehr existieren können und
verschwinden müssen - das Ende der Geschichte also sich nicht als Überwindung,
Überschreitung, Transzendenz darstellt, sondern als Erfüllung, Vollendung.
6 In diesem Zusammenhang möchte ich
auf eine von mir des Öfteren geäußerte Mutmaßung verweisen, dass die
Entwicklung der sinnlichen Fähigkeiten schon längst abgeschlossen ist
(spätestens seit dem Ende des 17. Jahrhunderts). Es besteht also keinerlei
reproduktive Notwendigkeit mehr, den Lebensgenuss an die erweiterte
Reproduktion einer sich selbst verwertenden Wirtschaft zu binden und
Bedürfnisse zu wecken, die weder zu befriedigen sind noch eine Notwendigkeit an
der Lebenswelt darstellen. Ebenso ist heute die Entwicklung des Wissens über
Natur und Kunst gar nicht mehr an die Freude am Wissen und Gestalten gebunden,
sondern dieser Verbindung von Sinnessucht und Ökonomie untergeordnet - auch
hier also die Reproduktion von den Leuten auf die Maschine umgekuppelt.
Die letzte Ausgabe der
"alten" Krisis
KRISIS
27 (November 2003)
Ernst Lohoff: Gewaltordnung und Vernichtungslogik -- Karl-Heinz
Wedel: Rechtsform und "nacktes Leben" -
Anmerkungen zu Giorgio Agambens "Homo Sacer" -- Robert
Kurz: Tabula Rasa - Wie weit muss oder darf die
Kritik der Aufklärung gehen?
-- Franz Schandl: Staat und Schlepper - Scheinbar jenseits des obligaten Rassismus
hat sich (nicht nur) in Österreich ein breiter Konsens in puncto ordentliche
Einwanderungspolitik etabliert
-- Franz Schandl: Kontinuität und Singularität - Auschwitz als authentisches Produkt
der westlichen Zivilisation (Rezension Enzo Traverso) -- Jaime Semprun
(Paris): Bemerkungen zum
Manifest gegen die Arbeit --
Charles Reeve (Paris): Wenn der Berg kreißt und eine Maus gebiert (Kritik des
Manifestes gegen die Arbeit)
-- Luca Santini (Rom): Anmerkungen zum Manifest gegen die Arbeit -- Nachwort zur franko-kanadischen Ausgabe des Manifests gegen die
Arbeit
Gute Zeiten für Scharlatane: Jeder selbst
ernannte Experte, der eine Erklärung des Inhalts abgibt, der Aufschwung sei
aber nun wirklich in Sicht, kann damit rechnen, sich auf den Titelseiten
deutscher Zeitungen wieder zu finden. Im Sommerloch des Jahres 2003 jedenfalls
tummelten sie sich dort zuhauf. Worin eigentlich die frohe Botschaft des
nahenden Aufschwungs bestehen soll, blieb dabei mehr oder weniger nebulös: Die
Arbeitslosenzahlen, darin sind sich die Experten einig, werden sich nicht
verringern, die EU-Stabilitätskriterien wohl weiterhin verfehlt, die
staatlichen Kassen sich nicht wieder füllen, und schon gar nicht werden die
brüchig gewordenen sozialen Sicherungssysteme plötzlich wieder finanzierbar. Im
Gegenteil, ihre als "radikale Einschnitte zum Zwecke ihrer Erhaltung"
verkaufte sukzessive Abschaffung gilt überhaupt erst als die unabdingbare
Voraussetzung dafür, dass es zu dem erhofften Aufschwung kommt.
Aber selbst dann scheint
er nicht sicher, deswegen muss er herbei beschworen werden, denn schließlich
besteht "die Wirtschaft", auch darin sind sich die Experten einig, ja
zur Hälfte aus "Psychologie". Die ZEIT, Meisterin aller Klassen in
der Disziplin, Analyse durch die Demonstration guten Willens und moralische
Appelle zu ersetzen, ist hier so richtig in ihrem Element und scheut für den
guten Zweck auch vor einer Umwertung aller Werte nicht zurück, indem sie das
Bürgerrecht auf Konsum (nach Maßgabe der jeweiligen Zahlungsfähigkeit und
Kreditwürdigkeit, versteht sich) zur nationalen Pflicht im Dienst an Volk und
Vaterland erklärt (Marc Brost, ZEIT vom 23.08.03,
S. 1): "So sind es vor allem die
Menschen, die diesmal für die Wende sorgen müssen. Ihre Ausgaben sind es,
welche die Wirtschaft wieder wachsen lassen." Vorbild sind mal wieder
"die Amerikaner", die "auch im Abschwung munter
konsumierten" (und sei es auf Kredit), Helden an der Konsumfront, wenn man
von den 40 Millionen bereits unter die Armutsgrenze Gefallenen der Einfachheit
halber einmal absieht. Dagegen sind "die Deutschen" von der Krankheit
des "Angstsparens" befallen. Aufgabe der Politik ist es demgemäß, die
Menschen von dieser Krankheit zu heilen bzw. ihre Selbstheilungskräfte zu
stärken, und, siehe da, sie befindet sich auf gutem Wege: "Es ist der
gigantische Nachholbedarf der vergangenen Jahre, der nun die Initialzündung für
den Aufschwung liefern kann - wenn endlich auch die Politik ihren Teil dazu
beiträgt. Die Menschen brauchen Gewissheit, dass niedrigere Krankenkassenbeiträge
und ein zukunftsfestes Rentenniveau nicht nur versprochen, sondern auch
verwirklicht werden. Und sie brauchen Geld, mit dem sie die Wirtschaft wieder
ankurbeln können" (gemeint ist die angekündigte Steuersenkung).
