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Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Das
Jahr 1999 - ein Jahr ohne "Krisis", aber wegweisender Publikationen Die
Krisis
hat diesmal eine längere Pause als
gewöhnlich gemacht. Die vorliegende Ausgabe erscheint gut ein halbes Jahr
später als vorgesehen. Das liegt aber nicht daran, dass unsere Tätigkeit
eingeschlafen wäre - ganz im Gegenteil. Für die Verzögerung sind eher
zusätzliche Aktivitäten verantwortlich zu machen, die allesamt über den Rahmen
eines theoretischen Selbstverständigungsorgans hinausreichen. Zunächst einmal hat ein "kleiner Weltordnungskrieg"
am Rande Europas im Frühjahr 1999
unseren Zeitplan ein wenig durcheinander gewirbelt. Nicht nur aufgrund der
Zäsur, die dieser Kriegseinsatz mit einer erstmalig direkten Beteiligung der
BRD darstellt, sondern auch weil die Debatte darüber ausgesprochen
gespenstische Züge annahm, sahen wir uns genötigt, in dieser Frage öffentlich
(publizistisch auf Zeitungsebene und durch Teilnahme an Veranstaltungen)
Position zu beziehen. Während die
Menschenrechtsbarbarei der westlichen Demokratien und ihrer olivgrünen Bellizisten nach einer radikalen Kritik schreit, wusste die
Linke großenteils nichts besseres zu tun, als sich in die ewig fortgesponnene Konstellation des Zweiten Weltkriegs
zurückzuphantasieren und die "Hauptrolle Hitler" statt mit Milosevic wahlweise
mit Clinton oder Schröder/Fischer/Scharping zu besetzen. Die Auseinandersetzung
darüber wird sicher noch einige Nachspiele haben. Einer früheren Fertigstellung der Krisis kam außerdem die Endphase des umfangreichen Buchprojekts
von Robert
Kurz in die Quere, das im November 1999
als "Schwarzbuch
Kapitalismus" bei
Eichborn erschienen ist. Am nachhaltigsten aber hat uns ein anderes Projekt
beschäftigt, nämlich der schon länger vorbereitete Versuch, mit unserer Kritik
der "Arbeit" offensiv in die mittlerweile ziemlich leerlaufende
Debatte um die "Krise der Arbeitsgesellschaft" einzugreifen. Den Platz der
hinausgeschobenen neuen Krisis nahmen daher zunächst das im Sommer 1999
unter dem Herausgebernamen "Gruppe Krisis" erschienene "Manifest gegen die
Arbeit" und der im Oktober
1999 herausgegebene Sammelband "Feierabend! - Elf
Attacken gegen die Arbeit" (Konkret Literatur Verlag - darin u. a. Robert Kurz und Norbert Trenkle: "Die Aufhebung der Arbeit") ein. Auf
den ersten Blick könnte die Ausgliederung dieser neuen Publikationen zur
Arbeitskritik aus der Theoriezeitschrift wie ein bloßes Etikettierungsproblem
anmuten. Näher betrachtet verhält es sich allerdings nicht so. "Feierabend!" ist keineswegs eine Krisis-Ausgabe unter anderem Namen, und für das "Manifest" gilt dies natürlich erst recht. Die Texte mussten
außerhalb der Krisis-Reihe erscheinen, weil sie zwar nicht hinsichtlich
der inhaltlichen Orientierung, sehr wohl aber in ihrer Form und "strategischen"
Ausrichtung einen anderen Charakter haben als die Theoriezeitschrift. Damit ist
ein grundsätzliches Problem des gesellschaftlichen Ortes von kritischer Theorie
angesprochen. Versteht
man Wertkritik ausschließlich als das, was die Krisis im Kern ausmacht,
nämlich als ein Projekt theoretischer
Selbstverständigung, dann hat die
Reorientierung auf die Arbeitskritik kaum
grundsätzlich Neues zu Tage gefördert. Natürlich hat vor allem der Sammelband
den einen oder anderen Aspekt hinzugefügt; die theoretischen Kernaussagen
wurden indes bereits vor geraumer Zeit in der Krisis entwickelt und dargestellt
(man denke u. a. an "Die verlorene Ehre der Arbeit", "Sexus und Arbeit", "Postmarxismus und
Arbeitsfetisch" oder "Zeit ist Geld -
Geld ist Zeit" in den Nummern 10, 12, 15 und
19). Wenn
also das "Manifest" und das Buch "Feierabend!" auf
der Ebene der theoretischen Entwicklung als eine Art erweiterte Repetition und
als bloße Anreicherung mit Material gelten könnten, so stellen diese
Publikationen in anderer Hinsicht dennoch völliges Neuland dar. Denn damit hat
die radikale Wertkritik der Krisis einen Vorstoß über das Gebiet rein theoretischer
Erörterungen hinaus gewagt. Die Reorientierung auf die Arbeitskritik steht für den Versuch,
von den Essentials der wertkritischen Analyse aus zu einer Neuformulierung der
zeitgenössischen sozialen Grundkonflikte zu gelangen und damit ein breiteres,
heute großenteils in Latenz verharrendes oppositionelles Bewusstsein
anzusprechen. Dieser
Schritt in Richtung einer vermittelnden
Aktivität stellt natürlich keinen Bruch mit
unserem bisherigen Theorieverständnis dar. Zwar ist für die Herausbildung der
radikalen Wertkritik eine Abgrenzung vom landläufigen linken Praktizismus und Politizismus mit
seinem Drang, Theorie in Agitation aufzulösen, konstitutiv gewesen; die von der Krisis beharrlich betonte Eigenlogik des "theoretischen Pols"
meinte aber - und das sagt ja schon dieser Begriff selbst - nie eine absolute,
sondern immer eine relative Selbständigkeit der gesellschaftskritischen
Theorie. Wertkritik lässt sich letztlich ohne Bezug auf die Perspektive einer
emanzipatorischen gesellschaftlichen Bewegung und Veränderung gar nicht denken. Eine
Gesellschaftskritik, die es sich selbstgenügsam im berüchtigten Elfenbeinturm der
Theorie bequem machen wollte, ließe damit nicht nur ihre ursprüngliche, auf
Veränderung gerichtete Intention fallen, sie geriete auch schon theorieimmanent
hoffnungslos in die Schieflage. Denn selbst die abstraktesten theoretischen
Überlegungen radikaler Wertkritik können nur formuliert werden, indem sie ihren
Gegenstand, den warengesellschaftlichen Formzusammenhang und dessen
Emanationen, als grundsätzlich aufhebbar unterstellen und damit implizit immer
schon in Beziehung zu einer virtuellen Bewegung gegen die herrschende Praxis
stehen. Weder die Demokratie noch der kapitalistische Reichtumsbegriff oder die
Subjektform der Wertvergesellschaftung etc. lassen sich kritisch analysieren
ohne die Annahme, dass die sozialen Konflikte um uns herum anders besetzt
werden könnten, als dies in den gegenwärtigen ideologischen
Gespensterschlachten des bürgerlichen Bewusstseins geschieht. Wollte die
Wertkritik das Vermittlungsproblem verdrängen und löschen, statt selbst noch
die Existenz von Gesellschaftstheorie als eine durch den Zwang der Verhältnisse
aufgeherrschte und letztlich zu überwindende Zumutung
zu begreifen, dann würde sie damit auch als Theorie gegenstandslos und müsste
zu ihrer eigenen Karikatur verkommen. Keine
chinesische Mauer trennt das Reich der kritischen Theorie vom (wie auch immer
diffusen) gesellschaftlichen Bedürfnis nach Befreiung von der Diktatur des
Warenfetischs. Dieser implizit von Anfang an vorhandene
Bezug ändert freilich nichts daran, dass der Versuch, durch die Propagierung
der Arbeitskritik eine Katalysatorfunktion bei der Formierung eines neuen
oppositionellen Bewusstseins zu übernehmen, in der Entwicklung der Krisis eine qualitative Veränderung darstellt - auch wenn uns
durchaus bewusst ist, dass dieser Versuch zunächst nur in einem sehr
beschränkten Rahmen stattfinden kann. Die Notwendigkeit, als Theoriegruppe
immer schon paradigmatisch von der letztinstanzlichen gesellschaftlichen
Vermittelbarkeit der Wertkritik ausgehen zu müssen, ist das eine; etwas ganz
anderes freilich ist es, tatsächlich einen ersten Schritt der Vermittlung zu
tun. Der
Begriff "Vermittlung" schillert ein
wenig. Geistesgeschichtlich hat er mit Hegel Karriere gemacht und bezeichnet in
dessen Sprachgebrauch bekanntlich den eigentlichen Inhalt der Philosophie.
Philosophisches Denken ist für Hegel und seine Erben per se vermittelndes
Denken. Auch in die Marxsche Theorie ist diese Vorstellung "methodisch" (im
Sinne einer ihren Gegenstand von innen heraus kritisch sprengenden Denkweise)
eingegangen. Vermittlung meint innertheoretisch das Bemühen, den inneren
Zusammenhang zwischen Wesen und (empirischer) Erscheinung herzustellen, und in
diesem Sinne lässt sich das Marxsche "Kapital" als ein einziges
Vermittlungswerk verstehen. Der Begriff "Vermittlung" hat aber noch eine
Zweitkarriere gemacht, in der er sich - zunächst im Zuge der 68er Bewegung -
einen Ehrenplatz im Pädagogenjargon erobern konnte. In diesem Kontext zielt die
Frage nach der Vermittlung schlicht auf das alltägliche Problem jedes Lehrers:
Wie sag ichs meinem Kinde? Wie speise ich einen längst schon fixierten und zum
Curriculum versteinerten Inhalt in das arme Schülerhirn ein? Selbst ins
Politikergeschwätz hat der so verballhornte Begriff der Vermittlung inzwischen
Einzug gehalten. Die inhaltlich endgültig entleerten Parteien haben ihren
notorischen Verlautbarungen zufolge immer nur ein "Vermittlungsproblem",
sprich: sie haben Schwierigkeiten, das geeignete Marketing zu finden, um ihre
jeweilige Inhaltslosigkeit (als Opposition) und die der Marktlogik folgenden
immer härteren sozialökonomischen Restriktionen (als Regierung) demoskopisch
signifikant an die medial berieselte Wählermasse zu verkaufen. Es
kann nicht sonderlich verwundern, dass, sobald es um das Verhältnis von gesellschaftskritischer
Theorie und Selbst-Konstitution sozialer Emanzipationsbewegung geht, diese alltagssprachliche Zweitbedeutung sich in einer vom Geist
der Aufklärung (der Pädagogik im Großen) geprägten Linken ebenfalls regelmäßig
vor die ursprüngliche Bedeutung schiebt. Bereits als die Krisis sich in
diversen Artikeln zunächst rein theoretisch dem Problem einer denkbaren
Aufhebungs- oder Aneignungsbewegung zuwandte, wurde dieses Missverständnis denn
auch von einigen Erbverwaltern Adornos als "Argument" gegen die Fragestellung
als solche bemüht. Sie wollten allein
schon die theoretische Thematisierung des Problems als "unzulässige" angebliche
Vulgarisierung von Wertkritik und als Abgleiten in
einen "Populismus" tabuisiert sehen. Um solche Denunziationen als solche
kenntlich zu machen, muss der grundlegende Unterschied zwischen Vermittlung und
bloßer Popularisierung herausgestellt werden. Wer vom Ausgangspunkt des
theoretischen Pols her mit dem Vermittlungsbestreben ernst machen will, kommt
ohnehin nicht darum herum, sich dabei über die Differenz dieser beiden
Vorgehensweisen Rechenschaft abzulegen. Das
"Manifest gegen die Arbeit" hätte sein Ziel von vornherein verfehlt und
wirkungslos bleiben müssen, hätten wir es gewissermaßen als "Krisis light"
konzipiert, um die Leser irgendwie an die Höhenluft wertkritischer
Abstraktionen heranzuführen. Eine
"Einführung" in die wertkritische Theorie ist deswegen nicht abzulehnen, hätte
jedoch einen gänzlich anderen Charakter: Eine solche Publikation bliebe erstens
noch ganz innerhalb des theoretischen Raumes, würde also nicht die Vermittlung
des theoretischen Pols mit dem Pol oppositioneller Bewegung zum Gegenstand
haben; und zweitens wäre auch eine solche innertheoretische Vermittlung oder
"Einführung" nicht zu verwechseln mit einer seichten, verkürzenden
"Popularisierung", sondern im Gegenteil müsste es dabei um die Bestimmung der
zentralen Begriffe selbst gehen, und zwar im Unterschied zu theoretischen
Selbstverständigungs-Texten weitgehend voraussetzungslos (also unter
Berücksichtigung eines Bewusstseins, das nicht denselben innertheoretischen Weg
bereits zurückgelegt hat). Vermittlung,
die über die theoretische Sphäre hinausführt, muss noch einmal anders angelegt
sein. Sie kann per se nur als zweiseitiges Geschäft funktionieren; es geht also
keinesfalls darum, einfach bestimmte theoretische Gedanken einem größeren
Publikum näher zu bringen, sondern Vermittlung in diesem Sinne setzt den
anderen Pol als eigenständigen bereits voraus. Insofern kann denn auch die
berühmte Marxsche Sentenz, dass nicht nur der Gedanke zur Wirklichkeit drängen
müsse, sondern auch die Wirklichkeit zum Gedanken, als Fingerzeig dienen.
Während ein Populismus oder eine "Popularisierung" nur eine äußerliche
Verknüpfung von Ideologie und (heute medial vermittelten) Massenstimmungen sein
kann, wobei die stummen Systemzwänge den objektivierten und absoluten Maßstab
bilden, kann wertkritische Vermittlung eben nicht darin bestehen, dass sich die
theoretische Kritik selber zum absoluten Maßstab nimmt, um gewissermaßen den
unaufgeklärten Alltagsverstand irgendwie zu übertölpeln und ihn äußerlich (etwa
als eine Art Gefolgschaft) zu adaptieren. Vermittlung setzt vielmehr dort ein,
wo die theoretische Kritik der kapitalistischen Kategorien sich mit dem Ekel an
der warengesellschaftlichen Zurichtung und dem Widerwillen gegen die
tagtäglichen Zumutungen trifft, wo sie also mithilft, den widerständigen
Regungen, für die im herrschenden Bezugssystem kein Platz vorgesehen ist, ein
Reflexionsfeld zu eröffnen. Weder
der Ansatzpunkt noch der Zeitpunkt für unser Bemühen, die Grenzen der Theorie
zu überschreiten, waren zufällig. Die Kritik der "Arbeit" bietet sich als Fokus
dafür schon insofern an, als sie sozusagen an der Schnittstelle zweier Welten
einsetzt. Als spezifische Tätigkeitsform des ökonomischen Werts (und damit des
kapitalistischen Selbstzwecks) stellt die "Arbeit" die allerabstrakteste und allgemeinste Kategorie der Warengesellschaft dar. Zugleich fällt
sie jedoch als grundlegende Praxisform der kapitalistischen Gesellschaft in den
Bereich der unmittelbaren Alltagserfahrung. Unter der Wertformanalyse kann sich
gewöhnlich außer den Theoretikern niemand etwas vorstellen, als "Arbeit" wird das Formprinzip dieser Gesellschaft und sein Wirken
indes greif- und sichtbar. Wenn wir die Wertvergesellschaftung auch (negativ)
als "Arbeitsgesellschaft" titulieren, dann schafft diese Bezeichnung nicht nur
einen Bezug zu der soziologisch beschränkten und inzwischen völlig verflachten
Debatte über das "Ende der Arbeitsgesellschaft" und zur alltäglichen Erfahrung;
sie ist vom Standpunkt der radikalen Wertkritik aus auch kategorial vollkommen
korrekt. Und
was den Zeitpunkt angeht, so drängt die negative Wirklichkeit des
Zwangsprinzips "Arbeit" gerade in dessen manifester Krise mit Macht zur Kritik.
Es ist kein Zufall, dass die akademische und mediale Debatte über die "Krise
der Arbeitsgesellschaft" just in dem Maße zurückgefahren wurde, wie es damit in
der Realität ernst geworden ist. Ausgerechnet in einer Situation, die keine
spielerische, aufgrund einer Weltmarktgewinner-Position systemkonforme Umdefinition des Arbeitsbegriffs oder sonstige seichte
Bewältigungskonzepte (Arbeitszeitverkürzung, "Bürgerarbeit" usw.) mehr erlaubt
und in der ein fortgeschrittener Reifegrad der Krise deutlich wird, schlägt das
Pendel in der bürgerlichen Öffentlichkeit zurück: An die Stelle
postarbeitsgesellschaftlicher Luftschlösser in der unaufgehobenen Warenform
tritt eine neue Entschlossenheit der herrschenden Institutionen, auf dem Altar
der sterbenden Arbeit als dem plötzlich wieder Allerheiligsten alles und jedes
zu opfern, was der Kapitalismus an Sicherungen, Selbstbegrenzungen und sozialen
Flankierungen hervorgebracht hatte. Die systemimmanente Reflexion der
"Arbeitsgesellschaft" baut ab und wird abgebaut; und das schien uns genau der
richtige Moment für ein "Manifest gegen die Arbeit" zu sein. Natürlich
ist es noch zu früh, die Reaktionen auf diese Initiative und die Erfahrungen der
damit verbundenen Reihe von rund 40 Veranstaltungen abschließend zu beurteilen.
Wir werden diesen Versuch auswerten und die Ergebnisse in geeigneter Form
zugänglich machen bzw. in unsere weitere Tätigkeit einfließen lassen. Jetzt
schon lässt sich sagen, dass der Erfolg rein quantitativ äußerst zufrieden
stellend ist, die Resultate aber dennoch zwiespältig bleiben müssen. Die
Vertriebszahlen des im Selbstverlag erschienenen "Manifests" haben alle
Erwartungen weit übertroffen (bis jetzt wurden schon mehr als 7.000 Exemplare
in Umlauf gebracht, hinzu kommt noch die Veröffentlichung im Dossier von Jungle World im vergangenen Sommer), und auch das "Feierabend!"-Buch fand erheblichen Zuspruch. Die vermittelnde Wirkung aber
ist nur schwer abzuschätzen. Vor allem laufen die monographischen Produkte aus
unserer "Werkstatt" und die Krisis fast unvermittelt
parallel, d.h. es gibt bis jetzt nur wenige "Synergie-Effekte" für den
eigentlichen Krisis-Zusammenhang (was sich auch quantitativ niederschlägt:
Unabhängig von größere Kreise ziehenden anderen Publikationen bewegt sich die
verkaufte Auflage der Krisis seit gut einem
Jahrzehnt zwischen 1.000 und 1.300 Exemplaren). Dabei
müssen freilich wichtige Unterschiede zwischen Buchprojekten für größere
Publikumsverlage und einer auf Vermittlung im obigen Sinne zielenden
Intervention gemacht werden. Rein quantitativ übertrifft die Reichweite in
beiden Fällen die der Krisis bei weitem und ebenso ist in beiden Fällen
die Rückkoppelung nur schwer auszumachen. So scheint das bei Eichborn
veröffentlichte "Schwarzbuch Kapitalismus" mindestens eine ebenso (relativ)
große Öffentlichkeit zu erreichen wie acht Jahre zuvor "Der Kollaps der
Modernisierung". Aber natürlich ist diese Öffentlichkeit nicht unbedingt
identisch mit derjenigen, auf die das "Manifest" zielt. Das beginnt schon rein
technisch beim Vertrieb. Während starken Publikumsverlagen naturgemäß eine
größere Möglichkeit zur Verfügung steht, in weiter reichende Vertriebswege für
den anonymen publizistischen Markt hineinzukommen, war es andererseits im Falle
des "Manifests" die wohlorganisierte
Vertriebstätigkeit des Krisis-Kreises-Köln, die jenseits der üblichen Marktwege eine breite
Streuung ermöglicht hat. Selbstverständlich
ist es aber auch die unterschiedliche Art der inhaltlichen Aufbereitung, die
der jeweiligen Reichweite zugrunde liegt. Im Verhältnis zur Krisis ist dieser Faktor keineswegs an den Umfang gebunden, denn
der 800-Seiten-Wälzer des "Schwarzbuchs" und die dünne Broschüre des
"Manifests" können offenbar ähnlich weit über das Krisis -Publikum
hinauswirken (wenn auch eben nicht in derselben Weise). Das "Schwarzbuch" verbleibt dabei von vornherein in der
theoretisch-publizistischen Sphäre, führt grundlegende Positionen der Krisis -Wertkritik weiter aus (Kritik der abstrakten "Arbeit",
Krisentheorie, kapitalistische Immanenz der alten Arbeiterbewegung und der
staatssozialistischen "nachholenden Modernisierung" usw.), indem es diese mit
umfangreichem historischen Material anreichert und implizit wie teilweise auch
explizit ein neues Geschichtsverständnis thematisiert, das dem Kapitalismus die
historische Legitimation überhaupt abspricht. Insofern im Durchgang durch den
gesamten kapitalistischen Entwicklungsprozess die abstrakten theoretischen Gedanken
mit "Fleisch" der Darstellung gefüllt werden, ist dieses Buch sicherlich für
ein größeres Publikum "lesbar" als die Krisis
mit ihrem theoretischen Werkstatt-Charakter. In anderer Weise gilt das auch für
das "Manifest", das seine größere Reichweite aber nicht aus der
epischen Fülle bezieht, sondern umgekehrt aus der apodiktischen, dem
Manifest-Charakter angemessenen knappen Sprache, die dennoch die massenhafte Alltagserfahrung mit wertkritischer Stoßrichtung aus- und
anzusprechen sucht. Das scheinen auch etliche wohlmeinende Kritiker nicht
verstanden zu haben, die das "Manifest" wie einen theoretischen Artikel lasen
und dann natürlich nur Mängel sehen konnten, wo es sich in Wirklichkeit um den
Charakter einer vermittelnden Intervention in Form eines Pamphlets handelt. Aber
nicht nur hinsichtlich der Vertriebswege und Inhalte verbergen sich hinter der
oberflächlich ähnlichen, (relativ) großen Publikumswirksamkeit des
"Schwarzbuchs" und des "Manifests" enorme Unterschiede. Über den Charakter
eines großen Publikumsverlags stellt sich leichter eine besondere Art der
Wahrnehmung in der bürgerlichen Öffentlichkeit her (etwa durch Rezensionen in
großen Medien wie "Zeit", "Süddeutsche", Rundfunkanstalten etc.). Der
spezifische Inhalt spielt dabei eine Art Marketing-Rolle: Anscheinend langweilt
der konkurrenzlos gewordene Betrieb mit seinem endlosen Geplapper über "Marktwirtschaft-und-Demokratie" seine eigenen Protagonisten
und sein Publikum bereits derart grenzenlos, dass ein offener Affront, ein
gewisser "Tabubruch" und ein radikales Abweichen vom Mainstream
bereits als eine Art "Event" mit Aufmerksamkeit und womöglich Beifall bedacht
wird. Das
System als solches, an das Ende seiner Entwicklung gelangt, bedarf "eigentlich"
keiner umfassenden Legitimation mehr (was sich in postmoderner Diktion als
Affekt gegen die "großen Erzählungen" niedergeschlagen hat). Aber für sein
geistiges Gleichgewicht sind trotzdem immanente Kritik oder wenigstens
irgendwelche nicht im "Istzustand" verschwindende
Reflexionen nötig, wie sie in der Durchsetzungsgeschichte des warenproduzierenden Systems stets die Spiegelfläche dafür
abgaben, Feind- und damit umgekehrt eigene Leitbilder an den
Entwicklungshorizont zu projizieren. Jetzt
gibt es diesen Horizont nicht mehr, aber er muss simuliert werden. Dazu bedarf
es paradoxerweise einer Reflexion, die bereits über das System hinausgeht, aus
dessen Binnenperspektive jedoch im Sinne der eigenen früheren (immanenten)
Durchsetzungs-Ideologien wahrgenommen werden kann. In dieser paradoxen Weise
erregen Bücher wie der "Kollaps" oder das "Schwarzbuch" nur insoweit Aufsehen,
als sie erstens qua Publikationsweise als (relativ prominente) Marktgegenstände
in der bürgerlichen Zirkulation erscheinen (und insofern schon unbewusst
als entschärft gelten). Zweitens ist wichtig, dass ihr Inhalt nicht mehr dem
historisch entwerteten Arbeiterbewegungs-Marxismus, linken Demokratismus
usw. angehört, sondern darüber hinausgreift: gerade darin liegt die Paradoxie.
Denn ein im Sinne des reflexiven intellektuellen Stellenwerts bereits klinisch
toter Gegner, wie ihn der traditionelle Marxismus und die bisherige Linke heute
abgeben, kann auch für das Simulieren einer weiteren Selbstreflexion des
Systems nicht mehr als Abstoßungspunkt oder Projektionsfläche genommen werden.
Damit aber das "Schwarzbuch" für diese Simulation im Medienbetrieb
instrumentalisierbar zu machen ist, muss es ganz abstrakt als
"satisfaktionsfähig" dargestellt werden, allerdings unter sorgfältiger
Ausblendung der "unmöglichen" konkreten Inhalte, die entweder mit sanfter Kritik
als "utopisch" moniert oder auf die längst als ungefährlich identifizierte
Schiene der angeblichen "Moral" geschoben (also normativ statt
kritisch-analytisch interpretiert) werden. Drittens ist es natürlich die
Grundvoraussetzung solcher bürgerlicher Rezeptionsweisen eines für das
bürgerliche Denken eigentlich nicht mehr denkbaren Inhalts, das diesem keine negatorische soziale Bewegung entgegenkommt und ihn
aufgreift. Solange die Vermittlung mit sozialen Protestbewegungen fehlt, können
Texte wie das "Schwarzbuch" immer auch als bloßer "Kunstgegenstand", als
konsumierbares Produkt mit Neuheitsreiz und eskapistischem Stellenwert
aufgegriffen werden, zumal die bürgerliche Geisteskonjunktur selber im Zustand
völliger Verödung angelangt ist. An
dieser Art der formalen Gefangenschaft im kapitalistischen Geistesbetrieb
werden keineswegs überraschend die Grenzen theoretischer Kritik und Analyse
überhaupt deutlich. Das heißt aber keineswegs, dass das "Schwarzbuch" in einer
derartigen Form der simulativen Rezeption aufginge.
Jenseits dieser Form und durch sie hindurch handelt es sich um ein notwendiges
Element negatorischer Energie, das seine Wirkung auch
unterhalb und außerhalb der bürgerlichen Rezeptionsformen tut; der negatorische Inhalt kann nicht spurlos von der Warenform
geschluckt werden. Die kapitalistische
Zirkulation und Öffentlichkeit transportiert so unwissentlich und unwillentlich
Gedanken, die ihren eigenen Horizont sprengen, auch wenn diese Sprengkraft
nicht unmittelbar als Wirkung erscheint. Insofern haben solche Texte noch eine
zweite, andere Rezeptionsgeschichte, die das bloße "Marktereignis" hinter sich
lässt. Es gibt eben auch jetzt schon Rezipienten, die das "Schwarzbuch" und
verwandte Texte nicht als geistigen Konsumgegenstand für den Simulationsbetrieb,
sondern als Antwort auf Fragen und als Ansatz einer neuen Perspektive der
Kritik verstehen, die nun durch die historische Tiefendimension vielleicht
deutlicher geworden ist. Anders
verhält es sich hinsichtlich der Rezeption beim
"Manifest gegen die
Arbeit". Das zeigt sich schon
an der Publikationsform, indem es "unprofessionell" im Selbstverlag erschienen
und weniger über den Markt als über viele informelle Kanäle vertrieben worden
ist. Im Gegensatz zum "Schwarzbuch" ist die (relativ) rasche und weite
Verbreitung nicht auf eine bürgerliche mediale Aufmerksamkeit zurückzuführen oder
damit verbunden, sondern eher ein Resultat von Mundpropaganda. Und auch die
"Lesbarkeit" für ein größeres Publikum ist von vornherein nicht im Sinne einer simulativen Scheinreflexion zu missbrauchen, eben weil es
sich nicht um ein theoretisch-historisches Werk handelt, sondern um eine
direkte und dürre Kampfan-sage; einen Versuch also,
unmittelbar in Resonanz mit dem abgeblockten gesellschaftlichen
Protestpotential zu treten. Das ist offenbar dem bürgerlichen Betrieb zu viel:
Derselbe Inhalt ist dann nicht mehr derselbe. Jedenfalls ist das "Manifest" in
den bürgerlichen Medien nicht aufgetaucht, nicht einmal als Ufo. Während formal
vergleichbare Publikationen, wie etwa das "Manifest der Glücklichen
Arbeitslosen", als gewissermaßen popkulturelle Produkte wohlwollend bis
amüsiert ziemlich breit besprochen und sogar von Ulrich Beck in die "zweite
Moderne" eingemeindet wurden, ist unserem "Manifest" dieser Umweg erspart
geblieben. Es hat alle Chancen, regelrechte Underground-Literatur zu bleiben.
Das ist auch sein angemessener Platz. Vielleicht sagen es schon die
Überschriften: "Glückliche Arbeitslose" lassen sich (unabhängig von ihrer
eigenen Intention) noch als Event in den Toleranznischen des Systems
interpretieren, ein "Manifest gegen die Arbeit" offenbar nicht mehr. Trotz
des keineswegs erfreulichen Zustandes der Linken (nicht nur in diesem Lande)
wäre es wohl eine eitle Hoffnung, dass sich eine Rezeptionsgeschichte radikaler
Wertkritik an ihr vorbei entwickeln ließe, gewissermaßen als Spekulation auf
jungfräuliche Kräfte von Gesellschaftskritik und sozialer Bewegung. In Wahrheit
ist das altlinke Syndrom immer schon präsent, auch in den jüngsten Köpfen, die
-nachdem die theoretische Kultur der Linken weitgehend verfallen ist - auf der
Suche nach geistiger Nahrung oft zu den schauerlichsten Restbeständen und
Amalgamierungen Zuflucht nehmen. Andererseits
ist es auf alle Fälle zu vermeiden, in einen innerlinken erbitterten
Grabenkampf von Gruppen und Grüppchen zurückzufallen, aus dessen Perspektive
Gesellschaft und Geschichte nur noch verzerrt wahrzunehmen sind und die Inhalte
in einer Art und Weise formuliert werden, die keiner Vermittlung mehr fähig
ist. Ohnehin kann es nicht um
Insider-Bezüge und Nuancierungen einer familiären Schlägerei gehen, sondern
weiterhin um die Kritik und Überwindung einer an ihre Grenzen gestoßenen großen
Geschichte von Gesellschaftskritik und sozialer Bewegung in den Kategorien des warenproduzierenden Systems. In diesem Sinne will die Krisis
einerseits die begonnene Überwindung des Arbeiterbewegungs-Marxismus
weitertreiben und - trotz aller Warnung vor dem allzu martialischen
"Begriffsmord" - den marxistischen Fortschrittsbegriff, die Begriffe des
"Materialismus" und der "Revolution" einer wertkritischen Prüfung unterziehen.
Dabei muss auch die (ansatzweise im "Schwarzbuch" bereits begonnene) Kritik an
der liberalen Erbmasse des Marxismus und an der Aufklärungsphilosophie
fortgeführt sowie um eine tiefer greifende Auseinandersetzung mit der
"Kritischen Theorie" erweitert werden. Im Mittelpunkt wird dabei die Frage des
"Subjekts" im weitesten Sinne stehen. Es ist also klar, dass der versuchte
Übergang zu Formen der Vermittlung keineswegs heißt, dass die Krisis nun
als Theoriegruppe überwunden wäre; der Fortgang der noch längst nicht abgeschlossenen
Theoriebildung wird auch weiterhin unser Hauptbetätigungsfeld bleiben. (...) Aus
dem Editorial der krisis 23, 2000
Aus dem "Manifest gegen die
Arbeit" (...) 16. Die Aufhebung der Arbeit Der kategoriale Bruch mit der Arbeit findet keine fertigen und objektiv
bestimmten gesellschaftlichen Lager vor wie der systemimmanent beschränkte
Interessenkampf. Er ist ein Bruch mit der falschen Sachgesetzlichkeit einer
"zweiten Natur", also nicht selber wieder ein quasi-automatischer
Vollzug, sondern negatorische Bewusstheit -
Verweigerung und Rebellion ohne irgendein "Gesetz der Geschichte" im
Rücken. Ausgangspunkt kann kein neues abstrakt-allgemeines Prinzip sein,
sondern nur der Ekel vor dem eigenen Dasein als Arbeits- und Konkurrenzsubjekt
und die kategorische Weigerung, auf immer elenderem Niveau weiter so
funktionieren zu müssen. Die "Arbeit"
ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, vom
Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die
Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie
als Aufhebung der "Arbeit" gefasst wird .
17. Ein Programm der Abschaffungen gegen die Liebhaber
der Arbeit Man wird den Gegnern der Arbeit vorwerfen, sie seien nichts als
Phantasten. Die Geschichte habe erwiesen, dass eine Gesellschaft, die nicht auf
den Prinzipien der Arbeit, des Leistungszwangs, der marktwirtschaftlichen
Konkurrenz und des individuellen Eigennutzes basiere, nicht funktionieren
könne. Wollt ihr, Apologeten des herrschenden Zustands, also behaupten, dass
die kapitalistische Warenproduktion tatsächlich der Mehrheit der Menschen ein
auch nur im Entferntesten annehmbares Leben beschert hat? Nennt ihr es
"funktionieren", wenn ausgerechnet das sprunghafte Wachstum der
Produktivkräfte Milliarden von Menschen aus der Menschheit stößt und sie froh
sein dürfen, auf Müllhalden zu überleben? Wenn Milliarden andere das gehetzte
Leben unter dem Diktat der Arbeit nur noch ertragen, indem sie sich isolieren
und vereinsamen, indem sie ihren Geist genußlos
betäuben und physisch wie psychisch erkranken? Wenn die Welt in eine Wüste
verwandelt wird, nur um aus Geld mehr Geld zu machen? Nun gut. Das ist in der
Tat die Art und Weise, wie euer grandioses System der Arbeit
"funktioniert". Solche Leistungen allerdings wollen wir nicht
vollbringen! Dass die Arbeit aber selbst nicht nur unter den
jetzigen Bedingungen, sondern insofern überhaupt ihr Zweck die bloße
Vergrößerung des Reichtums ist, ich sage, daß die
Arbeit selbst schädlich, unheilvoll ist, das folgt, ohne dass der
Nationalökonom (Adam Smith) es weiß, aus seinen eigenen Entwicklungen. Unser Leben ist der Mord durch Arbeit, 18. Der Kampf gegen die Arbeit ist antipolitisch Die Überwindung der Arbeit ist alles andere als eine wolkige Utopie.
Die Weltgesellschaft kann in der bestehenden Form keine 50 oder 100 Jahre mehr
weitermachen. Dass die Gegner der Arbeit es mit dem bereits klinisch toten
Arbeitsgötzen zu tun haben, macht ihre Aufgabe freilich nicht unbedingt
leichter. Denn je mehr die Krise der Arbeitsgesellschaft sich zuspitzt und alle
Reparaturversuche als Fehlschläge enden, desto mehr wächst auch die Kluft
zwischen der Vereinzelung der hilflosen sozialen Monaden und den Anforderungen
einer gesamtgesellschaftlichen Aneignungsbewegung. Die zunehmende Verwilderung
der sozialen Verhältnisse in großen Teilen der Welt zeigt, dass sich das alte
Arbeits- und Konkurrenzbewusstsein auf immer niedrigerem Niveau fortsetzt. Die
schubweise Entzivilisierung scheint trotz aller
Impulse eines Unbehagens im Kapitalismus die naturwüchsige Verlaufsform der
Krise zu sein. Proletarier aller Länder, macht Schluss! Fortsetzung aus dem Editorial 23 (...) Allerdings braucht die Zukunft der
theoretischen Kritik ihre Zeit. Hinsichtlich der Theoriebildung wird es deshalb
zunächst eine wesentliche Aufgabe sein, noch einmal zurückzugehen und die
bisherigen Stationen radikaler Wertkritik der Krisis in zweiten Durchgängen genauer darzustellen und
auszubauen. Dies betrifft etwa das Abspaltungstheorem", die Kritik der
Wertvergesellschaftung als Geschlechterverhältnis. Dazu wird Anfang 2000 in der edition krisis (Horlemann Verlag) von Roswitha Scholz das Buch "Das Geschlecht
des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des
Kapitals" erscheinen, in dem sie ihre
feministische Weiterentwicklung der Wertkritik und der Kritischen Theorie in
einem kritischen Durchgang durch die wichtigste feministische Literatur des
deutschsprachigen Raums seit den 70er Jahren präzisiert und in modifizierter
Form neu ausformuliert. In einem zweiten Teil analysiert sie die postmoderne
"Verwilderung" (statt Überwindung) des Patriarchats und setzt sich in diesem
Zusammenhang mit den feministischen Beiträgen zur Globalisierungsdebatte
auseinander. Für
die weitere Zukunft wird die Abspaltungstheorie, die sich ja keineswegs bloß
auf die Spezifik des modernen
Geschlechterverhältnisses bezieht, sondern einen erweiterten Begriff des
gesellschaftlichen Ganzen liefert, auch im Hinblick auf die Erkenntnis- und
Wissenschaftskritik zu diskutieren sein. Denn das strukturell "männliche"
Handlungssubjekt des Kapitals ist ja gleichzeitig das entsprechende
Erkenntnissubjekt. Um die
geschlechtliche Dimension der "Abspaltung" erweitert, muss sich das Verhältnis
von "Warenform und Denkform" in einem neuen Licht darstellen. Das Problem einer
"Aufhebung der Theorie" (im Sinne ihres Daseins als getrennte Sphäre der
Abstraktion) wird erst von diesem erweiterten (negativen) Begriff der
gesellschaftlichen Totalität her denkbar; einer Totalität, von der erst auf
diese Weise genauer gesagt werden kann, warum sie nicht "aufgeht". Dies
sind freilich Fragestellungen, die einer langfristigen Befassung bedürfen und
deshalb nicht zu unseren derzeit überschaubaren Publikationsvorhaben gehören
(was Interessenten daran nicht hindern sollte, ihr Interesse daran anzumelden).