Einerseits sollen
also die deutschen Konsumenten in den vergangenen Jahren riesige Vermögen
angespart haben, die sie nun endlich verprassen wollen, andererseits brauchen
sie fürs Konsumieren dringend Geld. Irgendwas kann da doch wohl nicht stimmen.
Auch der Hinweis auf "niedrigere Krankenkassenbeiträge und ein
zukunftsfestes Rentenniveau" ist in diesem Zusammenhang wohl kaum
angebracht. Von der Höhe des inzwischen erreichten Niveaus wird denn auch
lieber nicht gesprochen. Wer nicht mit 65 oder demnächst vielleicht 67 einen
materiellen Absturz erleben will, muss schon privat vorsorgen, und das kostet
bekanntlich. Ebenso muss der Wunsch etwa nach einem weiterhin kompletten Gebiss
künftig selbst finanziert werden, was die persönlich zu zahlenden
Krankenkassenbeiträge natürlich nicht nach unten, sondern nach oben treibt.
Wenn ein
intellektuell derart herunter gekommener, gegen die Fakten und logischen Regeln
argumentierender Beitrag heute die Titelseite einer "renommierten
deutschen Wochenzeitung" füllen darf (und es handelt sich hier keineswegs
um einen einmaligen Ausrutscher), dann zeigt sich darin dreierlei: dass
nämlich, erstens, die Krise zumindest des Geldes das öffentliche Bewusstsein
erreicht hat, in welch verquerer Gestalt auch immer, dass sie aber, zweitens,
nicht sein darf und daher als vorübergehendes Phänomen weginterpretiert werden
muss, und dass, drittens, eben dies nicht mehr geht.
Nun ist die
Verbreitung von Krisenbewusstsein allein noch kein Schlüssel zur Veränderung,
solange dieses Bewusstsein nämlich die ideologisch verkehrte Form hat, die es
notwendig annehmen muss, wenn das Kapitalverhältnis und insbesondere die
kapitalistische Konkurrenz als Naturverhältnis verstanden werden, als uralter
und immer währender "Kampf ums Dasein" und "survival of the fittest".
Das männlich-weiße Konkurrenzsubjekt kann Krise überhaupt nur als Niederlage,
als Unterlegenheit in der Konkurrenz denken und muss darauf mit der
Verschärfung des Konkurrenzkampfes antworten. In einem System, das als Ganzes
allmählich in den freien Fall übergeht, zählt als einziges Erfolgskriterium
seiner Akteure, die eigene Fallgeschwindigkeit geringer zu halten als die der
Konkurrenten. Das gilt dann bereits als Aufstieg, und systemimmanent betrachtet
stimmt es sogar.
Es ist daher kein
Zufall, dass bei den vergeblichen Versuchen, die Krisenphänomene zu verstehen,
gern der Leistungssport als Metapher bemüht wird. Auch da kommt es schließlich
nicht darauf an, einfach nur gut zu sein, sondern besser als die anderen.
"Die Leistungssportler sind so müde wie die Gesellschaft" (Hanns-Bruno Kammertöns, ZEIT
vom 04.09.03, S. 1), hier bezogen auf die
diesjährige Leichtathletik-Weltmeisterschaft, in der es für die Deutschen nur
zu lauter sechsten Plätzen reichte, zum "Mittelmaß" also.
Was für die
vereinzelten Einzelnen gilt, trifft erst recht auf die Kollektivsubjekte zu,
auf kapitalistische Einzelbetriebe ebenso wie auf die "Deutschland
AG". Nicht die Entsorgung der sozialen Sicherungssysteme gilt als der
Skandal, sondern dass "wir" nicht mehr "Weltspitze" sind,
in welcher Disziplin auch immer. Also ist die Leistung zu steigern, der Output,
die Produktivität. "Die Deutschen müssen wieder länger arbeiten."
Diese inzwischen parteiübergreifend erhobene Forderung, die angesichts der
hohen Arbeitslosenzahlen und der damit ursächlich zusammenhängenden
Verdoppelung der Produktivität in weniger als dreißig Jahren auf den ersten
Blick als absurd erscheint, ist im Sinne der Standortkonkurrenz völlig rational
und daher politisch alternativlos. Und tatsächlich hat sie sich ja "naturwüchsig"
bereits weitgehend durchgesetzt: Selbst die 40-Stunden-Woche dürfte in den
meisten Branchen allenfalls noch auf dem Papier stehen. Der Idealfall wäre
natürlich, die Produktivität eines hoch technisierten Industriestandortes mit
den Arbeitsverhältnissen eines Dritte-Welt-Landes zu verbinden. Dann wären
"wir" unschlagbar.
Die damit vorgegebene
Entwicklungsrichtung hat leider einen kleinen Schönheitsfehler: Die Konkurrenz
schläft bekanntlich nicht, wird sich also ähnliche Überlegungen machen mit
ähnlichen Schlussfolgerungen, und am Ende sind wieder alle gleichauf, nur unter
für alle verschlechterten Bedingungen (auch für die Kapitalverwertung), und die
nächste Runde kann beginnen. Diese logische Struktur von Akteuren, die alle
ihren eigenen Vorteil suchen, was ihnen aufgrund der gültigen Spielregeln
allesamt zum Nachteil gereicht, das Gegenstück also zur "unsichtbaren
Hand" des Adam Smith, ist übrigens unter dem Namen
"n-Personen-Gefangenendilemma" der akademischen Wirtschafts- und
Sozialwissenschaft durchaus geläufig. Nur darf es dort um Himmels willen nicht
auf die "schöne Maschine" des Weltmarkts anwendbar sein.
Der Kampf gegen die
Krise des warenproduzierenden Systems besteht heute wesentlich in der
Bekämpfung ihrer Opfer, der aus der warenförmigen Reproduktion
Herausgefallenen, die dazu in mehr oder weniger bewusster Verdrehung von
Ursache und Wirkung erst einmal als die wahren Schuldigen abgestempelt werden
müssen. Kaum noch ein Tag vergeht, an dem nicht irgendeine Boulevardzeitung
einen Sozialhilfeempfänger des Verbrechens eines "luxuriösen" Lebens
überführt und öffentlich anprangert. Ganze Heerscharen von Reportern scheinen
sich damit ihren Arbeitsplatz zu sichern. In den Arbeitsämtern gilt derweil als
Erfolgskriterium nicht mehr die Anzahl der in Beschäftigungsverhältnisse
Vermittelte (die Ergebnisse waren doch allzu dürftig), sondern die durch
vielerlei Schikanen erreichte Kosteneinsparung qua Zurückstufung finanzieller
Ansprüche. Wer die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz nicht zu einem
Vollzeitjob macht und das etwa durch eine entsprechende Anzahl sinnloser
Bewerbungsschreiben nachweist, bekommt weniger Geld. Einer Todsünde gar kommt
es gleich, einen angebotenen Arbeitsplatz einfach abzulehnen, und sei er noch
so unzumutbar. Gleiches gilt inzwischen auch für Sozialhilfeempfänger, da liegt
es doch nahe, Arbeitslosen- und Sozialhilfe
zusammenzuführen, das schafft Rationalisierungspotentiale.
Nicht nur in der
Peripherie, in den Bürger-, Plünderungs- und Weltordnungskriegen nimmt der
Kampf gegen die vom Weltmarkt Ausgespuckten und aus der bürgerlichen
Gesellschaft Herausgefallenen immer gewaltsamere Formen an, sondern auch in den
kapitalistischen Zentren, dort allerdings noch überwiegend verdeckt in den der
demokratischen Öffentlichkeit weniger zugänglichen Bereichen wie etwa den für
die "Illegalen" eingerichteten "exterritorialen Zonen"
(vgl. Rechtsform und "nacktes
Leben" in diesem Heft) . Vom
"lebensunwerten Leben" wird selbstverständlich nicht gesprochen,
entsprechend gehandelt zuweilen aber schon, und "menschlicher
Abschaum" gehört inzwischen zum erlaubten Sprachgebrauch. In den
Gefängnissen Hamburgs wurden eher beiläufig qua Verwaltungsakt die Automaten
abgebaut, mit denen Drogensüchtige ihre Spritzen erneuern konnten, mit dem
Argument, der Staat dürfe den illegalen Drogenkonsum nicht fördern. Nun wissen
natürlich alle, dass durch eine solche Maßnahme der Drogenkonsum nicht ab-,
wohl aber der gemeinsame Gebrauch der Spritzbestecke zunehmen wird, mit der
Folge der schnelleren Verbreitung von Krankheiten wie AIDS und Hepatitis. Es
kann jetzt darüber spekuliert werden, ob die damit verbundene Verringerung der
Lebenserwartung drogensüchtiger Häftlinge mit dieser Maßnahme nur billigend in
Kauf genommen wird oder aber ihr eigentlicher Sinn ist.
Wo es um Kosteneinsparung
geht, darf es keine Tabus mehr geben, wie auch der JU-Vorsitzende weiß, der
nicht einsehen mochte, warum man 85-Jährigen noch künstliche Hüftgelenke
einsetzen solle, schließlich seien die Leute früher auch auf Krücken gegangen.
Der auf diese Äußerung erfolgte Aufschrei sollte nicht darüber hinweg täuschen,
dass hier ein Diskurs installiert wurde, dessen Verlauf absehbar ist, wenn der
Anteil der Alten weiter zunimmt und die finanziellen Randbedingungen sich
weiter verschlechtern: Er wird nicht bei den 85-Jährigen stehen bleiben -
schließlich ist dasselbe Argument genau so gut auf 70-Jährige anwendbar - und
auch nicht bei Hüftprothesen. Schon heute sind viele Notfallkrankenhäuser so
schlecht ausgestattet, dass die Ärzte gar nicht anders können, als "Prioritäten
zu setzen", und natürlich wären sie dankbar, wenn es dafür
gesellschaftlich sanktionierte Kriterien gäbe.
Für das Wohl
"unserer" Volkswirtschaft müssen wir schließlich alle Opfer bringen.
Ein anständiger Staatsbürger arbeitet künftig bis 67 und ist mit 68 gefälligst
tot. Schöne Aussichten.
* * *
Die ökonomische Logik kippt angesichts der Krise
der Arbeitsgesellschaft in eine Selektions- und Entsorgungslogik um. Wie
bereits angedeutet, würde es freilich zu kurz greifen, diesen Umschlag allein
darauf zurückzuführen, dass betriebswirtschaftliche Rationalität zum alleinigen
Maßstab in allen gesellschaftlichen Subsystemen aufgestiegen ist. Elimination
und Vernichtung gehören vielmehr zum Urgrund, auf dem der stolze Gesamtbau von
Recht, westlicher Vernunft und Warensubjektivität errichtet ist.