In der Krisis, aber auch darüber hinaus, wollen wir uns in der
nächsten Zeit vorrangig mit zwei Themenfeldern befassen. Erstens ist es
dringend erforderlich, mit wertkritischer Reflexion in die Debatte um die
"Weltordnungskriege" seit Anfang der 90er Jahre einzugreifen und dabei die
theoretische Analyse um bisher vernachlässigte Aspekte des Verhältnisses von
Politik, Ökonomie und Geschichte zu erweitern. Zu untersuchen ist, welche
"postpolitischen" Verlaufsformen die Zersetzung des warenproduzierenden
Systems im Weltmaßstab annimmt und inwieweit dabei zentrale Kategorien
traditioneller Kapitalismusanalyse (Staatlichkeit, Nation, Imperialismus etc.)
obsolet werden. In diesen Kontext gehört u.a. auch
eine Auseinandersetzung mit den diversen Strömungen der "Antideutschen" über
die Frage, in welchem Verhältnis radikale Kapitalismuskritik als Wertkritik zur
spezifisch deutschen Geschichte (Nationalsozialismus, Holocaust) steht. Die
nächstfolgende Nr. 24 der Krisis sowie unser Seminar im April 2000 werden einige Aspekte
dieser Thematiken mit dem Schwerpunkt "Krieg
und Gewalt im postpolitischen Krisenzeitalter" behandeln.
Zweitens
sehen wir es als mindestens ebenso dringlich an, zu den wichtigsten Essentials
der Wertkritik zurückzukehren und die zentralen Fragen von Wert- und
Akkumulationstheorie, Krisentheorie und Kritik des Klassen-Soziologismus
neu aufzunehmen. Seit dem fast vergessenen Artikel über den "Klassenkampffetisch" von Robert Kurz
und Ernst Lohoff (in der Nr. 6 unserer Zeitschrift, damals noch "Marxistische Kritik")
ist die Wertkritik der Krisis von den diversen
Steinzeitmarxisten immer wieder als "opportunistisch", "versöhnlerisch"
usw. denunziert worden, weil der traditionelle Begriff von Kapitalismuskritik
eben stets soziologisch beschränkt und hinsichtlich der Form unkritisch sein
musste. Natürlich ist das Geschimpfe jenes "unglücklichen Bewusstseins", das
dort weiterhin krampfhaft nach Rauch Ausschau hält, wo kein Feuer mehr ist,
ziemlich unerheblich. Aber auch wenn klar ist, dass der traditionelle
"Klassenkampf" nichts anderes als die immanente Bewegungsform des warenproduzierenden Systems in seiner
Durchsetzungsgeschichte sein konnte, so ist damit weder die Problematik des
soziologischen Klassenbegriffs (auch in seinen Verfallsformen) erschöpfend
behandelt noch die soziale Kluft bestimmt, die sich gerade in der Krisenreife des Systems öffnet wie nie zuvor. Diese
Problematik steht sowohl innertheoretisch als auch hinsichtlich der Vermittlung
über die theoretische Sphäre hinaus in engem Zusammenhang mit der
Arbeitskritik. Die zentrale Frage dabei ist, wie sich das, was in der
sozialwissenschaftlichen Literatur als "soziale Disparitäten" firmiert, in
wertkritischer Diktion neu formulieren lässt. In diesem Kontext ist auch die
Kritik an den wertimmanenten und grundsätzlich "formvergessenen"
soziologistischen bzw. demokratischen Rückzugs- und
Auffangstellungen der Linken (Regulationstheorie, Neo-Neokeynesianismus) erforderlich, insbesondere eine Auseinandersetzung mit
dem Soziologen Pierre Bourdieu, der zum neuen intellektuellen Stern am Himmel des
wertimmanenten linken Soziologismus aufgestiegen ist.
Ein
anderer Aspekt derselben Auseinandersetzung ist die Kritik an der versuchten
Neuformulierung eines positiven, unkritischen, aber weniger den traditionellen
Marxismus wiederholenden, sondern eher der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre
angenäherten Wertbegriffs, wie er seit geraumer Zeit vor allem von dem Berliner
linksakademischen Ökonomen Michael Heinrich entwickelt wird. Und daran anschließend
ist auch eine zusammenfassende, zentrale Argumente erweiternde Antwort auf die
seit Jahren in bestimmten Denkfiguren rituell wiederholte Kritik an der Akkumulations-und Krisentheorie der Krisis überfällig. Wichtige Aspekte dieser Themenfelder und
Auseinandersetzungen sollen in Krisis 25 mit dem Schwerpunkt
"Wert- und Krisentheorie" behandelt werden. KRISIS 23 (2000) Die
vorliegende Nr. 23 ist dem Schwerpunkt "Postpolitik und demokratische
Krisenverwaltung" gewidmet (der in gewisser Weise mit anderen Akzentuierungen
wie angedeutet in der Nr. 24 fortgesetzt werden soll). Franz
Schandl analysiert in seinem Beitrag das "Phänomen Haider" gegen
den Strich der vorherrschenden Interpretationen. Danach kann Haider mit der
Bezeichnung "Nazi" nicht angemessen erfasst werden, auch wenn er selektiv mit
faschistischen und nationalsozialistischen Versatzstücken hantiert. Seinen
Erfolg und seine Gefährlichkeit verdankt er vielmehr der geglückten Ablösung
vom traditionellen Rechtsextremismus.
Die "Haiderei" steht nicht im Gegensatz zu
Demokratie und Marktwirtschaft, sondern ist deren adäquater Ausdruck in Zeiten
ihres Niedergangs. Haiders Kennzeichen ist die gelungene ideologische Symbiose
aus marktwirtschaftlicher Euphorie und reaktionärem Pseudo-Antikapitalismus
mit nationalistischem Hintergrund. Er
unterscheidet sich dabei nicht wesentlich von anderen Politikerfiguren, die im Zersetzungsprozeß der Politik und des Parteiensystems sowie
im Zuge der ("postpolitisch"-ideologisch zu
flankierenden) kapitalistischen Krisenverwaltung an die Oberfläche gespült
werden. Was Haider allerdings auszeichnet, ist eine besonders ausgeprägte
Geschicklichkeit im völlig flexiblen Umgang mit Inhalten. Er vertritt kein
festes Programm, sondern bedient souverän die gefährlichen Stimmungen des
gesunden marktwirtschaftlich-demokratischen Menschenverstands. So gelingt es
ihm, die widersprüchlichsten Partikularinteressen und Forderungen scheinbar
unter einen Hut zu bringen. In Ansätzen können die "Freiheitlichen" daher als
eine postpolitische Strömung bestimmt werden, in der die regressiven Potentiale
des Postmodernismus ganz ungeschminkt zu sich kommen. Gerhard
Scheit setzt sich in seinem Artikel
"Demokratischer Rassismus, Outsourcing
des Staates" mit der gleichen Thematik auf
einer etwas allgemeineren Ebene auseinander. Auch er
charakterisiert Jörg Haider als postmodernen Demokraten, zugleich jedoch als
klassischen Rassisten. Beides schließt sich nicht aus, sondern bedingt sich
gegenseitig. Die inhaltliche Beliebigkeit Haiders findet ihre Grenzen dort, wo
die "Heimat" aufhört und die Gefahren für die "Volksgemeinschaft" beginnen. Die
"nationale Identität" ist das Standbein, das dem Spielbein die medienwirksame
Lässigkeit erlaubt. Haider steht in herausragender Weise exemplarisch für den
"Extremismus der Mitte", der sich am besten als demokratischer Rassismus
begreifen lässt. Die nationalsozialistische "Volksgemeinschaft" bleibt dabei
bewusste oder unbewusste Referenz, die zwar nicht mehr in derselben Weise
mobilisiert werden kann, aber nunmehr in jeder Geldmonade wirksam wird. Was von
den Nazis noch als staatliches Programm in Angriff genommen wurde, um phantasmatisch "die arische Rasse höherzuzüchten",
wird heute als individualisierte sozialdarwinistische Selektion demokratisch
neu organisiert. Dem entspricht die sich
abzeichnende Verquickung von Staat und Bandenwesen, worauf nicht nur die "Buberlpartie" FPÖ verweist. Die sogenannten
"national befreiten Zonen" in Ostdeutschland und die hohe Zahl rassistischer
Übergriffe stehen für ein "Outsourcing" der
staatlichen Funktionen und belegen den erschreckenden Erfolg der "direkten
Demokratie", die Jörg Haider repräsentiert. Ernst
Lohoff greift
mit seiner Analyse "Einer muss den Bluthund
machen. Anmerkungen zur neuen Sozialdemokratie und ihrer historischen Mission"
den postpolitischen Übergang anhand von "New
Labour" in Großbritannien und Rotgrün in der BRD auf. Nach einem Durchgang durch die seit dem Zweiten Weltkrieg
gemeinsame Geschichte von Keynesianismus und
Sozialdemokratie wird deutlich, dass die systemische Funktion der neuen
Sozialdemokratie oder "neuen Mitte" wesentlich darin besteht, unter dem Label
des "Pragmatismus" die soziale Repression gegen die Herausgefallenen
zu organisieren und mit den arbeitsideologischen Restbeständen der alten
Sozialdemokratie zu maskieren; der Keynesianismus
stellt dabei kein kohärentes Programm sozialpolitischer Reform nach dem Muster
der 70er Jahre mehr dar, wie es sich ein unverbesserlicher Linkssozialismus á
la Oskar Negt oder Joachim Bischoff allen Ernstes
zusammenphantasiert, sondern bildet nur noch ein Versatzstück im medialen
Zirkus. Es geht darum, in scheinbarer Abgrenzung vom Neoliberalismus die
"politische Machbarkeit" nicht etwa real wiederherzustellen, sondern als
Phantom in den gesellschaftlichen Simulationsprozess einzuspeisen. In diesem
Sinne wäre ein kohärenter Inhalt eher schädlich für das Geschäft der
Krisenverwaltung, in der die reale Konsistenz der sozialen Repression durch das
Surfen auf den Stimmungslagen eines Massenbewusstseins flankiert werden muss,
das sich eine politische Kohärenz nicht einmal mehr vorstellen kann. Insofern
ist Schröder und Blair nicht nur eine enge Verwandtschaft mit einem Haider
nachzuweisen, sondern die neue Sozialdemokratie ist vielleicht auch am besten
dafür geeignet, mit ihrem spezifischen "policy mix"
die erforderlichen postpolitischen "Bluthund-Maßnahmen" durchzuziehen. Robert
Bösch geht
in seinen Thesen "Zwischen Allmacht und
Ohnmacht" der Frage nach, worin sich die
strukturelle Psychopathologie des bürgerlichen (immer schon als "männlich"
konstituierten) Subjekts begründet. Er zeigt, dass die Freudsche Psychoanalyse die
Antworten darauf bereits implizit enthält, wenn man sie entgegen ihrem eigenen
Selbstverständnis nicht-anthropologisch interpretiert und die zentrale Idee
einer ahistorischen Triebnatur verwirft. Zu fragen
ist nicht, welches historische "Schicksal" der "naturale"
Trieb erleidet, wenn er in die Sphäre des Gesellschaftlichen eintritt, sondern
vielmehr, wie es dazu kommen kann, dass das bürgerliche Individuum in zwei
scheinbar unvereinbare Welten - hier triebhafte "Natur", dort repressive
Gesellschaft - zerfällt, die nun irgendwie "vermittelt" werden müssen. Es geht
also darum, die negative Identität der konträren Standpunkte von
"gesellschaftlicher Repression" (Wilhelm Reich) versus
"Produktivität der Macht" (Michel Foucault) in die dynamische Logik des
bürgerlichen Subjekts als einem prozessierenden Widerspruch aufzuheben. Um
diese bei Freud bereits implizit formulierte Logik freizulegen, müssen aber die
Widersprüche seiner Theorie und der daran anknüpfenden psychoanalytischen
Konzepte (die diese Widersprüche zumeist einseitig aufzulösen versuchen) als
ideologischer Ausdruck der Widersprüche der Wertvergesellschaftung verstanden
werden. Damit eröffnet der Autor einen unserer Ansicht nach radikal neuen gesellschaftskritischen
Zugang zur Psychoanalyse, wie er ihn bereits in seiner Auseinandersetzung mit
Jacques Lacan in der letzten Ausgabe der Krisis angedeutet
hat. Der zweite Teil der Lacan-Kritik beanspruchte
leider etwas mehr Zeit als zunächst vorgesehen und wird deshalb erst in der
nächsten Krisis (Nr. 24) erscheinen. Die
Rubrik "Rezensionen, Kommentare, Glossen"
beginnt mit einem Beitrag, der (ebenso wie einige
andere in dieser Rubrik) den Themenschwerpunkt fortsetzt. In seinem Essay "Die Gemeinsamkeit der Demokraten in Italien" analysiert Anselm
Jappe die Rolle und Funktion von Silvio
Berlusconi und den italienischen Poststalinisten, um dabei festzustellen, dass
das "italienische Modell" eigentlich
immer schon postpolitische Züge trug und insofern weit geeigneter für
postmoderne Zeiten ist als das verblichene "Modell Deutschland". Karl-Heinz Wedel zeigt
in seinem Kommentar "Peter und der Wolf",
dass die biologistisch-sozialdarwinistische Wendung
des Modephilosophen Sloterdijk durchaus in der Logik seiner bisherigen
postmodernen Diskurstheorie schon angelegt war. Franz Schandl steuert zwei Rezensionen zum Themenschwerpunkt bei: Unter
dem Titel "Vorwärts zur Nachknappheitsordnung"
bespricht er die Plattitüden der "Zweiten Moderne"
anhand von Anthony Giddens Buch "Jenseits von links
und rechts"; außerdem zeigt er exemplarisch an dem Buch von Josef Cap und Heinz
Fischer (Hrsg.) "Rote Markierungen für das 21. Jahrhundert" den erbärmlich
niveaulosen und völlig leer laufenden Charakter des aktuellen sozialdemokratischen
"Theoriediskurses" auf ("Thats it?
- Forget it!"). Udo Winkel
weist in seiner ausführlichen Besprechung
"Revolution als
Ordnungsmacht" auf das äußerst
lesenswerte Buch des
Sozialhistorikers Wolfgang Dreßen
"Gesetz und Gewalt" hin
- eine quer zu den affirmativen Jubelpublikationen stehende Interpretation der
Revolution von 1848/49 am Beispiel Berlins. Dreßen zeigt dabei ganz in unserem Sinne die Doppelbödigkeit des
demokratischen Revolutionsbegriffs auf, der von Anfang an im Sinne eines
Disziplinierungs-Instruments gehandhabt wurde. In seinem zweiten Beitrag
"Staatskontrolle
oder Assoziation" zeichnet Udo Winkel
die beiden Hauptströmungen in der Sozialisierungsdebatte der 20er Jahre nach.
Schließlich nimmt sich Roger Behrens ein ungewöhnliches Rezensionsobjekt vor, nämlich den
neuen IKEA-Katalog: "Entdecke
die Möglichkeiten. Oder: Wie man die Krise möbliert". Wir
haben schon auf das zeitgleich mit dieser Krisis-Ausgabe erscheinende Buch "Das Geschlecht des Kapitalismus" von Roswitha Scholz hingewiesen
sowie auf das "Schwarzbuch Kapitalismus" von Robert Kurz und
unseren parallel zum "Manifest gegen die
Arbeit" erschienenen Sammelband "Feierabend! 11
Attacken gegen die Arbeit". Hier möchten wir die Gelegenheit nutzen, auch eine
wichtige neue Publikation von Gerhard Scheit anzuzeigen und zu empfehlen: Sein Buch "Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des
Antisemitismus" ist im November 1999 im ça-ira-Verlag Freiburg herausgekommen. Schließlich weisen
wir unsere Leserinnen und Leser noch einmal ganz besonders auf die vom "Kritischen Kreis" in Wien herausgegebene
Vierteljahreszeitschrift "Streifzüge" hin, die interessante Beiträge aus einem breiten
Spektrum von Wertkritik und kontroverse Debatten veröffentlicht. (Inhaltsverzeichnis der letzten Ausgaben und
die Bestelladresse finden sich auf der folgenden Seite dieses Heftes). Ernst Lohoff, Norbert Trenkle und Robert Kurz für die Redaktion Aus dem Editorial der krisis 23, 2000 Aus dem Buch: "Feierabend! -
Elf Attacken gegen die Arbeit" Robert Kurz Die Diktatur der abstrakten Zeit
Die Doppeldeutigkeit der Arbeitskategorie erweist sich schon allein
daran, dass sie sowohl oppositionell als auch affirmativ verwendet wird. Der
Marxismus hat immer versucht, die Arbeit als positives Ideal für sich zu
reklamieren und von der angeblichen "Nichtarbeit" der bürgerlichen
Welt und ihrer Repräsentanten abzugrenzen. Die sozialistische Presse des 19.
Jahrhunderts stellte in ihren Karikaturen die Kapitalisten mit Vorliebe als
fettleibige Schmarotzer oder als Dandys und Flaneure dar, die sich auf Kosten
der Arbeiterklasse ein angenehmes und "arbeitsloses" Leben
verschaffen. Deshalb wurde es ja auch zum zentralen Anliegen, statt der Arbeitskategorie
"die Müßiggänger" beiseite zu schieben. Es sind eigentlich eher die
alten Feudalherren und die Rentiers großer Geldvermögen, die in diesem groben
Feindbild sichtbar werden, und nicht die modernen Manager. Denn die
industriellen Tycoons sind bekanntlich schlank, joggen täglich, haben weniger
Freizeit als ein Plantagen-Sklave und müssen sich in Therapie begeben, weil sie
"arbeitssüchtig" geworden sind. In Wahrheit ist die Arbeit schon immer ein bürgerlich-kapitalistisches
Ideal gewesen, längst bevor der Sozialismus diesen Begriff für sich entdeckte.
Insofern stellt der vermeintlich kapitalismuskritische "Standpunkt der
Arbeit" schon von haus aus eine Paradoxie dar. Das Lob der Arbeit wird
auch von der christlichen Soziallehre in den höchsten Tönen gesungen; und der
Liberalismus hat die Arbeit ebenfalls heilig gesprochen und verspricht ganz
ähnlich wie der Marxismus ihre "Befreiung". Auch sämtliche
konservativen und gerade auch die rechtsradikalen Ideologien beten die Arbeit
geradezu an. Offensichtlich ist die Religion der Arbeit das gemeinsame
Bezugssystem aller modernen Theorien, politischen Systeme und sozialen Klassen.
Sie konkurrieren miteinander, wer in dieser Religion die größte Frömmigkeit an
den Tag legt und die größte Leistung aus den Menschen herauskitzelt. Bei solchen Gedanken wird vielleicht der moderne Normalmensch
ärgerlich. Was soll das denn? "Man muss doch arbeiten". Haben die
Menschen nicht schon immer gearbeitet? Sonst gäbe es ja keine Nahrungsmittel,
keine Kleidung, keine Wohnung und keine Kultur. Von nichts kommt nichts.
Zweifellos haben die Menschen schon immer Dinge und Ideen produziert, um zu
leben, zu genießen, zu forschen und sich zu unterhalten. Aber ist
"Arbeit" der richtige, überhistorische, universelle Begriff dafür?
"Arbeit" ist eine Abstraktion, ein Wort von vieldeutiger
Allgemeinheit. Karl Marx, dessen Verhältnis zum positiven Arbeitsbegriff
durchaus zwiespältig ist, meinte einerseits, die Arbeit erscheine "in
dieser Abstraktion praktisch wahr (nur) als Kategorie der modernsten
Gesellschaft"(Marx 1974/1857, 25). Dennoch verteidigte er zugleich diese
unbestimmte Allgemeinheit als eine überhistorische und meinte, es handle sich
gewissermaßen um eine "vernünftige" Abstraktion, die "eine uralte
und für alle Gesellschaftsformen gültige Beziehung ausdrückt" (ebenda).
Friedrich Engels behauptete sogar, die Arbeit sei maßgeblich an der
"Menschwerdung des Affen" beteiligt gewesen, womit schon unsere
"über und über behaarten" Vorfahren mit "Bärten und spitzen
Ohren" jener segensreichen vernünftigen Abstraktion teilhaftig geworden
seien (Engels 1946/1896, 6 ff.). Aber stimmt das wirklich? Eine vernünftige Abstraktion wäre ein
sinnvoller allgemeiner Oberbegriff für qualitativ verschiedene, aber trotzdem
auf einer bestimmten Ebene zusammengehörige Dinge. So werden zum Beispiel
Äpfel, Birnen, Pfirsiche, Orangen usw. zu dem Oberbegriff "Obst"
zusammengefasst. Aber in diesem Sinne ist "Arbeit" als Oberbegriff
menschlicher Tätigkeiten gerade keine vernünftige Abstraktion. Auch
Spazierengehen, Schachspielen oder Romane lesen sind menschliche Tätigkeiten,
ohne dass sie normalerweise zur Arbeit gerechnet werden. Wo soll da die Grenze
gezogen werden, ohne ein Moment von Willkürlichkeit hineinzubringen? Um hier Klarheit
zu schaffen, ist der besondere gesellschaftliche Charakter des abstrakten
Arbeitsbegriffs genauer zu bestimmen. Historisch ist die gesellschaftliche Allgemeinheit des Arbeitsbegriffs
als angebliche Selbstverständlichkeit mehr als zweifelhaft. Viele Jäger-,
Hirten- oder Bauernkulturen kannten überhaupt keinen abstrakten, ganz unterschiedliche Tätigkeiten übergreifenden Begriff der
Arbeit. Aber nicht etwa deswegen, weil sie kein Abstraktionsvermögen gehabt
hätten. Es wäre ihnen jedoch im höchsten Grade unvernünftig und geradezu
verrückt erschienen, Tätigkeiten wie Jagen und Pflanzen, Kochen und Kinder
erziehen, Kranke pflegen und kultische Handlungen ausführen unter einem
einzigen abstrakten Oberbegriff von "Tätigkeit überhaupt"
zusammenzufassen. Oft gab es in diesen archaischen Gesellschaften (soweit sie
rekonstruierbar sind oder noch Reste existieren) für die verschiedenen Bereiche
des Lebens, für Männer und Frauen, für verschiedene soziale Gruppen oder
Fertigkeiten (Bauern, Künstler, Krieger usw.) auch verschiedene Oberbegriffe
der Tätigkeit, die in keiner Weise dem modernen Universalbegriff der Arbeit
entsprechen. Wann und in welchem Kontext ist also historisch dieser
abstrakt-allgemeine Begriff der sozialen und ökonomischen Aktivität entstanden?
In mehreren Kultursprachen geht die Wurzel des Wortes "Arbeit" auf
eine Bedeutung zurück, die den unmündigen Menschen, den Abhängigen oder
Sklaven bezeichnet. "Arbeit" ist also ursprünglich keine neutrale und
vernünftige, sondern eine soziale Abstraktion: es ist die Tätigkeit
derjenigen, die ihre Freiheit verloren haben. Egal, was diese Menschen auch tun
mögen, ob sie nun im Bergwerk oder auf der Plantage schwitzen, ob sie als
Domestiken im Haus das Essen auftragen, die Kinder zur Schule begleiten oder
der Herrin Luft zufächeln: es ist immer die Tätigkeit eines als Knecht
definierten Menschen. Das Dasein als Knecht ist der Inhalt der Abstraktion
"Arbeit". In diesem Sinne, als sozial eingegrenzte Abstraktion,
konnte der Arbeitsbegriff natürlich keinesfalls den Charakter einer
gesellschaftlich allgemeinen Tätigkeitsform haben und schon gar nicht positiv
bestimmt sein. So ist es kein Wunder, dass der Begriff der Arbeit in der Antike die
metaphorische Nebenbedeutung von Leid und Unglück angenommen hat (etwa im
Lateinischen). Es ist das Leid des Menschen, der in dem negativen Sinne tätig
ist, dass er "unter einer Last schwankt" (laborare).
Diese Last kann auch unsichtbar sein, weil sie in Wahrheit die soziale Last der
Unselbständigkeit ist. Das ist auch letzten Endes gemeint, wenn im Alten
Testament der Bibel die Arbeit als ein von Gott auferlegter Fluch des Menschen
gedeutet wird. Die Gleichbedeutung von Leid und Arbeit meint nicht die bloße
Anstrengung. Auch ein freier Mensch kann sich bei bestimmten Gelegenheiten anstrengen
und sogar Lust dabei empfinden. Deswegen ist es ganz falsch, die "Nicht-Arbeit" der Freien
und Unabhängigen in der Antike als pures "dolce far niente" und als
bloße Faulheit mißzuverstehen, wie es oft in der
vulgärmarxistischen Literatur erscheint. Bei Homer ist der Held Odysseus sogar
stolz darauf, dass er sein Bett selbst gezimmert hat. Nicht die Tätigkeit als
solche war ehrlos, auch nicht die Handarbeit, sondern die Subsumtion
des Menschen unter andere Menschen oder unter einen "Beruf". Ein
freier Mensch konnte gelegentlich ein Bett oder einen Schrank bauen, aber er
durfte nicht von Berufs wegen Schreiner sein; er konnte gelegentlich Handel
treiben, aber er durfte nicht Händler sein; er konnte gelegentlich Gedichte
schreiben, aber er durfte nicht Dichter sein (schon gar nicht als Gelderwerb).
Wer formal frei war, aber sich einer lebenslangen Erwerbsarbeit in irgendeinem
Zweig der Produktion unterwerfen musste, war dieser Tätigkeit gegenüber
"unmündig" geworden und galt kaum mehr als ein Sklave. Deswegen musste die Tätigkeit des freien Amateurs allerdings keineswegs
ungeschickter oder von schlechterer Qualität sein als die des unfreien
"Berufsmenschen". Sich in verschiedenen Künsten zu üben und
Kenntnisse zu erwerben, galt durchaus als ehrenhaft; und aus den Märchen
verschiedener Kulturkreise können wir erfahren, dass in den alten
Gesellschaften sogar Königssöhne und Prinzen manchmal neben der Kriegskunst und
geistigem Wissen auch ein Handwerk erlernen mussten - aber eben nicht um
lebenslang Handwerker zu "sein" und damit dem Leid der Arbeit
unterworfen zu werden, sondern um in vieler Hinsicht "geschickt" zu
sein und qualitativ verschiedene Tätigkeitsformen frei miteinander kombinieren
zu können. Es war das Christentum, das zuerst die negative Bedeutung der
Abstraktion "Arbeit" positiv umdefiniert hat - und zwar
paradoxerweise gerade als Leid und Unglück! Weil nämlich das Leid Christi am
Kreuz die Menschheit von ihren irdischen Sünden erlöst hat, verlangt der Glaube
daran die "Nachfolge Christi". Und das bedeutet, das Leid freudig und
freiwillig auf sich zu nehmen. In einer Art von Masochismus des Glaubens an das
positive Leiden adelte also das Christentum auch die Arbeit zum geradezu
erstrebenswerten Ziel, etwa in demselben Sinn, wie es gelegentlich üblich war,
sich in frommer Extase selber zu geißeln. Die Mönche
und Nonnen in den Klöstern unterwarfen sich bewusst und freiwillig der
Abstraktion "Arbeit", um als "Knechte Gottes" ein Leben im
Sinne des Leids von Christus zu führen. Mentalitätsgeschichtlich waren, und
darauf ist oft hingewiesen worden, die klösterliche Zucht und Ordnung, also die
strenge Einteilung des Tagesablaufs und die mönchische Askese, Vorläufer der
späteren Fabrikdisziplin und der abstrakten
"betriebswirtschaftlichen" Zeitrechnung. Aber diese spezifisch
christliche Mission der Arbeit bezog sich nur auf die metaphorische Bedeutung
des Begriffs als religiöse Akzeptanz des Leids mit Blick auf das Jenseits; es
wurde damit noch kein positiver irdischer Zweck verfolgt. Es war erst der Protestantismus, besonders in seiner calvinistischen
Form, der seit dem 16. Jahrhundert den christlichen Masochismus des
Arbeits-Leidens zum diesseitigen Gegenstand machte: Der gläubige Mensch sollte
die Schmerzen der Arbeit als "Knecht Gottes" nun nicht mehr in
klösterlicher Abgeschiedenheit auf sich nehmen, sondern damit in der profanen
irdischen Welt Erfolg haben, und zwar gerade um seine Auserwähltheit durch Gott
zu beweisen und zu demonstrieren! Natürlich durfte er aber die Früchte des
Erfolgs auf keinen Fall genießen, um die göttliche Gnade in der Nachfolge
Christi nicht zu verspielen; er mußte also das
Ergebnis der Arbeit mit säuerlicher Leidensmiene zum Ausgangspunkt immer neuer
Arbeit machen und unaufhörlich abstrakte Reichtümer ohne Genuß
aufhäufen. In dieser seltsamen Verschränkung eines tristen jenseitigen mit
einem ebenso tristen diesseitigen Zweck entstand die erst recht triste moderne
Arbeitsmentalität - Arbeit als eine Art Verhaltensstörung.
Nun wäre es sicherlich nicht ausreichend, bei der bloß religions- und
geistesgeschichtlichen Karriere der abstrakten Arbeitskategorie vom negativen
zum positiven Leid stehenzubleiben. Damit die
protestantische Verhaltensstörung ihren weltlichen Siegeszug antreten konnte,
bedurfte es der Vermittlung mit mächtigen materiellen Interessen. Bekanntlich
entwickelte sich seit der Renaissance sprunghaft die Warenproduktion und begann
die agrarische Naturalwirtschaft aufzusprengen. Die protestantische Mentalität
verband sich mit diesem Aufstieg der Marktwirtschaft, der in den modernen
Kapitalismus münden sollte. Und die Positivierung der
Arbeitskategorie war natürlich in diesen Zusammenhang eingebunden, der heute
als Beginn der "Modernisierung" und ihrer scheinbar endlosen
Weiterentwicklung firmiert. Es ist bezeichnend, dass die Modernisierung genau wie die Arbeit von
allen Ideologien, theoretischen Reflexionen und politischen Strömungen der
aufsteigenden kapitalistischen Gesellschaft hauptsächlich positiv bestimmt
wurde. So spinnefeind sie sonst auch sein mochten, im Heraufdämmern ihrer
eigenen Welt wollten sie doch im wesentlichen einen
gesellschaftlichen "Fortschritt" erkennen. Für die bürgerliche
Ideologie ist die Entfesselung von Warenproduktion und Kapitalismus
selbstverständlich gleichbedeutend mit ständig erhöhter Reichtumsproduktion.
Auch der Marxismus sieht den bürgerlichen Fortschritt, wenngleich nicht
ungebrochen, in der "Entwicklung der Produktivkräfte". Jedenfalls
werden stets positive Errungenschaften als die ursprüngliche Triebfeder der
Modernisierung und damit der Arbeit angenommen. Prominente Gründe für den
"take off" der Moderne sollen wahlweise die
künstlerischen und wissenschaftlichen Innovationen der Renaissance, die großen
geographischen "Entdeckungen" seit Kolumbus, die
protestantisch-calvinistische Idee von der Selbstverantwortung des Individuums
und die allmähliche Befreiung vom "mittelalterlichen Aberglauben"
gewesen sein. Andererseits hat Marx im berühmten Kapitel über die "ursprüngliche
Akkumulation des Kapitals" den beispiellosen terroristischen Charakter der
Ur-Modernisierung beschrieben, die gewaltsame Vertreibung der Pächter von ihren
Feldern, den regelrechten Krieg gegen die verarmten Massen, die Errichtung von
Zuchtanstalten und Arbeitshäusern im großen Maßstab. Wie geht das zusammen mit
der vermeintlich friedlichen Erweiterung der Warenproduktion? Lokalen
Warentausch hatte es ebenso wie Fernhandel mit speziellen Waren (Salz, Seide,
Erze, Waffen usw.) in mehr oder minder großem Umfang schon seit frühesten Zeiten
in den "Nischen" der agrarischen Naturalwirtschaft gegeben, ohne daß daraus jemals ein die gesamte Gesellschaft erfassendes
"warenproduzierendes System" (alias
Kapitalismus) entstanden wäre, in dem dann die Arbeit ihre seltsame Karriere
als nunmehr substantielle Realität für alle Menschen fortsetzen und krönen
konnte. Was also war in der frühen Neuzeit jenes wirklich "Neue", das
in der Folge unausweichlich die Geschichte der Modernisierung hervorgebracht
hat? Man kann dem historischen Materialismus durchaus zugestehen, daß keinem bloßen Wandel der Ideen und Mentalitäten,
sondern einer Entwicklung auf der Ebene der harten materiellen Tatsachen die
größte und wichtigste Bedeutung zukam. Es war jedoch keine Produktivkraft,
sondern im Gegenteil eine durchschlagende Destruktivkraft, die der
Modernisierung den Weg gebahnt hat: nämlich die Erfindung der Feuerwaffen.
Obwohl dieser Zusammenhang seit langem bekannt ist, blieb er doch in den
berühmtesten und folgenreichsten Theorien der Modernisierung (den Marxismus eingeschlossen)
völlig unterbelichtet. Es war der deutsche Wirtschaftshistoriker Werner Sombart, der
pikanterweise kurz vor dem Ersten Weltkrieg in seiner Studie "Krieg und
Kapitalismus" (1913) ausführlicher auf diese Frage einging; freilich nur,
um dann wie so viele der damaligen deutschen Intellektuellen selber der
Kriegsbegeisterung zu verfallen. Erst in den letzten Jahren sind die
rüstungstechnischen und kriegsökonomischen Ursprünge des Kapitalismus wieder
zum Thema gemacht worden, so von dem deutschen Ökonomen Karl Georg Zinn in
seinem Buch "Kanonen und Pest" (1989) und von dem US-amerikanischen
Neuhistoriker Geoffrey Parker in seiner Untersuchung über "Die
militärische Revolution" (1990). Aber diese Analysen haben nicht den
großen Widerhall gefunden, den sie verdienen. Offensichtlich können die moderne
westliche Welt und ihre Ideologen nur schwer die Einsicht akzeptieren, daß der letzte historische Grund ihres Systems in der
Erfindung von perfektionierten Mordinstrumenten zu suchen ist. Und dieser Zusammenhang
gilt nicht nur für die dunklen Ursprünge, sondern auch noch für die moderne
Demokratie; denn die "militärische Revolution" ist bis heute ein
heimlicher Beweggrund der Modernisierung geblieben. Die Innovation der Feuerwaffen hat die vorkapitalistischen Formen der
Herrschaft zerstört, denn sie machte das feudale Rittertum militärisch
lächerlich. Schon vor den Feuerwaffen hatte man die gesellschaftlichen Folgen
von wirksamen Distanzwaffen geahnt, denn das Zweite Lateranische
Konzil verbot im Jahr 1129 den Einsatz der Armbrust gegen Christen. Nicht
umsonst galt die von außereuropäischen Kulturen um das Jahr 1000 nach Europa
importierte Armbrust als die spezielle Waffe der Räuber, Outlaws und Rebellen.
Als die noch viel wirksameren Distanzwaffen der "Feuerrohre"
aufkamen, besiegelten sie den Untergang der gepanzerten und berittenen
Kriegsherren. Aber die Feuerwaffe lag nicht mehr in den Händen einer Opposition
"von unten" gegen die feudale Herrschaft, sondern sie führte zu einer
"Revolution von oben" durch die Fürsten und Könige. Denn die
Produktion und Mobilisierung der neuen Waffensysteme war nicht auf der Ebene
von lokalen und dezentralen Strukturen möglich, wie sie bis dahin die
gesellschaftliche Reproduktion geprägt hatten, sondern erforderte eine völlig
neue soziale Organisation auf mehreren Ebenen. Die Feuerwaffen, vor allem die
großen Kanonen, konnten nämlich nicht mehr in kleinen Werkstätten produziert
werden wie die vormodernen Hieb- und Stichwaffen. Deshalb bildete sich eine
besondere Rüstungsindustrie heraus, die in großen Fabriken Kanonen und
Musketen produzierte. Gleichzeitig entstand eine neue militärische
Defensiv-Architektur in Gestalt riesiger Bollwerke, die den Kanonen trotzen
sollten. Es kam zu einem Innovations-Wettlauf zwischen Offensiv- und
Defensivwaffen und zu einem Rüstungswettlauf zwischen den Staaten, der bis
heute nicht aufgehört hat. Durch die Feuerwaffen veränderte sich auch die Struktur der Armeen
grundsätzlich. Die Krieger konnten sich nicht mehr selbst ausrüsten, sondern mußten sich ihre Waffen von einer gesellschaftlichen
Zentralgewalt geben lassen. Deshalb trennte sich die militärische von der
bürgerlichen Organisation der Gesellschaft. An die Stelle der von Fall zu Fall
für Feldzüge mobilisierten Bürger oder lokalen Herren mit ihren bewaffneten
Familien traten "stehende Heere": Es entstand "das Militär"
als besondere soziale Gruppe und die Armee wurde zu einem sozialen Fremdkörper
in der Gesellschaft. Der Status des Offiziers verwandelte sich aus einer persönlichen
Verpflichtung der reichen Bürger in einen modernen "Beruf". Im
Zusammenhang mit dieser neuen militärischen Organisation und der neuen
Kriegstechnik nahm auch die Größe der Armeen sprunghaft zu: "Die
bewaffneten Streitkräfte wuchsen zwischen 1500 und 1700 um das Zehnfache"
(Parker 1990, 20). Rüstungsindustrie, Rüstungswettlauf und die Erhaltung permanent
organisierter, von der bürgerlichen Gesellschaft getrennter und gleichzeitig
stark vergrößerter Armeen führten notwendig zu einer radikalen Umwälzung der
Ökonomie und der gesamten gesellschaftlichen Struktur. Der aus der Gesellschaft
herausgelöste militärische Großkomplex erforderte
eine "permanente Kriegswirtschaft". Diese neue Ökonomie des
Todes legte sich wie ein Leichentuch auf die naturalwirtschaftlichen Strukturen
der alten Agrargesellschaften. Weil Rüstung und Militär sich nicht mehr auf die
lokale agrarische Form der Produktion stützen konnten, sondern großräumig und
in anonymen Zusammenhängen mit Ressourcen versorgt werden mußten,
waren sie auf die Vermittlung des Geldes angewiesen. Warenproduktion und
Geldwirtschaft als Grundelemente des Kapitalismus erhielten damit ihren
entscheidenden Anstoß in der frühen Neuzeit durch die Entfesselung der Militär-
und Rüstungsökonomie. Diese Entwicklung erzeugte und begünstigte die kapitalistische
Subjektivität und ihre Mentalität des abstrakten "Plusmachens".