In seinem Artikel
Gewaltordnung und Vernichtungslogik untersucht Ernst Lohoff
die Rolle von Gewalt und Krieg für die
Herausbildung und Entwicklung der modernen Subjektform. Ausgehend von einer
exemplarischen geistesgeschichtlichen Auseinandersetzung mit Hobbes, Hegel und
Freud stellt er die These auf, dass sich Warensubjektivität um einen Gewaltkern
herum konstituiert. Der blutige Aufstieg der großen staatlichen
Kollektivsubjekte, dessen militärgeschichtliche Logik Lohoff näher beleuchtet,
und die damit einhergehende Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols haben
diesen Gewaltkern gleichzeitig implantiert und eingebunden. Im gleichen Maße
wie sich in vielen Weltregionen reguläre Staatlichkeit auflöst und das staatsbürgerliche
Ethos zerfällt, droht dessen Freisetzung. Bei diesem Prozess spielt der
Leviathan selber eine Schlüsselrolle. Vor diesem Hintergrund geht es im
Schlussteil des Beitrags um das fatale Wechselspiel zwischen dem Weltpolizisten
und neuen poststaatlichen Gewaltakteuren wie el Qaida.
Auf den
gewaltförmigen Kern der Konstitution des Politischen, des Verhältnisses von
staatlichem Souverän und Staatsbürger zielt der Artikel Rechtsform und "nacktes Leben" von Karl-Heinz Wedel, in dem
er versucht, Giorgio Agambens "Homo sacer" für eine
wertabspaltungskritische Perspektive fruchtbar zu machen. Dieser Kern, im
Normalzustand der Rechtsform gemeinhin verhüllt, kommt als Ausnahmezustand in
der Krise zunehmend zum Vorschein, exekutiert etwa an den "Papierlosen".
Sein Paradigma ist das Lager, die Reduktion des Einzelnen auf tötbares Leben.
Es sind die
hässlichen Erscheinungsformen der neuerdings wieder gern beschworenen
westlichen Werte, der Ideale der Aufklärung, und nicht irgendwelche
Abweichungen davon, die jetzt in der Krise kulminieren. Gegenstand der letzten
beiden Krisis-Hefte war u. a., diesen Zusammenhang nachzuweisen. Robert Kurz hat
mit seinen beiden Artikeln Blutige
Vernunft (Heft 25) und Negative Ontologie (Heft 26) dabei
theoretisches Neuland betreten und, wie sollte es anders sein, damit auch
intern kontroverse Debatten ausgelöst. Besonders die Rede vom "geistigen
Gesamtmüll des Abendlandes" (Heft 25, S.
66), in manchen Diskussionen aus dem
Zusammenhang gerissen, in den sie gestellt war, blieb nicht ohne Widerspruch
(s. Anselm Jappe, Eine Frage des Standpunkts in Heft 26). In dem Artikel Tabula
rasa nimmt Robert Kurz diese
Diskussionen auf und entwickelt Kriterien für eine - um im Bilde zu bleiben -
"Mülltrennung", indem er zwischen dem (abzuschaffenden) eigentlichen
Gegenstand negatorischer Kritik und den geschichtlichen Artefakten
unterscheidet, die über die Warengesellschaft hinaus Bestand haben können, so
wie etwa die Kunst des Bierbrauens nicht mit der mesopotamischen Gesellschaft
untergegangen ist, in der sie entstand. Der Text ist so gehalten, dass er auch
ohne den Vorlauf der Artikel, aus denen er sich entwickelt hat, gelesen werden
kann.
Der Kommentarteil
beginnt mit dem kurzen Text Staat und
Schlepper, in dem Franz Schandl die
gesellschaftlichen Bedingungen für die Geschäfte der Fluchthelfer und die
allgemeine Empörung über derartige Geschäfte kritisch unter die Lupe nimmt.
Ebenfalls Franz Schandl rezensiert
in Kontinuität und Singularität das gerade in deutscher Sprache erschienene Buch von Enzo Traverso Moderne
und Gewalt. Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors, in dem dieser Auschwitz als ein authentisches Produkt der
westlichen Zivilisation kennzeichnet und seine These am historischen Material
belegt.
Die Verbreitung von
Krisis-Texten, insbesondere des inzwischen in acht Sprachen übersetzten
Manifests gegen die Arbeit, aber auch verschiedener Anthologien über den
deutschen Sprachraum hinaus hat auch dort erfreulicherweise zu kontroversen
Debatten geführt. Wir dokumentieren hier exemplarisch vier Kritiken am Manifest
gegen die Arbeit, die insofern repräsentativ sind, als sie einige häufig
wiederkehrende Argumente und Einwände enthalten: Bemerkungen zum "Manifest gegen die Arbeit"
von Jaime
Semprun (Paris),
Wenn der Berg kreißt und eine Maus gebiert
von Charles Reeve (Paris),
Anmerkungen zum "Manifest gegen die Arbeit"
von Luca Santini
(Rom) sowie das Nachwort zur franko-kanadischen
Ausgabe des Manifests von Éditions Rouge et Noir (Québec). Eine Replik
unsererseits ist für das nächste Heft vorgesehen.
Nicht fehlen soll
auch diesmal der Hinweis auf neuere Publikationen aus unserem Zusammenhang. Da
ist zunächst die Broschüre Scharfe Schafe -
Geschorenes zum antideutschen Bellizismus zu der wir uns aufgrund der unerträglich gewordenen
Ausbreitung des antideutschen Sektenwesens in der linken Szene und Presse
genötigt sahen. Die Broschüre enthält
Beiträge von Norbert Trenkle, Micha Böhme, Martin Dornis und Kenneth Plasa: , Robert Kurz,
Franz Schandl,
Ernst Lohoff
u.a. und dokumentiert außerdem die Polemik gegen den Kongress "Spiel ohne Grenzen" im Mai 2003. Die Bestellmodalitäten finden sich in
der Anzeige auf den letzten Seiten dieser Krisis.
Eine ausführliche
Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen und Hintergründen der
antideutschen Ideologie, die in der Broschüre keinen Platz mehr fand, hat Robert Kurz in dem Buch Die antideutsche Ideologie
geleistet, das im Oktober im Unrast-Verlag (Münster)
erscheint (320 Seiten, 17 Euro).
Schließlich erscheint
in diesem Herbst endlich auch die deutsche Fassung des Buches Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft
von Moishe
Postone, an dessen Übersetzung sich
die Krisis (in Person von Petra
Haarmann, Wolfgang
Kukulies, Norbert
Trenkle und Hanns
von Bosse) in den letzten drei Jahren
intensiv beteiligt hat. Das Buch ist im Freiburger ca ira Verlag erschienen,
umfasst 600 Seiten und kostet 34 Euro. Es handelt sich um ein äußerst wichtiges
theoretisches Grundlagenwerk, mit dem wir uns in den nächsten Nummern noch
weiter auseinandersetzen werden.
Claus Peter Ortlieb für die Redaktion
Aus dem Editorial der krisis 27, September 2003
Es kriselt bei der Krisis! Es "geistert" hinter den "internen
kontroversen Debatten"! "Geister" bereiten die Ent-scheidung vor!
"Robert
Kurz hat mit seinen beiden Artikeln
Blutige Vernunft (Heft 25) und Negative
Ontologie (Heft 26) dabei
theoretisches Neuland betreten und, wie sollte es anders sein, damit auch intern kontroverse Debatten ausgelöst. Besonders die Rede vom "geistigen Gesamtmüll des
Abendlandes" (Heft 25, S. 66), in manchen Diskussionen aus dem Zusammenhang gerissen,
in den sie gestellt war, blieb nicht ohne Widerspruch..." hieß es in dem obigen Editorial der letzten alten Krisis
27. Die dort erwähnten Artikel von Robert Kurz sind
im Sommer 2004, wenige Monate nach der Spaltung der "Krisis", in einem Sammelband "Blutige Vernunft" im Horlemann Verlag herausgegeben
worden. In seinem Vorwort beleuchtet Robert
Kurz die Hintergründe und gesellschaftlichen
Zusammenhänge der Kontroversen, ja Konflikte, die wesentlich zur Spaltung und
dem Ende des Krisis-Projekts führten.
Robert Kurz
Blutige Vernunft
Essays zur
emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer westlichen
Werte
Aus dem Inhalt
5 Vorwort
15 Blutige Vernunft
20 Thesen gegen
die so genannte Aufklärung und die "westlichen Werte"
53 Negative
Ontologie Die Dunkelmänner der Aufklärung und die Geschichtsmetaphysik der
Moderne
Das abstrakte Individuum in der
Uniform der so genannten Subjektivität 54 . Klassen und Klassenkämpfe als reine
Formen bürgerlicher Subjektivität 60 . Gleichheit zum Tode: die negative
Universalität der Rechtsform als Selektionsmechanismus 62 . Aufklärung und
Gegenaufklärung: die Polarität kapitalistischer Entwicklung und die Identität
der Gegensätze 68 . Bürgerliche Geschichtsmetaphysik des
"Fortschritts" und bürgerlicher Geschichtsrelativismus 76 .
Geschichtstheorie und verkürzte Herrschaftskritik 80 . Negative Ontologie als
negative Geschichtstheorie 82 . Das Ende der Ahnengalerie und die Überwindung
der positiven Theorie 84
89 Tabula rasa
Wie weit soll,
muss oder darf
die Kritik der Aufklärung gehen?
Feindschaft oder Erbschaft? 93 .
Die Ikonen der Aufklärung 99 . Der eigentliche Gegenstand negatorischer Kritik 105
. Die Artefakte der Geschichte 112 . Der ontologische Bruch:
Entfetischisierung 121 . Das ontologische Bedürfnis 123 . Hannibal Lecter oder
die "Potenz" der Distanzfähigkeit 129 . Die Zertrümmerung des
Alleszertrümmerers 137 . Das Subjektive an der Subjektkritik oder die Dialektik
der Softies 139 . Es gibt keine Dialektik der Aufklärung jenseits des
Hegeischen "Aufhebungs"-Begriffs 147
153
Subjektlose Herrschaft Zur Überwindung einer verkürzten Gesellschaftskritik
222 Über den Autor
Aus dem:
Vorwort
(...)
Heute geht es
aber nicht allein um die Form der Darstellung und ob sie etwa unanständig oder
gar polizeiwidrig wäre. Vielmehr findet eigentlich so gut wie keine
theoretische Auseinandersetzung statt, die diesen Namen verdiente. Wenn es
gar keine begriffliche Reflexion gibt, dann kann sie allerdings auch nicht
polemisch zugespitzt werden. Das aber ist keine teutonische Spezialität mehr,
sondern ein weltweiter Zustand. Und diese Situation findet sich nicht nur im
offiziellen Wissenschafts- und Geistesbetrieb, sondern sogar in der
radikalen Linken. Während oberflächlich gegenseitiger Respekt angemahnt wird,
geht es in Wirklichkeit um die Akzeptanz eines defizitären, begriffslosen
Räsonnements, das überhaupt nicht respektiert werden sollte. Nicht persönliche
Anerkennung und ein solidarischer Umgang miteinander sind das Ziel dieser
ideologischen Veranstaltung, sondern die Ausblendung unangenehmer Inhalte.