Der permanente finanzielle Bedarf der Kriegswirtschaft führte in der zivilen
Gesellschaft zum Aufstieg der Geld- und Handelskapitalisten, der großen
Geldsammler und Kriegsfinanziers. Aber auch die neue Organisation der Armeen
selber brachte die kapitalistische Mentalität hervor. Die alten agrarischen
Krieger verwandelten sich in "Soldaten", das heißt in Empfänger von
"Sold". Sie waren die ersten modernen "Lohnarbeiter", die
ihr Leben vollständig durch Geldeinkommen und Warenkonsum reproduzieren mußten. Und deshalb kämpften sie nicht mehr für
idealisierte Ziele, sondern nur noch für Geld. Ihnen war es gleich, wen sie
totschossen, wenn nur der Sold "stimmte"; und so wurden sie zu den
ersten Repräsentanten der "abstrakten Arbeit" (Marx) für das moderne warenproduzierende System. Sie waren übrigens auch die
ersten, die "arbeitslos" werden konnten. Wenn kein Geld mehr in den
Kassen der Kriegsherren war, schmolzen die "Arbeitsplätze" in den
Armeen dahin. Viele Musketiere und Kanoniere wurden Opfer von
Massenentlassungen; sie standen dann buchstäblich auf der Straße und waren
gefürchtet als herumstromernde Bettler, Räuber und Gelegenheitstotschläger. Den Hauptleuten und Führern der "Soldaten" kam es darauf an,
durch Plünderungen Beute zu machen und diese in Geld zu verwandeln. Dabei
sollte der output der Beute größer sein als der input der Kriegskosten. Das war ein entscheidender Impuls
für die Geburt der modernen betriebswirtschaftlichen Rationalität. Die meisten
Generäle und Söldnerführer der frühen Neuzeit legten ihr Beute-Geld
gewinnbringend an und wurden zu Teilhabern des Geld- und Handelskapitals. Nicht
der friedliche Kaufmann, der fleißige Sparer und der ideenreiche Produzent
stand also am Anfang des Kapitalismus, ganz im Gegenteil: Wie die
"Soldaten" als blutige Handwerker der Feuerwaffen die Prototypen der
modernen Lohnarbeiter waren, so die "Geld machenden" Heerführer und Condottieri die Prototypen des modernen Unternehmertums und
seiner "Risikobereitschaft". Als freie Unternehmer des Todes waren die Condottieri
jedoch angewiesen auf die großen Kriege der staatlichen Zentralgewalten und
deren Finanzierungsfähigkeit. Das wechselhafte moderne Verhältnis von Markt und
Staat hat hier seinen Ursprung. Um die Rüstungsindustrien und Bollwerke, die
riesigen Armeen und die Kriege finanzieren zu können, mußten
sich die frühmodernen Staaten in Militärdespotien verwandeln und ihre
Bevölkerung bis aufs Blut auspressen. Der Sache entsprechend geschah dies in
einer ebenfalls neuen Form: An die Stelle der alten Naturalabgaben trat die
monetäre Besteuerung. Die Menschen wurden also gezwungen, "Geld zu
verdienen", um ihre Steuern an den Staat bezahlen zu können. Auf diese
Weise forcierte die Kriegswirtschaft nicht nur direkt, sondern auch indirekt
das marktwirtschaftliche System. Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert stieg
die (monetarisierte) Besteuerung der Massen in den
europäischen Ländern um bis zu 2000 Prozent! Das erzwungene "Geldverdienen" nicht für eigene, sondern für
fremde Zwecke, die ungeheure militärdespotische Auspressung, ließ erst die
Abstraktion des Geldes und die Abstraktion der Arbeit zusammenfließen. Kein
Wunder, daß sich der Protestantismus-Calvinismus
hervorragend als Ideologie für die aufkommende frühmoderne Rüstungs-Ökonomie
eignete; konnte doch der genußlose
Selbstzweck-Charakter der abstrakten Anhäufung von Reichtümern auf diese Weise
nicht nur die ihm angemessene "entsinnlichte" Geldform annehmen,
sondern auch die weniger "auserwählte" Menschheit mit der
dazugehörigen abstrakten Tätigkeitsform kujonieren. Die Abstraktion
"Arbeit" wurde nun zum Begriff der Verausgabung von Lebensenergie für
den aufgezwungenen äußeren Zweck und ihre alte Bedeutung von Unmündigkeit und
Unselbständigkeit gewann in diesem Kontext neues Gewicht, während sie in der
religiösen Überhöhung gleichzeitig schon einen gesellschaftlich-allgemeinen
Charakter annahm (der Katholizismus mußte in der
Folge die protestantische Säkularisierung der Arbeit wohl oder übel
nachvollziehen). Natürlich ließen sich die Menschen nicht freiwillig in die Zumutungen
der neuen Rüstungs- und Geldwirtschaft hineinziehen. Sie konnten dazu nur durch
blutige Unterdrückung gezwungen werden. Die permanente Kriegswirtschaft der Feuerwaffen
erzeugte für einige Jahrhunderte den permanenten Volksaufstand und damit den
permanenten Krieg nach innen; von den "Bauernkriegen" der frühen
Neuzeit bis zu den Aufständen der "Ludditen"
(der angeblichen "Maschinenstürmer") im Zeitalter der Industrialisierung.
Um die ungeheuren Abgaben auspressen zu können, mußten
die staatlichen Zentralgewalten einen ebenso ungeheuren Apparat der Polizei und
der Verwaltung aufbauen: sie wurden "absolutistisch". Alle modernen
Staatsapparate stammen aus dieser Geschichte ab. An die Stelle lokaler
Selbstverwaltung trat die zentralistische und hierarchische Verwaltung durch
eine Bürokratie, deren Kern von den Apparaten der Besteuerung und der inneren
Unterdrückung gebildet wurde. Auch die spätere tatsächliche Entwicklung der "industriellen
Produktivkräfte" trug immer das Brandmal dieser Ursprünge. Die
Industrialisierung des 19. Jahrhunderts war sowohl technologisch als auch
organisations- und mentalitätsgeschichtlich ein Abkömmling der Feuerwaffen, der
frühmodernen Rüstungsproduktion und ihrer gesellschaftlichen Folgeprozesse.
Insofern ist es kaum überraschend, daß die rasante
kapitalistische Entwicklung der Produktivkräfte seit der ersten industriellen
Revolution niemals anders als in einer destruktiven Form vor sich gehen konnte,
selbst noch bei den scheinbar unschuldigsten technischen Erneuerungen. Nicht nur technologisch, sondern auch in ihrer gesellschaftlichen
Struktur kann die moderne westliche Demokratie nicht verbergen, dass sie ein
Abkömmling der frühmodernen Rüstungs- und Militärdiktatur ist. Unter der dünnen
Oberfläche der demokratischen Abstimmungs-Rituale und der politischen Diskurse
finden wir das Monstrum eines Apparats, der die scheinbar freien Staatsbürger
permanent verwaltet und diszipliniert im Namen der totalen Geldwirtschaft und
der damit bis heute verbundenen Kriegsökonomie. Die
"Arbeitsverwaltung" ist zentraler Bestandteil dieser Struktur. In
keiner Gesellschaft der Geschichte gab es jemals einen derart hohen
prozentualen Anteil von Staatsbeamten und Menschenverwaltern, Soldaten und
Polizisten; keine hat jemals einen derart großen Teil ihrer Ressourcen für
Rüstung und Militär verschleudert.
Versucht man die allgemeine soziale und ökonomische Logik dessen zu
erfassen, was die absolutistischen Militärdespotien der Frühneuzeit
gesellschaftlich auf den Weg gebracht haben, dann läßt
sich diese Logik als selbstzweckhafte
Verselbständigung des Geldes und damit auch der dazugehörigen abstrakten
Tätigkeitsform "Arbeit" bestimmen. Der sprichwörtliche Geldhunger des
Absolutismus hatte zwar noch einen spezifischen und materiellen (allerdings
auch schon verselbständigten) Zweck, nämlich eben die neue Politische Ökonomie
der Feuerwaffen und ihre Erfordernisse. Aber die einmal in die Welt gesetzte
Logik des "Geldmachens" begann die
beschränkten Zielsetzungen des Absolutismus zu übersteigen, der sich schon bald
in der Rolle des Zauberlehrlings sah. Denn das "Plusmachen" in der
Geldform beschränkte sich, nachdem es einmal entfesselt war, nicht mehr auf
eine äußerlich (etwa in der Form der monetären Besteuerung) an die bisherige
Produktionsweise herangetragene Zumutung, sondern es wurde zum inneren Antrieb
einer neuen Produktionsweise, die den gesamten Gesellschaftskörper erfaßte. Schon die absolutistischen Regimes selbst waren dazu übergegangen,
neben der monetären Besteuerung eigene Produktionsunternehmen außerhalb der
traditionellen Gilden und Zünfte zu gründen, deren Zweck nicht mehr
Bedürfnisbefriedigung, sondern einzig und allein Geldbeschaffung war. Diese
staatlichen Manufakturen und Plantagen produzierten erstmals ausschließlich für
großräumige anonyme Märkte, die schließlich zur Voraussetzung der
"freien" Konkurrenz werden sollten. Das Geld wurde so aus einem bloß
marginalen Medium zur allgemeinen Voraussetzung und gleichzeitig zum
allgemeinen Endzweck des gesamten gesellschaftlichen Lebens. Im Endresultat
konnte kein Stück Brot mehr produziert werden, wenn es nicht der
kapitalistischen Tätigkeitsform unterworfen wurde, d.h. der abstrakten Arbeit
als selbstzweckhafter Verwandlung menschlicher
Energie in Geld. Karl Marx war der erste, der
diesen absurden ökonomischen Mechanismus und die darin eingeschlossene
Verkehrung von Mittel und Zweck präzise analysiert hat. Das Geld war
gewissermaßen zum (irrationalen) "Grundnahrungsmittel" geworden. Es
war nun nicht mehr ein Medium, um einen Teil der Bedürfnisse zu vermitteln,
sondern genau umgekehrt waren die Bedürfnisse nur noch ein Medium (und ihre
Befriedigung ein bloßes Abfallprodukt), um die auf sich selbst rückgekoppelte
"Verwertung" des Geldes zu vermitteln. Damit hatte sich die Endlosbewegung einer Verwandlung von Arbeit in
Geld über alle ursprünglichen Zwecke hinaus zu einem kybernetischen
"System" geschlossen. Dieser hermetische Systemcharakter fand nach
dem Absolutismus seine neuen Repräsentanten in jenem "freien
Unternehmertum", das in aufsteigender Linie aus den frühmodernen
Söldnerführern, den blutsaugerischen Steuerpächtern und den Verwaltern der
absolutistischen Sträflings-Manufakturen und Sklavenplantagen hervorgegangen
war. Man kann sich denken, welchen Begriff von "Freiheit" diese
illustren Herrschaften in ihrer Ideologie des (ökonomischen)
"Liberalismus" kreierten und gegen die absolutistischen Väter
kehrten: nämlich für die einen die "Freiheit", in diesem System
"unternehmerisch" tätig zu sein zwecks genußloser
Geldanhäufung, und für die anderen die "Freiheit", sich den
angeblichen "Naturgesetzen" dieses verselbständigten Systems von
gesellschaftlicher Zwangsarbeit, Geldverwertung und anonymen Märkten
bedingungslos zu unterwerfen! Die absolutistischen Regimes waren für die Fortentwicklung des Systems dysfunktional geworden, weil ihre dynastische
Regierungsform den herausgebildeten versachlichten Strukturen nicht mehr
angemessen war. Was blieb, war jene losgelassene Logik, deren Archetypus die
Kanone gewesen war: das "Werkzeug", das seinen Schöpfer zu
beherrschen beginnt. Damit hat sich überhaupt erst eine vom übrigen Leben
getrennte Sphäre der sogenannten Ökonomie oder
"Volkswirtschaft" im modernen Sinne herausgebildet. Diesen besonderen Aspekt hat vor allem der Sozial- und
Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi
analysiert. In seinem schon klassischen Werk "The
Great Transformation" (Polanyi 1995/1944)
beschäftigt er sich im Unterschied zu Marx weniger mit der inneren
Selbstzweck-Logik der "Verwertung des Werts" und ihren
Gesetzmäßigkeiten als vielmehr mit der Tatsache, daß
sich dabei die Ökonomie, die im ursprünglichen antiken Sinne gleichbedeutend
mit Hauswirtschaft für den Bedarf gewesen war, in jene unheimlich
verselbständigte Sphäre verwandelt hat, die in keine übergreifende soziale
Gesellschaftsordnung mehr eingebunden ist. Mit Blick auf dieses unerhört Neue,
das von den liberalen Ideologen zur "menschlichen Natur" umgedeutet
worden ist, sagt Polanyi: "Sicherlich kann keine
Gesellschaft ohne irgendein System auskommen, das die Erzeugung und Verteilung
von Gütern sicherstellt. Daraus folgt aber nicht, daß
es separate wirtschaftliche Institutionen geben muß;
normalerweise ist die Wirtschaftsordnung bloß eine Funktion der
Gesellschaftsordnung, in der sie eingeschlossen ist...Die Gesellschaft des 19.
Jahrhunderts, in der die wirtschaftliche Tätigkeit herausgelöst und einem
spezifischen ökonomischen Trieb zugeschrieben wurde, war in der Tat eine
bemerkenswerte Abweichung...Eine solche institutionelle Schablone konnte nicht
funktionieren, außer, die Gesellschaft wurde ihren Erfordernissen irgendwie
untergeordnet. Eine Marktwirtschaft kann nur in einer Marktgesellschaft
existieren...Im Zuge dieser Entwicklung war die menschliche Gesellschaft zu
einem Beiwerk des Wirtschaftssystems herabgesunken" (Polanyi,
a.a.O., 106 ff.). Während in allen anderen "integrierten Gesellschaften", wie Polanyi sie nennt, die wirtschaftliche Tätigkeit einem
kulturellen Zusammenhang untergeordnet blieb, wie immer dieser zu beurteilen
sein mag, stellt der Kapitalismus das Verhältnis von Gesellschaft und
Wirtschaft auf den Kopf: Die Gesellschaftsordnung ist nur noch eine Funktion
der Wirtschaftsordnung, die allen sozialen Bereichen und Bedürfnissen gegenüber
autonom geworden ist. In dieser Verkehrung ist nicht nur das schiere Gegenteil
von Selbständigkeit und Selbstverantwortung begründet, nämlich die vollständige
Selbstauslieferung an den Selbstzweck des Geldes, sondern auch die Maßlosigkeit
eines unaufhörlichen Vermehrungsdranges, da es ja keinerlei Rückkoppelung auf
Bedürfnisse, geistige Reflexion und kulturelle Bestimmungen mehr gibt, sondern
einzig die Rückkoppelung des verselbständigten ökonomischen Mediums auf sich
selbst. Das begann aber nicht erst mit dem "herausgelösten"
Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, sondern schon mit der "herausgelösten" Feuerwaffen-Ökonomie der
frühneuzeitlichen Regimes; auch wenn es die kapitalistische Industrialisierung
seit Ende des 18. Jahrhunderts war, die dann den vollen Durchbruch dieser Logik
brachte. Arbeit im modernen Sinne ist somit, genauer nach dem herausgebildeten
unpersönlichen Systemzusammenhang bestimmt, die spezifische Tätigkeitsform der
"herausgelösten Ökonomie". Wie es bei der
als soziale Abstraktion "Arbeit" bestimmten Tätigkeit des antiken
Sklaven gleichgültig war, was er tat, weil es eben immer die Verausgabung von
"Knechtsenergie" war, so ist nun der Inhalt der gesamten
gesellschaftlichen Reproduktion gleich-gültig geworden, weil es sich immer um
dieselbe Verwandlung abstrakter menschlicher Energie in Geld handelt. Indem
sich nahezu alle Tätigkeit auf die entfremdete, "herausgelöste"
Selbstzweck-Sphäre der Ökonomie konzentriert, hat sich die einstmals sozial
eingegrenzte Abstraktion "Arbeit" als Knechtstätigkeit zur
gesellschaftlich-allgemeinen Tätigkeitsform gemausert. Letzten Endes heißt das,
daß es überhaupt nur noch Knechtstätigkeiten gibt,
auch wenn der "Herr" kein persönlicher mehr ist, sondern der anonyme
Systemzusammenhang. Die Arbeit ist selber an die Stelle Gottes getreten, und insofern sind
jetzt alle Menschen "Knechte Gottes", die sich nur noch durch ihre
funktionelle Stellung in der Hierarchie einer allgemeinen
"Leidenstätigkeit" unterscheiden, die keinen Sinn hat als sich
selbst. Auch das Management ist Teil der Arbeit und nimmt dieses irdische Kreuz
auf sich, um gerade darin seine masochistische Macht zu finden - nunmehr
gänzlich säkularisiert, selbst noch von den protestantischen Motiven abgelöst
und seiner Ursprünge nicht mehr bewußt. Der
homerische Held Odysseus hätte die heutigen sogenannten
Herrschenden als armselige Knechte verachtet, weil sie sich selber unter das
Joch der Arbeit beugen und sich damit in die Form der Unmündigkeit begeben, die
zur gesellschaftlich-allgemeinen geworden ist. Arbeit als Verhaltensstörung der
Moderne hat zu einer Gesellschaft der allgemeinen Unzurechnungsfähigkeit
geführt. Es ist merkwürdig, wie der Marxismus ungewollt zum Komplizen dieser
Unzurechnungsfähigkeit (und insofern selber zu einem Trendsetter
kapitalistischer Entwicklung) wurde, indem er im späteren 19. Jahrhundert als Dissidenz des Liberalismus dessen positiven Arbeitsbegriff
übernommen hat. Während Marx als ein für das positivistische Bewußtsein "dunkler" Theoretiker zusammen mit
seiner radikalen Kritik der verselbständigten ökonomischen Formen (die er
bekanntlich als "Fetischismus" bezeichnete) immerhin an die Kritik
der Arbeit wenigstens herankam, ohne sie allerdings konsequent zu vollenden,
blieb der Arbeiterbewegungs-Marxismus auf der fälschlich als überhistorisch
bestimmten abstrakten Arbeitskategorie sitzen. Daran zeigt sich, daß die uns bekannte Arbeiterbewegung nicht etwa der Beginn
einer höheren Reflexionsstufe von Gesellschaftskritik war, sondern eher das
Resultat einer historischen Niederlage der alten sozialrebellischen Bewegungen
gegen die Arbeit seit dem 16. Jahrhundert. In Verkennung des wirklichen
Zusammenhangs machten die "Parteien der Arbeit" den vergeblichen
Versuch, den Kapitalismus mit seinem eigenen Tätigkeitsbegriff zu kritisieren. "Betriebswirtschaft" als abstrakte Raumzeit In der "herausgelösten Ökonomie"
gewinnt zusammen mit der abstrakten Tätigkeitsform "Arbeit" auch die
darin eingeschlossene Zeit eine höchst eigentümliche, geradezu gespenstische
Qualität. Die Zeit der Produktion wird von allen Bedürfnissen und selbstgesetzten Zwecken der Produzenten abgetrennt; sie
wird selbst zur auszubeutenden Ressource. Zeit ist bekanntlich Geld; und
deswegen hat die Zeit für den Kapitalismus immer schon eine entscheidende Rolle
gespielt. Aber unter seiner verselbständigten Zwecksetzung wird auch die Zeit
abstrakt - mit höchst unangenehmen Folgen für die Menschen, die dieser Zeit für
den größten Teil ihres Lebens ausgeliefert sind. Die entscheidende und bis heute gültige philosophische Reflexion des
modernen Zeitbegriffs findet sich bei Immanuel Kant (1724-1804). Kant hat
entdeckt, daß Raum und Zeit keine inhaltlichen
Begriffe des menschlichen Denkens sind, sondern die apriorischen Formen unseres
Wahrnehmungs- und Denkvermögens. Wir können die Welt nur in den Formen von Raum
und Zeit erkennen, die unserer Vernunft eingeschrieben sind, und zwar vor jeder
Erkenntnis. Aber Kant bestimmt diese Formen von Raum und Zeit völlig abstrakt
und unhistorisch, als für alle Epochen, Gesellschaftsformen und Kulturen
gleichermaßen gültig. Zeit ist für ihn "das Zeitliche überhaupt",
ohne jede bestimmte Qualität. Dementsprechend nennt er Raum und Zeit
"reine Formen der Anschauung". Zeit ist also für Kant eine abstrakte,
inhaltslose und immer gleichförmige Fließzeit, deren Einheiten alle identisch
sind: "Verschiedene Zeiten sind nur Teile eben derselben Zeit" (Kant
1979/1781, 104). Die kulturhistorische Forschung hat längst herausgefunden, daß diese unhistorische Bestimmung des Erlebens und der
Wahrnehmung von Zeit nicht haltbar ist. So wurde vor allem erkannt, daß die vormodernen agrarischen Kulturen nicht in einer
gleichförmigen linearen Zeit dachten, sondern eher in einer zyklischen
Zeit; gewissermaßen in wiederkehrenden Zeitrhythmen, geformt nach
jahreszeitlichen (agrarischen) und kosmischen Zyklen. Mag also auch die Zeit
eine dem menschlichen Erkenntnisvermögen apriorisch eingeschriebene Form der
Wahrnehmung sein, so unterliegt diese Form doch einem kulturellen und historischen
Wandel. Die jüngsten Forschungen über verschiedene Zeitkulturen haben diese
Erkenntnis bestätigt. In allen Kulturen außerhalb der kapitalistischen Moderne
"vergeht" die Zeit nicht nur anders, sondern es gibt sogar ganz
verschiedene, parallel verlaufende Formen der Zeit; je nachdem, auf welchen
Gegenstand oder Lebensbereich die Wahrnehmung der Zeit bezogen ist: "Jedes
Ding hat seine eigene Zeit". Indem die verselbständigte Ökonomie des Kapitals die Abstraktionen von
Geld und Arbeit in jenen auf sich selbst rückgekoppelten Selbstzweck
verwandelte, verkehrte sie überhaupt das Verhältnis von Abstraktum und Konkretum: Die Abstraktion (z.B. Arbeit oder Zeit) ist
jetzt nicht mehr Ausdruck einer konkreten und sinnlichen Welt, sondern
umgekehrt gelten alle konkreten Zusammenhänge und sinnlichen Gegenstände nur
noch als Ausdruck der kapitalistischen Abstraktion, die in der verdinglichten
Gestalt des Geldes die Gesellschaft beherrscht. Das Maß der Arbeit und damit
des Geldes aber ist die Zeit. Allerdings ist auch diese Zeit nicht mehr die
konkrete und daher je nach ihrem Bezug qualitativ verschiedene Zeit, sondern
dem Selbstzweck der Kapitalakkumulation entsprechend genau jene abstrakte,
gleichförmige und lineare Fließzeit, wie sie Kant bereits blind voraussetzte. Jetzt
hat kein Ding mehr seine eigene Zeit, den jeweiligen Bedürfnissen und
kulturellen Zusammenhängen entsprechend, sondern alle Dinge haben dieselbe
Zeit, die mit immer derselben Geschwindigkeit in immer dieselbe Richtung
fließt. Diese Diktatur der abstrakten Zeit, exekutiert durch den
Mechanismus der anonymen Konkurrenz, schuf sich den dazugehörigen abstrakten
Raum, nämlich den vom übrigen Leben abgetrennten Funktionsraum des Kapitals,
der seiner eigenen betriebswirtschaftlichen Rationalität gehorcht. Es entstand
so gewissermaßen eine leblose, kulturell entqualifizierte
kapitalistische Raumzeit, die den sozialen Körper aufzufressen begann.
Die in diese Raumzeit eingesperrte abstrakte Tätigkeitsform "Arbeit" mußte von allen dysfunktionalen
Lebenselementen gereinigt werden, um die lineare Fließzeit nicht zu stören:
Arbeit und Wohnung, Arbeit und persönliches Leben, Arbeit und Kultur usw.
fielen systematisch auseinander. Erst auf diese Weise entstanden auch die
moderne Trennung und der Dualismus von Arbeitszeit und Freizeit. Es fällt uns
normalerweise gar nicht mehr auf - aber implizit ist damit gesagt, daß die Arbeitszeit eine unfreie Zeit ist, eine
(ursprünglich sogar gewaltsam) erzwungene Zeit für einen den Individuen
äußerlichen Selbstzweck, bestimmt von der Diktatur der abstrakten,
gleichförmigen Zeiteinheiten kapitalistischer Produktion.
Die abstrakte betriebswirtschaftliche Raumzeit ist zwangsläufig von
jener Maßlosigkeit bestimmt, wie sie den rastlosen kapitalistischen Drang zur
Geldanhäufung kennzeichnet. Damit gewinnt ein meistens verkanntes Motiv der
bürgerlichen Aufklärung eine ebenso merkwürdige wie destruktive Bedeutung.
Bekanntlich schwelgt die Geschichte der Modernisierung in Metaphern des Lichts.
Die strahlende Sonne der Vernunft soll die Finsternis des Aberglaubens
durchdringen und die Unordnung der Welt sichtbar machen, um die Gesellschaft
endlich nach rationalen Kriterien zu gestalten. Aber diese vermeintliche
Vernunft ist in Wahrheit der gesellschaftliche Irrationalismus der "herausgelösten Ökonomie". In diesem Kontext ist das
"Licht der Aufklärung" aber keineswegs bloß ein Symbol im Reich des
Gedankens, sondern es hat eine harte sozialökonomische Bedeutung. Gerade in dieser Hinsicht ist es fatal, daß
der Marxismus und die historische Arbeiterbewegung sich als die wahren Erben
der Aufklärung und ihrer gesellschaftlichen Metaphorik des Lichts verstanden
haben. In der "Internationale", der Hymne des Marxismus, heißt es
über die wunderbare sozialistische Zukunft: "Dann scheint die Sonn' ohn' Unterlaß". Ein
deutscher Karikaturist hat diese Zeile wörtlich genommen und zeigt im
"Reich der Freiheit" schwitzende Menschen, die zur glühenden Sonne
hinaufstarren und stöhnen: "Drei Jahre scheint sie jetzt schon und geht
nicht mehr unter". Das ist nicht bloß ein Witz. In gewisser Weise hat die Modernisierung
tatsächlich "die Nacht zum Tag gemacht". In England, das bekanntlich
Schrittmacher der Industrialisierung war, wurde die Gasbeleuchtung schon im
frühen 19. Jahrhundert eingeführt und verbreitete sich bald über ganz Europa.
Ende des 19. Jahrhunderts löste das elektrische Licht die Gaslampen ab.
Natürlich könnte man sagen, daß darin eine
Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten liegt, wenn die künstliche
Beleuchtung für selbstbestimmte Zwecke verwendet und
also je nach Bedürfnis und freier Übereinkunft benutzt oder nicht benutzt
würde. Aber genau darum geht es der kapitalistischen Totalisierung des Lichts
nicht. Die "Ausschaltung" der Nacht ist eine flächendeckende und
permanente geworden, obwohl längst medizinisch nachgewiesen wurde, daß dadurch physische und psychische Schäden entstehen.
Warum diese gewaltige planetarische Beleuchtung, die heute den letzten Winkel erfaßt hat? Der maßlose Drang der kapitalistischen Produktionsweise kann im Prinzip
keine Zeit dulden, die "dunkel" bleibt. Denn die Zeit des Dunkels ist
auch die Zeit der Ruhe, der Passivität, der Kontemplation. Der Kapitalismus
verlangt dagegen die Ausdehnung seiner Aktivität bis an die äußersten
physikalischen und biologischen Grenzen. Zeitlich sind diese Grenzen bestimmt
durch die Drehung der Erde um sich selbst, also durch die vollen 24 Stunden des
astronomischen Tages, der eine helle (der Sonne zugewandte) und eine dunkle
(von der Sonne abgewandte) Seite hat. Die Tendenz des Kapitalismus ist es, die
aktive Sonnenseite total zu machen und den gesamten astronomischen Tag zu
besetzen. Die Nachtseite stört diesen Drang. Die Produktion, Zirkulation und
Distribution der Waren soll also "rund um die Uhr" laufen. Dieser Vorgang ist analog zur Veränderung der Raummaße. Das metrische
System wurde vom Regime der französischen Revolution 1795 eingeführt und
verbreitete sich ähnlich schnell wie die Gasbeleuchtung. In Deutschland fand
der Übergang zu diesem System allerdings erst 1872 statt. Die am menschlichen
Körper orientierten Raummaße (Fuß, Elle usw.) wurden vom abstrakten Maß des
Meters abgelöst, der dem vierzigmillionsten Teil des
Erdumfangs entsprechen soll. Diese abstrakte Vereinheitlichung des Raummaßes
entsprach dem mechanistischen Weltbild der Newtonschen Physik, das wiederum
Vorbild wurde für die mechanistische Ökonomie der modernen Marktwirtschaft, wie
sie Adam Smith (1723-1790), der Begründer der theoretischen Nationalökonomie,
analysiert und propagiert hatte. Das Bild des Weltalls und der Natur als einer
einzigen großen Maschine befand sich in Übereinstimmung mit der ökonomischen
Weltmaschine des Kapitals, und eine gemeinsame Form der physikalischen und der
ökonomischen Weltmaschine wurden die abstrakten Maße von Raum und Zeit - für
das Weltall wie für die "herausgelöste"
Warenproduktion. Erst die astronomische Fließzeit machte es möglich, den Tag der
abstrakten Arbeit in die Nacht hineinzuschieben und
die Zeit der Ruhe aufzufressen. Nur so konnte die abstrakte Zeit von den
konkreten Dingen und Verhältnissen abgelöst werden. Der Marxismus hat sich in
seiner Fixiertheit auf die Aufklärungsvernunft wenig um diese Dinge gekümmert,
und so blieb es konservativen Ideologen - wie z.B. Ernst Jünger in seinem
"Sanduhrbuch" - vorbehalten, die abstrakte Zeit der Moderne auf ihre
Weise in einem Kontext aufzugreifen, der stets alles andere als emanzipatorisch
war (vgl. Jünger 1954). Es ist aber gerade im Interesse der sozialen
Emanzipation wichtig, das Problem der abstrakten, aus den wirklichen
Lebenszusammenhängen "herausgelösten" Zeit
zu thematisieren und mit anderen, uns gar nicht mehr bewußten
Zeitformen zu vergleichen, um überhaupt einen Begriff der kapitalistischen
Zeit-Zumutung zu gewinnen. Die meisten alten Zeitmesser, z.B. Sand- oder
Wasseruhren, zeigten nicht an, "wieviel Uhr es
ist", sondern sie waren auf konkrete Vorgänge geeicht, um deren
"angemessene Zeit" zu zeigen. Man könnte sie vielleicht mit einer
Eieruhr vergleichen, die durch einen summenden Ton angibt, wann ein Ei hart-
oder weichgekocht ist. Die Quantität der Zeit ist
hier nicht abstrakt, sondern auf eine bestimmte Qualität orientiert. Die
astronomische Zeit der abstrakten Arbeit dagegen ist losgelöst von jeder
Qualität. Sie erlaubt es zum Beispiel, unabhängig von der Jahreszeit und den
körperlichen Rhythmen einen Arbeitsbeginn "um 6 Uhr" festzusetzen. Deswegen ist die Epoche des Kapitalismus auch die Zeit der
"Wecker", der Uhren also, die mit einem schrillen Signalton
die Menschen aus dem Schlaf reißen, um sie an die künstlich erleuchteten
"Arbeitsplätze" zu treiben. Und war erst einmal der Arbeitsbeginn
in die Nacht vorverlegt, dann konnte umgekehrt auch das Arbeitsende nach
hinten in die Nacht hineingeschoben werden. Diese
Veränderung hat auch eine ästhetische Seite. Wie die Umwelt durch die abstrakte
betriebswirtschaftliche Rationalität gewissermaßen "entstofflicht"
wird, indem die Materie und ihre Zusammenhänge sich den Kriterien der
Rentabilität unterwerfen müssen, so wird sie durch dieselbe Rationalität auch entdimensioniert und entproportionalisiert.
Wenn uns alte Gebäude manchmal irgendwie schöner und behaglicher vorkommen als
moderne, und wenn wir dann feststellen, daß sie
gleichzeitig im Vergleich zu den heutigen "funktionalistischen"
Gebäuden irgendwie unregelmäßig zu sein scheinen, dann ist das darauf
zurückzuführen, daß ihre Maße Körpermaße und ihre
Formen oft landschaftlich angepaßt sind. Die moderne
Architektur dagegen verwendet astronomische Raummaße und "dekontextualisierte" Formen, "losgelöst" von
der Umgebung. Das gilt aber ebenso für die Zeit. Auch die moderne Architektur
der Zeit ist entproportionalisiert und dekontextualisiert. Nicht nur der Raum ist häßlich geworden, sondern auch die Zeit. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde die Einführung der abstrakten
astronomischen Fließzeit in die Lebenstätigkeit noch als Folter empfunden.
Lange Zeit wehrten sich die Menschen verzweifelt gegen die mit der
Industrialisierung verbundene Nachtarbeit. Vor Sonnenaufgang und nach
Sonnenuntergang zu arbeiten, galt geradezu als unmoralisch. Wenn im Mittelalter
Handwerker aus Termingründen einmal nachts arbeiten sollten, mußten sie üppig verpflegt und fürstlich entlohnt werden.
Nachtarbeit war ein seltener Ausnahmefall. Und es gehört zu den
"großen" Leistungen des Kapitalismus, daß
es ihm gelungen ist, die Zeitfolter zum Normalmaß der menschlichen
Tätigkeit zu machen. Daran hat sich seit dem Frühkapitalismus nichts geändert. Im Gegenteil,
die sogenannte Schichtarbeit hat sich im 20.
Jahrhundert immer mehr ausgedehnt. Durch einen Zwei- oder sogar
Dreischichtbetrieb sollen die Maschinen möglichst durchgehend laufen,
unterbrochen nur durch kurze Pausen für Einstellung, Wartung und Reinigung.
Auch die Öffnungszeiten der Läden und Kaufhäuser sollen möglichst dicht an die 24-Stunden-Grenze
herangeschoben werden, wie die Auseinandersetzung um
die Ladenschlußzeit in der BRD zeigt. In vielen
Ländern gibt es wie in den USA überhaupt keine gesetzlich festgelegte Ladenschlußzeit und an zahlreichen Geschäften prangt
tatsächlich das Schild: "24 Stunden durchgehend geöffnet". Seit die
mikroelektronische Kommunikationstechnologie den Fluß
des Geldes globalisiert hat, geht auch der Finanztag der einen Erdhälfte
nahtlos in den der anderen über. "Die Finanzmärkte schlafen nie", so
die Werbung einer japanischen Bank. Das Licht der Aufklärungs-Vernunft ist die Beleuchtung der
Nachtschicht. In demselben Maße, wie die Konkurrenz auf anonymen Märkten total
wird, verwandelt sich der äußere, gesellschaftliche Imperativ auch in einen
inneren Zwang des Individuums. Der Schlaf wird ebenso zum Feind wie die Nacht,
denn solange man schläft, verpaßt man Chancen und ist
den Angriffen der anderen hilflos preisgegeben. Der Schlaf des
marktwirtschaftlichen Menschen wird daher kurz und flach wie der eines wilden
Tieres, und zwar umso mehr, je "erfolgreicher" dieser Mensch sein
will. Die fremdbestimmte Arbeitsqual der mechanischen Nachtschicht erscheint
auf der Ebene des Managements als "freiwilliger" Verzicht auf Schlaf.
Es gibt sogar schon Management-Seminare, auf denen Techniken der
Schlaf-Minimierung geübt werden können. Allen Ernstes behaupten heute Schulen
des Self-Managements: "Der ideale Business-Mann
schläft nie", genau wie die Finanzmärkte! Die Unterwerfung der Menschen unter die abstrakte Arbeit und ihr
astronomisches Zeitmaß ist aber nicht möglich ohne eine ebenso totale Kontrolle.
Allseitige Kontrolle wiederum erfordert ebenso allseitige Beobachtung,
und Beobachtung ist nur im Licht möglich: ungefähr so, wie die Polizei beim
Verhör eine blendende Lampe auf das Gesicht des Delinquenten richtet. Nicht
umsonst hat das Wort "Aufklärung" im Deutschen eine militärische
Nebenbedeutung, nämlich "Auskundschaften des Feindes". Und eine
Gesellschaft, in der jeder dem anderen und sich selbst zum Feind wird, weil alle
dem gleichen säkularisierten Gott der Arbeit dienen müssen, wird mit logischer
Notwendigkeit zu einem System der totalen Beobachtung und Selbstbeobachtung.
Hier wird nicht frei diskutiert über Sinn und Zweck des eigenen Tuns, sondern gnadenlos "ausgeleuchtet", um den
Selbstzweck der "herausgelösten Ökonomie"
zu exekutieren.
Mit der Enteignung der Menschen von den Bedingungen ihrer eigenen
Reproduktion ist also auch die systematische Enteignung der Zeit verbunden. Das
gilt nicht nur in qualitativer, sondern auch in quantitativer Hinsicht, wie
sich ja schon am Hinausschieben der Arbeitszeit in den astronomischen Tag
ablesen läßt. Obwohl sie den größten Teil der aktiven
täglichen Zeit verschlingt, ist die Arbeitszeit für die überwältigende Mehrheit
der Produzenten keine eigene Lebenszeit, sondern tote und leere Zeit, die wie
in einem Alptraum aus dem Leben herausgesaugt wird. Umgekehrt ist vom
Standpunkt der kapitalistischen Raumzeit aus gesehen die Freizeit der
Produzenten leere und eigentlich unnütze Zeit. Somit existiert im Kapitalismus
eine starke objektive Tendenz, die Freizeit zu minimieren oder wenigstens
streng zu rationieren. Nicht nur der "Betrieb" soll möglichst rund um
die Uhr laufen, sondern auch die Auspressung der einzelnen Arbeits-Individuen
möglichst nahe an diese absolute Grenze herangeschoben
werden. Wie Marx in den "Grundrissen" feststellte, resultiert daraus
eine Paradoxie, die den bürgerlichen "Fortschritt" vollständig
blamiert: "Die entwickeltste Maschinerie zwingt
den Arbeiter daher jetzt länger zu arbeiten als der Wilde tut oder als er
selbst mit den einfachsten, rohsten Werkzeugen tat" (Marx 1974/1857, 596).
Dieses krasse Mißverhältnis rührt daher, daß die Produzenten ja nicht selbst entscheiden können,
wofür sie die Steigerung der Produktivität einsetzen wollen. Wie alle anderen
Entscheidungen ist ihnen auch diese von der kapitalistischen Funktionslogik
abgenommen worden. In den alten Agrargesellschaften erzeugte das niedrige
Niveau der Produktivkräfte zwar viele Bornierungen
(zum Beispiel enge Traditionen und blutsverwandtschaftliche Gebundenheit) und
manchmal Probleme in der Versorgung (zum Beispiel bei Mißernten).
Aber das Ziel der Produktion, auch mit geringen Mitteln, war kein abstrakter
Selbstzweck wie unter dem Zwangsverhältnis des modernen warenproduzierenden
Systems, sondern Genuß und Muße. Dieser antike
und mittelalterliche Begriff der Muße darf nicht mit dem modernen Begriff der
Freizeit verwechselt werden. Denn die Muße war kein vom Prozeß
der Tätigkeit für den Erwerb abgetrennter Rest, sondern ein ganz eigenständiges
Moment des Lebens. Deshalb wurde eine Steigerung der Produktivität in der Regel
eher für eine größere Muße verwendet als für mehr Produktion. Die
betriebswirtschaftliche Rationalität der Kostensenkung dagegen verwandelt jeden
technischen Fortschritt ausschließlich und zwanghaft in überproportionale
zusätzliche Produktion und damit in zusätzliche Arbeit, niemals in zusätzliche
Muße für die Produzenten. Schon die rein äußerliche Quantität der Produktionszeit war daher trotz
des niedrigeren technischen Niveaus in der Antike und im Mittelalter weitaus
kleiner bemessen als im Kapitalismus. Aus den Klosterregeln des frühesten
Mittelalters, die ja als Vorläufer der modernen Arbeitsdisziplinierung bereits
Elemente der abstrakten Zeit enthielten, geht überraschenderweise hervor, daß für die Leidenspassion der Arbeit fast nie mehr als 6
oder 7 Stunden täglich vorgesehen waren - damals also hielten die Menschen
offenbar bereits für eine fromme Kasteiung und Selbstüberwindung, was heute die
Gewerkschaften nur in wenigen Branchen und Gewinnerländern des Weltmarkts als
größte Errungenschaft der "Arbeitszeitverkürzung" feiern! Die explosive Ausdehnung der "Arbeitszeit" kam eben erst mit
der Arbeit selbst. Erstaunt müssen moderne "Freizeitforscher"
feststellen: "Unter den primitiven Agrarvölkern und in der Antike machten
die Ruhetage oft die Hälfte des Jahres aus...(Auch) die Lohnarbeit leistenden
Sklaven und Banausen waren nicht so intensiv in das Arbeitsleben eingespannt,
wie man dies aus neuzeitlicher Sicht annehmen könnte...In der Mitte des vierten
Jahrhunderts zählte man in der römischen Republik nicht weniger als 175
Ruhetage..." (Opaschowski 1997, 25 f.). Erst in
der glorreichen Moderne wurden die Festzeiten immer weiter minimiert, um die
Raumzeit der Arbeit auszudehnen. Aber noch aus einem anderen Grund lag die Jahresleistung der
Produzenten, selbst wo sie herrschaftlich abgedrungen
war, erheblich niedriger als im Kapitalismus. Denn in den agrarischen Gesellschaften
des alten Europa gab es auch große saisonale Unterschiede im Umfang der
Tätigkeit. In der warmen Jahreszeit (etwa bei der Ernte) fielen mehr Aufgaben
an als im Winter, der für die bäuerliche Bevölkerung relativ geruhsam war und
häufig für das Feiern privater Feste genutzt wurde, wie manchmal noch aus dem
überlieferten Liedgut hervorgeht. Diese Begrenzung des jährlichen
Leistungsquantums durch den Wechsel der Jahreszeiten fiel natürlich ebenfalls
ersatzlos weg, als der Leistungszwang mit der astronomischen Fließzeit des
betriebswirtschaftlichen Funktionsraumes systematisch entgrenzt
wurde. Nicht zuletzt war in den vorkapitalistischen Gesellschaften das, was
für uns formal wie ein "Arbeitstag" aussieht, keineswegs durchgängig
von angespannter Tätigkeit unter der Kontrolle einer objektivierten
ökonomischen Macht gekennzeichnet. Es gab zum Beispiel (aus moderner Sicht)
extrem lange Pausen, wie sie das betriebswirtschaftliche Regime niemals
zulassen könnte; vor allem stundenlange Mittagspausen mit geselligem Essen -
eine Sitte, die sich in den mediterranen und überhaupt südlichen Ländern noch
längere Zeit als im Norden erhalten hat, bis sie durch die kapitalistische
Industrialisierung auch dort dem Takt der abstrakten Fließzeit weichen mußte. Die vorkapitalistische produktive Tätigkeit war aber auch als solche
wenig verdichtet - also von heute aus gesehen sehr langsam und wenig intensiv.
Bei einer selbstbestimmten Tätigkeit ohne den Druck
der Konkurrenz ist dieser gemäßigte Zeittakt des Produzierens offenbar die
"natürliche" Art, wie Menschen sich in ihrer aktiven Tätigkeit
verhalten. Wir kennen diese Erfahrung gar nicht mehr. Denn unter dem stummen
Zwang der Konkurrenz auf anonymen Märkten wurde die "herausgelöste"
Zeit der Arbeit immer mehr verdichtet: Die Raffinesse in der Absaugung von
Lebensenergie steigerte sich mit Hilfe der sogenannten
"Rationalisierung der Zeit", die bis heute anhält. Im Laufe des 20.
Jahrhunderts hat sich diese neurotische Logik des "Zeitsparens" zur
offenen Paranoia gesteigert. Um dem an sich schon verrückten kapitalistischen
Selbstzweck trotz absoluter Begrenzung des astronomischen Tages permanent mehr
Leistung zuführen zu können, soll immer mehr Raum in die identischen Einheiten
der abstrakten astronomischen Fließzeit "hineingepackt" werden. Dieser absurde Drang möchte gewaltsam auch noch den astronomischen Tag
sprengen - der kapitalistischen Logik der Arbeit ist nichts unmöglich, was die
Produzenten des Kapitals noch mehr durch die Zeit hetzen könnte. So bastelt man
in Japan anscheinend allen Ernstes am 28-Stunden-Tag, wie die Presse berichtet:
"Mehr Zeit hat sich schon so mancher gewünscht...noch immer hat der Tag
nur 24 Stunden, und für alles, was es zu tun gibt, reichen diese nicht aus.
Doch wieso eigentlich 24 Stunden? Weil die Erdrotation 24 Stunden dauert,
lautet die gängige Antwort. Danach bestimmt sich der Rhythmus von Tag und
Nacht. Aber wie relevant ist das denn wirklich für unser heutiges Leben?...Wäre eine dem menschlichen Lebensrhythmus gut angepaßte Uhr nicht eine solche, die unserem Herzschlag
folgt? Pro Stunde ergibt sich ein Überschuß von 600
Sekunden, an einem 24-Stunden-Tag 14.400 Sekunden. Das sind genau vier Stunden.
Ist also, kurz gesagt, der 28-Stunden-Tag nicht das unserer Gattung angemessene
Maß der Zeit?...Noch bis ins 19. Jahrhundert hatten
viele Uhren nur einen Stundenzeiger...In Japan gab es noch in den siebziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts kein Wort für Sekunde. Heute aber ist man daran
gewöhnt, den Sekundenzeiger vorrücken zu sehen, wenn es Zeit für die
Fernsehnachrichten ist...So räsoniert jedenfalls Sports Train,
eine japanische Firma, die kürzlich >Montu<...auf
den Markt brachte, die erste 28-Stunden-Tag-Uhr...Die Arbeitgeber würden...auch
noch einen guten Schnitt machen, würden sie mit 28-Stunden-Tagen doch einen
ganzen Tag pro Woche einsparen. In der Tat sieht >Montu<
die Sechstagewoche vor..." (Coulmas 1999). Es ist verständlich, daß sich in den
Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zusammen mit der alten Arbeiterbewegung auch
die sozialistische Utopie der Arbeit allmählich verflüchtigt hat. Auch wenn
kaum jemand einen kritischen Begriff davon hat, so wissen doch heute alle
instinktiv, daß dem Kapitalismus mit einer Verklärung
seiner eigenen Tätigkeitsform nicht beizukommen ist. Daraus wird ebenso
instinktiv der Schluß gezogen, daß
keine Kapitalismuskritik mehr möglich sei. Während der allgemeine Arbeitszwang weiterbesteht, sind die sozialen Bewegungen insgesamt
erschlafft. Die kapitalistischen Menschen versuchen sich zunehmend in eine
individualisierte Utopie der Freizeit zu flüchten. Aber auch dort wartet schon
grinsend derselbe Kapitalismus, der die zur Arbeitszeit bloß komplementäre
Freizeit längst kolonisiert hat. Denn weil die Arbeit apriori
ein Verhältnis der Entmündigung ist, mußte es auch die
Freizeit werden. Die Freizeit ist keine befreite Zeit, sondern ein sekundärer
Funktionsraum des Kapitals. Es handelt sich nicht um freie Muße, sondern um
eine selber für den permanenten (und höchst angestrengten) Konsum von Waren
funktionalisierte Zeit. Auf diese Weise bilden einerseits die Kultur- und
Freizeitindustrie neue Sphären der Arbeit aus, andererseits wird auch die
Freizeit als solche der Arbeitszeit angeglichen. Nicht nur dann, wenn er Geld
"verdient", sondern auch wenn er Geld ausgibt, ist der
kapitalistische Mensch heute ein Arbeiter. Dieser Sachverhalt spiegelt nur die
allgemeine Tendenz, daß die "herausgelöste
Ökonomie" im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung die abgespaltenen
und zersplitterten Lebensbereiche allmählich mit ihrer eigenen Logik
durchdringt und sie gewissermaßen "einkassiert": Das Leben wird
wieder ein Ganzes, aber eben ein zur Gänze kapitalistisch integriertes. Die Widersprüchlichkeit dieser absurden Produktions- und Lebensweise,
die sich in der Vergangenheit auch als subjektiver Widerspruch, als Einspruch
gegen die Zumutungen geltend machte, hat sich ebenfalls fast ganz
verobjektiviert und erscheint nur noch als die Realität der Arbeitslosigkeit.
Diese allerdings steigt im globalen Maßstab dramatisch an. Nur im negativen
Sinne wird so der untragbare Widerspruch noch sichtbar. Arbeitslosigkeit im
Kapitalismus ist aber nicht einmal mehr Freizeit, sondern nur noch Armutszeit.
Die Arbeitslosen werden nicht in frei disponible Zeit entlassen, sondern in die
Überflüssigkeit ihrer Person. Nicht das Prinzip der Arbeit wird ungültig,
sondern die Existenz der Arbeitslosen. Die Fortsetzung der Arbeit bekommt eine
andere Qualität: Die Arbeit der Arbeitslosen besteht darin, jammervoll nach
neuer Arbeit suchen zu müssen, gehetzt und gedemütigt von der bürokratischen
Arbeits- und Armutsverwaltung. Nachdem die Utopie der Freizeit ebenso blamabel gescheitert ist wie die
Utopie der Arbeit, könnte der erlösende Einspruch jetzt nur noch darin
bestehen, das gesamte Bezugssystem zu verwerfen und sich aus dem Gefängnis der
kapitalistischen Kategorien zu befreien. Ein Zurück in die vormoderne
Agrargesellschaft ist weder möglich noch wünschenswert. Die historische Analyse
kann nur den Sinn haben, das groteske Missverhältnis aufzudecken, dass die ganze
ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte in der Moderne nur dazu gedient hat,
die freie Muße nahezu vollständig zu vernichten. Dem Kapitalismus kann nur noch
der Prozess gemacht werden, wenn der Arbeit selber der Prozess gemacht wird. Um
die Befangenheit der untergegangenen Arbeiterbewegung im positiven
kapitalistischen Arbeitsbegriff zu überwinden, ist durchaus noch einmal bei
Marx nachzuschlagen - allerdings bei jenem "dunklen" Marx, den die
Arbeitsmarxisten immer verlegen überblättert haben: "Die >Arbeit<
ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, vom
Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die
Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie
als Aufhebung der >Arbeit< gefasst wird" (Marx 1845). Literatur Coulmas,
Florian (1999), Montu bis Satsun,
in: Wirtschaftswoche 10/1999, Düsseldorf. Engels Friedrich (1946, zuerst 1896), Anteil der Arbeit an der
Menschwerdung des Affen, Berlin. Jünger, Ernst (1954), Das Sanduhrbuch, Frankfurt/Main. Kant, Immanuel (1979, zuerst 1781), Kritik der reinen Vernunft, Leipzig. Marx, Karl (1974, geschrieben 1857), Grundrisse der Kritik der
politischen Ökonomie, Berlin. Opaschowski,
Horst W. (1997), Einführung in die Freizeitwissenschaft, Opladen. Parker, Geoffrey (1990), Die militärische Revolution, Frankfurt/Main,
New York. Polanyi,
Karl (1995, zuerst 1944), The Great Transformation,
Frankfurt/Main. Sombart, Werner (1913), Krieg und Kapitalismus, Berlin. Zinn, Karl Georg (1989), Kanonen und Pest, Opladen.
Rezensionen zum
"Schwarzbuch Kapitalismus" Schwarzbuch des Kapitalismus aus Wikipedia,
der freien Enzyklopädie
Das "Schwarzbuch des Kapitalismus" ist ein 1999
erschienenes Buch von Robert Kurz. Die kapitalistischen Staaten der Gegenwart und der Vergangenheit werden
als ein "System der totalitären Weltmarkt-Demokratien", als
"totalitärer Markt",
"sozialökonomischer Totalitarismus" beschrieben. Die kapitalistischen
Diktaturen
und Demokratien sind nach Aussage des Autors nicht die Überwindung des Totalitarismus
sondern seine Vollendung, der "freie Markt" totalitärer als der
totalitäre Staat, welcher nur williger Erfüllungsgehilfe der Marktwirtschaft
sei. Der Kapitalismus zerstöre sich selbst, da er alles der
"entfremdeten Arbeit, dem Geldeinkommen und Warenkonsum unterordnet"
und da er zur "Entzivilisierung der Welt"
führe. Am Ende des Buch fordert der Autor auf,
aufzustehen "gegen die kapitalistische Krisenverwaltung jeglicher Couleur
mit ihrer trostlosen Perspektive von demokratischer Zwangsarbeit
und Billiglohn-Sklaverei". Er zählt die Opfer des Kapitalismus auf - die Opfer der Kriege, von Hunger, Armutskrankheiten und
Umweltzerstörung. Die soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit sei "nur
die Vollendung des Faschismus mit anderen, gemeineren Mitteln". Auch die
Staatswirtschaft der sozialistischen Staaten bezeichnet er als Kapitalismus, da
sich die dortigen Bürokraten in Wahrheit nach den Richtlinien und Dogmen des
kapitalistischen Weltsystems verhielten und nach dessen Kriterien den
westlichen Kapitalismus überflügeln wollten - durch höhere Arbeitsproduktivität, mittels Zinswirtschaft und
höherer Effizienz. Den Ideologen
der Marktwirtschaft, des Neoliberalismus und Kapitalismus (unter anderem auch
den Autoren des "Schwarzbuch des Kommunismus")
wirft er vor, einseitig die russischen, chinesischen und antikapitalistischen Revolutionäre
wegen Gewaltanwendung zu verurteilen, nicht jedoch ihre Gegner, den Zarismus und
die kapitalistischen Tyranneien - und nicht die prokapitalistischen
bürgerlichen Revolutionen in England (1648), in Frankreich (1789) und den USA (1777), wo es sich um
blutige Gemetzel gehandelt hat, wie in der Analyse des Autors die Geschichte
der Durchsetzung und der Herrschaft des Kapitalismus überhaupt mit Hunderten
Millionen Todesopfern, mit Folter, Elend, hoher Kindersterblichkeit, Armutkrankheiten,
Massenmorden, Terror,
Zwang, Unfreiheit, Kriegen, Menschenhandel, Zwangsarbeit, Zwangs- und
Kinderprostitution, Obdachlosigkeit, Massenenteignung und Hungersnöten
begleitet ist. Er wirft auch dem gegenwärtigen Kapitalismus - der "freien
Welt" und der Marktwirtschaft - vor, durchaus gleiche bzw. weitaus
höhere Opferzahlen als der Kommunismus zu produzieren, z.B. innerhalb der
"Dritten Welt" pro Tag über 100.000 Hungertote,
jährlich 7 Millionen verhungerte Kinder, in beiden Weltkriegen
etwa 75 Millionen Kriegstote. Dagegen und gegen die Säulen, Verteidiger und
Repräsentanten des Kapitalismus gewaltsam vorgegangen zu sein, kann nach
Meinung des Autors kein Vorwurf sein. Robert Kurz schlägt vor, die Reichtümer der Erde, die Bodenschätze, die
Landwirtschaft und die Maschinen so einsetzen, "dass allen Menschen ein
gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet ist".
Als ersten Schritt rät er, "sich der Gehirnwäsche
durch den Kapitalismus/Wirtschaftsliberalismus
zu entziehen". DIE ZEIT
51/1999 Schwarzbuch Kapitalismus Robert Kurz versenkt unser Wirtschaftssystem. Hat er Recht?
Eine Kontroverse Als vor ein paar Jahren das Schwarzbuch des Kommunismus
erschien, gab es gereizte Stimmen, die ein Schwarzbuch des Kapitalismus
forderten. Jetzt haben wir es. Allerdings macht Robert Kurz deutlich, dass
seine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Rekonstruktion des Kapitalismus nicht
den Zweck verfolgt, die Verbrechen des Kommunismus im Schatten derer des
Kapitalismus verschwinden zu lassen oder sie wenigstens zu relativieren.
Vielmehr kommt Kurz in einem zentralen Abschnitt seines Buches zu dem für
manche Leute vielleicht schockierenden Befund, dass der Kommunismus lediglich
ein Wechselbalg des Kapitalismus war, ein nachholender Industrialismus
unter roter Schminke. Am Anfang aller neuzeitlichen Menschenschinderei stand ohne
Zweifel der Kapitalismus. Sein bis heute nicht abgeschlossenes
"Modernisierungsprogramm", das alle Bereiche der Gesellschaft monetarisierte und der Logik des Marktes unterwarf, machte
aus Individuen Marktteilnehmer, aus Produzenten Lohnabhängige, aus Menschen
"Material" für den Verwertungsprozess des Kapitals. Wer diesem
Programm nicht folgen konnte oder wollte, fiel aus der Gesellschaft,
buchstäblich als Überflüssiger, heraus. Das ist heute, im Zeitalter des
Kasinokapitalismus mit seiner beschleunigten Massenproduktion von unbrauchbarem
"Menschenmaterial" nicht anders als vor 200 Jahren. Der Maßstab, den Kurz zur historischen
Bewertung des Kapitalismus anlegt, ist so simpel wie einleuchtend: Er fragt
danach, was dieses heute als alternativlos gepriesene Wirtschaftssystem der
Mehrheit der Bevölkerung an Lebensstandard, Mußezeit und allgemeinem
Wohlbefinden beschert hat, und da sieht die Bilanz ziemlich dürftig aus. Allein
die schlichte Tatsache, dass die Menschen im Kapitalismus immer (und bis heute)
mehr arbeiten mussten als in allen bekannten sozialen Ordnungen vor dem
Kapitalismus, gibt zu denken. Dieser gesteigerte Arbeitszwang, der, scheinbar
paradox, durch die Erfindung von arbeitssparenden Geräten keineswegs gemildert
wurde, hat damit zu tun, dass die Individuen nicht mehr für sich und ihre
Bedürfnisse produzierten, vielmehr für einen abstrakten Markt und für das
sinnfälligste Abstraktum der Moderne überhaupt - für Geld. In früheren Zeiten
arbeitete man, um zu leben; Geld war nur ein Mittel zum Zweck. Im Kapitalismus
lebt man, um zu arbeiten; Geld wird zum Zweck an sich. Es kann kein Zweifel bestehen, und die von Kurz
herangezogenen Quellen belegen es erdrückend, dass der Tanz um das Goldene
Kalb, von dem französischen Historiker Jules Michelet
schon vor 140 Jahren als "schreckliche Krankheit" gegeißelt, für die
Bevölkerungsmehrheit in den kapitalistischen Zentren einen massiven
ökonomischen und sozialen Abstieg, vielfach Hunger und absolutes Elend
bedeutete. Von den verheerenden Auswirkungen auf die kapitalistische
Peripherie, auf Asien, Afrika und Lateinamerika, zu schweigen. Die Dritte Welt
der Armut, des Hungers, der Seuchen, der Kindersterblichkeit, der Übervölkerung
und Massenmigrationen ist ein genuines Produkt des modernen Kapitalismus. Alle
Indikatoren sprechen dafür, dass die Menschen etwa in Afrika vor der
kapitalistischen Invasion besser und auskömmlicher existieren konnten als
heute, da der Kontinent im Dreck des reichen Westens versinkt. Zu den wichtigsten, allerdings gern verdrängten
Erkenntnissen, die das Schwarzbuch Kapitalismus bietet, gehört, dass
es immer nur relativ kurze Phasen waren, in denen ein expandierender
Kapitalismus so etwas wie Massenwohlstand hervorbrachte, und das auch das nur
in Westeuropa, Angloamerika und Japan. Seitdem der fordistische Boom -
von Kurz im Kapitel über die "totale Mobilmachung" der
Autogesellschaft eindrucksvoll illustriert - seinen letzten Seufzer getan hat,
also seit Mitte der siebziger Jahre, ist deutlich geworden, dass das alte
Erhardsche Versprechen "Wohlstand für alle" peu à peu kassiert wird.
Von "Vollbeschäftigung" kann schon lange keine Rede mehr sein;
vielmehr sind Unter- und Nichtbeschäftigung für immer größere Bevölkerungsteile
an der Tagesordnung und werden es im 21. Jahrhundert noch mehr sein. Nicht nur
in den USA geht schon bei den Mittelschichten die nackte Angst um. Die
Realeinkommen der Normalverdiener stagnieren seit Jahren oder sinken, während
der privilegierte Kreis der kapitalistischen Funktionseliten sich immer
schamloser bereichert. Alle heutigen Erhebungen und Statistiken plaudern aus, dass
die Kluft zwischen Arm und Reich stetig wächst, und zwar sowohl innerhalb der
kapitalistischen Metropolen als auch global im Nord-Süd-Verhältnis. Mit der dritten industriellen, der mikroelektronischen
Revolution, die gemäß betriebswirtschaftlichen Rentabilitätsprinzipien ganze
Arbeitspopulationen "freisetzt" und zu "unnützen Essern"
degradiert, gelangt der Kapitalismus zusehends an eine historische Schranke -
die Geldmaschine hat kein "Material" mehr, das sie verschlingen könnte,
seitdem sie Menschen als Produzenten nicht mehr braucht und seitdem die
natürlichen Ressourcen weitgehend vernutzt und das globale Ökosystem
irreversibel geschädigt ist. Der Kapitalismus kann nur noch an seiner
Selbstsprengung laborieren. In ihrer Verzweiflung darüber, dass das Geld
arbeitslos wird, lassen es die Shareholder in reiner Selbstbezüglichkeit um den
Erdball vagabundieren, um dergestalt "Wertsteigerungen" zu
realisieren, die völlig fiktiv, im Wortsinne gegenstandslos sind. Den
Zusammenbruch dieses überhitzten spekulativen Systems werden wir alle
auszubaden haben. Das Schwarzbuch Kapitalismus, mit dem Robert Kurz
ein großer Wurf, ein wahrhaft notwendiger Protest gelungen ist, richtet sich an
alle, die noch nicht gänzlich "verhausschweint"
sind und das totalitär gewordene kapitalistische Konkurrenzsystem zu ihrer
privaten Innenausstattung gemacht haben. Es beschwört solidarische Formen der
Vergesellschaftung jenseits der schwarzen Utopie des totalen Marktes, des
tödlichen Konkurrenzkampfs aller gegen alle und der törichten Ideologie der
"Selbstverwirklichung". Eine Gesellschaft atomisierter Einzelner,
beziehungsloser Sozialmonaden, in welcher jeder seines eigenen Unglücks Schmied
sein muss, ist nicht überlebensfähig. Wir brauchen, schrieb jüngst der
Ethnologe Hans Peter Duerr, "eine neue,
einfachere und ruhigere Zivilisation", die mit dem leeren, ziellosen Dynamismus des Kapitalismus bricht, indem sie sich auf die
humane Unvereinbarkeit des Menschen mit den Gesetzen des entfesselten Marktes
besinnt. Andernfalls droht uns jenes Schicksal, das der französische
Schriftsteller Michel Houellebecq in seinem Roman Elementarteilchen
mit unerbittlicher Schärfe auf die Leinwand unserer Zukunft projiziert hat:
dass wir an unserer Vereinzelung krepieren, jeder für sich. Das Schwarzbuch
Kapitalismus ist die wichtigste Veröffentlichung der letzten zehn
Jahre in Deutschland. Es schlägt keine Symptomkur
vor, sondern den radikalen Schnitt. Auf diese Radikalität haben wir lange
gewartet. Avanti popolo! · Robert Kurz: Schwarzbuch
Kapitalismus Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft; Eichborn Verlag,
Frankfurt am Main 1999; 816 S., 68,- DM Robert Kurz Aus dem "Schwarzbuch
Kapitalismus" Robert
Kurz Schwarzbuch
Kapitalismus Ein
Abgesang auf die Marktwirtschaft Ȇbrigens sah der Verurteilte
so hündisch ergeben aus, dass es den Anschein hatte, als
könnte man ihn frei auf den Abhängen herumlaufen lassen und müsse
bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit
er käme.« Franz
Kafka Inhalt Prolog 4 Modernisierung und Massenarmut 7 Marktwirtschaft macht arm 8 Weberelend und Weberaufstand 11 Die Geburt des Weltmarkts aus dem Geist des Absolutismus 13 Die schwarze Utopie der totalen Konkurrenz 18 Eine Gesellschaft von Ungeheuern 18 Private Laster als öffentliche Vorteile 25 Die Frau als Hündin des Mannes 29 Die unsichtbare Hand 36 Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl 42 Die Meuterei auf der Bounty 50 Die Geschichte der Ersten industriellen Revolution 57 Die Vernunft der Betriebswirtschaft 60 Die Mühlen des Teufels 62 Maschinenstürmer 70 Das Bevölkerungsgesetz: Verschwindet von der Erde! 78 Soziale Emanzipation oder staatsbürgerliche Nationalrevolution? 68 Die sozialdemokratische Sonntagsschule des Liberalismus 94 Freihandel und nachholender Nationalismus 100 Das Gesetz des Gleichgewichts und das industrielle Schneeballsystem 105 Das System der nationalen Imperien 112 Vater Staat 114 Gründerschwindel und Große Depression 123 Das Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit 128 Sozialistischer Absolutismus 133 Panzerkreuzer und Raubnationalismus 141 Ausgerechnet Bananen 149 Die Biologisierung der Weltgesellschaft 154 Der Kampf ums Dasein 155 Menschenzucht und Fortpflanzungshygiene 158 Rassenkampf und Weltverschwörung 162 Die deutsche Abstammungsgemeinschaft 168 Sozialismus der höheren Wirbeltiere 176 Die Geschichte der Zweiten industriellen Revolution 186 Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts 189 Henry Ford und die Geburt der Auto-Gesellschaft 205 Die Rationalisierung des Menschen 217 Weltwirtschaftskrise 234 Diktaturen und »Krieg der Welten« 248 Arbeitsstaat und Führersozialismus 254 Der verlorene Traum und der kapitalistische Furor 259 Die negative Fabrik Auschwitz 270 Löcher graben und Pyramiden bauen: die keynesianische
Revolution 279 Das System der totalitären Weltmarkt-Demokratien 289 Nagelneue Ruinen 289 Der totalitäre Markt 295 Totale Mobilmachung 303 Totalitärer Freizeitkapitalismus 317 Die totalitäre Demokratie 323 Der kurze Sommer des Wirtschaftswunders 327 Weltzerstörung und Bewusstseinskrise 332 Die Geschichte der Dritten industriellen Revolution 338 Visionen der Automatisierung 340 Die Wegrationalisierung des Menschen 346 Der Staat dankt ab 360 Der letzte Kreuzzug des Liberalismus 374 Die neue Massenarmut 391 Die Fata Morgana der Dienstleistungsgesellschaft 402 Kasinokapitalismus: Das Geld wird arbeitslos 408 Das Ende der Nationalökonomie 419 Die Dämonen erwachen 427 Epilog 438 Literatur 445 Prolog Das historische Gedächtnis der Menschen ist kurz. Sogar die eigene
Biografie verblasst in der Erinnerung. Was wissen wir noch wirklich von unserem
Leben, unseren Gedanken, Gefühlen und Befindlichkeiten vor zwanzig, dreißig
oder vierzig Jahren? Die meisten Menschen sind überrascht, wenn sie zufällig auf
einen objektiven dokumentarischen Beleg ihrer Vergangenheit stoßen und dann
feststellen müssen, wie sehr sich die einstige Realität oft von dem Bild
unterscheidet, das sie in ihrem Kopf davon gespeichert haben. Immer sind wir
andere und uns selbst fremd geworden. Es scheint aber weniger die begrenzte
Kapazität des menschlichen Gehirns zu sein, die solche Fehlleistungen der
Erinnerung bewirkt. Vielmehr sind wir in der Regel Verdrängungskünstler, die
sich die eigene Geschichte zurechtfärben und für das Selbstwertgefühl passend
legitimieren. Jeder Mensch affirmiert sein noch so
fadenscheiniges Ego, um möglichst bequem und unangefochten in seiner Haut leben
zu können, ohne sich selbst in Frage stellen zu müssen. Ähnliches gilt in verstärktem Maße für das kollektive Gedächtnis der
Menschheit. Alles, was hinter den Horizont des eigenen lebensgeschichtlichen
Anfangs zurückreicht, liegt für uns in einem noch schwärzeren Dunkel als die
persönliche Vergangenheit. Es kommt uns seltsam vor, wenn wir daran denken,
dass die Eltern und Großeltern, die doch so vertraut scheinen, ein Leben vor
unserem Leben hatten, das für uns immer wildfremd bleiben muss. Und hier
beginnt schon die Geschichte der Gesellschaft, denn jenseits der bloß
blutsverwandtschaftlichen Stammesorganisation, die in der modernen Welt
vollends auf die Kleinfamilie mit Dackel und in der postmodernen Version auf
den Single als Gesellschaftsatom geschrumpft ist, mischt sich in die
persönliche Geschichte der Generationen die kulturelle, politische und sozialökonomische
Geschichte. Abgesehen davon, dass der Habitus, die Umgangsformen und die
Klamotten der Vorvergangenheit immer zum Schreien komisch sind, wissen wir von
den wirklichen Umständen so gut wie gar nichts mehr. Die Erzählungen sind
bruchstückhaft und selber wieder von Verdrängungen gefärbt, so dass die
Geschichte wahlweise als »die gute alte Zeit« oder umgekehrt als »die
schlechten Zeiten« firmiert; oder als beides zusammen, denn um unaufgelöste
Widersprüche ist der Alltagsverstand nie verlegen. Die »Ich war dabei-Geschichten sind so ziemlich die unzuverlässigsten. Wie sich aber die einzelne Person selbst lebensgeschichtlich
legitimiert, so erst recht die herrschende Struktur der Gesellschaft. In die
persönlichen Erinnerungen dringen wie Ätzmittel die ideologische
Selbstrechtfertigung und die offizielle, in den Schulbüchern kolportierte
Geschichtsschreibung der bestehenden Machtverhältnisse ein, setzen das Denken
unter Druck und drohen es aufzulösen. Zur persönlichen Selbstzensur addiert
sich die gesellschaftliche. Weltmeister in dieser Hinsicht ist der moderne
Kapitalismus. Noch keine Gesellschaft in der menschlichen Geschichte hat sich
derart unverfroren als Absolutes gesetzt. Das totale Marktsystem färbt seine
eigene Geschichte aber nicht bloß schön, sondern löscht sie sogar großenteils
aus. Der »homo oeconomicus« lebt quasi im Zeithorizont eines kleinen Kindes;
nämlich in einer ewigen Gegenwart von Markthandlungen, die alle auf derselben
zeitlosen Ebene stattzufinden scheinen. Beschwört der konservative Geist die
Geschichte, um sie im Namen der Autorität zu verfälschen, so verscherbelt der
wirtschaftsliberale Geist die Geschichte wie Unterhosen, Kampfbomber,
Fertigsuppen und andere Marktgegenstände, in die sich die erfahrbare Welt
unterschiedslos verwandelt. Und war schon die mündliche Überlieferung
mythologisch standardisiert, so enthistorisieren die
kapitalistischen Medien die Geschichte selbst und lösen sie in die Ökonomie des
Marktes auf. Diese Methode ist ideologisch vorteilhafter als alle bloßen Geschichtsklitterungen.
Denn die Beliebigkeit der bunten Warenwelt verschluckt jede objektive Wahrheit,
und die so genannte Postmoderne ist ja folgerichtig nicht nur beim totalen
Markt, sondern auch beim totalen Relativismus gelandet, also in einer Paradoxie.
»Alles ist nur ein Film«. Somit entfällt jede kritische Reflexion über das
historische Gewordensein »dessen, was ist«. Es »ist« einfach und damit Schluss.
Für dieses Denken (oder vielmehr für diese Gedankenlosigkeit) kommt allerdings
dem medialen oder ideologischen Schein genauso viel Tatsachengehalt zu wie dem
realen Sein; genauer gesagt »scheint« es keinen Unterschied zwischen Realität
und Inszenierung mehr zu geben. Die Lüge ist genauso wahr wie die Wahrheit, und
somit leben wir mitsamt unserer demokratischen Freiheit längst in einer
Orwellschen Welt.»1984« liegt ja auch schon hinter uns, nur hat es niemand
bemerkt. Während der einem zynischen Realismus verfallene Marktmensch sich
einbildet, das aufgeklärteste Wesen der Welt zu sein,
lässt er nahezu alles mit sich machen, nimmt die unglaublichsten Zumutungen
fatalistischer hin als ein orientalischer Mystiker und lässt sich größeren
Unsinn einreden als ein mittelalterlicher Bauer. Weil er jeden Maßstab verloren
hat, kann er weiß und schwarz nicht mehr unterscheiden; und ob ihm etwas weh
tut, muss er den Diagnosen von Experten oder der Statistik entnehmen. Erst
dieser komplette, seiner kritischen Vernunft beraubte und entmündigte Idiot ist
reif für eine flächendeckende Marktwirtschaft, an deren »Gesetze« er glauben
darf wie der feudale Hintersasse an die Realexistenz von Hölle und Fegefeuer. Der letzte kümmerliche Rest eines Maßstabs schien in der
Nachkriegsgeschichte die Tatsache des Systemkonflikts zwischen Ost und West zu
sein. Es war freilich ein allzu billiges Maß, an dem sich der kapitalistische
Westen dabei selber messen konnte. Denn bekanntlich ging der bürokratische
Staatssozialismus nirgendwo aus der Krisenreife eines
kapitalistischen Systems hervor, sondern im Gegenteil aus einer Krise der
»Unterentwicklung« an der Peripherie des Weltmarkts in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Regimes der
»nachholenden Modernisierung« im Osten und Süden nicht nur in einer lediglich
anderen ideologischen Verkleidung die längst vergessenen und verdrängten
westlichen Frühformen des Kapitalismus wiederholten, um eine moderne
industrielle Warenwirtschaft im Schnelldurchgang aus dem Boden zu stampfen; sie
ahmten auch bis zur Lächerlichkeit die Affekte und die Mythologie der bürgerlichen
Revolutionen, die kapitalistischen Lebensformen und sogar noch das westliche
Design nach. Der Osten war insofern von Anfang an keine historische
Alternative, sondern immer nur eine gröbere, eher mickrige und auf halbem Weg stecken gebliebene Billigversion des Westens selbst. Die
ökonomische und technologische Überlegenheit des westlichen Kapitalismus war
nie mehr als diejenige eines älteren Bruders, der den jüngeren gewohnheitsmäßig
zusammenschlägt und darauf auch noch stolz ist. Nur die bis zur Vollendung gediehene Geschichtsblindheit machte es
möglich, dass der Zusammenbruch des vorsintflutlichen Staatssozialismus als
kapitalistischer Endsieg und als Endlösung der sozialen Frage ausgerufen werden
konnte. Es erscheint heute mehr denn je als undenkbar, dass die gemeinsamen
Geschäftsgrundlagen des modernen warenproduzierenden
Systems, an denen sich die historischen Nachzügler ihrerseits von Anfang an
messen lassen mussten, selber zum Auslaufmodell werden könnten. Zwar haben sich
alle kapitalistischen Verheißungen seit 1989 als Luftblasen erwiesen. Die
offenen Märkte des Ostens bescherten der westlichen Gesellschaft kein neues
Wirtschaftswunder, sondern nur eine desperate Billiglohn-Konkurrenz. Und die
Menschen des Ostens reiben sich ungläubig die Augen, weil sie feststellen
müssen, dass noch die finstersten Ideologen des Kasernenkommunismus, deren
Lügenpropaganda über die eigene Herrschaft doch so durchsichtig und jämmerlich
gewesen war, die sozialen Defizite der westlichen Marktwirtschaft mit boshafter
Präzision durchaus zutreffend beschrieben hatten. Aber die Idee ist paralysiert, die utopischen Energien scheinen
verbraucht. Nach dem Ende der Geschichte herrschen Verwirrung und innere
Verhärtung. Die Hoffnung wird irre, weil sie keine Alternative mehr denken
kann. Sogar der gemäßigte Reformismus bricht zusammen. Der Kapitalismus ist von
der Kette und zeigt ein Gesicht, das ihm so bösartig viele nicht mehr zugetraut
hätten. Eine wüste Konzeptheckerei hat begonnen, die
mit einem absurden Billigvorschlag nach dem ändern aufwartet, um die schier
unaufhaltsame sozialökonomische Krise auf dem Boden der »alternativlosen«
Marktwirtschaft zu bannen. Die Selbstzensur des kapitalistischen Menschen, die
wirksamer ist als jede Polizeibehörde, hat zum Ende des kritischen Denkens
geführt. Nicht einmal die Subkultur ist mehr oppositionell. Um eine neue, andere Alternative wieder denken zu können, muss zuerst
die Geschichte rehabilitiert werden. Den scheinbar ahistorisch
gewordenen Kapitalismus gilt es zu historisieren. Das ist heute keine Frage
mehr, die sich auf das unverbindliche Reich des Gedankens beschränken könnte.
In Wahrheit haben wir die historische Schmerzgrenze der Marktwirtschaft
erreicht, deren ökonomischer Totalitarismus unerträglich zu werden beginnt. Während
die letzten kalten Krieger immer noch von der »freien Welt« faseln, entpuppt
sich das planetarische System des Kapitalismus als eine Gesellschaft, »die
dabei ist, buchstäblich verrückt zu werden« (Oskar Negt).