Widersprüche sollen ungeklärt stehen bleiben und nicht in zugespitzter
Formulierung erscheinen.
Diese
Tendenzen gehen einher mit einer Personalisierung der Inhalte und
Auseinandersetzungen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Parole der
68er, dass das Private politisch sei, scheint auf den Kopf gestellt; nun wird
umgekehrt das Politische privatisiert.
Zur Debatte stehen nicht Positionen, sondern Figuren und deren geschminktes
Image ("Aufsteiger und Absteiger der Woche"). Das gilt zunehmend auch
für die theoretische Sphäre. Philosophen treten nach dem Muster von
Fußballstars und Rennfahrern an. Krisen werden als persönliches Versagen
wahrgenommen. Es ist kein Zufall, dass sogar die sattsam bekannten Spaltungen
der Linken im Unterschied zur Vergangenheit immer weniger anhand offen gelegter
inhaltlicher Differenzen ausgetragen werden. Stattdessen schieben die
Protagonisten neuerdings zunehmend persönliche Probleme vor; der
Beziehungskampf und die undurchsichtige Intrige sind an der Tagesordnung.
Der Hintergrund der Personalisierung ist derselbe wie
derjenige der Individualisierung und allgemeinen Entsolidarisierung, nämlich
die Auflösung alles Denkens und Handeins in die Subjektivität der Selbstverwertung.
Die Kritik ist zur Ware geworden, und damit zum Gegenstand der Konkurrenz, der
offenen wie der verdeckten. Diesem Prozess einer Reduktion auf den homo oeconomicus,
und auf das abstrakte Selbstbehauptungs-Individuum entspricht gleichzeitig eine
Paralyse der kritischen Reflexion, die durch Voluntarismus und hohle
Deklamation ersetzt wird; etwa bei Hardt/Negri, deren "Empire"-Buch
gerade dadurch Kult-Status erlangt hat. Begrifflich geht es um nichts mehr,
weil es um nichts mehr gehen darf. Das Verlangen nach Emanzipation verkommt zur
netten Phrase. Die gefährliche Sache wird auf seichte Emotionen und die
rebellische Emotion wird auf seichte Sachlichkeit heruntertransformiert.
(...) Die
Abstumpfung der Kritik und der Fortschrittsideologie ist eine Not; aber diese
Not wird zur Tugend gemacht. Statt die Kritik gegen das Wesen des Kapitals
selbst als Unwesen zu richten und sie damit kategorial zuzuspitzen, wird die
demokratische Bräsigkeit zum Ideal erhoben. Das periodisch proklamierte
Frühlingserwachen lebt allein von modischen Schlagworten, die schon bald wieder
vergessen sind. Darin treffen sich das gemeinbürgerliche Bewusstsein und dessen
linksradikale Derivate. Ob ein konservativer Präsident fordert, dass ein
"Ruck" durch die Gesellschaft gehen solle, ob die ökonomischen
Ideologen vom "Aufbruch in die Selbstverantwortung" schwärmen, oder ob die
Linke vermittlungslos die "Aneignung" entdeckt und eine "andere
Welt" für möglich erklärt - stets ähneln die Parolen verzweifelt denen von
Werbekampagnen, weil die Bestimmungen willkürlich und zusammenhangslos bleiben.
Es werden bloße "Stimmungen" erzeugt, die nicht nachhaltig sein
können. Die damit verbundene phänomenologische Reduktion des Denkens markiert
die Kapitulationsurkunde einer Kritik, die sich als begriffliche selbst
aufgegeben hat.
(...) Der
hilflose Antikapitalismus der Linken geht ins Leere, weil ihm sei- ne
Bezugsfelder in der zu Ende gegangenen Modernisierungsgeschichte
(Arbeiterbewegung, Realsozialismus, nationale Befreiungsbewegungen) abhanden gekommen
sind. Dieser Bezug stand selber noch im Bann des bürgerlichen
Aufklärungsdenkens, das jetzt auch in der Linken ein letztes Mal mit Macht an
die Oberfläche durchbricht. Vergessen die "Dialektik der Aufklärung"
(Adorno/Horkheimer), vergessen die Kritik am Eurozentrismus; ohnehin nur
unvollständige und halbherzige Anstalten für einen Ausbruch aus dem Verhängnis
kapitalistischer Scheinrationalität. Jetzt wäre eine radikale, also bis auf den
Grund gehende Destruktion des Aufklärungsdenkens und seiner Orwellschen Sprache
angesagt, weil die Kritik der bürgerlichen Vernunft und ihrer Resultate mit den
Mitteln der bürgerlichen Vernunft ganz unmöglich geworden ist.
Ein Teil der Linken flüchtet stattdessen vor
der eigenen bürgerlichen Vernunft in ein scheinemanzipatorisches Plaudern und
Plappern, das die schal gewordenen Begriffe des untergegangenen
Arbeiterbewegungsmarxismus wiederkäut oder sie zuvor noch mit postmodernen
Geschmacksverstärkern anreichert; der Kult der Ambivalenz kann zum Alibi der
begrifflichen Abrüstung werden, um sich der Anforderung des kategorialen Bruchs
nicht stellen zu müssen. Ein anderer Teil der Linken gräbt sich zusammen mit
den offiziellen demokratischen Ideologen lieber an der letzten
Verteidigungslinie der Modernisierungsvernunft ein. Plärrend wird von
vielen ehemaligen Kritikern ein angebliches "bürgerliches Glücksver-
sprechen" eingeklagt, während die Globalisierung des Kapitals über alle
sozialen Beziehungen hinwegwalzt und die Lebensgrundlagen zerstört.