Das ist bekanntlich das Schicksal jeder Hybris. Eine Selbstheilung der
Gesellschaft, eine Rückkehr auf den sozialen und ökologischen Boden der
Tatsachen, eine Beruhigung des enthemmten und entgrenzten
Fortschritts, ein erträgliches gesellschaftliches Leben und eine
Grundgeborgenheit als Voraussetzung von Mitgefühl, generativer Verantwortung
und ideeller Reflexion werden nur möglich sein, wenn dem absurd und
gemeingefährlich gewordenen System der totalen Konkurrenz von atomisierten
Individuen der Spiegel seiner eigenen Geschichte vorgehalten wird, damit die
Selbsterkenntnis des kapitalistischen Menschen ein Ende des Kapitalismus ohne
Schrecken erleichtert. Nicht bloß vordergründig ist diese Geschichte vor allem eine
Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Denn wenn »das Medium die Botschaft ist«
(Marshall McLuhan), dann kann die Geschichte des modernen »homo oeconomicus« in
der Tat nur die Geschichte seiner Ökonomie sein, die Geschichte der »Produktivkräftentwicklung«, die Geschichte der
Konjunkturen, der Krisen und des abstrakten Geldreichtums. Mit der
Gewaltsamkeit und den ungeheuren Potentialen dieser Geschichte kontrastiert
ihre nicht weniger ungeheure Trivialität. Nachdem die existentiellen,
metaphysischen und erkenntnistheoretischen Fragen der Menschheit durch die so
genannten Marktgesetze erstickt worden sind, bleibt nur die triviale Metaphysik
des Geldes übrig. Die Abenteuer sind zu Ende, denn in der totalen Banalität des
Marktes gibt es nichts zu entdecken und nichts zu erleben. Da hilft kein Risikosport und kein Erlebnistourismus im Himalaya mehr. Der Held der Woche heißt z. B. Hartwig Piepenbrock, »Herr einer riesigen Putzkolonne« von 30000
Billiglohn-Schrubbern (Wirtschaftswoche 37/1996), dessen Lebensziel es ist, in
der Billiglohn-Schrubber-Branche der Größte zu werden. Die historische Schmerzgrenze
der Marktwirtschaft ist auch diejenige ihres Weltbildes, ihrer »Warenästhetik«
(W. F. Haug) und der peinlichen Borniertheit des menschlichen Strebens. Eine Schmerzgrenze ist folgenlos nicht überschreitbar. Jenseits dieser
Grenze ist der Patient entweder tot oder ein anderer. Die überfällige
Historisierung des Kapitalismus kann allerdings nicht mehr von den
Binnenkonflikten der bisherigen Modernisierungsgeschichte ausgehen. Sie muss
das Ganze in den Blick nehmen, d. h. aus der Analyse des Gewordenseins auf das
Ende schließen. Die Ironie der Geschichte könnte es sein, dass für den
Kapitalismus absoluter Triumph und Endkrise historisch zusammenfallen. Dass diese unerwartete Krise
freilich ganz anders aussieht, als früher gedacht, ergibt sich aus dem Zerfall
des bisherigen Bezugssystems selbst. Die gegenwärtige weltweite
»Standort«-Debatte ist deswegen so grotesk, weil sie nicht realisieren will,
dass das flächendeckende System marktwirtschaftlicher »Arbeitsplätze« sich
heute selbst zerstört und unmöglich geworden ist. Natürlich verweist auch die
Arbeitsplatzfrage auf die Geschichte. Die kapitalistische Industrialisierung,
die im späten 18. Jahrhundert angestoßen wurde, tritt in das Stadium der
Ausweglosigkeit ein. Es kann nur noch ein Abenteuer geben: die Überwindung der
Marktwirtschaft jenseits der alten staatssozialistischen Ideen. Danach mag eine
andere Geschichte beginnen. "Die Mühlen des Teufels" - so "schwarz" ist der Kapitalismus! (...) "Unter dem Diktat des betriebswirtschaftlichen Kalküls
konnte die Erste industrielle Revolution die sozialen Katastrophen des
Kapitalismus nicht mildern, sondern nur verstärken. Die Konkurrenz von billiger
Sklavenarbeit des peripheren Agro-Kapitalismus und
die Konkurrenz der arbeitsteiligen Staatsmanufakturen potenzierten sich durch
die Konkurrenz des Maschinensystems. Schon die ersten Takte des neuen
Industriezeitalters führten daher auch zu einer ersten technologisch
forcierten, strukturellen Massenarbeitslosigkeit, wie sie heute auf viel
höherer Stufenleiter erneut zu beobachten ist. Aber im frühen 19. Jahrhundert
war diese Arbeitslosigkeit der Transformation des gerade erst entstehenden
Industriesystems geschuldet und betraf vor allem die untergehenden
handwerklichen Produzenten, die nun endgültig kapitulieren mussten. Außerdem
konzentrierte sie sich auf den einen großen, immer noch paradigmatischen
Produktionszweig der Textilindustrie, während in anderen Bereichen die alten
Verhältnisse noch wesentlich länger aushielten. Sowohl in England selbst als auch in ganz Europa wurde das
gesamte Textilhandwerk durch die billige englische Fabrikware ruiniert. Die
Goetheschen Spinner und Weber von 1820 hatten zu Recht schwarzgesehen, und auch
noch der schlesische Weberaufstand von 1844 war indirekt durch die
Maschinenkonkurrenz mitverursacht. Das gesamte
Verlagswesen und damit die abhängige Heimindustrie schmolzen dahin und wurden
durch Fabriken mit großen, immer häufiger dampfgetriebenen Maschinenaggregaten
ersetzt. Aus der von den Verlegern ausgepressten »arbeitenden Armut« nach dem
Muster der schlesischen und böhmischen Webersiedlungen wurden die vollständige
Arbeitslosigkeit und die soziale Verödung ganzer Landstriche. Die erste große Welle der Massenarbeitslosigkeit und
vagabundierenden Armut war seit dem 16. Jahrhundert unter der ländlichen
Bevölkerung durch die Konkurrenz der Sklavenhalter-Latifundien für den
Weltmarkt und durch brutale Vertreibungsaktionen der Landlords wie in England
entstanden, die Platz für ihre gewinnbringende Schafzucht brauchten. Die
ruinierten und vertriebenen Landbewohner strömten in die Städte, vor allem nach
London, und bildeten dort die Millionenarmee eines »arbeitslosen« sozialen
Bodensatzes in wuchernden Slums (»Schlammvierteln «), durch die sich die Städte
zu riesigen Agglomerationen aufblähten. Denselben Prozess finden wir heute
überall in der Dritten Welt: Die einen werden zu Sklavenbedingungen auf die
Weltmarkt-Plantagen gezwungen, die anderen wandern ab in die Slums der 10- und
20-Millionenstädte, die immer noch unaufhörlich weiterwachsen.
Das Schreckensbild einer solchen »Dritten Welt« war damals London (und ist es
heute unter dem neoliberalen Regime wieder geworden). Mit der industriellen Revolution kam die zweite große Welle
der Massenarbeitslosigkeit, die bald das gesamte Textilhandwerk erfasst hatte.
Zu den Elendsmassen der ehemaligen Bauern gesellten sich nun die Massen der
arbeitslosen ehemaligen Textilproduzenten; und durch die Konkurrenz auf den
Märkten strahlte dieser Prozess in großem Maßstab auch auf den Kontinent aus.
Nur ein Teil der Arbeitslosen fand im entstehenden Fabriksystem eine neue
Existenz. Aber zu welchen Bedingungen! Die völlig entwurzelten Menschen mussten
sich um jeden Preis verkaufen und wurden Arbeitsformen unterworfen, die jeder
Beschreibung spotten. Neben den halbsklavischen Landarbeitern, Bettlern,
Vagabunden, Insassen der Arbeits- und Armenhäuser und verslumten
Gelegenheitsarbeitern entstand eine neue Kategorie von »arbeitenden Armen«: das
Fabrikproletariat. Nicht alle Intellektuellen zeigten sich dieser Erniedrigung
des Menschen gegenüber so ignorant und zynisch wie die großen
Aufklärungsphilosophen. Ungefähr zur selben Zeit, als die bürgerliche
»Tugendmaschine« des Dr. Guillotin in Aktion trat und
der liberale Gemütsmensch Bentham seine Kosten
sparende Prügelmaschine entwarf, griff der englische Mystiker und
Frühromantiker William Blake (1757-1827) den Alptraum des beginnenden
Fabriksystems in dunklen Versen an: Und schien einst Gottes Angesicht Auf unsere bewölkte Flur? Und wurde Jerusalem erbaut Zwischen finstern Mühlen des Satans nur? Die den modernen Philologen (und schon den
»hochkulturellen« Zeitgenossen) oft als verstiegen erscheinende Lyrik Blakes
war in Wirklichkeit, wie der englische Sozialhistoriker Edward P. Thompson
bemerkt, »die einzigartige und unverfälschte Stimme einer langen
Volkstradition« (Thompson 1987/1963, 57); und gerade die letzte Verszeile der
obigen Gedichtstrophe erwies sich als ein Volltreffer: Die »Mühlen
des Teufels« wurden als
Bezeichnung für die Fabriken zum geflügelten Wort, das die vom Kapitalismus
Erniedrigten und Beleidigten aus tiefstem Herzen nachempfinden konnten. Denn
die »Arbeitsplätze« der Ersten industriellen Revolution waren in der Tat wahre
Höllenlöcher. Die Maßlosigkeit des betriebswirtschaftlichen Kalküls erzwang
gerade durch die arbeitssparenden Maschinen ein drakonisches Arbeitsregime, das
bis zur totalen physischen Auspowerung der Arbeitenden ging. Dies betraf sowohl
die direkten Arbeitsbedingungen als auch die allgemeinen Lebensbedingungen. Das
privatkapitalistische industrielle Fabriksystem setzte die schlimmsten
Erscheinungen des staatlichen Manufaktursystems fort, übertraf und
verallgemeinerte sie. Über die Fabrikhöllen der Ersten industriellen Revolution
in England liegt eine Fülle von Dokumenten und Untersuchungen vor. Bis heute
unübertroffen ist in dieser Hinsicht jenes Werk, das 1845 ein junger deutscher
Intellektueller vorlegte: Als Sohn eines Wuppertaler Spinnereibesitzers hatte
er einige Zeit geschäftlich in England verbracht und mit wachem Interesse die
neue »Arbeiterfrage « des Fabriksystems aus eigener Anschauung studiert. Das
Buch des 25-jährigen Friedrich Engels über »Die Lage der arbeitenden Klasse in
England« erregte nicht nur zeitgenössisches Aufsehen durch seine unbestechliche
Sicht damaliger Fabrikverhältnisse, sondern bietet grundsätzliche Einsichten in
die sozialen Zerstörungsmechanismen betriebswirtschaftlicher Rationalität
überhaupt. Ins Auge stechend sind natürlich besonders jene Aspekte der
»Mühlen des Teufels«, die der westmitteleuropäische kapitalistische
Normalmensch heute für überwunden hält und als böse Märchen aus einer
schlimmen, aber lange vergangenen Zeit eher gelangweilt zur Kenntnis nimmt.
Dies betrifft vor allem die Schrecken der unmenschlich langen Arbeitszeit, der
Kinderarbeit und der Lebensbedingungen eines absoluten Elends. Hatte der
Frühkapitalismus seit dem 16. Jahrhundert die Arbeitszeiten schrittweise immer
mehr ausgedehnt, so kannte das industriekapitalistische Fabriksystem in dieser
Hinsicht kein Halten mehr. Das betriebswirtschaftliche Kalkül trieb die
tägliche Arbeitszeit auf 12,14,16 und teilweise sogar mehr Stunden hinauf, und
die Kinder wurden dabei am allerwenigsten geschont. Der kannibalistische
Kinderfraß der Marktwirtschaft verlagerte sich von der indirekten Form der aus
der Gesellschaft herausgefallenen Bettelarmut (wie
bei Swift) auf die direkte Verwurstung von Kinderkörpern in den Fabriken. Vor
einer solchen Höllenfolter schreckten sogar die zur Untersuchung dieser
Verhältnisse eingesetzten Kommissäre zurück, die eigentlich durchaus dem
liberalen Unternehmertum wohl gesonnen waren. Engels zitiert aus einem
einschlägigen Untersuchungsbericht des Kommissärs Dr. Loudon: »Ich denke, es ist klar genug bewiesen worden, dass Kinder
unvernünftig und unbarmherzig lange haben arbeiten und selbst Erwachsene ein
Quantum Arbeit übernehmen müssen, das kaum irgendein
menschliches Wesen aushärten kann. Die Folge davon ist, dass viele vor der Zeit
gestorben, andere lebenslänglich mit einer fehlerhaften Konstitution behaftet worden
sind [...]« (Engels 1976/1845, 381). So sah also die soziale Wirkung der arbeitssparenden
Maschinen in der »wohlfahrtssteigernden«
marktwirtschaftlichen Praxis aus. Der maßlose Hunger der Kapitalmaschine nach
abstrakten menschlichen Arbeitsquanten ließ wirklich keine Scheußlichkeit aus,
wie der junge Engels voll Zorn feststellt: »Und wenn man erst die Barbarei der einzelnen Fälle liest,
wie die Kinder von den Aufsehern nackt aus dem Bette geholt, mit den Kleidern
auf dem Arm unter Schlägen und Tritten in die Fabriken gejagt [...] wurden, wie
ihnen der Schlaf mit Schlägen vertrieben, wie sie trotzdem über der Arbeit
eingeschlafen, wie ein armes Kind noch im Schlaf, und nachdem die Maschine
stillgesetzt war, auf den Zuruf des Aufsehers aufsprang und mit geschlossenen
Augen die Handgriffe seiner Arbeit durchmachte, wenn man liest, wie die Kinder,
zu müde, nach Hause zu gehen, sich im Trockenzimmer unter der Wolle verbargen,
um dort zu schlafen, und nur mit dem Riemen aus der Fabrik getrieben werden konnten,
wie viele Hunderte jeden Abend so müde nach Hause kamen, dass sie vor
Schläfrigkeit und Mangel an Appetit ihr Abendbrot nicht verzehren konnten
[...]; wenn man das alles und noch hundert andere Infamien und Schändlichkeiten
in diesem einen Berichte liest, alle auf den Eid bezeugt, durch mehrere Zeugen
bestätigt, [...] wenn man bedenkt, dass [...] die Kommissäre selbst auf Seiten
der Bourgeoisie sind und alles das wider Willen berichten - so soll man nicht
entrüstet, nicht ingrimmig werden über diese Klasse, die sich mit
Menschenfreundlichkeit und Aufopferung brüstet, während es ihr einzig auf die
Füllung ihrer Börsen ä tout prix ankommt?« (Engels, a.a.O.,
388 f.) Vielleicht hatte Engels noch nicht genug Bentham gelesen, um all das zu verstehen und für »natürlich
« zu halten. Die Unmenschlichkeit war aber gerade deswegen so gnadenlos, weil
sie nicht aus bloß subjektiver Bereicherungssucht herrührte, sondern aus den
strukturellen Bedingungen von Konkurrenz und betriebswirtschaftlicher
Rationalität, die auch noch den sanftesten Menschen durch die Wirkungen seines
ökonomisch bestimmten Handelns zu einer Bestialität objektivieren, wie sie kein
sadistischer KZ-Aufseher sich schlimmer auszudenken vermöchte. Dass überhaupt Kinderarbeit in großem Maßstab »angewendet«
werden konnte, war wiederum den Maschinen zu verdanken, die nicht nur an sich
arbeitssparend waren, sondern auch menschliche Muskelkraft durch Dampfkraft
ersetzten. Kinder sind nicht konkurrenzstark und wenig organisationsfähig. So
folgte die Kinderarbeit ebenso wie die maßlose Verlängerung der Arbeitszeiten
wie von selbst aus dem ökonomischen Kalkül, dessen Raffinesse nun erwachsene
Männer dazu zwang, mit dem Billigpreis kindlicher Arbeitskraft konkurrieren zu
müssen. Der Ruin der selbständigen Handwerker wurde dadurch ungeheuer
beschleunigt, denn gegen die Kombination von Maschineneinsatz und billiger
Kinderarbeit konnten sie nicht bestehen und ihre Erlöse fielen auf ein
beschämendes Niveau unter dem Existenzminimum, wie eine Untersuchung über die Löhne
der Textilarbeiter in Württemberg Anfang des 19. Jahrhunderts zeigt: »Ein
württembergischer Handspinner verdiente danach bei einer Arbeitszeit von 6 bis
22 Uhr soviel wie ein Fabrikkind in einer Maschinenspinnerei bei 12- bis
14-stündiger Arbeitszeit und die Hälfte bis ein Drittel des Lohnes einer
erwachsenen Fabrikarbeiterin« (Fischer 1992, 140). In vielen Fällen wurden also erwachsene Männer arbeitslos,
während Kinder und Frauen zu Niedriglöhnen in den industriellen Fabriken
beschäftigt wurden. Und es ist Augenwischerei, solche Verhältnisse einer bloßen
historischen Verirrung zuzuschreiben und heute für grundsätzlich überwunden zu
halten. Dass es selbst in den westlichen Kernländern mehr als eines
Jahrhunderts erbitterter Auseinandersetzungen bedurfte, um wenigstens die
gröbsten Brutalitäten des Fabriksystems zu mildern, zeigt nur eines: dass
nämlich der im ökonomischen Kalkül verankerte Liberalismus grundsätzlich und
unabhängig von jedem subjektiven Empfinden dazu tendiert, die kapitalistischen
Scheußlichkeiten der »Mühlen des Teufels« zu wiederholen, sobald er von der
Kette ist. Die maßlose Verlängerung der Arbeitszeit und die maßlose Anwendung
von Kinderarbeit ist relativ unabhängig vom technologischen Niveau in der
Struktur betriebswirtschaftlicher Rationalität als solcher angelegt und kann
jederzeit wieder hervorbrechen, solange diese Rationalität selber nicht durch
einen emanzipatorischen Aufstand gegen die Marktwirtschaft zerstört wird. In Wahrheit konnte die Kinderarbeit nur in wenigen historischen
Gewinnerländern des Weltmarkts beseitigt werden (und selbst in diesen nur
zeitweilig). Für den größten Teil der Menschheit haben die frühindustrielle
Auspowerung der Arbeitskraft und insbesondere die Kinderarbeit mit allen ihren
Schrecken niemals aufgehört; heute versucht man sich mit solchen Methoden an
der kapitalistischen Peripherie gegenüber dem hohen Kapitaleinsatz der Zentren
konkurrenzfähig zu halten. Sobald das ökonomische Kalkül einmal anerkannt und
axiomatisch geworden ist, tendiert das soziale Bewusstsein der Gesellschaft
dazu, die Wirkungen zu beschönigen und nur noch verzerrt wahrzunehmen; nur die
klügsten Köpfe des affirmativen Denkens zeigen durch offenen Zynismus, dass sie
den Sachverhalt durchschauen. Die frühindustriellen Unternehmer sahen sich
großenteils allen Ernstes als Wohltäter, die Bettelkinder von der Straße
wegholen und einer »nützlichen« Vorsicht, Bentham
Betätigung zuführen. Der liberale Management-Theoretiker Andrew Ure (1778-1857)
wollte bei der Betrachtung der Kinder in den Teufelsmühlen folgende
paradiesische Szenen gesehen haben: »Es war entzückend (delightful),
die Hurtigkeit zu beobachten, mit der sie die zerrissenen Fäden wieder vereinigten, sowie der Mule-Wagen
zurückging [...] Die Arbeit dieser flüchtigen (lively)
Elfen schien einem Spiel zu gleichen, worin ihnen ihre Übung eine gefällige
Gewandtheit gab« (zit. nach Engels, a.a.O., 390). Nicht viel anders ist die Betrachtungsweise heute in der
kapitalistischen Peripherie - und indirekt auch bei den westlichen Wohltätigkeitsorganisationen,
die allesamt nicht im Traum daran denken, die Marktwirtschaft und das ihr inhärente ökonomische Kalkül anzugreifen. Seitdem dieses
System nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus vermeintlich
»alternativlos« geworden ist, hat sich sogar bei christlichen Kinderhilfswerken
eine ebenso erstaunliche wie konformistische ideologische Wendung vollzogen.
Die industrielle Kinderarbeit in den Ländern der kapitalistischen Peripherie
wird nun mit fast denselben Argumenten wie seitens der frühindustriellen
Unternehmer grundsätzlich gerechtfertigt; und zwar sei die Alternative ja doch
nur Bettelei, Prostitution und noch größere Verelendung der Familien. Nur
innerhalb der Marktwirtschaft ist das richtig, aber wer kann eine solche
Alternative hinnehmen, ohne sich vollständig zu diskreditieren? Die
Hilfsorganisationen lassen sich also von liberalen »Experten« nur allzu willig
an der Nase herumführen, dozieren als marktwirtschaftliche Musterschüler
altklug über »ökonomische Notwendigkeiten« und orientieren nur noch auf eine
(blauäugig für machbar gehaltene) Milderung und soziale Verbesserung der
globalen Kinderarbeit, die sich übrigens auch heute im Wesentlichen noch auf
die Textilindustrie konzentriert. Damit beweisen diese Organisationen ungewollt,
dass jede grundsätzliche Akzeptanz der Marktwirtschaft als allgemeiner Form der
Reproduktion noch den überzeugtesten Gutmenschen
vollautomatisch in ein objektiviertes Scheusal des Kapitals verwandelt, das in Benthamscher Gemütsruhe am »Glück« der Menschheit zu
basteln glaubt. Und weil sich die »Mühlen des Teufels« für Millionen von
Kindern Tag für Tag weiterdrehen und ein Ende dieser Hölle nur durch die
Verbindung der Hilfstätigkeit mit radikaler Kritik der kapitalistischen
Produktionsweise und ihres Marktsystems zu haben wäre, diese aber verweigert
wird - trifft jenes Wort von Terroristen jeglicher Couleur, die irrational auf
die irre Vernunft der Aufklärung reagieren, als Bumerang dieser Vernunft ins
Schwarze: »Es gibt keine Unschuldigen«. Die Bombe, die den zufälligen
Passanten in Stücke reißt, ist ebenso sinnlos wie das unaufhörliche
marktwirtschaftliche Verheizen von Kinderfleisch, für das der Passant keine
persönliche Verantwortung trägt, an dem er aber besinnungslos immer schon
beteiligt ist. Wenn die gesellschaftliche Maschine solche Wirkungen
hervorbringt, ruft der junge Engels in seinem ersten Buch aus, »so ist das
ebenso gut Mord wie die Tat des einzelnen, nur versteckter, heimtückischer
Mord, ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein
scheint, weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch wieder niemand
dieser Mörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht
und weil er weniger eine Begehungssünde als eine Unterlassungssünde ist. Aber
er bleibt Mord« (Engels, a.a.O., 325). Es ist aber keineswegs bloß die im Weltmaßstab bis heute
nicht überwundene und dem ökonomischen Kalkül wesenseigene Maßlosigkeit der
Arbeitszeiten und der Kinderarbeit, die den Charakter der »Mühlen des Teufels«
ausmacht. Selbst wenn die Arbeitszeit ein wenig verkürzt und die Kinderarbeit
abgeschafft würde, blieben jene an ihr selber unaufhebbaren Momente der Betriebswirtschaft
zurück, die Karl Marx mit dem allgemeinen Begriff der »Entfremdung« bezeichnet
hat: Wer Geld verdienen muss in den »dark satanic
mills«, der muss sich selber fremd werden, ohne es am Ende überhaupt noch
zu merken. Das ist ein keineswegs schwer einsehbarer Sachverhalt. Denn der
objektivierte Selbstzweck der Kapitalverwertung entzieht den Lohnarbeitern
ebenso wie dem Management jegliche Selbstbestimmung über das
Zweck-Mittel-Verhältnis ihrer Tätigkeit. Erst das Auseinanderfallen von
Produktion und Konsumtion, die anonyme Tätigkeit für den anonymen Markt ohne
bewusste Verständigung über den inhaltlichen Sinn und Zweck, getrieben von den
Zwängen der Konkurrenz, macht die Tätigkeit aller Beteiligten zur »abstrakten
Arbeit«. »Der Arbeiter«, so schrieb der 28-jährige Emigrant Karl Marx 1844 in
sein Pariser Notizbuch, »fühlt sich erst außer der Arbeit bei sich und in der
Arbeit außer sich« (Marx 1968/1844, 55). Und der junge Engels
brachte in seinem ein Jahr später erschienenen Buch erstmals das Lebensgefühl
auf den Punkt, das den geldverdienenden
Arbeitsmenschen bis heute niemals losgelassen hat, auch wenn es ins Unbewusste
gerutscht ist: »Nichts ist fürchterlicher, als alle Tage von morgens bis
abends etwas tun zu müssen, was einem widerstrebt. Und je menschlicher der Arbeiter fühlt, desto
mehr muss ihm seine Arbeit verhasst sein, weil er den Zwang, die Zwecklosigkeit
für sich selbst fühlt, die in ihr liegen. Weshalb arbeitet er denn? Aus Lust am
Schaffen? Aus Naturtrieb? Keineswegs. Er arbeitet um des Geldes, um einer Sache
willen, die mit der Arbeit selbst gar nichts zu schaffen hat [...]«(Engels, a.a.O., 346). Die Fabrik und das Büro werden zu einem funktionalistischen
Raum der abstrakten Zeit und der abstrakten Tätigkeit, getrennt von allen
eigenen Lebensäußerungen. Schon der Zuschnitt der Räume und die Art, wie die
Maschinen ausgelegt werden, stehen unter dem Bann des objektivierten Zwangs,
dessen Exekutor die Konkurrenz ist. Ich habe oft in Fabriken gearbeitet und
immer wieder bemerkt, wie vor allem Frauen (ihrer antrainierten
Geschlechtsrolle entsprechend, die sie für das gemütvolle Herrichten des »Heims«
konditioniert) auf rührende Weise versuchen, irgendein Moment von
»Gemütlichkeit« in die Teufelsmühle hineinzuschmuggeln, z. B. durch das
Aufhängen eines Adventskranzes in einer Maschinenhalle. Dadurch wird freilich
die un-menschliche Gestalt des kapitalistischen Funktionsraums nur umso
grotesker hervorgehoben. Hier ist nichts dem Charakter gesellschaftlicher Tätigkeit
an sich geschuldet, sondern alles der Zurichtung für den Selbstzweck des
Geldes. Und weil die Entmenschlichung des Funktionsraums nicht von selbst aus
dem bloßen Zusammenwirken von Menschen entspringt, findet in dieser Hinsicht
ein mehr oder weniger versteckter Kampf zwischen »Beschäftigten« und Management
statt, dessen Geschichte noch nicht geschrieben ist. Ein Bekannter aus der
Ex-DDR hat mir erzählt, wie es den Arbeitern einer Spielzeugfabrik in Thüringen
ergangen ist, die sich Wunder von der DM erhofften und dann ihr blaues Wunder
erlebten: Abgesehen davon, dass die Hälfte der Belegschaft schlagartig auf die
Straße flog, wurden dem verbliebenen Rest als erstes ihre kleinen
Kaffee-Kochstellen und »Plaudernischen« als »efflzienzstörend«
entfernt und die bis dahin selbstverständliche Benutzung von Werkzeug für
persönliche Zwecke verboten. Es wäre ein leichtes, eine Sammlung von Aushängen, Abmahnungen
und Reglements zusammenzustellen, die alle dasselbe belegen, nämlich den
direkten und indirekten Druck auf die »Beschäftigten«, sich als Menschen in der
kapitalistischen Funktionszeit unsichtbar zu machen, sich möglichst restlos in
Verausgabungsmaschinen von Energie zu verwandeln und somit »in der Arbeit außer
sich« zu sein. Engels zitiert z. B. aus einem englischen Fabrikreglement:
»Jeder Arbeiter, der mit einem ändern sprechend, der singend oder pfeifend
betroffen wird, entrichtet [...] Strafe. Wer während der Arbeit von seinem
Platze geht, ebenfalls« (a.a.O., 399). Ganz ähnliche
Vorschriften finden sich in der deutschen Industrialisierungsgeschichte.
Überall war der kapitalistische »Erziehungsanspruch « dem Menschenmaterial
gegenüber mit einem System von Fabrikstrafen verbunden, d. h., es gab
Lohnabzüge für »Verfehlungen« aller Art. Überliefert ist etwa das »Rothe
Strafbuch« der 1817 gegründeten ersten deutschen Maschinenfabrik Koenig und
Bauer bei Würzburg. Mit Geldstrafen zwischen 8 Pfennig und 20 Groschen und
Namensnennung bestraft wurden Arbeiter u. a. wegen folgender »Delikte«: »Zu Zweit auf Abtritt gewesen; Wegen angeblichem
Bohrersuchen herumgelaufen; War Montag früh krank, ist übrigen Tag auch nicht gesund; Wegen
Schimpferei des Herrn Pfarrer auf Landgericht vorgeladen; Wegen Schmuserei;
Wegen Heiraten, 12 Stunden gefehlt, auch noch verschlafen; Wegen kindischer
Streiche; Wegen Unfolgsamkeit; Wegen Schlägerei im Wirtshaus; Einen Obstputzen
durchs Fenster geworfen; Wegen Vorwitz; Bei der Arbeit geschlafen« usw. (zit.
Nach Deneke 1987,113 f.). Und in der »Allgemeinen Fabrikordnung der Gelatine-Fabriken
von Carl Simeons« in Höchst aus dem Jahr 1869 heißt es unter anderem: »Es ist keinem Arbeiter gestattet, sich durch Verwandte
oder Fremde Erfrischungen in die Fabrik bringen zu lassen [...] Es ist den Arbeitern untersagt,
sich mit Fremden in irgendwelche Gespräche einzulassen [...] Es ist keinem
Arbeiter gestattet, ohne besondere Erlaubnis nach Beendigung der Arbeit oder
während der Ruhestunden in den Fabriklokalitäten zurückzubleiben [...] In allen
Arbeitszimmern und Werkstätten soll stets Ruhe und Stille herrschen, es darf
nicht gepfiffen, gesungen und unnötiges Geschwätz geführt und kein Handel
getrieben oder Spiele gespielt werden« (zit. nach Eiler
1984,264!.). Auch heute noch gibt es eine Fülle von an sich irrationalen
Vorschriften dem Wesen nach ähnlicher Art (wenn auch inzwischen in einer mehr
abstrakt-allgemeinen Form), die denselben Charakter der Zurichtung und
Fremdbestimmung als Hintergrund haben. Vieles muss nicht einmal extra
kodifiziert sein. Ich habe es oft erlebt, wie Vorarbeiter und Meister, die
»Unteroffiziere des Kapitals« (Marx), unruhig werden, wenn sich jemand »während
der Arbeitszeit« hinsetzt, Zeitung liest oder herumalbert; selbst dann, wenn
gar nichts zu tun ist, eine Materialstockung eintritt oder eine Maschine neu
eingestellt werden muss. Neuere und postmoderne Management-Konzepte, die vorgeblich
den Selbstzweck des Kapitals gerade durch ein gesteigertes Wohlbefinden der
Produzenten befeuern wollen, haben allesamt etwas Verkrampftes und
Unwahrhaftiges an sich. Da der Zweck der Veranstaltung den Menschen an sich
äußerlich ist, können sie »in der Arbeit« nur »bei sich« sein, insofern sie
aufhören, Menschen zu sein, und den fremden Selbstzweck des Geldes
verinnerlichen. Der funktionalistischen Reduktion ist damit natürlich nicht zu
entkommen. Wenn etwa die Farben der Wände nach »psychologischen Erwägungen«
ausgewählt werden, um (angeblich) die Leistung zu steigern, dann wird damit die
Abrichtung des Menschenmaterials nur verfeinert. Dasselbe gilt für Formen einer
»Enthierarchisierung «, die einzig und allein den
Zweck haben, die Menschen nach Bentham-Muster dahin
zu bringen, dass sie zu ihren eigenen Aufsehern und Antreibern werden. Dass es im Staatssozialismus der DDR ganz ähnliche
Zurichtungsbegriffe gab, verweist wiederum auf die innere Verwandtschaft der warenproduzierenden modernen Gesellschaftsformationen. Die
staatssozialistische Kategorie der »Arbeitszufriedenheit«, in deren Namen
Betriebspsychologen auf die »Beschäftigten« losgelassen wurden, ist geradezu
der Beweis für die Anwesenheit von Entfremdung, die untrennbar von
abstrakten Verwertungsprozessen ist;
egal, ob diese mehr durch den blinden Konkurrenzmechanismus oder mehr
staatsbürokratisch exekutiert werden. Unfreiwillig hat allerdings die
staatsbürokratische Administration »in der Arbeit« offenbar mehr Lücken für
persönliche Nischen des Menschenmaterials gelassen als der stumme Totalzwang
der Konkurrenz im westlichen Kapitalismus. Dies wurde von den westlichen
Ideologen als »mangelnde Effizienz« ausgelegt. Der Staatssozialismus wurde
damit an dem Maß gemessen, das er sich in der gesellschaftlichen Form eines warenproduzierenden Systems selber auferlegt hatte. Es ist leicht erkennbar, dass in den »Mühlen des Teufels«
der Traum eines gemeingefährlichen Irren wie Bentham
endlich gesellschaftlich verallgemeinert wurde. Aus den Staatsmanufakturen,
Weltmarkt-Sklavenplantagen, Arbeitshäusern und Irrenanstalten, in denen die
»abstrakte Arbeit« zuerst eingeübt wurde, trat der Ausnahmefall für Delinquente
nun in den gesellschaftlichen Normalzustand über. Alle Elemente des Benthamschen Panopticon finden
sich im Fabriksystem wieder. Schon der Ausdruck »Beschäftigte« für das Menschenmaterial
verweist auf den Ursprung der Fabrik- und Büroarbeit in den Zucht- und
Irrenhäusern des 18. Jahrhunderts mit ihren Tretmühlen und ausgeklügelten
Arbeitsfoltermaschinen, die nun, potenziert durch die Dampfkraft, über die
gesamte Menschheit herfallen und sie der von Bentham
geforderten kapitalistischen »Nützlichkeit« zuführen konnten. In England nannte
man das solcherart ausgenutzte Menschenmaterial bezeichnenderweise »hands« (Hände), was die Reduktion der Individuen auf
Verausgabungseinheiten von Arbeitskraft deutlich macht. Das panoptische Wahnsystem Benthams
konnte sich sedimentieren in den Maschinenaggregaten des Kapitals und somit als
technische Objektivität und Voraussetzung des menschlichen Lebens in
Erscheinung treten. Denn das war es ja, was Bentham
gewollt hatte: Die kapitalistische Zumutung sollte sich entsubjektivieren
in dinglichen Strukturen, um gerade dadurch zur Verhaltensspur des »inneren
Menschen« zu werden; und was wäre dafür über die architektonische und
organisatorische Zurichtung hinaus besser geeignet gewesen als eine Matrix von
technischen Abläufen, die sich unschuldig als eine zweite materielle Natur
darzustellen vermögen? Der Selbstzweck der kapitalistischen Weltmaschine konnte
so aus einer sozialökonomischen Apparatur in eine buchstäblich technische
übersetzt werden, die ihre Gewalt hinter angeblichen »Notwendigkeiten« der
gesteigerten Produktivkräfte selber versteckt. Einem zeitgenössischen
Management-Guru wie Andrew Ure war dies durchaus bewusst, im Unterschied zu so manchen
späteren Sozialisten. 1835 schrieb er in seinem Buch The
philosophy of manufactures in
schöner Offenherzigkeit über die Anordnung bei den Spinnmaschinen des
Erfinder-Unternehmers Arkwright: »Meiner Ansicht nach war das Hauptproblem Arkwrights nicht so sehr, einen selbsttätigen Mechanismus
zu erfinden, der die Baumwolle herausziehen und einen fortlaufenden Faden
einflechten konnte, als vielmehr [...] den Leuten ihren unsteten Arbeitstag
abzugewöhnen und sie dazu zu bringen, sich mit der unveränderlichen Ordnung
eines komplexen Automaten zu identifizieren. Es ging darum, ein System der
Fabrikdisziplin zu planen und zu verwalten [...] Es erforderte wirklich einen
Mann von der Nervenkraft und dem Ehrgeiz eines Napoleon, um mit dem
widerspenstigen Charakter von Arbeitern fertig zu werden, die bis dahin nur
ihren unregelmäßigen Anfällen von Arbeitslust gehorcht hatten« (zit. nach:
Eimer 1984,153). Erst mit dem kapitalistischen Maschinensystem war der
letzte Schritt getan, um die Reduktion des Menschen und seiner
Gesellschaftlichkeit auf einen toten Funktionsmechanismus zu vollenden, auch
wenn diese Vollendung dann auf dem Boden des kapitalistischen Industrialismus selber noch einmal eine lange Entwicklung
durchmachen sollte. 1845 beschreibt Friedrich Engels die Anfänge dieser letzten
Transformation. »Die Beaufsichtigung der Maschinen, das Anknüpfen
zerrissener Fäden ist keine Tätigkeit, die das Denken des Arbeiters in Anspruch
nimmt, und auf der anderen Seite wieder derart, dass sie den Arbeiter hindert, seinen
Geist mit ändern Dingen zu beschäftigen [...] Dazu kann er keinen Augenblick
abkommen - die Dampfmaschine geht den ganzen Tag, die Räder, Riemen und
Spindeln schnurren und rasseln ihm in einem fort in den Ohren [...] Der
Arbeiter muss morgens um halb sechs in der Fabrik sein [...] Er muss auf
Kommando essen, trinken und schlafen [...] Die despotische Glocke ruft ihn aus
dem Bette, ruft ihn vom Frühstück und Mittagstisch« (Engels, a.a.O., 397 ff.). Die Unmenschlichkeit dieser »Arbeit« scheint sich jedoch
aus der technischen Produktivkraft selbst zu ergeben; und an dieser Stelle
stutzt Engels, der sich nicht gegen die modernen Produktivkräfte aussprechen
und versündigen will, um sich dann gewissermaßen argumentativ seitwärts in die
Büsche zu schlagen: »Man wird mir sagen, solche Regeln seien notwendig, um in
einer großen, geordneten Fabrik das nötige Ineinandergreifen der verschiedenen
Manipulationen zu sichern; man wird sagen, eine solche strenge Disziplin sei
hier ebenso notwendig wie bei der Armee - gut, es mag sein, aber was ist das
für eine soziale Ordnung, die ohne solche schändliche Tyrannei nicht bestehen
kann? Entweder heiligt der Zweck das Mittel, oder der Schluss von der
Schlechtigkeit des Mittels auf die Schlechtigkeit des Zwecks ist ganz gerechtfertigt«
(Engels, a.a.O., 400). Hier erscheint erstmals zögernd und noch in negativer
Formulierung jene Metapher von den »Armeen der Arbeit«, die wenig später im
»Kommunistischen Manifest« schon positiv besetzt wurde: Es kündigt sich eine
Lebenslüge des späteren Marxismus an, die schließlich zu seinem »Umkippen« in
eine selber repressive Modernisierungsideologie führen sollte. Der junge Engels
schaudert hier noch vor einer solchen Perspektive zurück, aber sie drängte sich
schon unwiderstehlich auf, weil die in den Maschinen materialisierte soziale
Abstraktion des Kapitals begrifflich nicht von den neuen Produktivkräften als
menschlicher Potenz getrennt werden konnte. Das intellektuelle Milieu, das Engels vorfand und in dem er
sich (nicht nur in England) bewegte, hatte auch unter dem neuen Vorzeichen des
»Sozialismus«, in den sich der konsequentere Teil der bürgerlichen
Philanthropie zu verwandeln begann, durchaus die liberale Doktrin der
»Arbeitszucht « und der Unterwerfung eines Menschenmaterials unter die Maschine
abstrakter Wertproduktion verinnerlicht; nur sollte diese Disziplinierung für
den fremden Gott der »abstrakten Arbeit« auf menschenfreundlichere Weise
gestaltet werden. In aller Unschuld feiert Engels die einschlägige
»Bildungsarbeit« eines liberal-sozialistischen Amalgams, unter dessen
Ideengebern kein anderer als der nützlichkeitsphilosophische Menschenfreund und
Arbeitszuchthaus-Ideologe Jeremy Bentham
hervorsticht: »Die beiden größten praktischen Philosophen der letzten
Zeit, Bentham und Godwin, sind [...] fast
ausschließliches Eigentum des Proletariats; wenn auch Bentham
unter der radikalen Bourgeoisie eine Schule besitzt, so ist es doch nur dem
Proletariat und den Sozialisten gelungen, aus ihm einen Fortschritt zu
entwickeln. Das Proletariat hat sich auf diesen Grundlagen eine eigene
Literatur gebildet, die meist aus Journalen und Broschüren besteht [...]«
(Engels, a.a.O., 455). So begegnet man sich wieder. Zugunsten des jungen Engels
muss gesagt werden, dass er 1845 die Schriften und somit die wahren Absichten Benthams kaum oder nur bruchstückhaft gekannt haben dürfte.
Das geht auch daraus hervor, dass er sich in seinem Buch wenige Seiten später
über die Einrichtung und die Verhältnisse der so genannten Arbeitshäuser für
arbeitslose Arme empört: »Selbst die Diät der
Gefängnisse ist durchgehend besser, so dass die Bewohner des Arbeitshauses
häufig irgendein Vergehen absichtlich sich zuschulden kommen lassen, um nur ins
Gefängnis zu kommen. Denn auch das Arbeitshaus ist ein Gefängnis; wer sein
Quantum Arbeit nicht tut, bekommt nichts zu essen, wer herausgehen will, muss
erst um Erlaubnis bitten, die ihm je nach seinem Betragen oder der Meinung, die
der Inspektor davon hat, verweigert werden kann [...] die Paupers
tragen eine Arbeitshaus-Uniform und sind der Willkür des Inspektors ohne Schutz
überliefert [...] Im Arbeitshause zu Greenwich wurde im Sommer 1843 ein
fünfjähriger Knabe drei Nächte zur Strafe in die Totenkammer
gesperrt, wo er auf den Deckeln der Särge schlafen musste. Im Arbeitshause zu
Herne geschah dasselbe mit einem kleinen Mädchen [...] Dies Arbeitshaus, das in
einer der schönsten Gegenden von Kent liegt, zeichnet sich auch dadurch aus,
dass alle Fenster nach innen, nach dem Hofe zu gehen [...]«(a.a.O.,
497f.). Offenbar ohne es zu wissen, beschreibt Engels hier das Benthamsche Panopticon, dessen
organisatorische und architektonische Realität zu dieser Zeit bereits eine
Selbstverständlichkeit geworden war. Aber die Unwissenheit schützt vor Strafe
nicht, auch wenn natürlich durch diesen merkwürdigen Bezug das aufrüttelnde
Buch von Engels und die Wahrheit seiner Darstellung nicht beeinträchtigt wird. Marx und Engels sind später oft und mit großem Recht
über die seichten Duseleien des »kleinbürgerlichen
Sozialismus« hergefallen und haben stets die liberalen Scheußlichkeiten gegeißelt, ohne jedoch die kapitalistische
Verfasstheit der neuen Produktivkräfte auch auf der technologischen und
organisatorischen Ebene (sozusagen auf der Bentham-Ebene)
kritisch zu durchdringen. Indem so die repressive Ideologie von den »Armeen der
Arbeit« gedeihen konnte, finden wir hier ein frühzeitiges ebenso unbewusstes
wie untergründiges Andocken des Sozialismus an den Liberalismus." (...) Epilog Menschen, die gerade unter dem Diktat der kapitalistischen
»Selbstverantwortung« jeder Selbstbestimmung über das eigene Leben beraubt und
eigentlich selber nichts mehr sind, fragen unvermeidlich nach einem »Rezept«,
wenn sie sich der Ausweglosigkeit ihrer Daseinsweise überführt sehen. Damit
beweisen sie nur, dass sie selbst die Überwindung des Kapitalismus noch in
kapitalistische Kategorien einbannen wollen. Denn ein »Rezept« setzt bereits
voraus, dass die anzustrebende Selbstbestimmung nach vorgefertigten Mustern
einer äußerlichen Instanz abzulaufen hat, also sich selber dementiert. Was sich
angeben lässt, sind nicht »Rezepte« nach einem sozialen Baukastensystem (das
wäre nichts als Sozialtechnologie, die ihren Ort nur im Kapitalismus haben
kann), sondern vielmehr Kriterien der Emanzipation. Die »böse Horizontale«
fängt nicht mit dem Abspulen eines vorgedachten
Programms an, sondern mit der sozialen Rebellion gegen die unverschämten
Zumutungen von »Marktwirtschaft und Demokratie«. Radikale theoretische Kritik und Rebellion müssen zusammenkommen, nicht
schwächelnde »Ethik« und der Ruf nach einer
»gerechten« demokratischen Menschenverwaltung. Der Begriff der »sozialen
Gerechtigkeit« gehört zum Plastikwortschatz der Medienpolitiker und damit zum
Diskurs der demokratischen Krisenverwaltung. Nicht etwa die Befreiung der
Reichtumsproduktion von den absurden kapitalistischen Restriktionen ist damit
angesagt, sondern die »gerechte« protestantische Zuteilung der Notrationen
gerade unter diesem pseudo-naturgesetzlichen Diktat. So forderte im Juli 1999
der so genannte »Duisburger Appell« einer Initiative »Verzicht für alle!«,
angestoßen bezeichnenderweise vom protestantischen »Kirchlichen Dienst in der
Arbeitswelt«, allen Ernstes »Nullrunden auch für Spitzenverdiener« - der
»geplante Anschluss der Arbeitnehmer an den Verzicht der Rentner« müsse
»ergänzt werden durch die Solidarität aller anderen« (Nürnberger Nachrichten,
30.7.1999). Es ist eine schlichtweg närrische Idee, auf die gesellschaftliche
Naturkatastrophe des Kapitalismus mit einer bloß negativen »Solidarität« zu reagieren,
als handle es sich um die Heimsuchung eines zürnenden Gottes, der durch
allgemeinen »Verzicht« besänftigt werden könnte. Ganz abgesehen davon, dass
dieser »Verzicht« ökonomisch völlig sinnlos ist (es würde damit unter den
Bedingungen der Dritten industriellen Revolution Geld nicht vom Konsum in reale
Investitionen umgelenkt, sondern immer nur in die spekulative Blase), deuten
solche Initiativen darauf hin, dass nach dem angeblichen »Tod der Kritik« die
bis zum Überdruss wiedergekäute Ethik nur noch in Albernheit umschlagen kann,
statt eine Widerstandslinie gegen die offene Barbarei zu ziehen. Aber auch im positiven Sinne einer monetären »Umverteilung« ist kein
Blumentopf mehr zu gewinnen; der Keynesianismus hat
sich objektiv verbraucht und kann erst recht nicht durch moralische Appelle
wieder belebt werden: Umverteilungsethik ist genauso sinnlos geworden wie
Verzichtsethik. Der ganze ethische Zirkus, dessen Aufführungen in den 90er
Jahren immer idiotischer geworden sind, hat ja die bedingungslose Unterwerfung
unter die herrschende kapitalistische Form der Gesellschaft zur stillen
Voraussetzung. Deshalb können ethische Leitbilder sozialen Handelns auch nur in
der Fetischform des Geldes gedacht werden, die als allgegenwärtiges
Selbstzweck-Medium den gesellschaftlichen Raum erfüllt. Aber selbst wenn alle
Milliardäre Teile ihres Geldvermögens an die Armen dieser Welt abgeben müssten,
käme dabei für jeden einzelnen von einer Milliarde hungernder Menschen
vielleicht nicht einmal eine Handvoll Reis heraus. Das Problem ist nicht die
»Gerechtigkeit« in der herrschenden gesellschaftlichen Form, sondern eben diese
Form selber. Die Aufgaben, die gelöst werden müssen, sind von geradezu ergreifender
Schlichtheit. Es geht erstens darum, die real und in
überreichem Maße vorhandenen Ressourcen an Naturstoffen, Betriebsmitteln und
nicht zuletzt menschlichen Fähigkeiten so einzusetzen, dass allen Menschen ein
gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet wird. Unnötig
der Hinweis, dass dies längst mit Leichtigkeit möglich wäre, würde die
Organisationsform der Gesellschaft diesen elementaren Anspruch nicht
systematisch verhindern. Zweitens gilt es, die katastrophale Fehlleitung der
Ressourcen, soweit sie überhaupt kapitalistisch mobilisiert werden, in sinnlose
Pyramidenprojekte und Zerstörungsproduktionen zu stoppen. Unnötig zu sagen,
dass auch diese ebenso offensichtliche wie gemeingefährliche »Fehlallokation«
durch nichts anderes als die herrschende Gesellschaftsordnung verursacht ist.
Und drittens schließlich ist es erst recht von elementarem Interesse, den durch
die Produktivkräfte der Mikroelektronik gewaltig angeschwollenen
gesellschaftlichen Zeitfonds in eine ebenso große Muße für alle zu übersetzen
statt in »Massenarbeitslosigkeit « einerseits und verschärfte Arbeitshetze
andererseits. Es hat die Züge eines verrückten Märchens, in dem das Absurde normal
und das Selbstverständliche ganz unverständlich erscheint, dass das, was offen
auf der Hand liegt und eigentlich gar nicht erwähnt zu werden braucht, im
gesellschaftlichen Bewusstsein vollständig verdrängt worden ist, als wäre
darüber ein Zauberbann ausgesprochen worden. Trotz der geradezu schreiend
evidenten Tatsache, dass ein auch nur einigermaßen sinnvoller Einsatz der
gemeinsamen Ressourcen mit der kapitalistischen Form völlig unvereinbar
geworden ist, werden nur noch »Konzepte« und Vorgehensweisen diskutiert, die
genau diese Form voraussetzen. Es handelt sich weder um ein materielles noch um ein technisches oder
organisatorisches Problem, sondern allein um eine Bewusstseinsfrage. Um
zivilisatorisch überleben zu können, muss die Menschheit die Gehirnwäsche des
Liberalismus und seines Bentham-Systems abschütteln,
also gewissermaßen die verinnerlichten Zwänge und Zumutungen der blinden
Geldmaschine wieder herauswürgen, um sich überhaupt unbefangen dem Verhältnis
von vorhandenen Ressourcen und ihrer vernünftigen gesellschaftlichen Anwendung
stellen zu können. Das würde bedeuten, die herrschenden gesellschaftlichen
Formen, Kategorien und Kriterien nicht mehr in irgendeiner anderen Kombination
gruppieren zu wollen, sondern sie schlicht abzuschaffen. Der gesamte Betrieb
von abstrakter »Arbeit«, betriebswirtschaftlicher Rationalität, Wachstumszwang
und Marktwirtschaft, die gesellschaftliche Reproduktion über »Arbeitsmärkte«
unter dem leitenden Selbstzweck des Geldkapitals und seiner »Verwertung« -
dieser unhaltbar gewordene ganze Systemzusammenhang kann nur noch stillgelegt
werden. Es bedarf eines weltweiten sozialökonomischen »Maschinensturms « gegen
die in Wahrheit grauenhaft hässliche Weltmaschine des Kapitals, um sie zum
Stehen zu bringen und zu verschrotten, bevor sie vollends in die Luft fliegt
und die Reste menschlicher Zivilisation mit sich ins Verderben reißt. Die Aufgabe gleicht derjenigen eines abergläubischen »Wilden« (und der
wahre »Wilde« ist der kapitalistisch domestizierte, moderne Mensch), der sein
Leben nur retten kann, wenn er ein tiefsitzendes,
völlig unsinniges Tabu bricht. Dieses Tabu ist der geheiligte Dreischritt von
abstrakter »Arbeit« (Warenproduktion für anonyme Märkte), Geldeinkommen und
Warenkonsum gemäß »Kaufkraft«. Der gordische Knoten des »Geldrätsels« kann
nicht aufgeknotet, sondern nur gewissermaßen mit dem Schwert durchschlagen
werden. Von diesem Tabubruch ist natürlich weit und breit nichts zu sehen. Wie
die Menschen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts oft lieber verhungerten, als
sich unter das Diktat der Geldmaschine zu beugen, so verhungert anscheinend
heute das domestizierte Menschenmaterial dieser Maschine lieber, als dass es
seine eingedrillte fetischhafte Geldsubjektivität
abschüttelt. Die Kritik des als Kapital zum Selbstzweck gewordenen Geldes,
dieses blendenden Scheins gesellschaftlicher Paranoia, ist dennoch in der Krise
als Gespenst anwesend. Anders ist es nicht zu erklären, dass die beiden
Ökonomen des »Club of Rome«, Orio
Giarini und Patrick M. Liedtke, ihre Zwangs-arbeits-
und Billiglohnprojekte in einer merkwürdigen Passage gegen einen völlig
unsichtbaren Gegner verteidigen: »Von einer Rückkehr zu den alten Utopien des vergangenen Jahrhunderts
oder zu neuen, die von einer geldlosen Gesellschaft träumen, kann überhaupt
nicht die Rede sein. Geld war eine der wesentlichen Schöpfungen der
Zivilisation, weil durch seine Einführung erst wahrer Fortschritt (!) ermöglicht
worden ist. Natürlich liegt es in der Natur des Menschen, dass Geld [...]
missbraucht werden kann [...] Ebenso klar sollte jedoch sein, dass die alten
Utopien einer geldlosen Gesellschaft der Vergangenheit in Wirklichkeit
unbewusste Bestrebungen waren, sich den modernen Realitäten und Chancen (!) zu
entziehen, und dass sie lediglich den Widerstand gegen eine mögliche neue
Verbesserung widerspiegeln. Gleich, welcher Mythos gesponnen wird, eine
steinzeitliche Gesellschaft (!) ist, insbesondere in einer Situation massiver
gegenseitiger Abhängigkeiten der Menschen, nicht realisierbar und würde
höchstwahrscheinlich in eine Katastrophe führen. Da unser gegenwärtiges
Wirtschaftssystem zu einem großen Teil auf dem Einsatz von Geld beruht - und
wir wollen daran nichts ändern -, ist es von grundlegender Bedeutung, dass
jeder einzelne Zugang zu einer gewissen Geldmenge hat, um für die nötigsten
Dinge des Lebens aufzukommen [...]« (Giarini/Liedtke
1998,191 f.). Das Phantom der Kritik am Geldfetisch muss schon arge Panik
hervorrufen, wenn ihm in einem Schattengefecht derart schwache Argumente
entgegengeschleudert werden. Bis zum Beginn der Modernisierung war Geld ein
völlig randständiges Medium für den Austausch von Überschussprodukten oder (im
Fernhandel) von Spezialgegenständen wie Seide, Metallen usw. zwischen
unabhängigen Produzenten, während die alltägliche Reproduktion größtenteils
ganz ohne Geld und Markt »naturalwirtschaftlich« stattfand. Die überwiegende
Mehrzahl der Erfindungen und zivilisatorischen Errungenschaften in der ganzen
Menschheitsgeschichte vor dem 17. Jahrhundert kam ganz unabhängig von der
Geldform zustande. Es ist nur ein Zeichen für den Fetischismus der Ökonomen,
dass sie »wahren Fortschritt« nur als Ausdruck der Geldform gelten lassen wollen,
womit die Erfindung des Ackerbaus, der Viehzucht, des Rades, der Schrift, der
Malerei und unzähliger anderer Errungenschaften anscheinend ein »unwahrer«
Fortschritt gewesen sein müssen. Zur alltäglichen gesellschaftlichen
Beziehungsform wurde das Geld aber durch keinerlei menschlichen Fortschritt,
sondern allein durch die zwangsweise und blutig durchgesetzte Einführung von
»Arbeitsmärkten «, mit der die frühmodernen Militärdespotien die Menschen in
das Material ihres Geldhungers verwandelten. Als »freie« Systemsklaven einer irrationalen Gesellschaftsmaschine von
anonymen Märkten mussten sich die Gesellschaftsmitglieder den Bewegungsgesetzen
des verselbständigten Geldkapitals unterordnen bis zur sozialen Selbstaufgabe,
deren Gipfelpunkt heute erreicht zu sein scheint. Es sind gerade keine
»unabhängigen Produzenten«, die im Kapitalismus ihre Produkte über das Medium
des Geldes »tauschen« würden, wie es die Ideologie der Ökonomen vorgaukeln
möchte. Im Gegenteil handelt es sich ja um hochgradig vergesellschaftete
Aggregate, in denen die Menschen sich nicht mehr isoliert voneinander in
Familienwirtschaften reproduzieren, sondern im unmittelbaren gesellschaftlichen
Zusammenwirken. Ausgerechnet diese in hohem Maße vergesellschaftete
Reproduktion jedoch wird durch eine Form oder ein Medium gesteuert, das
ursprünglich seinen relativen und marginalen Sinn nur in der Beziehung zwischen
tatsächlich unabhängigen Familienwirtschaften hatte! Die »massive gegenseitige Abhängigkeit« in direkt gesellschaftlichen
Aggregaten spricht also gerade gegen die Geldform, die unter diesen Umständen
ebenso verrückt ist, wie wenn Leute, die in demselben Haus wohnen, sich nur per
Satellitentelefon verständigen dürften. Die Geldform ist bei einem derart hohen
Grad der Vergesellschaftung eben keine Form menschlicher Verständigung, sondern
umgekehrt werden alle menschlichen Beziehungen dem Diktat eines rasend
prozessierenden, verständigungslosen und unansprechbaren Dinges unterworfen.
Was für eine freche Verdrehung, die Kritik dieser Verrücktheit als »Mythos«
einer »steinzeitlichen Gesellschaft« denunzieren zu wollen! Damit beweisen die
Ökonomen wieder einmal, dass sie das Phantom »Nicht-Geld« nur mit äußerster
Primitivität gleichsetzen wollen, weil die Befreiung vom kapitalistischen
Selbstzweck ihren fetischistisch indoktrinierten Verstand übersteigt. So
beeilen sie sich, alle denkbaren Vertreter einer Kritik dieses Fetischismus im
Vorhinein zu psychiatrisieren als Leute, die sich »unbewusst« den »Chancen« der
Modernisierung (Zwangsarbeit und Billiglohn als letztes Wort!) »entziehen«
wollten. Weil »unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem« auf dem »Einsatz von Geld
beruht«, soll daran nichts geändert werden; das tautologische Nicht-Argument,
dass es so sein soll, weil es so ist, zeigt das Ende jeder kapitalistischen
Argumentationsfähigkeit an. Dass das Geld, wie oft behauptet wird, wenigstens eine Art
»Leistungsmaß« sei, wenn es schon aufgrund des hohen Vergesellschaftungsgrades
kein Tauschmedium unabhängiger Produzenten mehr sein kann, hat ebenfalls noch
nie gestimmt. Weder sind die großen Geldvermögen von den Konquistadoren bis zu
den Rockefellers durch andere als mörderische und destruktive »Leistungen«
angehäuft worden, noch ist im kapitalistischen Alltag »Leistung« etwas anderes
als ein Synonym für Skrupellosigkeit einerseits und Selbstunterdrückung
andererseits; bezogen stets auf eine verständigungslose, hochgradig irrationale
Tätigkeitsform. In der Dritten industriellen Revolution führt sich sogar dieser
irrationale Leistungsbegriff selber ad absurdum; unter diesen Bedingungen kann
es gar keinen sinnvollen individuellen Leistungsbegriff mehr geben, weil die
eigentliche Produktionspotenz längst im verwissenschaftlichten
gesellschaftlichen Aggregat steckt. Die Blähungen des Kasinokapitalismus machen
die Geldform als »Leistungsmaß« vollends lächerlich. Die Panik der Ökonomen vor dem Phantom der Geldkritik zeigt sich auch
im falschen Verweis auf die angeblichen »alten Utopien« eines »vergangenen
Jahrhunderts«. In Wirklichkeit hat es eine konsequente Kritik der Geldform bis
jetzt außer im »esoterischen«, vom Arbeiterbewegungs-Marxismus systematisch
verdrängten Aspekt der Marxschen Theorie noch nie gegeben. Abgesehen von
einigen moralisierenden Auslassungen gegen den »schnöden Mammon« haben sowohl die
Utopisten und Anarchisten als auch der Marxismus niemals den Geldfetisch als
solchen kritisiert, sondern immer nur an Surrogatformen des Geldes oder an
einer staatlich-leviathanischen Moderation dieser
unüberwundenen gesellschaftlichen Form gebastelt. Einer radikalen Kritik des
Geldfetischs kann es aber nicht um eine oberflächliche »Abschaffung des Geldes«
in seiner unmittelbaren Erscheinungsform gehen, sondern vielmehr um die
Aufhebung der dieser Form zugrunde liegenden gesellschaftlichen Beziehungen, also
eben des Systems von abstrakter »Arbeit«, »Arbeitsmärkten«,
betriebswirtschaftlicher Rationalität und anonymen Warenmärkten, deren
zusammenfassendes Selbstzweck-Medium das Geld nur ist. Dass das eigentliche Problem erst jetzt nach einer mehrhundertjährigen
Domestizierung zum Durchbruch kommt, wird bei Giarini/Liedtke
unfreiwillig in der seltsamen Formulierung einer »Rückkehr zu neuen Utopien«
deutlich, denn in der Tat handelt es sich um eine Art »Rückkehr in die
Zukunft«: Die Dritte industrielle Revolution setzt unausweichlich das Problem
auf die Tagesordnung, an dem die alten Sozialrevolten gegen das Terrorsystem
der abstrakten »Arbeit« gescheitert sind. Natürlich kann es kein Zurück in
diese gesellschaftlichen Konstellationen und kein Anknüpfen an den Bewusstseinsstand
dieser Revolten geben. Aber auf einer viel höheren Entwicklungsstufe stellt
sich erneut die Frage, wie die Produktivkräfte, die schon lange nicht mehr in
der Form unabhängiger Familienbetriebe organisiert werden können, in die Form
einer bewussten Verständigung der Gesellschaftsmitglieder zu bringen sind,
statt von einem blinden und anonymen Mechanismus gesteuert zu werden. Allein das Phantom dieses vernünftigen Gedankens denunzieren
Giarini/Liedtke bereits als »Gang in die
Katastrophe«. In Wahrheit verhält es sich genau umgekehrt: Der Kapitalismus,
das heißt das System von »Arbeitsmärkten« und allgemeiner Geldwirtschaft, hat
bereits in die Katastrophe geführt. Die »unsichtbare Hand« schlägt blind um
sich und zerstört alle zivilisatorischen Mindeststandards, gerade weil die
menschlichen Möglichkeiten ungeheuer gesteigert worden sind! Nicht die
Verwirklichung irgendeiner träumerischen und »unrealistischen« Utopie steht auf
der Tagesordnung, sondern im Gegenteil muss die realisierte Negativ-Utopie des
Kapitalismus in ihrem sozialökonomischen Amoklauf gestoppt werden, um durch
bewusste gesellschaftliche Verständigung den verrückten Dogmen des Geldes zu
entkommen und überhaupt erstmals pragmatisch (also nicht einem entsinnlichten,
den Bedürfnissen gegenüber autonomen Fetischgesetz folgend) über den sinnvollen
Einsatz der Ressourcen und Produktivkräfte zu beraten. Die Ökonomen sind von diesem elementar vernünftigen Gedanken schon
axiomatisch abgeschnitten; ihr »negativer Realismus« kann sich allein auf das
Kategoriensystem der »schönen Maschine« beziehen, die für sie identisch mit
Gesellschaftlichkeit überhaupt ist. Daran ist allerdings auch das
»Humankapital« ihres sektenhaften Priesterwissens gebunden. Wenn sich die
Menschheit von der kapitalistischen Maschine befreit, wird mit einem Schlag
nahezu die gesamte ökonomische Literatur der letzten dreihundert Jahre zusammen
mit ihrem gesellschaftlichen Bezugssystem »entwertet «. Dieses als
schriftlicher Corpus fixierte Denksystem wäre dann so historisch wie die
altägyptischen Totenbücher oder die Opferrituale der
Maya. Für die überlebensnotwendig gewordene Kritik der Ökonomie ist von den
Ökonomen nichts zu erwarten. Der Gedanke einer permanenten gesellschaftlichen Beratung über den
Einsatz der Ressourcen verweist schon auf ein mögliches institutionelles
Gefüge, das »Marktwirtschaft und Demokratie« ablösen könnte: nämlich eben
»Räte«, beratende Versammlungen aller Gesellschaftsmitglieder auf allen Ebenen
der gesellschaftlichen Reproduktion. Sich einfach versammeln und die Dinge in
die eigene Hand nehmen, ohne sich länger von der kapitalistischen
Menschenverwaltung kujonieren und auf lächerliche Notrationen ohne Not setzen
zu lassen - nur darin kann die Entfesselung der »bösen Horizontale« sich
darstellen. Die historischen, immer nur kurzlebigen Ansätze von »Räten« seit
der Pariser Commune sind daran gescheitert, dass sie
in den kapitalistischen Kategorien von abstrakter »Arbeit«, Geldform,
Marktvermittlung und »Politik« befangen blieben, also ihren eigenen
Gesichtspunkt gegen die herrschenden Fetischformen nicht geltend machen
konnten. Unter den Bedingungen der Dritten industriellen Revolution könnten
»Räte« dagegen tatsächlich nur noch an die Stelle von Geldform und anonymen
Märkten treten. Die Mikroelektronik stellt dafür gleichzeitig die Möglichkeit
einer allseitigen kommunikativen Vernetzung bereit, die alle Herrschaftszentren
»vertikaler« Menschenverwaltung leicht aushebeln kann. Damit die »böse Horizontale« in Gang kommen kann, bedarf es einer
bewussten »Palaverkultur «; also genau das, was für Ford und Lenin der Horror
eines ewigen »Gequatsches« war, das ihre schöne Gesellschaftsmaschine
beeinträchtigen könnte. Genau darum geht es: alles zu bereden und abzuwägen,
statt sich einer blinden und zerstörerischen abstrakten Leistungsmaschine zu
unterwerfen und als deren Rädchen zu funktionieren. Zeit für das Palaver stünde
übergenug zur Verfügung; und zwar nicht nur durch die Produktivkräfte der
Dritten industriellen Revolution, sondern auch durch die Perspektive, alle
destruktiven und unsinnigen Produktionen ersatzlos stillzulegen, die nur der
Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems dienen (von der Geldverwaltung
bis zur nervtötenden medialen Glocke der »Werbung«). Das entscheidende Problem ist, ob in der destabilisierten
Weltkrisengesellschaft des Kapitalismus im beginnenden 21. Jahrhundert ein
ideeller und organisatorischer Fokus entstehen kann, der die radikale Kritik zu
formulieren wagt und ihr ein Gesicht zu geben vermag. Es ist nach wie vor die Linke
im weitesten Sinne, die allein dafür in Frage kommt. Aber im Hinblick auf die
wahre Aufgabe wurden die Weichen seit den 80er Jahren genau verkehrt herum
gestellt. Die von Haus aus in den kapitalistischen Kategorien befangene Linke
zog aus dem Ende des Staatssozialismus die völlig unangemessene Konsequenz,
theoretisch abzurüsten und die Gesellschaftskritik weitgehend fallenzulassen, um sich als Musterschüler der
Rentabilitätslogik zu gebärden. Die intellektuelle und moralische Verwahrlosung
der regierenden Armani-Linken ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sie
bereits unumkehrbar zum integralen Bestandteil der kapitalistischen
Krisenverwaltung, der sozialen Repression und Barbarisierung der Verhältnisse
geworden ist. Dennoch befindet sich ein größerer Teil der Linken überall in der Phase
einer unbestimmten Latenz. Es ist immer noch möglich, eine Kehrtwendung zu
machen und sich den katastrophalen Erfahrungen der 90er Jahre zu stellen. Die
Linke muss begreifen, dass sie nicht etwa »zu radikal«, sondern im Gegenteil
niemals radikal genug war. Nicht eine stärkere Anpassung an das ökonomische
Gesetz des Kapitalismus ist das Gebot der Stunde, sondern im Gegenteil der
vollständige Bruch mit diesem Gesetz. Die Linke muss ihre eigene Geschichte
kritisieren, ihre eigene apriorische Verbundenheit mit der bürgerlichen Welt
aufdecken und sich davon lösen. Nur dann waren die systemimmanenten Kämpfe der
letzten hundert Jahre nicht umsonst, mit denen die Linke dem Kapitalismus stets
nur vorübergehend ein niemals genügendes Minimum an sozialen Gratifikationen
und eine Begrenzung der schlimmsten Zumutungen abgetrotzt hat, wenn diese Linke
am definitiven Ende der kapitalistischen Geschichte den Mut findet, aus dem
eisernen Käfig von »Marktwirtschaft und Demokratie« auszubrechen. Die Marxsche Theorie ist nicht widerlegt, sie gewinnt erst jetzt ihren
historischen Wahrheitsgehalt; allerdings nur, wenn sie gegen den Strich des
Arbeiterbewegungs-Marxismus gebürstet und endlich als radikale Kritik des
modernen Fetischismus warenproduzierender Systeme
gelesen wird. Die Idee der sozialen Emanzipation muss aufhören, sich wieder und
wieder in die vom Liberalismus aufgestellte Falle locken und zwischen den
kapitalistischen Polen von Markt und Staat hin- und herhetzen zu lassen. Markt
und Staat sind die beiden Seiten derselben Medaille, und es ist eine billige
Ausflucht, nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus den Markt als
»alternativlos« zu setzen, als wäre die staatskapitalistische Kritik am
Konkurrenzsystem die einzig mögliche. Die wirkliche Alternative ist die
Selbstverwaltung der Gesellschaft durch die »böse Horizontale« eines
umfassenden Rätesystems; und eine solche Selbstverwaltung ist das Gegenteil
nicht nur des Staates, sondern damit auch des Marktes. Eine solche Reformulierung radikaler Kritik
ist allerdings auch nur in einer Perspektive möglich, die sich nicht mehr
blenden lässt vom falschen Fortschrittsbegriff der »Modernisierung«, der sich
heute endgültig als Synonym für soziale Degradation, Verelendung und Entsolidarisierung
entlarvt. Gerade in dieser Fixiertheit auf die »Modernisierung«, die nie etwas
anderes als der blinde kapitalistische Entwicklungsprozess gewesen ist, zeigt
sich die babylonische Gefangenschaft der Linken im bürgerlichen Denksystem.
Seitdem die »Antimoderne« der alten Sozialrevolten von den Terrorregimes des
Liberalismus in ihrem Blut erstickt worden ist, hat die Idee der sozialen
Emanzipation sich nicht mehr gegen das perfide »Neusprech«
und »Doppeldenk« der Aufklärungsphilosophie
positionieren können, von der die Unterwerfung unter die moderne
Systemsklaverei als Inbegriff der Freiheit verkauft wurde. An die Stelle der
emanzipatorischen, sozialrebellischen Antimoderne trat jene reaktionäre,
»rechte« Antimoderne, die in Wahrheit immer ein Derivat des bürgerlichen
Aufklärungsdenkens selber gewesen ist. Diese rechte Scheinkritik der Moderne
konnte das dämonische Potential des Kapitalismus entbinden; sie zeigte immer
nur den Irrationalismus der bürgerlichen Rationalität selbst an, um die Nachtseite
der Moderne für die Massaker der »Modernisierung« zu instrumentalisieren. Die falsche Gegenüberstellung einer guten, aufklärerischen
Moderne, die links zu besetzen wäre, und einer negativen, vermeintlich gegenaufklärerischen Antimoderne, die irgendein phantasmatisches »Mittelalter« anbetet, ist erst recht eine
Falle. Auch in dieser Hinsicht handelt es sich um die beiden Pole der
kapitalistischen Moderne selbst. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts bedarf es
einer neuen »emanzipatorischen Antimoderne«, die sich nicht mehr von den
innerkapitalistischen Gegensätzen instrumentalisieren und für dumm verkaufen
lässt, sondern der gesamten Modernisierungsgeschichte auf der Höhe der Dritten
industriellen Revolution den Prozess macht. Dieser Gedanke muss nicht erschrecken,
denn eine neue emanzipatorische Antimoderne kann sich leicht von der
reaktionären Pseudo-Antimoderne abgrenzen und wird
den de Benoist u. Co. Niemals die Hand reichen. Die rechte Antimoderne ist immer irrational und biologistisch; sie
verlängert den liberalen Naturalismus des Sozialen in darwinistische Rassen-
und Volksmythologien. Die emanzipatorische Antimoderne dagegen kann nur der
vollständige Bruch mit jeder Art von Naturalisierung des Gesellschaftlichen
sein; sie begreift die Gesellschaft als eine Daseinsebene sui
generis, die nur in sozialen, psychischen und
historischen Kategorien zu entschlüsseln ist. Die rechte Antimoderne ist immer
antisolidarisch, ausgrenzend und von Vernichtungsdiskursen erfüllt; sie stellt
nichts als die Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln dar. Die
emanzipatorische Antimoderne dagegen ist der ebenso vollständige Bruch mit dem
kapitalistischen Konkurrenzsystem und stellt die Solidarität über alle Grenzen
hinweg in den Mittelpunkt. Ferner ist die rechte Antimoderne immer elitär und
autoritär; ihre Organisationsform ist das »Führerprinzip« und damit die
Extremform der im kapitalistischen Sinne »braven Vertikale«. Demgegenüber
entfesselt die emanzipatorische Antimoderne eben genau umgekehrt die »böse
Horizontale«; sie ist konsequent antielitär, antiautoritär und
sozialrebellisch. Schließlich fasst sich der ganze Gegensatz im Verhältnis zur
kapitalistischen Erfindung und Realkategorie der so genannten »Nation«
zusammen: Die rechte Pseudo-Antimoderne beweist sich gerade
dadurch als integraler Bestandteil der Moderne selbst, dass sie immer die
»Nation« zu ihrem zentralen Bezugsfeld erkoren hat und diesen Begriff mythisch
auflädt, auch wenn dies im Zeitalter der Globalisierung nur noch in der Form
medialer Inszenierungen oder andererseits einer mörderischen Banden-Ideologie
möglich ist. Die emanzipatorische Antimoderne kann sich umgekehrt nur dadurch
wirklich von der bürgerlichen Gefangenschaft lösen, dass sie unwiderruflich mit
der Kategorie der »Nation« bricht und konsequent jede nationale Loyalität
aufkündigt, um sich von vornherein in transnationalen Beziehungsformen zu
organisieren. Der Bruch mit der »Nationalität« ist für die Linke die
Gretchenfrage, ob ihr der Ausbruch aus dem »eisernen Käfig« gelingt, denn die Befangenheit
in der »nationalen Identität« und im bürgerlichen Nationalstaat bildete ja
spätestens seit 1848 die entscheidende Fußfessel, die den
Arbeiterbewegungs-Sozialismus an das kapitalistische Kategoriensystem gekettet
hat. Es ist fast müßig, sich die Frage zu stellen, auf welche
Weise eine neue radikale Kapitalismuskritik jenseits von Markt und Staat als
emanzipatorische Antimoderne zur gesellschaftlichen Massenbewegung werden kann.
Denn das ist eine Frage, die nur durch die Tat zu entscheiden ist. Voraussetzung
dafür ist einerseits die theoretische Innovation, die zur Kritik der
grundlegenden kapitalistischen Gesellschaftsformen vordringt, statt sich wie
bisher »in« diesen Formen auszudrücken. Andererseits bedarf es des regelrechten
Aufstands, der Rebellion gegen die kapitalistische Krisenverwaltung jeglicher
Couleur mit ihrer trostlosen Perspektive von demokratischer Zwangsarbeit und
Billiglohn-Sklaverei. Die Parole »Niemals Billiglohn!«
kann vielleicht endlich umschlagen in die Parole »Nieder mit dem Lohnsystem!«
und Elemente einer gesellschaftlichen Gegenbewegung jenseits der
abgewirtschafteten demokratischen Politik hervorbringen. Der kürzeste Weg in
den sozialen Erschütterungen der kommenden Jahre wäre die Besetzung^
Produktionsbetriebe, Verwaltungsinstitutionen und sozialen Einrichtungen durch
eine Massenbewegung, die sich die gesellschaftlichen Potenzen direkt aneignet
und die gesamte Reproduktion in eigener Regie betreibt, also die bislang
herrschenden »vertikalen« Institutionen schlicht entmachtet und abschafft.