Es ist ganz
offensichtlich, dass die Frage einer radikalen Kritik der Aufklärung an die
eigentliche Tabugrenze der Moderne führt.
Diese Grenze ist zusätzlich dadurch gesichert, dass jegliche konsequente
Aufklärungskritik denunziatorisch der reaktionären Gegenaufklärung und kulturpessimistischen
Antimoderne zugeschlagen wird, obwohl es sich dabei in Wahrheit um Produkte der
Aufklärung selbst handelt. Eine emanzipatorische Anti- moderne soll als
denkunmöglich erscheinen; aber gerade im Denken dieser angeblichen
Unmöglichkeit besteht die aktuelle historische Aufgabe. Es ist die
kapitalistisch konstituierte Subjektform, die den gemeinsamen Nenner von bürgerlicher
Aufklärung und ebenfalls bürgerlicher Gegenaufklärung bildet; und in diese Form
ist auch die bisherige Linke ein- geschlossen. Die Tabugrenze kann nur
durchbrochen werden, wenn der emanzipatorische Impuls so weit geht, diese
gemeinsame Subjektform des modernen warenproduzierenden Systems ins Visier
zunehmen.
Die
kategoriale Kritik an den Wesensbestimmungen der kapitalistischen Moderne hat
unter dem Namen der "Wertkritik" bereits eine gewisse
Ausstrahlungskraft in der Sphäre theoretischer Reflexion gewonnen. Wertkritik bezieht sich auf die Wertform der Ware
als Vergesellschaftungsform der Moderne. Aber es geht dabei keineswegs bloß um
eine ökonomische Bestimmung im engen Sinne. Vielmehr ist der Begriff des Werts
bzw. der Verwertung ein negativer Totalitätsbegriff des Kapitalverhältnisses
oder der" Wertvergesellschaftung". Nation, Staat und Politik sind
nicht unmittelbar der empirischen Ökonomie subsumiert, aber sie gehören der selben
vom Wert gesetzten fetischistischen Totalität an.. Deshalb kann die politische
Form auch keine Emanzipationsform sein, ebenso wenig die so genannte Nation.
Dasselbe gilt für die kapitalistische Ontologie der "Arbeit". Auch
der abstrakte Arbeitsbegriff bildet keinen, womöglich noch transhistorisch zu
fassenden, Hebel der Emanzipation. Arbeit, Nation und Politik stellen einzig
Kategorien des warenproduzierenden Systems dar und verfallen als gesellschaftliche
Kategorien zusammen mit diesem.
Im
deutschsprachigen Raum wurde die Wertkritik, die sich aus dem wertimmanenten
traditionellen Marxismus herauszuarbeiten begann, über mehr als ein Jahrzehnt
von der Theoriezeitschrift "Krisis" getragen. Aber sogar innerhalb
dieses Zusammenhangs wertkritischer Theoriebildung machte sich zuletzt die
Tabugrenze der Moderne bemerkbar. So- bald die Kritik der Arbeit und der
Politik sich über die Begriffe der Kritik der politischen Ökonomie und der
bürgerlichen Rechtsform hinaus zur Kritik der Subjektform und der Aufklärung
fortentwickelte, begannen sich die Widersprüche dieses Subjekts trotz des
Anspruchs einer neuen radikalen Kritik destruktiv geltend zu machen. Insofern haben die hier vorgestellten Essays bereits
ein gewisses Schicksal durchlaufen. Dass sie in drei aufeinander folgenden Ausgaben
von "Krisis" (2002 und 2003)
erschienen sind, war Moment eines erbitterten Konflikts. Der Abdruck des Textes
"Blutige Vernunft" sollte zunächst unterbunden werden und war erst nach
heftigem Widerstand möglich; der Text "Tabula rasa" rief noch
stärkere Abwehrreflexe hervor und machte "böses Blut".
Ein
Aspekt dieser Konflikte bestand darin, dass die hier ansatzweise entwickelte
Subjekt- und Autklärungskritik sich nicht mehr auf den Horizont des
androzentrischen Universalismus beschränkt, der ja das strukturell männliche
Autklärungsdenken kennzeichnet. Dem abstrakten Individuum der Moderne liegt die
männnlich-weiße westliche Subjektform (MWW) zu Grunde. Gerade die Einbeziehung
des Geschlechterverhältnisses auf der Abstraktionshöhe der kapitalistischen
Wesensbegriffe grenzt diese emanzipatorische Aufklärungskritik entscheidend von
der bürgerlichen Gegenaufklärung ab, die selber immer zutiefst androzentrisch
bestimmt und genau dadurch mit der Aufklärung untergründig verbunden war. In
demselben Maße, wie nun der Begriff der geschlechtlichen
"Abspaltung", der von. Roswitha Scholz entwickelt worden ist (Das
Geschlecht des Kapitalismus, Bad Honnef 2000), in die Aufklärungskritik
systematisch integriert wurde, machten sich die Bremsversuche im Projekt der
Wertkritik von "Krisis" immer heftiger bemerkbar. Die Furien des
falschen androzentrischen Universalismus wurden entfesselt, als sich abzeichnete,
dass die bislang eher als eine Art Fremdkörper geduldete (und im Zweifelsfall
von der begrifflichen auf die historisch-empirische Ebene abgeschobene)
Abspaltungstheorie das selber noch abstrakt-universalistische Verständnis der
Wertkritik zu sprengen drohte.