Denkbar wäre auch eine Übergangsphase, in der sich eine Art Gegengesellschaft
bildet, die bestimmte soziale Räume gegen die kapitalistische Logik
eröffnet, aus denen Markt und Staat vertrieben werden. Am wahrscheinlichsten ist es gegenwärtig allerdings, dass
die Zukunftsmusik wirklich ausgespielt hat, weil der »Bewusstseinssprung« nicht
mehr vollzogen wird, der für eine neue soziale Emanzipationsbewegung
erforderlich wäre. Der Kapitalismus kann dennoch nicht weiterleben, weil seine
innere Schranke ebenso blind objektiviert ist wie der Funktionsmechanismus der »schönen Maschine«,
der an sich selbst zuschanden wird. Bleibt die
radikale Gegenbewegung aus, ist das Resultat die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt, wie sie jetzt schon überall
sichtbar wird. Selbst dann wäre für eine Minderheit immer noch wenigstens eine
Kultur der Verweigerung möglich. Wenn schon das ökonomische Terrorsystem in
seinem Zerstörungs- und Selbstzerstörungsprozess nicht mehr aufgehalten werden
kann, so gilt doch immer noch die Devise der Kritischen Theorie, sich von der
eigenen Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen. Unter den gegebenen Umständen
kann das nur heißen, jede Mitverantwortung für »Marktwirtschaft und Demokratie«
zu verweigern, nur noch »Dienst nach Vorschrift« zu machen und den
kapitalistischen Betrieb zu sabotieren, wo immer das möglich ist. Selbst wenn
es nur wenige sind, die im Zerfallsprozess des Kapitalismus eine neue innere
Distanz gewinnen können: Es ist immer noch besser, Emigrant im eigenen Land zu
werden, als in den inhaltslosen Plastikdiskurs der demokratischen Politik
einzustimmen. Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst
gar nichts mehr frei ist. Aus dem Buch:
Roswitha Scholz - "Das Geschlecht des Kapitalismus" Roswitha Scholz
Das Geschlecht des Kapitalismus
Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats Inhalt
Einleitung: Zum Problem der Kulturalisierung des Sozialen seit den 80er
Jahren
Erster Teil: Zum Begriff von Wert und Wert- Abspaltung Zweiter Teil: Feministische Theorieansätze I. Frauen und
Deklassierung im universellen Maßstab? (R. Becker- Schmidt)
Warenform und Denkform -- Frauentausch
und Identitätslogik -- Androzentrismus alspsychogenetisches Unterbauphänomen II. Geschlecht im warenproduzierenden Patriarchat
1. Beruf und Hausarbeit bei E. Beck-Gernsheim/I.
Ostner
Soziologische Basisannahmen -- Die
Herstellung von (Zwei-)Geschlechtlichkeit, das androzentrische
gesellschaftliche Unbewusste und die relative Berechtigung des Ansatzes von
Beck- Gernsheim/Ostner -- Gebrauchswert Tauschwert,
Männlichkeit und Weiblichkeit 2. Das
Geschlechterverhältnis als sozialer Strukturzusammenhang bei R. Becker-Schmidt/G.-A. Knapp und U. Beer a) Geschlecht als soziale
Strukturkategorie bei R. Becker- Schmidt/ G-A. Knapp Doppelte Vergesellschaftung und
Geschlecht als "soziale Strukturkategorie" -- Doppelte Vergesellschaftung als
Widerständigkeit? -- Die Kritik der Identitätslogik als "Methode" und das Wesen
des warenproduzierenden Patriarchats --
Gesellschaftliches Ganzes und Geschlechterverhältnis -- Tausch, Arbeit, Geld und
Geschlecht b) Geschlecht-Struktur-Geschichte
bei U. Beer 3. Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse bei F. Haug Das kapitalistische Patriarchat als
Zivilisationsmodell -- Erwerbsarbeit - Hausarbeit und die Arbeitsmetaphysik bei
F. Haug -- Die Zeitsparlogik und die Logik der Zeitverausgabung -- Die symbolische
Ordnung des kapitalistischen Patriarchats III. Abschließende
Bemerkungen zu den verschiedenen Theorieansätzen
Dritter Teil: Die modifizierte Wert- Abspaltungstheorie Vierter Teil: Geschlechterverhältnisse und Postmoderne im universellen Maßstab
- die Verwilderung des warenproduzierenden Patriarchats
in der Globalisierungsära I. Die "Kleine Selbständige" (I.Schultz) II. "Juchitan"
- ein Spezialfall des warenproduzierenden Patriarchats?
Eine Alternative zum warenproduzierenden Patriarchat?
(V. Bennholdt-Thomsen & Co.) III. Patriarchat ade alias Heterosexualität ade? (C. Dormagen) IV. Globalisierung und
feministische Handlungskonzeptionen 1. Differenzen zwischen Frauen, Bündnispolitik und Frauennetzwerke im
internationalen Kontext 2. Nationalstaatliche und international orientierte Ansätze, Subsistenz- und Eigenarbeitsvisionen Nationalstaatliche und
international orientierte Handlungskonzepte Subsistenz-
und Eigenarbeitsvisionen Einige (anti-)methodische Schlussthesen
Literatur
Einleitung: Zum Problem der Kulturalisierung des Sozialen
seit den 80er Jahren Spätestens seit dem Zusammenbruch des
Ostblocks spielt die Marxsche Theorie im Feminismus keine große Rolle mehr.
Fragestellungen, die vor allem bis Mitte der 80er Jahre noch die Diskussion
bestimmten, also zum Beispiel: Wie kann die so genannte "Frauenfrage", das
asymmetrische Geschlechterverhältnis, mit dem Marxschen Konzept organisch
verbunden werden? Wie kann die Geschlechtsneutralität Marxscher Kategorien
aufgebrochen werden? Welche theoretischen Weiterungen sind dazu notwendig? scheinen der Vergangenheit anzugehören.
Ausgerechnet in einer Zeit, in der große Krisen sozialer, ökonomischer und
ökologischer Art buchstäblich die Welt erschüttern, in der zahllose
Bürgerkriege den globalen Alltag bestimmen, in der sich die soziale Lage
zunehmend verschärft, Ethnofundamentalismen und
Nationalismen schon lange von sich reden machen, die Zerstörung der
Naturgrundlagen durch betriebswirtschaftliche Kostenlogik voranschreitet und
ein Finanzkrach droht, sind so genannte Großtheorien, die die globale
Krisenlage begrifflich erhellen könnten, in Verruf geraten. Aus dem Niedergang des "real existierenden
Sozialismus" wird fälschlicherweise häufig der Schluss gezogen, dass das
Marxsche Theoriegebäude fast schon als Ganzes am Ende sei. Die 90er Jahre sind
durch eine "Kulturalisierung des Sozialen" gekennzeichnet, die sich zum
Beispiel in einer - die neuen barbarischen Tendenzen begleitenden -
Re-Ethnisierung ausdrückt, aber auch in der Mode (de-)konstruktivistischer
Ansätze; und zwar nicht nur im Feminismus. Anstatt nach einem neuen, ergiebigeren
Totalitätsverständnis als dem altmarxistischen zu suchen, das dazu fähig wäre,
den neuen Krisenentwicklungen in der "One World" beizukommen, wird auch bei
nicht wenigen Restoppositionellen auf kulturalistische Modelle zurückgegriffen,
die in der Neunziger-Dekade einen Haupttrend in der Theoriebildung ausmachen. So gibt es zum Beispiel nicht nur in
feministischen und postmodernen Milieus, sondern auch bei poststrukturalistisch
beeinflussten Linken Positionen, die einer (Neu-)Konstruktion von "Identitäten"
die dekonstruktivistische Sicht entgegensetzen, etwa
was die "ethnische Identität" angeht. Auf diese Weise versucht man der
Neobarbarei, die in einer reaktionären Gemeinschaftsideologie wurzelt, im
Rekurs auf die Differenz, die Besonderheit des Einzelnen etc. zu begegnen. Das ist sicherlich gut gemeint. Nichtsdestoweniger
bewegt sich man/frau dabei bloß auf derselben
(theoretischen) Basis und Ebene wie die angeprangerten Phänomene, Zustände und
Ideologien selbst: der kulturellen eben.
Überdies wird hier die Dialektik zwischen einer weit fortgeschrittenen
Individualisierung in der Postmoderne, die mit einer neoliberalen Theorie und
Praxis korrespondiert (und sei es auch in der sozialdemokratischen Variante),
und einer gleichzeitig auftretenden Gemeinschaftsorientierung nicht erkannt;
denn im nochmaligen Rekurs auf das Differente, Einzelne, Besondere gegenüber
der Nation, Ethnie u.ä.
schlägt man sich faktisch, wenngleich auch sicher subjektiv unbeabsichtigt, auf
die neoliberale Seite. In einem gewissen Sinn wird so fatalerweise versucht,
die gegebenen Verhältnisse mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Selbst in den
marginalisierten marxistischen Diskursen der 90er Jahre haben sich
"Kulturmarxisten" wie Gramsci oder Althusser einen zentralen Platz erobert. Erst in jüngerer Zeit werden wieder Rufe
lauter, die gesellschaftstheoretische Dimension müsse stärker berücksichtigt
werden - sogar bei postmodernen Theoretikerinnen (vgl. Knapp, 1998 a, S.66).
Und auch im (feministischen) Globalisierungsdiskurs spielt die Marxsche Theorie
wieder eine gewisse Rolle, wenngleich auch meist nur als Hintergrundtheorie und
in regulationstheoretischer und/oder keynesianischer
Domestizierung. Diese Neubesinnung hat vermutlich etwas mit dem rot-grünen
Wechsel zu tun, der sich stimmungsmäßig schon seit einigen Jahren ankündigte.
Sichtbar ist allerdings längst, dass bei diesem Wechsel nicht hinter die
neoliberale Wende zurückgegangen werden soll, sondern bestenfalls versucht
wird, den neoliberalen Geist auf der Grundlage seiner eigenen Essentials noch
einmal in die Flasche zurückzukorken. In den
Fallstricken dieser Widersprüche verheddert sich derzeit die rot-grüne
Regierung. Nun kann es freilich nicht darum gehen,
postmoderne Einwände einfach abzutun. In den letzten 30 Jahren hat im Zuge
einer umfassenden Computerisierung, Medialisierung und auch Kommerzialisierung
ein gesellschaftlicher Wandel stattgefunden, der für gewöhnlich mit
soziologischen Begrifflichkeiten wie "Individualisierung", "Freisetzung aus
traditionellen (Geschlechts-) Rollen", "Flexibilisierung von Biographien",
"Pluralisierung der Lebenswelten und -stile" umschrieben wird. "Differenzen" -
seien sie individueller, "ethnischer" oder sexueller Art - gewannen in diesem
Zusammenhang vermittelt über die kulturell-symbolisch-ästhetische Dimension
zunehmend an Bedeutung. Postmoderne und poststrukturalistische Konzeptionen
reflektieren diese Entwicklung, allerdings nicht kritisch (wie es meines
Erachtens notwendig wäre), sondern ausgesprochen positiv. In den
krisengeschüttelten 90er Jahren wurde aber schon überdeutlich, wohin diese
Differenzorientierung in einer sich weltweit verschärfenden Konkurrenzsituation
führen kann: in (Ethno-)fundamentalismus,
Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Meines Erachtens können weder die
modernen Subjekte mit ihren fixen (Geschlechts-) Identitäten, noch die
postmodernen Flexi-Individuen als irgendwie bessere
bzw. schlechtere gegeneinander gestellt werden; als warenförmig-patriarchal
strukturierte Subjektformen können beide nicht ungeschoren bleiben. Das neue
Zwangs- Flexi-Subjekt, das ein postmoderner
Kasinokapitalismus unerbittlich einklagt, ist dabei nichts anderes als die
Fortsetzung des modernen Subjekts in zersplitterter Form, das einer emanzipativen Aufhebung nach wie vor harrt. Gewiss hat der traditionelle Mainstream-Marxismus die kulturell-symbolische Ebene und
damit zusammenhängende Dimensionen der gesellschaftlichen Realität prinzipiell
vernachlässigt. Mit dieser Kritik haben die Postmodernen zweifellos recht. Die Hypostasierung des "Kulturellen" seit den 80er
Jahren, die mit den postmodernen Individualisierungstendenzen eng
zusammenhängt, unterstützt jedoch aktuelle barbarische Entwicklungen und
behinderte lange Zeit den Einbezug von gesellschaftlich-ökonomischen
Entwicklungen, der meines Erachtens gerade im Globalisierungs-Zeitalter bitter
notwendig ist. Unter diesen Bedingungen käme es deshalb
darauf an, in der bestimmten Negation zutreffende Momente der kulturalistischen
Argumentation unemphatisch und unspektakulär in die Theoriebildung mit
aufzunehmen, ansonsten jedoch jegliches postmodern-kulturalistische Marktschreiertum zu unterlassen, wie es in
postmodern-linken Kreisen gegenüber "Altlinken" und "Altfeministinnen"
gelegentlich immer noch zu vernehmen ist. Mithin darf weder der modernen Identität
noch der postmodernen Nicht-Identität, den Differenzen - weder der Großtheorie
noch einer szientifischen und/oder einer postmodernen
Registrierung von Unterschieden, einer Schau des Einzelnen/Besonderen (etwa mit
poststrukturalistischer Untermauerung) gehuldigt werden. Vielmehr gilt es, die
Spannung zwischen beidem auszuhalten und diese theoretisch fruchtbar zu machen,
wobei auch die historische Verortung bestimmter Fragestellungen (zum Beispiel
nach den Differenzen in der Postmoderne im Rahmen einer kritischen Reflexion)
auf einer "großtheoretischen" Meta-Ebene zu erfolgen hätte. Es geht also um
eine Theoriebildung, die die "große Erzählung" und die Annahme eines
gesellschaftlichen "Wesens" nicht scheut, das traditionell-marxistisch im
Tausch bzw. dem (Mehr-)Wert gesehen wird. In diesem Zusammenhang sind auch die
Globalisierungstendenzen der letzten Jahre gebührend zu berücksichtigen, inclusive der damit verbundenen immanenten
Pseudo-Lösungsstrategien; egal, ob es sich hierbei um neu erwachte neokeynesianische Illusionen oder internationalististisch-zivilgesellschaftliche
Handlungsentwürfe oder aber auch um rückwärtsgewandte Eigenarbeits-/Subsistenzvisionen handelt. Vor dem Hintergrund dieses kurzen
Problemaufrisses möchte ich nun im folgenden versuchen, die Thematik des
hierarchischen Geschlechterverhältnisses in ihrer theoretischen
Mehrdimensionalität mit wertkritischen Grundannahmen in Beziehung zu setzen,
d.h. also sowohl die materielle als auch die kulturell-symbolische, aber auch
die sozialpsychologische Ebene theoretisch zu berücksichtigen. Dabei steht die
von mir schon in früheren Artikeln aufgestellte "Wert-Abspaltungsthese" im
Zentrum meiner Überlegungen (vgl. dazu vor allem Scholz, 1992). Im Zuge meiner
weiteren Argumentation wird unvermeidlich die diesem Theorem "schon immer" inhärente
Infragestellung des (Groß-)Begriffs sichtbar werden, bei gleichzeitig
radikalkritischer Insistenz auf die gesellschaftliche
Totalität. Die "Kritische Theorie" der Frankfurter
Schule im Sinne Adornos bleibt dabei nach wie vor zentraler Bezugspunkt, hat
sie doch das "Nichtidentische", die in der Hegelschen Dialektik eben gerade
nicht aufgehende Differenz, das Besondere usw. sozialphilosophisch
thematisiert, lange bevor der Feminismus und die "Postmoderne" allenthalben von
sich reden machten. Gleichzeitig hält
diese Theorie unerbittlich am Totalitätsdenken fest; im Gegensatz zu einem bloß
sozialreformerischen (zum Beispiel keynesianischen)
Denken jedoch grundsätzlich kritisch. Für sie ist Totalität schon per se
negative Totalität. Freilich geht es nicht darum, die Kritische Theorie in
dogmatischer Weise und völlig unverändert zu übernehmen: Auch dieses Denken
kann von heutiger Warte aus nicht gänzlich von Kritik verschont bleiben, auch
nach Adorno & Co. ist die gesellschaftliche Entwicklung weitergegangen. Zum anderen schließe ich an das
ökonomiekritische Wertverständnis der "fundamentalen Wertkritik" an, wie es von
der Zeitschrift "Krisis" entwickelt worden ist; wobei ich dieses Verständnis
allerdings patriarchatskritisch zu modifizieren gedenke. Vom alten
Arbeiterbewegungsmarxismus unterscheidet sich die "fundamentale Wertkritik" vor
allem dadurch, dass sie nicht bloß den "Mehrwert" skandaliert,
sondern die Warenform als Vergesellschaftungsprinzip der modernen
Weltgesellschaft schlechthin in Frage stellt.
Dies schließt eine Abgrenzung von traditionellen Marxismen ein, die in
soziologischer Verkürzung die Kategorie der "Arbeiterklasse" zum Dreh und
Angelpunkt machen und denen es um bloße Verteilungsgerechtigkeit innerhalb warenproduzierender Systeme geht. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass
soziale Disparitäten nicht mehr angeprangert werden, ganz im Gegenteil, jedoch
geschieht dies nicht auf der 8 Basis eines traditionellen Klassendenkens, das
in der Globalisierungsära ohnehin keine Bedeutung mehr hat. Dabei wird nicht
nur die westliche Entwicklung als warenförmig vermittelte angesehen, sondern
auch der verblichene Ostblocksozialismus als spezifisches warenproduzierendes
System einer "nachholenden Modernisierung" begriffen. In diesem Zusammenhang war
das traditionelle Klassenverhältnis selbst bloß ein Durchsetzungsmoment des warenproduzierenden Systems. Zur Disposition stehen somit
die Warenform, die abstrakte Arbeit, das Geld, der Wert überhaupt. Mittlerweile
hat sich längst gezeigt, dass gerade diese Perspektive hinsichtlich der
globalen Entwicklung prognostische Aussagekraft hat (vgl. Kurz, 1991). Mein Anliegen besteht somit darin, den
Wertbegriff der "fundamentalen Wertkritik" mit der Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule
in der Wert-Abpaltungsthese patriarchatskritisch zu
synthetisieren. Die Wert-Abspaltungsthese behauptet nun - kurz gesagt - eine "Abspaltung"
des Weiblichen, der Hausarbeit etc. vom Wert, von der abstrakten Arbeit und
den damit zusammenhängenden Rationalitätsformen, wobei bestimmte weiblich konnotierte Eigenschaften wie Sinnlichkeit, Emotionalität
usw. der Frau zugeschrieben werden; der Mann hingegen steht etwa für
Verstandeskraft, charakterliche Stärke, Mut usw. Der Mann wurde in der modernen
Entwicklung mit Kultur, die Frau mit Natur gleichgesetzt. Wert und Abspaltung
stehen dabei in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Sieht man von den Ausführungen zum
Kernverhältnis Tauschwert-Gebrauchswert/ Konsum des Gebrauchswerts/Abspaltung
des Weiblichen einmal ab, das in früheren Texten, wenngleich in komprimierter
Form, aber dennoch exakt bestimmt wurde und deshalb auch zur nicht mehr zu
begründenden Folie der nachfolgenden Untersuchung gemacht werden soll (siehe
Kurz, 1992), so ist die Wert-Abspaltungsthese als Theorie bislang eher
kursorisch ausgeführt worden. Deshalb beabsichtige ich, sie im zweiten Teil
dieses Textes theoretisch besser zu untermauern und sie dabei zugleich weiter
auszuarbeiten. Dies soll vor allem in der Auseinandersetzung mit den
prominenten theoretischen Versuchen von Regina Becker-Schmidt/Gudrun-Axeli Knapp, Elisabeth Beck- Gernsheim/Ilona Ostner und Frigga Haug geschehen, die die marxofeministische Theoriedebatte des deutschsprachigen
Raumes in den letzten 20 Jahren entscheidend geprägt haben. Ein weiteres Ziel dieser Arbeit ist es,
dabei gleichzeitig zu zeigen, dass sich über die Wert-Abspaltungsthese ein
qualitativ neuer patriarchatskritischer Zugang eröffnet, der die verhandelten
Theorieentwürfe wie das Geschlechterverhältnis in Moderne und Postmoderne
überhaupt in einem neuen Licht erscheinen lässt. In diesem Zusammenhang soll
vor allem deutlich gemacht werden, dass ein kritischer Rekurs der
feministischen Theoriebildung auf die 9 Frankfurter Schule auch zu einer völlig
anderen Konzeption führen kann, als dies bei Becker-Schmidt der Fall ist. Da mich zum Teil erst die Lektüre aller
dieser Theorieansätze auf den Abspaltungsgedanken gebracht hat, auch wenn sie
auf jeweils unterschiedliche Weise an altmarxistische Vorstellungen anknüpfen,
bin ich nicht darauf aus, nur die Differenzen zu ihnen herauszustellen. Wo
Kritik angebracht ist, wird sie entschieden betrieben; wo Affinitäten vorhanden
sind, werden sie kenntlich gemacht. Denn wie man sich denken kann, kam die
Anregung zur Abspaltungsthese gerade nicht von den marxistischen Männern, die
eine "fundamentale Wertkritik" vertreten (deren Urheber und auch jetzige Träger
sind nach wie vor in erster Linie Männer). Vielmehr musste sich die Perspektive
der Wert-Abspaltung bei diesen erst mühsam Gehör verschaffen. Im dritten Teil ziehe ich dann eine Art
Fazit und stelle noch einmal pointiert heraus, welche neuen Aspekte und
Weiterungen sich nach meinem Theorie-Durchgang im Spannungsfeld von Kritik und
Rekurs auf die diversen Theoriekonzeptionen für die Wert-Abspaltungsthese
ergeben haben. Damit ist freilich noch nicht das letzte Wort gesprochen,
vielmehr erst ein Forschungsprogramm formuliert, das es in Nachfolgeprojekten
auszuarbeiten gilt. Auf das Geschlechterverhältnis in der
Postmoderne/der Globalisierungsära im Weltmaßstab gehe ich, auf meine
bisherigen Überlegungen und Ergebnisse aufbauend, im Rekurs auf die
Untersuchungen/Arbeiten von Irmgard Schultz, Veronika Bennholdt-Thomsen
u.a. und Christel Dormagen vor allem im vierten Teil
ein. Dabei hat Irmgard Schultz - soweit ich sehe - die feministische Diskussion
zum Thema "Globalisierung" bis Anfang der 90er Jahre erstmals umfassend
aufgearbeitet. Da Veröffentlichungen zu diesem Gegenstand, die mittlerweile
zuhauf aus dem Boden geschossen sind, ihre Ausführungen im wesentlichen
bestätigen, ergänze ich diese bloß um neuere Befunde aus der zweiten Hälfte der
90er Jahre. Nicht zuletzt auch aus folgenden Gründen
soll dieser Thematik größerer Raum gegeben werden: Zum einen wurde gegen die
Position der Wert-Abspaltung schon des Öfteren eingewendet, sie könne nur auf
das moderne Geschlechterverhältnis bezogen werden; demgegenüber werde ich
zeigen, dass diese theoretische Perspektive sehr wohl die Kraft besitzt, auf
Fragen nach dem postmodernen Geschlechterverhältnis Antworten zu geben. Zum
anderen scheint mir die Einschätzung des Verhältnisses von Geschlecht und
Postmoderne/Globalisierung im Feminismus generell besondere Schwierigkeiten zu
bereiten. Die Positionen bewegen sich zwischen den Polen: "Trotz aller Veränderungen
in den letzten 30 Jahren hat sich prinzipiell nichts geändert" und der Feier
eines "Endes des Patriarchats" (etwa bei Libreria
delle donne di Milano, 1996). Im Unterschied zu
diesen Positionen vertrete ich die 10 These einer Verwilderung
des warenproduzierenden Patriarchats in der
späten Postmoderne. Die Überlegungen von Schultz, aber auch von anderen
Globalisierungsexpertinnen, auf die ich mich dabei beziehe, legen eine
derartige Schlussfolgerung nahe; auch wenn diese Autorinnen sie selbst nicht ziehen. Eine weitere zentrale These, die ich
ebenso (u. a. im Rückgriff auf Schultz) gewonnen habe, lautet in diesem
Zusammenhang, dass in der neoliberalen Postmoderne Flexi-Zwangsidentitäten
gefordert werden, die nach wie vor geschlechtsspezifisch und -hierarchisch
geprägt sind. So gesehen stützen nicht nur "essentialistische" Konzepte der
"neuen Weiblichkeit" die schlechte patriarchale
Realität, sondern gleichermaßen auch "antiessentialistische" Ansätze, die eine
Kritik an starren Geschlechtervorstellungen und traditionellen
Geschlechtsidentitäten zum Beispiel in dekonstruktivistischer
Absicht betreiben. Den vierten Teil abschließend, widme ich
mich noch verschiedenen Handlungskonzeptionen, die Antworten auf die Globalisierungproblematik zu geben versuchen und häufig auf
dem Bündnis- bzw. Netzwerkgedanken basieren. Nachweisen möchte ich dabei vor
allem, dass sowohl nationalstaatlich-keynesianische
als auch internationalistisch-zivilgesellschaftliche und ebenso "Eigenarbeits"- bzw. Subsistenz-Konzepte
der Verwilderung des warenproduzierenden Patriarchats
mit seinen geschlechtsspezifischen Flexi-Zwangsidentitäten
nichts wirklich Substantielles entgegenzusetzen haben. Dies gilt nicht bloß für das
Geschlechterverhältnis im engeren Sinn, sondern für das mittlerweile desolat
gewordene kapitalistisch-patriarchale System
insgesamt, dessen ökonomische, soziale und ökologische Grenzen längst
überdeutlich geworden sind. Ganz zum Schluss gehe ich noch einmal
explizit auf mein bisheriges Vorgehen ein. Schon vorher, insbesondere aber in
diesen (anti-)methodischen Schlussthesen, soll - in Abgrenzung u. a. zu
Positionen im theoretischen Feminismus, die das Verfahren Adornos primär auf
der soziologischen Oberflächenebene und damit meines Erachtens positivistisch
"anwenden" - nochmals deutlich gemacht werden, dass sich die Position der
Wert-Abspaltung eines solchen Vorgehens zu entschlagen
hat, ohne dass sie deswegen in ein haltloses Schwadronieren verfallen muss. Im Grunde wird
erst in den (anti-)methodischen Schlussthesen völlig klar, worauf meine
Überlegungen hinauslaufen. Den LeserInnen ist also
anzuraten, meinen Text von Anfang bis Ende durchzuarbeiten. In diesem
Zusammenhang möchte ich auch von vornherein Erwartungen entgegentreten, die
sich ein "perfektes" Konzept erhoffen, das die materielle,
kulturell-symbolische und sozialpsychologische Dimension unter dem Hut der
Wert-Abspaltung -womöglich noch nach Konkretions-Hierarchien gestaffelt - systematisch und
stringent zusammenbringt: quadratisch-praktisch-gut gewissermaßen. Vielmehr ist
es geradezu ihrem eigenen Inhalt nach das Ziel der Wert-Abspaltungskritik, die
sich schon immer als vorläufig und beschränkt weiß, ein derartiges Ansinnen zu
hintertreiben (ohne wie gesagt eine Totalitätsperspektive aufzugeben), auch
wenn dies manche LeserInnen beunruhigen mag. Eine derart komplexe Theoriearchitektur,
wie ich sie für notwendig erachte, erheischt freilich auch einen entsprechenden
Stil. Wem lange Sätze zuwider sind; wem Windungen und Wendungen in einer
diffizilen, schlüssig-unschlüssigen bzw. unschlüssig-schlüssigen Argumentation
unerträglich sind; wer denkt, dass auf eine Frage schon im nächsten Satz die
Antwort zu folgen hat, ohne geduldig ihre Entfaltung abwarten zu können; wer
der Auffassung ist: "Wenn du deine Meinung nicht in drei Sätzen sagen kannst,
lass es sein"; wer sich theoretische Aufsätze "reinziehen" und sie nicht
durcharbeiten und studieren will; wer meinen Text am Strand lesen möchte; kurz,
wer sich einen "Theorieburger" wünscht, sollte schon
jetzt das Buch aus der Hand legen, er/sie wird enttäuscht werden. In diesem Zusammenhang kann und will ich
auch nicht auf sprachliche Marotten verzichten und sind bei mir stilistische
Ausreißer und argumentative Umwege wohl gelitten. Auch dies entspricht dem
Inhalt der Wert-Abspaltungsthese, die deutlich macht, dass nicht alles
"identitätslogisch" (Adorno) im Wert, im Begriff, in der Struktur aufgeht. Ich
bin kein "Schneider Meck-Meck-Meck nach dem Durchlauf
in der formal-publizistischen Mühle"1,
wo alles Überstehende eskamotiert werden soll, was nicht den allgemeinen Stilgesetzen entspricht. Auch insofern lassen sich Form und
Inhalt nicht auseinanderdividieren. Ein unkomplizierter Satzbau, mehr kurze,
knackige Zusammenfassungen immer mal zwischendrin und das Motto von Focus-Markwort
"Und an die Leser denken" (wobei man sich das "Fakten, Fakten, Fakten" vorweg
verkniffen hat, schließlich hat man die adornitische
Positivismuskritik doch irgendwie verinnerlicht) wurden mir nach dem Lesen der
ersten Fassung dieses Textes ungeachtet des komplexen Gegenstandes jedoch
keineswegs bloß von doktorarbeitsgeschädigten Aspiranten einer Hochschule nahe
gelegt. Dies vorausgeschickt, möchte ich nun im
ersten Teil, als Voraussetzung, um sie im folgenden in der Konfrontation mit
anderen theoretischen Entwürfen besser fundieren und gleichzeitig auch
weiterentwickeln zu können, noch einmal zentrale Aspekte der
Wert-Abspaltungsthese repetieren, wie sie in früheren Artikeln bereits dargetan
wurden. -------------------------- 1
Ich habe diese Formulierung in Anlehnung an Barbara Duden übernommen, die
einmal in einem anderen Zusammenhang schrieb: "Ich bin kein Schneider MeckMeckMeck nach dem Durchlauf in der dekonstruktiven
Mühle" (Duden, 1993, S. 29). Erster Teil:
Zum Begriff von Wert und Wert-Abspaltung
Am besten lässt sich zeigen, was
"Wert-Abspaltung" meint, wenn zuvor erhellt wird, was ein androzentrischer
Wertbegriff im Sinne der "fundamentalen Wertkritik", an den ich kritisch
anschließen will, bedeutet. Gemeinhin wird der Wertbegriff positiv genommen,
sei es im traditionellen Marxismus, im Feminismus oder in der
Volkswirtschaftslehre, in der er etwa in der Form von Preisen als
voraussetzungsloser und überhistorischer Gegenstand menschlicher Gesellschaft
schlechthin erscheint. Nicht so bei der "fundamentalen Wertkritik". Der Wert
wird hier als Ausdruck eines gesellschaftlichen Fetischverhältnisses verstanden
und kritisiert. Unter den Bedingungen von Warenproduktion für anonyme Märkte
setzen die Gesellschaftsmitglieder ihre Ressourcen nicht nach einem gemeinsamen
Beschluss für die sinnvolle Reproduktion ihres Lebens ein, sondern sie
produzieren isoliert voneinander Waren, die erst durch den Austausch auf dem
Markt zu gesellschaftlichen Produkten werden. Indem diese Waren "vergangene
Arbeit" (Verausgabung abstrakt-menschlicher, gesellschaftlicher Energie)
"repräsentieren", sind sie "Wert"; das heißt, sie stellen eine bestimmte
Quantität verausgabter gesellschaftlicher Energie dar. Diese Darstellung
wiederum äußert sich in einem besonderen Medium, dem Geld, das die allgemeine
Form des Werts für das gesamte Waren-Universum abgibt. Das gesellschaftliche Verhältnis, das
durch diese Form vermittelt wird, stellt die Beziehungen von Personen und
sachlichen Produkten auf den Kopf: Die Gesellschaftsmitglieder als Personen
erscheinen ungesellschaftlich, als bloße Privatproduzenten und zusammenhanglose
Individuen; umgekehrt erscheint die gesellschaftliche Beziehung als das
Verhältnis von Sachen, von toten Dingen, die sich über die abstrakten
Quantitäten des Werts, den sie jeweils repräsentieren, miteinander ins
Verhältnis setzen. Die Personen werden versachlicht und die Sachen quasi verpersönlicht. Es entsteht eine wechselseitige Entfremdung
der Gesellschaftsmitglieder, die ihre Ressourcen nicht nach bewussten gemeinsamen
Beschlüssen einsetzen, sondern sich einem blinden Verhältnis toter Dinge -
ihrer eigenen Produkte - aussetzen, das durch die Geldform gesteuert wird. Auf
diese Weise kommt es immer wieder zu einer Fehlsteuerung der Ressourcen, zu
Krisen und gesellschaftlichen Katastrophen. Die Kritik dieses Fetischismus, der die
Menschen als gesellschaftliche Wesen den Verhältnissen ihrer eigenen Produkte
unterordnet, muss also 13 schon auf der Ebene von Warenproduktion, Wert,
abstrakter Arbeit und Geldform ansetzen. Genau daran ist die bisherige
marxistische Theoriebildung gescheitert, von der diese eigentliche Radikalität
der Marxschen Theorie ins Philosophische ausgegrenzt wurde, während sie konkret
gesellschaftstheoretisch, also im sozialen und ökonomischen Sinne, das
kategoriale Gefängnis des modernen warenproduzierenden
Systems (in allen seinen historisch ungleichzeitigen Ausformungen) nicht zu
sprengen vermochte. Der "fundamentalen Wertkritik" kommt es im Gegensatz dazu
genau darauf an, diesen verschollenen Kern der Kritik der politischen Ökonomie
aufzudecken und die scheinbar selbstverständliche Form des Werts in ihrem
negativen Fetischcharakter bewusst zu machen, um zu einer Reformulierung
radikaler Gesellschaftskritik zu gelangen: "Als Waren sind die Produkte
entsinnlichte abstrakte Wert-Dinge und nur in dieser seltsamen Gestalt
gesellschaftlich vermittelt. Im Kontext der Marxschen Kritik an der Politischen
Ökonomie ist dieser ökonomische Wert rein negativ bestimmt, als verdinglichte,
fetischistische, von jedem konkreten sinnlichen Inhalt losgelöste, abstrakte
und tote Darstellungsform vergangener gesellschaftlicher Arbeit an den
Produkten, die sich in einer permanenten Formbewegung der Austauschbeziehungen
bis zum Geld als dem abstrakten Ding fortentwickelt" (Kurz, 1991, S. 16f.). Allerdings findet sich dieser
spezifische Fetischismus der Warenform als allgemeines und dominierendes
Prinzip der Vergesellschaftung erst in den modernen warenproduzierenden
Systemen. Es war allein der moderne Kapitalismus, der eine vom übrigen Leben
und anderen Beziehungsformen abgelöste und verselbständigte, auf anonyme Märkte
bezogene Warenform hervorbrachte, die gleichzeitig den gesellschaftlichen
Lebensprozess beherrscht. Vorher wurde primär
für den Gebrauch produziert, nicht nur in agrarischen Zusammenhängen, sondern
selbst in den Zünften, die speziellen Zunftgesetzen unterlagen. Auch der
Begriff einer gesellschaftlichen "Totalität" konnte überhaupt erst mit diesem
real totalitären Zugriff der Waren- und Geldform auf die Gesellschaft
entstehen. Warenproduktion, Geldbeziehung und "Marktwirtschaft" als allgemeiner
Systemzusammenhang entstanden dadurch, dass sich der Wert und damit seine
Erscheinungsform, das Geld, aus einem bloßen Medium, das real unabhängige
Produzenten (Familienwirtschaften etc.) vermittelte, in einen allgemeinen
gesellschaftlichen Selbstzweck verwandelte: Das Geld wurde als Kapital auf sich
selbst rückgekoppelt, um es zu "verwerten", das heißt aus Geld in einem
rastlosen Prozess "mehr Geld" (Mehrwert) zu machen. Für diese kapitalistisch produktive
"Verwertung des Werts" sind zwei Bedingungen konstitutiv, die eine solche
kapitalistische Produktionsweise von jeder vormodernen Warenproduktion
unterscheiden. Erstens wird die 14 Produktion von Gebrauchsgütern, die in
vorkapitalistischen Verhältnissen noch der selbstverständliche Sinn der
Produktion war, nunmehr zum bloßen Träger der Wertabstraktion und damit die
Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse zum bloßen "Nebenprodukt" der
Akkumulation von Geldkapital. Es findet
also eine Verkehrung von Zweck und Mittel statt: "Der Fetischismus ist
selbstreflexiv geworden und konstituiert dadurch die abstrakte Arbeit als
Selbstzweckmaschine. Er erlischt jetzt nicht mehr im
Gebrauchswert, sondern stellt sich dar als Selbstbewegung des Geldes, als
Verwandlung eines Quantums toter und abstrakter Arbeit in ein anderes, größeres
Quantum toter und abstrakter Arbeit (Mehrwert) und somit als tautologische
Reproduktionsbewegung und Selbstreflexion des Geldes, das erst in dieser Form
Kapital, also modern wird" (Kurz, 1991, S. 18). Zweitens muss die menschliche
Arbeitskraft selber zur Ware werden. Von jedem eigenständigen und eigenwilligen
Zugriff auf die Ressourcen enteignet, wurde ein wachsender Teil der
Gesellschaft unter das Joch von "Arbeitsmärkten" geschickt und das menschliche
Produktionsvermögen auf diese Weise zu einem grundsätzlich fremdbestimmten
gemacht. Erst unter diesen Bedingungen wird die Produktionstätigkeit zur
"abstrakten Arbeit", die nichts anderes ist als die spezifische Tätigkeitsform
für den abstrakten Selbstzweck der
Geldvermehrung im Funktionsraum der kapitalistischen
"Betriebswirtschaft", das heißt abgetrennt vom Lebenszusammenhang und von den
Bedürfnissen der Produzenten selbst. Mit der Entfaltung des Kapitalismus wird
demnach das gesamte individuelle und gesellschaftliche Leben rund um den Globus
durch die Selbstbewegung des Geldes geprägt, wobei die "lebendige Arbeit nur
noch als Ausdruck der verselbständigten toten Arbeit (erscheint)" und die erst
im Kapitalismus entstandene (abstrakte) Arbeit jetzt unhistorisch als ontolgisches Prinzip angenommen wird (Kurz, 1991, S. 18
f.). Die verkürzte Sicht des traditionellen
Arbeiterbewegungs-Marxismus auf diesen Systemzusammenhang bestand nun gerade
darin, dass er den "Mehrwert" in einem bloß oberflächlichen und soziologischen
Sinne kritisierte, nämlich als dessen "Aneignung" durch die
"Kapitalistenklasse". Nicht die Form des auf sich selbst fetischistisch
rückgekoppelten Werts als solche war also der Stein des Anstoßes, sondern
lediglich dessen "ungleiche Verteilung". Eben deshalb blieb dieser
"Arbeitsmarxismus", so die Vertreter der "fundamentalen Wertkritik", auch in
der Ideologie einer bloßen "Verteilungsgerechtigkeit" stecken. Der absurde Selbstzweck der totalitären
Waren- und Geldform selbst ist das Problem, während die "gerechte Verteilung"
innerhalb dieser Form den Systemgesetzen und damit den systemischen
Restriktionen unterworfen bleibt, also eine bloße Illusion ist. Eine bloße
Umverteilung in der Waren-, 15 Wert- und Geldform, wie immer sie vorgenommen
wird, kann weder die Krisen verhindern noch die globale, kapitalistisch
erzeugte Armut überwinden; nicht die Abschöpfung des abstrakten Reichtums in
der unaufgehobenen Geldform ist das entscheidende Problem, sondern diese Form
selbst. Die alte Arbeiterbewegung konnte
demnach mit ihrer verkürzten "Kapitalismuskritik" in den unüberwundenen
Kategorien des Kapitalismus selber nur vorübergehend systemimmanente
Verbesserungen und Erleichterungen erringen, die heute - in der Krise des warenproduzierenden Systems -schrittweise wieder zunichte
gemacht werden. Der traditionelle Marxismus und die politische Linke überhaupt
machten sich dabei alle grundlegenden kapitalistischen
Vergesellschaftungs-Kategorien zu eigen, insbesondere die abstrakte "Arbeit",
den Wert als vermeintlich überhistorisches allgemeines Prinzip, demzufolge auch
Waren- und Geldform als allgemeine Beziehungsform und den universellen anonymen
Markt als Sphäre der fetischistischen gesellschaftlichen Vermittlung usw.,
während die mit diesem kategorialen Systemzusammenhang einhergehende Misere und
Entfremdung durch äußerliche politische Eingriffe behoben werden sollte - eine
auch heute wieder und immer noch in (links)keynesianischer
Verwässerung stets aufs neue aufgewärmte Illusion. Ein innerhalb der kapitalistischen
Durchsetzungsgeschichte relativ eigenständiges Übergangssystem konnte mit der
Legitimation dieser Ideologie nur in den historisch ungleichzeitigen
Nachzügler-Gesellschaften der modernen Warenproduktion entstehen; nämlich als
jene "nachholende Modernisierung" in staatskapitalistischen Formen, die als
"sozialistisches Gegensystem" (miss)verstanden wurde, obwohl sie nirgends aus
der Krisenreife eines entwickelten Kapitalismus
hervorging, sondern dieses Paradigma nur in kapitalistisch "unterentwickelten"
Gesellschaften an der Peripherie des Weltmarkts für einige Jahrzehnte dominant
wurde (Rußland, China, Dritte Welt). Da es sich auch
bei diesen Gesellschaften um - wenngleich "nachholende" - warenproduzierende
Systeme handelte, war in ihnen zwangsläufig die kapitalistische
Ware-Geld-Dynamik anonymer Marktvermittlung (die immer schon das Prinzip der
Konkurrenz einschließt) wirksam, wenngleich in anderer Weise als im Westen,
indem hier nämlich der Staat als Generalunternehmer auftrat. Und diese Dynamik der auch in den
Ostblock-Staaten auf sich selbst rückgekoppelten abstrakten Wertform war es
schließlich auch, die den "realexistierenden
Sozialismus" (alias Staatskapitalismus) - vermittelt über Weltmarktprozesse und
den Wettlauf in der Produktivkraftentwicklung - zu Fall brachte und die
weltweiten Krisen- und Bürgerkriegsszenarios der 90er Jahre heraufführte. Mit
dem Zusammenbruch der "nachholenden Modernisierung" eröffnete sich freilich
keine "Reformperspektive" für den Übergang zu 16 "Marktwirtschaft und
Demokratie" (wie der westliche Urkapitalismus im Jargon auch der
konformistischen Linken inzwischen genannt wird), sondern unter der Bedingung,
dass das warenproduzierende System und seine
Kriterien beibehalten werden, nur noch die "Perspektive" der Barbarei. Schon in den 80er Jahren verflog die
Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen auch in der "Dritten Welt". Die
Perspektive der immer schon warenförmig-fetischistisch gedachten so genannten
"Entwicklung", die - verbunden mit einer Modernisierungseuphorie - noch den
Zeitgeist bis etwa Mitte der 70er Jahre bestimmt hatte, war zeitweise via
Kredit als einlösbar erschienen. In den
80er Jahren brach jedoch auch dieses auf den Rahmen des kapitalistischen
Weltsystems beschränkte Konzept zusammen und viele Dritt-Welt-Länder wurden
durch den neoliberalen Druck, der zum Beispiel zu einer Verschuldung bei IWF
und Weltbank führte, ins Elend gerissen.