Es war
bezeichnend, dass die Abwehr dieser scharfen Bestimmung der Subjekt- und
Aufklärungskritik zunächst nicht offen als inhaltlicher Dissens formuliert
wurde, sondern als Anklage gegen "Zuspitzung" und als Versuch einer
persönlichen Denunziation daherkam. Diese Art der Konfliktführung ordnet sich
in den Mainstream der linken und gemeinbürgerlichen Privatisierung
gesellschaftlicher, inhaltlicher Probleme ein. Eine Wertkritik, die vordem letzten entscheidenden Bruch mit der
modernen Subjektform und deren aufklärerischer Selbstlegitimation zurückscheut,
muss zwangsläufig in die bürgerliche Ontologie zurückfallen. Mit dem formale
Seriosität mimenden, abwiegelnden Gestus der Ausgewogenheit kann man vielleicht
noch eine Zeitlang im Szene- Diskurs einer an theoretischer Klärung gar nicht
interessierten Linken mitschwadronieren, aber die Kritik nicht mehr
weitertreiben. Soweit ein im androzentrischen Universalismus stecken bleibender
wertkritischer Diskurs Elemente einer Aufklärungskritik aufnehmen wollte,
könnte er sich nur bei den Denkern der bürgerlichen Gegenaufklärung bedienen
und sich damit theoretisch endgültig desavouieren.
Der
Zusammenhang der ursprünglichen Theoriebildung von "Krisis" existiert
nicht mehr; was unter demselben Label weiter firmiert, ist nichts als ein
Etikettenschwindel, seit die Mehrheit der Redaktion und wesentliche AutorInnen
von den auf dem Boden des abstrakten Universalismus stehen gebliebenen
Vertretern einer Vulgarisierung der Wertkritik mit formaljuristischen Mitteln
hinausgeputscht worden sind. Nachdem
"Krisis" auf diese unrühmliche Weise Geschichte geworden ist, wird
die wert- und abspaltungskritische Theoriebildung in der neuen
Theoriezeitschrift "EXIT!" weitergeführt.
Die hier vorliegenden Essays markieren die Bruchlinie und den Umschlagspunkt zu
einer weitergehenden, "zugespitzten" emanzipatorischen Kritik von
Aufklärung und männlich- weißer westlicher Subjektform (MWW).
Für
die LeserInnen eines breiteren Publikums, die diese Texte nicht als Dokumente
eines inneren Konflikts wertkritischer Theoriebildung wahr- nehmen, können sie
direkt als Einstieg in einen umstürzlerischen Diskurs dienen, der sich den
falschen Alternativen der warenproduzierenden Moderne verweigert. Es gab nie
einen bürgerlichen Fortschritt, an den die soziale Emanzipation der Menschheit
anschließen könnte. Das notwendige Pathos der Befreiung muss am Ende der
Modernisierungsgeschichte endlich konsequent anti-ontologisch werden. Weder
Adorno noch die post- modernen Theoretiker haben die anti-ontologische
Konsequenz durch- halten können. Um eine solche Perspektive zu gewinnen, ist es
notwendig, im Kontext der Subjekt- und Aufklärungskritik die moderne
Theoriegeschichte einschließlich des Marxismus noch einmal neu aufzuarbeiten.
Es
versteht sich von selbst, dass diese Aufgabe nicht mit einigen wenigen Texten
bewältigt werden kann. Hier geht es zunächst darum, in thesenhafter und
essayistischer Form einen ersten Überblick über die Aufgabenstellung zu geben
und deren polemische Intention gegen den bisherigen Kritikbegriff bürgerlicher
Vernunft deutlich zu machen. Dass diese Texte im Handgemenge und Pulverdampf
der quer durch alle gesellschaftlichen Lager sich ziehenden
Auseinandersetzungen nach dem 11. September entstanden sind, unterstreicht
diesen Charakter. Damit wird der theoretische Anspruch ganz und gar nicht
dementiert, im Gegenteil: Anders als durch die Konflikte der Zeit hindurch ist
kritische Theoriebildung gar nicht möglich.
Angehängt an
die drei neueren Konflikt-Essays zur Aufklärungskritik ist der Text "Subjektlose Herrschaft "
aus dem Jahr 1993, damals ebenfalls in einer inzwischen vergriffenen Ausgabe
der alten "Krisis" erschienen. Das Thema der Subjektkritik ist hier
bereits aufgenommen, aber noch enger gefasst, fokussiert auf das Herausarbeiten
aus der marxistischen Theoriegeschichte und noch nicht mit allen Implikationen
der Aufklärungskritik versehen. Dieser Text, der auch seinen eigenen
Stellenwert hat, kann es möglicherweise erleichtern, den Denkweg zum Bruch mit
der modernen Ontologie nachzuvollziehen, gerade weil er selber noch bestimmte
Momente einer Ontologisierung enthält {vor allem hinsichtlich des
Subjektbegriffs). Angemerkt sei auch, dass in der "Subjektlosen Herrschaft"
der Hegelsche Begriff der "Aufhebung" noch ganz selbstverständlich
erscheint, der in der späteren Kritik ausdrücklich verworfen wird.
Nürnberg, im Juli 2004, Robert Kurz
[Dies ist der 4. Teil der "Kleinen
Geschichte des wertkritischen Theoriebildungsprozesses" (Version 3.0
vom 06. Februar 2005), die sozusagen ein "work in progress" ist. Sie
wird fortlaufend (auch Fehler im bereits veröffentlichten Teil korrigierend)
weitergeführt um den letzten Abschnitt:
"2004: Der "Coup" und die
Spaltung der "Krisis""
-: Mit "Exit" gehts/gings weiter"]