Vorgaben zur Tilgung der Kredite durch diese Institutionen führten zu
euphemistisch so genannten "Strukturanpassungsprozessen" und einer drastischen
Verschlechterung der sozialen Lage beim Großteil der Bevölkerung. Mittlerweile lässt sich absehen, dass sich
diese prekären Existenzbedingungen auch in den hoch industrialisierten
westlichen Industrienationen selber ausbreiten.
Der Wert, die abstrakte Arbeit, die warenförmige Vermittlung auf der
Basis des kapitalistischen Selbstzwecks werden überhaupt obsolet; der "Kollaps
der Modernisierung" zeigt sich immer deutlicher (Kurz, 1991). Die Paradoxie der postmodernen Situation
besteht gerade darin, dass der Kapitalismus einerseits unfähig zur Reproduktion
der Menschheit wird (selbst nach seinen eigenen, ohnehin inakzeptablen
Kriterien), andererseits aber die bisherigen Paradigmen einer verkürzten,
kategorial in den Formen des warenproduzierenden
Systems befangenen "Kapitalismuskritik" (sei es altmarxistisch-arbeiterbewegter,
sei es keynesianischer, sei des "nationalrevolutionär"-antiimperialistischer
Provenienz) schlichtweg ins Leere gehen.
Die sozialen Disparitäten sind nicht verschwunden, sondern haben sich im
Gegenteil dramatisch verschärft; aber sie können nicht mehr in Begriffen eines
"vorenthaltenen Mehrwerts", das heißt nicht im Sinne eines bloß soziologischen
(von den basalen gesellschaftlichen
Formzusammenhängen absehenden) Verständnisses von "Klassenverhältnissen" oder
"nationalen Abhängigkeitsverhältnissen" abgebildet werden. Diese Sicht der "fundamentalen
Wertkritik", so logisch sie in sich auch ist und so plausibel sie viele
Erscheinungen der gegenwärtigen Weltkrise zu erklären vermag, bleibt in dieser
ihrer Logik aber dem Geschlechterverhältnis gegenüber indifferent. Es ist
unmittelbar einsichtig, dass hier geschlechtsneutral bloß der Wert und in
diesem Zusammenhang die "abstrakte Arbeit", wenngleich auch als Gegenstand
radikaler Kritik, zu theoretischen Ehren kommen. Dass im warenproduzierenden
System auch Haushaltstätigkeiten 17 verrichtet, Kinder erzogen und
Pflegetätigkeiten ausgeführt usw., also Aufgaben erledigt werden müssen, die
für gewöhnlich Frauen (selbst wenn sie erwerbstätig sind) zufallen und die
nicht bzw. nicht ausschließlich professionell "bearbeitet" werden können,
bleibt dabei außen vor (vgl. zum folgenden Kurz, 1992, S. 135 ff. und 155 ff.;
Scholz, 1992). Der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang
bestimmt sich also keineswegs allein aus der fetischistischen Selbstbewegung
des Geldes und dem Selbstzweckcharakter der abstrakten Arbeit im Kapitalismus.
Vielmehr findet eine geschlechtsspezifische "Abspaltung" statt, die mit dem
Wert dialektisch vermittelt ist. Das Abgespaltene ist kein bloßes "Subsystem"
dieser Form (wie etwa der Außenhandel, das Rechtssystem oder auch die Politik),
sondern wesentlich und konstitutiv für das gesellschaftliche Gesamtverhältnis. Das heißt, es besteht kein logisch-immanentes
"Ableitungsverhältnis" zwischen Wert und Abspaltung. Die Abspaltung ist der
Wert und der Wert ist die Abspaltung. Beides ist im anderen enthalten, ohne
deshalb jeweils mit ihm identisch zu sein. Es handelt sich um die beiden
zentralen, wesentlichen Momente desselben in sich widersprüchlichen und
gebrochenen gesellschaftlichen Verhältnisses, die auf demselben hohen
Abstraktionsniveau erfasst werden müssen. Denn dasjenige, was nicht vom Wert
erfasst werden kann, also abgespalten wird, dementiert ja den
Totalitätsanspruch der Wertform; es stellt das Verschwiegene der Theorie selbst
dar und kann deswegen nicht mit dem Instrumentarium der Wertkritik erfasst
werden. Da sie die Kehrseite der abstrakten Arbeit darstellen, können die
weiblichen Reproduktionstätigkeiten so auch nicht einfach mit dem abstrakten
Arbeitsbegriff belegt werden, wie dies im Feminismus häufig geschieht, der die
positive Arbeitskategorie weitgehend vom Arbeiterbewegungs-Marxismus übernommen
hat. In die abgespaltenen Tätigkeiten, die nicht zuletzt auch menschliche
Zuwendung, Betreuung, Pflege bis hin zu Erotik, Sexualität, "Liebe" umfassen,
gehen Gefühle, Emotionen und Haltungen mit ein, die der
"betriebswirtschaftlichen" Rationalität im Bereich der abstrakten Arbeit
entgegengesetzt sind und sich der Arbeitskategorie widersetzen, auch wenn sie
von zweckrationalen Momenten und protestantischen Normen nicht völlig frei
sind. Dabei werden in der patriarchalen
Moderne nicht nur bestimmte Tätigkeiten, sondern auch Gefühle und Eigenschaften
(Sinnlichkeit, Emotionalität, Verstandes- und Charakterschwäche usw.) an "die
Frau" delegiert bzw. ihr zugeschrieben und in sie hineinprojiziert. Das
männliche Aufklärungssubjekt, das als gesellschaftsbestimmendes
für Durchsetzungskraft (in der Konkurrenz), Intellekt (hinsichtlich
kapitalistischer Reflexionsformen), Charakterstärke (in der Anpassung an
kapitalistische Zumutungen) u. ä. steht und das selbst noch etwa den
disziplinierten männlichen Feinmechaniker der 18 fordistischen
Phase in der Fabrik (unbewusst) konstituierte, ist selber wesentlich über diese
"Abspaltung" strukturiert. Insofern hat die Wert-Abspaltung also auch eine
kulturell-symbolische Seite und eine sozialpsychologische Dimension, der meines
Erachtens nur mit einem psychoanalytischen Instrumentarium beizukommen ist. Demgemäß sind die - entsprechend der
Wert-Abspaltung - gleichermaßen dialektisch vermittelten Sphären von Privatheit und Öffentlichkeit idealiter
jeweils männlich bzw. weiblich besetzt. Dennoch "sitzt" das
Geschlechterverhältnis freilich nicht verdinglicht in den Bereichen von
Privatsphäre und Öffentlichkeit, wie es stereotype Annahmen nahe legen könnten.
Frauen waren schon immer auch in öffentlichen Sphären, vor allem der
kapitalistischen Erwerbssphäre, anzutreffen; aber die Abspaltung setzt sich
eben auch innerhalb der öffentlichen Sphären fort. Selbst noch in der Postmoderne, wenn die
Berufstätigkeit von Frauen immer mehr zunimmt, ihre Qualifikationen mit denen
der Männer gleichgezogen haben und die "Verwirrung der Geschlechter" beliebtes
Medienthema wird, fällt auf, dass die Geschlechterhierachie
und die Zurücksetzung von Frauen keineswegs grundsätzlich verschwunden sind.
Frauen sind im Verhältnis zu Männern immer noch bevorzugt in der Privatsphäre
für Kinder und Hausarbeit zuständig, werden in der Erwerbssphäre schlechter
bezahlt, sind in führenden öffentlichen Positionen selten anzutreffen usw., was
wohl in den "klassisch" modernen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen,
Zuordnungen und dementsprechend realen Zuständigkeiten der Frauen für private
Reproduktionsbelange wurzelt und sich selbst noch in postfordistischen
Zeiten bemerkbar macht. Diese Kritik an einem androzentrisch gedachten Wertbegriff, wie sie mit der
Theorie der Wert-Abspaltungsform als übergreifendem Begriff gesetzt ist, hat
nicht nur für die "fundamentale Wertkritik" Konsequenzen, sondern ebenso für
andere Ansätze, die sich schon in der Vergangenheit kritisch (wenn auch
meistens inkonsequent) mit Wertabstraktion und Warenfetisch auseinandergesetzt
haben. In die Schusslinie gerät dabei insbesondere auch ein in linken und in
manchen feministischen Konzepten vorfindbarer, emphatischer und prinzipiell
positiv besetzter Begriff des "Gebrauchswerts", weil dieser zum Beispiel als
"weiblich" gedacht wird und als solcher angeblich per se bereits
Widerstandspotentiale in sich bergen soll. Denn bei der Entsprechung
Gebrauchswert = Weiblich, Tauschwert = Männlich werden unter Beibehaltung der
hierarchischen Unterordnung des Gebrauchswerts unter den Tauschwert wiederum
geschlechtsspezifische Disparitäten lediglich aus der vermeintlich
geschlechtsneutralen Warenform abgeleitet. Die Analyse verbleibt weiterhin in androzentrischer Manier bloß im Binnenraum der Ware. Nach Kornelia Hafner ist es dagegen
schon bei Marx entscheidend, "dass die Gebrauchswerte als Geschöpfe des
Kapitals selbst erscheinen" und die Annahme eines selber abstrakten "reinen
Nutzens" des Gebrauchswerts in verallgemeinerter Form erst auftaucht, nachdem
sich die Warenform durch das Kapitalverhältnis einigermaßen flächendeckend
verallgemeinert hat (Hafner zit. n. Kurz, 1992, S. 137). Für die hier zentral
in Rede stehende "fundamentale Wertkritik" folgt daraus, dass die Ware nur im
Zirkulationsprozess, als Marktding, "Gebrauchswert" ist, und insofern bleibt
auch der Gebrauchswert bloß eine abstrakt-ökonomische Fetischkategorie. Er
bezeichnet nicht den konkreten Nutzen des sinnlich-stofflichen Gebrauchs,
sondern nur den abstrakten "Nutzen schlechthin" als Gebrauchswert eines Tauschwerts. Vom Standpunkt der Wert-Abspaltung aus ist
der Gebrauchswert-Begriff somit gewissermaßen selbst Teil des abstrakt-androzentrischen Warenuniversums. Die Sphäre, die nun tatsächlich aus dem
ökonomischen Formzusammenhang herausfällt, sind die Konsumtion
und die damit verbundenen vor- und nachgelagerten
Tätigkeiten; deshalb ist der Zugang zum "Abgespaltenen" der Wertform zunächst
auch hier zu suchen. Real stofflich-sinnlich gebraucht und genossen werden die
Waren erst im Konsum. Damit entzieht sich das im Konsum "verknusperte",
warenförmig hergestellte Produkt der Warenform.
Außer acht bleibt dabei, dass das Herausfallen der Güter aus dem
ökonomischen Formzusammenhang nicht einfach unmittelbarer "bloßer" Konsum ist,
sondern vermittelt durch eine Sphäre von Reproduktionstätigkeiten, die sich mit
teilweise oder sogar apriorisch nicht-warenförmig vermittelten Tätigkeiten,
Momenten und Beziehungen verschränken. Das so bestimmte "Abgespaltene", das aus
der Sicht des androzentrischen, vom Wert erfassten
Formzusammenhangs an der Grenze zur Konsumtion gewissermaßen ins Leere führt,
erscheint deshalb in der männlichen, eindimensional auf die Reflexion des Werts
bezogenen Gesellschaftstheorie gleichsam als Ahistorisches,
Qualliges und Formloses wie das Weibliche in der christlich-abendländischen
Gesellschaft überhaupt, dem wertformanalytisch nicht mehr beizukommen ist.
Nicht zur Abspaltung gehörig ist dagegen die Konsumtion von Produktionsmitteln,
die betriebswirtschaftlich vernutzt werden, wie Maschinen, Investitionsgüter
usw.; diese verbleiben unmittelbar im "männlichen Universum" des Werts. Nun geht die "Abspaltung" freilich
begrifflich nicht im Konsum und in der Zubereitung der gekauften Gebrauchsdinge
für den Verbrauch auf; hinzu kommen noch zentral Zuwendung, Betreuung, Pflege,
"Liebe" usw. bis hin zur Sexualität und Erotik. Was dabei verpflichtende
Tätigkeit und existentielle Lebensäußerung ist, lässt sich nicht mehr exakt
auseinander halten. Gerade dies aber macht das Belastende der weiblichen Reproduktionstätigkeiten
im Gegensatz zur Situation des "abstrakten Arbeiters" aus. Die Herausbildung der abstrakten Arbeit
und der Abspaltung ist somit -historisch und logisch - grundsätzlich gleich
ursprünglich; es kann also das eine gegenüber dem anderen nicht als Erzeuger
angesehen werden. Beide sind jeweils die Voraussetzung für die Konstitution des
anderen. Insofern stellt das Verhältnis Wert-Abspaltung gewissermaßen eine
Metastruktur gegenüber der reduktionistischen Annahme
dar, allein der Wert sei das Konstitutionsprinzip, das Wesen warenproduzierender Gesellschaften. Das weibliche Abgespaltene ist so das
Andere der Warenform als ein für sich stehendes; andererseits bleibt es aber
unselbständig und minderbewertet, gerade weil es sich
um das abgespaltene Moment im Zusammenhang der gesellschaftlichen
Gesamtreproduktion handelt. Man könnte somit sagen: Entspricht der Ware die
abstrakte Form, dann dem Abgespaltenen die abstrakte Formlosigkeit; ja man
könnte beim Abgespaltenen geradezu paradox von einer Form der Formlosigkeit
sprechen, wobei diese - um es noch einmal zu betonen - logischerweise nicht
mehr von den Kategorien des warenförmigen Binnenzusammenhangs erfasst werden
kann. Die warenförmig-androzentrische Wissenschaft
und Theorie vermag diesem Verhältnis nicht Rechnung zu tragen, da sie das aus
der Warenform Herausfallende als "Nichtlogisches" und
"Nichtbegriffliches" aus ihrer Theoriebildung und ihren Begriffsapparaten
herauskatapultieren muss. Dabei handelt es sich bei der hier
angesprochenen "Sinnlichkeit" im Kontext der "Abspaltung" freilich um eine
historisch gewordene. Dies gilt nicht nur für die Reproduktionsleistungen von
Frauen (Zubereitung der Güter für den Konsum, Liebe, Pflege, Zuwendung usw.),
die erst mit der Ausdifferenzierung in einen kapitalistischen
Erwerbsarbeitsbereich einerseits und einen Bereich häuslich-privater
Reproduktion andererseits im 18.
Jahrhundert entstanden (vgl. zum Beispiel Hausen, 1976), sondern ebenso
für die Bedürfniskonstitution überhaupt 2. Dass im Kontext der Wert-Abspaltungsform
das abgespaltene "Weibliche" nicht das irgendwie "bessere" gegenüber der
warenförmigen "Männlichkeit" ist, ergibt sich schon allein daraus, dass es sich
um eine negative Einheit von Warenform und "Abgespaltenem" handelt. Daraus
resultiert wiederum, dass auch Frauen, die (nur) im Reproduktionsbereich tätig
sind (eine Bestimmung, die empirisch nicht für jede Frau gelten muss), eine
bornierte und entfremdete Existenz führen, die sich spiegelbildlich zur
Entfremdung der abstrakten Arbeit im betriebswirtschaftlichen Funktionsraum des Kapitals verhält. Der
sinnliche Gebrauch und Genuss, aber auch die sich darum rankenden Tätigkeiten
und zugeschriebenen Eigenschaften der Frau als abgespaltenes Moment sind
demnach kapitalistisch gesellschaftsimmanent, wenngleich auch nicht
wertformimmanent. -------------------------- 2 Ohne hier in
eine vulgärkonstruktivistische Haltung verfallen zu wollen, die selbst noch von
einem dynamischen, durch Gesellschaftlichkeit vermittelten Naturverhältnis
nichts wissen will, muss gesagt werden, dass jeder Trieb schon immer
gesellschaftlich-kulturell strukturiert ist und nie einfach als
natürlich-unmittelbarer vorkommt. -------------------------- Gemäß der Wert-Abspaltungsthese muss
somit davon ausgegangen werden, dass das moderne Geschlechterverhältnis im
Kontext des warenproduzierden Patriarchats zu
untersuchen ist, also (ebenso wie der Wert selbst) nicht als überhistorische
Gegebenheit "parallel" zu den verschiedenen Gesellschaftsformationen. Dies heißt nicht, dass es keine Vorgeschichte
hat. Allerdings erreicht das Geschlechterverhältnis in der warenproduzierenden
Moderne eine gänzlich neue Qualität, der es theoretisch und analytisch Rechnung
zu tragen gilt. In der Postmoderne ist nun wiederum eine Veränderung des
Geschlechterverhältnisses zu konstatieren. Dennoch ist dabei, wie schon
angedeutet, die moderne Grundcodierung im Sinne der Wert-Abspaltung und die
dementsprechende Geschlechter-Hierarchisierung nach wie vor in all ihren
postmodernen Brechungen, Diversifikationen, Umpolungen, Um- und Überformungen,
Rückkoppelungen und Ausdifferenzierungen festzustellen; im Karrierefrauen- oder
Hausmann-Dasein ebenso wie im Damenfußball und Männerstriptease, in Lesben- und
Schwulenhochzeiten oder in den heute medial hofierten Transi-Shows,
um nur einige pointierte Beispiele zu nennen. Seit der Veröffentlichung der hier kurz
referierten Positionsbestimmungen zur übergreifenden Metastruktur der
Wert-Abspaltung sind nun schon einige Jahre ins Land gezogen, und es gibt
mancherlei zu modifizieren und zu präzisieren, wie ich zeigen werde. So wird
etwa mittlerweile noch klarer, wohin die postmoderne Entwicklung des warenproduzierenden Patriarchats treibt: Es kommt nicht nur
zu den besagten Um- und Überformungen, Rückkoppelungen und Umpolungen, sondern
im Zuge der strukturell bedingten Krise des nunmehr weltumspannenden
kapitalistischen Systems sogar zu einer Verwilderung des warenproduzierenden
Patriarchats im globalen Maßstab. Frauen sind so in den heftigen sozialen
Verwerfungen der Weltkrise zwar - im Gegensatz zu den früheren Verhältnissen
bis in die fordistische Phase hinein heute auch dem
Leitbild nach - nicht mehr für die Reproduktionssphäre allein zuständig, dafür
allerdings im Gegensatz zu Männern nunmehr für Haushalt und Erwerbstätigkeit
gleichermaßen, wobei ihre Minderbewertung dennoch oder gerade deshalb bleibt.
Damit blamieren sich allerdings auch jene optimistischen Einschätzungen seit
Mitte der 80er Jahre, die eine Emanzipation der Frauen fast schon für erreicht
hielten bzw. derartiges sogar heute noch behaupten. Diesen Verwilderungstendenzen stellt die
Position der Wert-Abspaltungskritik das Ziel der Aufhebung von Wert, Warenform,
Marktwirtschaft, abstrakter Arbeit und Abspaltung entgegen; eine Perspektive
somit für die Überwindung des warenproduzierenden
Gesamtverhältnisses, die sowohl in materieller als auch in ideeller und
sozialpsychologischer Hinsicht greifen muss. In diesem radikalen Sinne steht
die Aufteilung dieser Ebenen und Bereiche generell zur Disposition, was eine
Kritik der heute bloß verfallenden Kleinfamilie einschließt. Mithin geht es um
die Aufhebung von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" im bisherigen Sinne
überhaupt, und damit auch der ihnen entsprechenden Zwangssexualitäten. Im Folgenden soll nun von dieser Position
radikaler Kritik aus eine Auseinandersetzung mit einigen maßgeblichen Konzepten
im theoretischen Feminismus erfolgen. Dabei will ich im kritischen Bezug auf
einen Aufsatz von Regina Becker-Schmidt erst einmal grundsätzlich
herausarbeiten, dass Strukturen, Mechanismen, Phänomenologien etc. der
Wert-Abspaltung nur für das warenproduzierende
Patriarchat Geltung beanspruchen können und es verfehlt wäre, diese auch in
nicht-modernen Gesellschaften am Werke zu sehen, ja sie womöglich noch als "gattungsgegeben" hinzustellen. Nach dieser basalen Abgrenzung wende ich mich sodann Ansätzen zu, die
das Geschlechterverhältnis im warenproduzierenden
Patriarchat theoretisch einzufangen trachten. (...) Dritter Teil: Die modifizierte Wert-Abspaltungstheorie
Als nächstes soll nun der Ertrag der
bisherigen Überlegungen dargestellt werden. Welche Innovationen ergeben sich
nach meinem Theoriedurchgang für die Wert-Abspaltungstheorie? Mein Ziel besteht
dabei darin, die Silhouette einer so gewonnenen, erweiterten Fassung einer Theorie
der Wert-Abspaltung im Spannungsfeld von Kritik und Rekurs auf die diskutierten
Theorieansätze erkennbar werden zu lassen. Dies heißt freilich nicht, dass ich
die theoretischen Ausführungen zur "Wert-Abspaltung" damit für abgeschlossen
halte. Vielmehr ist mit dem nachfolgenden Fazit ein Programm formuliert, das zu
weiteren Forschungen und Entfaltungen drängt; ist doch offenbar, dass manches
in meinen Überlegungen bislang eher kursorisch dargetan wurde, so zum Beispiel
zum Verhältnis von Identitätslogik und Geschlechterverhältnissen oder auch zum androzentrischen gesellschaftlichen Unbewussten. Die
Erkenntnis der Grenzen von Theoriebildung schlechthin, die gerade aus den
erweiternden Ausführungen der Wert-Abspaltungstheorie folgt, schließt freilich
eine weitere Ausgestaltung und Präzisierung dieser Theorie nicht aus. Andernfalls könnte man von vornherein auf
Theorie überhaupt verzichten und sich in falscher Ummittelbarkeit gleichermaßen
positivistisch - bloß in der vitalistischen Umkehrung - mit dem positiv
Gegebenen begnügen. Auf die Konzeption Ostners
zur Trennung von "Beruf und Hausarbeit" gehe ich in diesem Zusammenhang nicht
mehr ein, weil ich diesen Ansatz einerseits bereits in früheren Aufsätzen (vgl.
Kurz, 1992, Scholz, 1992) kritisch aufgehoben sehe und ich andererseits,
wenngleich in einer altmarxistischen Variante, in der Bestimmung des
"kapitalistischen Patriarchats als Zivilisationsmodell" von Haug eine
Weiterentwicklung der Gedanken von Ostner erblicke,
die ebenfalls wert-abspaltungstheoretisch korrigiert werden muss. Die Konzeption von Ostner
wurde in meinen Überlegungen nichtsdestoweniger berücksichtigt, weil sie wie
gezeigt trotz vielem Kritisierenswerten in einigen Momenten der "fundamentalen
Wertkritik" und der Wert- Abpaltungstheorie nahe
kommt, ohne diese Ebene explizit darzustellen. In diesem Zusammenhang hat Ostner neueren Ansätzen durchaus auch etwas voraus. Beispielsweise könnte durch eine kritische
Neulektüre zumindest zum Teil deutlich gemacht werden, warum sich in der modern-patriarchalen Entwicklung Individuen überhaupt als
Männer und Frauen "konstituieren" müssen; und damit zusammenhängend, warum es
überhaupt zu Geschlechtswechseln von Berufen kommen kann. Die dabei nicht
zuletzt zugrunde liegende 107 Herausbildung von Berufsarbeit und "Hausarbeit",
von Reproduktions- und Produktionsbereich spielt etwa bei Gildemeister/Wetterer, denen es bloß um die "Herstellung von (Zwei-)geschlechtlichkeit" nicht nur bei Geschlechtswechseln von
Berufen geht, überhaupt keine Rolle, ja mehr noch: mit aller Kraft soll bei
ihnen derartigen Argumentationen die Stirn geboten werden (vgl. Gildemeister/Wetterer, 1992). Deshalb halte ich es für nicht
gerechtfertigt, den Ansatz von Ostner pauschal für
erledigt zu halten, wie es seit den 80er Jahren in der Frauen(Gender-)Forschung Usus ist, auch wenn sicher richtig ist,
dass die These vom "weiblichen Arbeitsvermögen" nicht haltbar und dieser Ansatz
in vielerlei Hinsicht zu modifizieren ist.
Dies vorausgeschickt, möchte ich die nun
modifizierte Wert-Abspaltungstheorie noch einmal ganz grundsätzlich
gewissermaßen in einer "zweiten Runde" darstellen, um ihre Umrisse in Bezug auf
den kritischen Durchgang durch die (links-)feministischen Theorieansätze
deutlich werden zu lassen. 1. Das hierarchische Geschlechterverhältnis
ist in theoretischer Hinsicht beschränkt auf die Moderne zu untersuchen.
Rückprojektionen auf nicht-moderne Gesellschaften verbieten sich. Dies soll
nicht heißen, dass das moderne Geschlechterverhältnis keine Vorgeschichte hat,
die in der Tat bis in die griechische Antike zurückverfolgt werden kann.
Allerdings nimmt das Geschlechterverhältnis in der Moderne doch eine gänzlich
neue Qualität mit der Verallgemeinerung der Warenproduktion an, wenn die
"abstrakte Arbeit zum tautologischen Selbstzweck" wird, vor diesem Hintergrund
die "Banalität des Geldes" (R. Kurz) um sich greift und sich Produktions- und
Reproduktionsbereich trennen, wobei der Mann hauptsächlich für den
Produktionsbereich, die öffentliche Sphäre überhaupt, und die Frau primär für
den -minderbewerteten - Reproduktionsbereich
zuständig ist. 2. Dabei kann es nicht darum gehen,
Geschlecht analog zur "Klasse" bloß auf der soziologischen Oberflächenebene als
soziale Strukturkategorie zu bestimmen, die soziale Chancen zuweist, wie dies
Becker-Schmidt propagiert. Diese von
Becker-Schmidt eingenommene Perspektive offenbart, dass sie bloß das immanente
Prinzip von Verteilungsgerechtigkeit im Sinne eines alten Klassendenkens zum
Maßstab ihrer Konzeption nimmt. Stattdessen geht es auf einer ganz
grundsätzlichen Ebene darum, die Wert-Abspaltung als Formprinzip im Sinne eines
gesellschaftlichen Wesens in den Blick zu nehmen, das die Gesellschaft auf
grundlegende Weise als Ganzes strukturiert und als solches kritisiert und
prinzipiell in Frage gestellt werden muss. Nur so kann es gelingen, sowohl
moderne Identitätsformen als auch geschlechtsspezifisch-postmoderne Flexi-Zwangsidentitäten (auf die ich noch genauer zurückkomme) theoretisch zu bestimmen und sie
einer kritischen Revision zu unterziehen. Mit Wert-Abspaltung ist dabei wie
gezeigt gemeint, dass weibliche Reproduktionstätigkeiten, aber auch damit
verbundene Gefühle, Eigenschaften, Haltungen usw. (Sinnlichkeit, Emotionalität,
Fürsorglichkeit zum Beispiel) vom Wert, der abstrakten Arbeit strukturell
abgespalten sind. Die weiblichen Reproduktionstätigkeiten haben so einen
qualitativ-inhaltlich wie der Form nach anderen Charakter als die abstrakte
Arbeit; deshalb können sie auch nicht einfach unter den Arbeitsbegriff
subsumiert werden. Eine derartige Bestimmung würde überdies der verbreiteten
postmodernen Tendenz Vorschub leisten, wonach selbst noch von
"Beziehungsarbeit", "Gefühlsarbeit" usw. gesprochen wird, ja sogar noch Liebe
und Sexualität unter den Begriff "Arbeit" gefasst werden. Wert und Abspaltung stehen dabei in
einem dialektischen Verhältnis zueinander. Das eine kann nicht aus dem anderen
abgeleitet werden, sondern beide gehen auseinander hervor; die Abspaltung ist
dem Wert nicht theoretisch untergeordnet. Folglich reichen die Kategorien der
politischen Ökonomie nicht hin, der Wert-Abspaltung gerecht zu werden. Dies
gilt auch für den Begriff des Gebrauchswerts, der als Gegenbegriff zum
Tauschwert, entgegen einer häufigen Interpretation, selbst noch in der ökonomisch-androzentrischen Sphäre verbleibt. Demgegenüber
ist es der private Konsum, im Sinne des sinnlichen Genusses bzw. des realen
Gebrauchs (und der entsprechenden Aufbereitung) jenseits der abstrakten
Wertform, um den sich die Tätigkeiten von Frauen im Reproduktionsbereich gruppieren.
Insofern kann die Wert-Abspaltung auch als übergeordnete Logik begriffen
werden, die über die warenförmigen Binnenkategorien hinausgreift. Der so
bestimmte Konsum, die weiblichen Reproduktionstätigkeiten und die Warenform
bedingen sich dabei gegenseitig und sind als solche immanente Kategorien des warenproduzierenden Patriarchats - "immanent" nun nicht
mehr bloß im Sinne des Werts, sondern eben im Sinne der dialektisch
vermittelten Wert-Abspaltung als einem umfassenderen Konstitutionsprinzip modernpatriarchaler Gesellschaften. Deshalb ist die
Wert-Abspaltung auch in Gänze radikal in Frage zu stellen; das, wofür
"Weiblichkeit" steht, darf somit keinesfalls als das Bessere, Bewahrenswerte
und Transzendente (miss)verstanden werden, sondern es ist über das
Gesamtverhältnis hinauszugehen. Die Kategorien der politischen Ökonomie
reichen jedoch auch noch in anderer Hinsicht nicht aus. Die Wert-Abspaltung
impliziert auch ein spezifisches sozio-psychisches
Verhältnis: bestimmte minderbewertete Eigenschaften,
Haltungen, Gefühle (Sinnlichkeit, Charakter- und Verstandesschäche,
Passivität u.ä.) werden im warenproduzierenden
Patriarchat der Frau zugeschrieben, in sie hineinprojiziert, vom männlichen,
modernen Subjekt abgespalten. Umgekehrt haben sich auch Frauen in der
Geschichte des warenproduzierenden Patriarchats nicht
selten selber in derartigen Zuordnungen erkannt. Diese geschlechtsspezifischen Zuschreibungen
charakterisieren somit die symbolische Ordnung des warenproduzierenden
Patriarchats als Ganzes. Es gilt also
auch die sozialpsychologische und die kulturell-symbolische Dimension zu
berücksichtigen. Nicht zuletzt auch in der Präsenz der "Abspaltung" auf diesen
beiden Ebenen erweist sich die Wert-Abspaltung als Formprinzip, das die
Gesellschaft des warenproduzierenden Patriarchats
insgesamt durchzieht. 3. Dabei gehe ich davon aus, dass das warenproduzierende Patriarchat als umfassendes
Zivilisationsmodell aufzufassen ist. In diesem Zusammenhang übernehme ich von
Haug folgende Annahmen: In der symbolischen Ordnung des warenproduzierenden
Patriarchats sind Politik und Ökonomie dem Mann zugeordnet; männliche
Sexualität wird zum Beispiel als subjekthaft,
aggressiv, gewaltsam definiert; Frauen firmieren dagegen als Objekt bzw. sogar
bloße Körper. Der Mann wird so als Mensch,
Geistmann/Körperüberwinder/-unterwerfer gesehen, die Frau dagegen als
Nichtmensch, als Körper. Der Krieg ist männlich konnotiert,
Frauen dagegen gelten als friedfertig, passiv, willenlos, geistlos. Männer
müssen nach Ruhm, Tapferkeit, "unsterblichen Werken" streben. Zentral geht es dabei immer um die
Überwindung des Todes. Frauen obliegt die Sorge für den einzelnen wie für die
Menschheit. Dabei werden ihre Taten gesellschaftlich minderbewertet
und in der Theoriebildung vergessen, wobei im Prozeß
der Sexualisierung der Frau ihre Unterordnung unter den Mann beschlossen liegt
und ihre gesellschaftliche Marginalisierung eingeschrieben ist. Der Mann wird
als Held und als werktätig gedacht.
Dabei muss Natur produktiv unterworfen, beherrscht werden. Der Mann
befindet sich ständig im Wettbewerb mit anderen. Diese Vorstellung bestimmt
auch die Vorstellungen vom Gemeinwesen in der christlich-abendländischen
Geschichte insgesamt. Mehr noch: Leistungsfähigkeit und -willigkeit, rationelle, wirtschaftliche, effektive
Zeitverausgabung, Konkurrenz und Profitstreben bestimmen das
Zivilisationsmodell auch in seinen objektiven Strukturen als
Gesamtzusammenhang, seine Mechanismen, seine Geschichte ebenso wie die
Handlungsmaximen der Einzelnen. Insofern könnte auch reißerisch formuliert vom
männlichen Geschlecht als dem "Geschlecht des Kapitalismus" die Rede sein; vor
dem Hintergrund, dass eine dualistische Fassung von "Männlichkeit" und
"Weiblichkeit" die dominierende Vorstellung von "Geschlecht" in der Moderne überhaupt
ist. Das warenproduzierende Zivilisationsmodell hat
somit Frauenunterdückung, die Marginalisierung von
Frauen sowie damit gleichzeitig einhergehend eine Vernachlässigung des Sozialen
und der Natur zur Voraussetzung. Diese Momente werden in die Reproduktionssphäre
abgedrängt und führen dort ein abstraktes, borniert-privates Dasein. 4. Es lässt sich so unschwer erkennen,
dass eine "Psychologie der Geschlechterdifferenz", wie sie Becker-Schmidt
ontologisch annehmen zu müssen glaubt, auf jeden Fall eine Angelegenheit der
Moderne ist (wobei deren Wurzeln freilich, wie schon gesagt, bis in die
westliche Antike zurückreichen; dennoch hat sich das System der
"Zweigeschlechtlichkeit" erst im Kontext des modernen Kapitalismus
ausgebildet). Die modernen Imaginationen einer Überwindung des Todes sowie die
spezifischen Dichotomien von Subjekt-Objekt, Geist-Natur, Herrschaft-Unterwerfung,
Mann-Frau, die mit einer Herrschaft/Unterwerfung sowohl der Natur als auch der
mit Natur gleichgesetzten Frauen einhergehen, sind als typische Kennzeichen des
warenproduzierenden Patriarchats anzusehen. Es liegt
so auf der Hand, dass die Abspaltung/Verdrängung/Herabsetzung des Weiblichen
eine zentrale Struktur des warenproduzierenden
Patriarchats auch im Sinne eines "gesellschaftlichen Unbewussten" darstellt.
Haug zieht die Konsequenz eines androzentrisch
bestimmten gesellschaftlichen Unbewussten nicht, obwohl dieser Gedanke sich
ihrer Analyse doch geradezu aufdrängt. Dabei spielt in der Konstitution dieses androzentrischen gesellschaftlichen Unbewussten im warenproduzierenden Patriarchat freilich auch die in der bürgerlich-patriarchalen Kleinfamilie bestehende
Notwendigkeit der Desidentifikation des Jungen (der
später dominiert) mit der Mutter, um ein Selbst ausbilden zu können, eine
wichtige Rolle, die mit einer Verdrängung des Weiblichen einhergeht; aber auch
der umgekehrte Vorgang, dass sich Mädchen mit der Mutter gleichsetzen, um eine
weibliche Identität entwickeln zu können und bereit zu sein, eine
untergeordnete Position (nicht nur) im häuslichen Bereich einzunehmen. Androzentrismus als "psychogenetisches Unterbauphänomen"
möchte ich in der Diktion der Wert-Abspaltung (mich dabei von der Erfinderin
dieser Formulierung, Becker-Schmidt, entfernend) und beschränkt auf das warenproduzierende Patriarchat nun so ausdeuten, dass die
Verdrängung/Abspaltung des Weiblichen, die Inferiorsetzung der realen Frauen
und die Existenz männlicher Dominanz in psychischen Tiefenschichten verankert
ist; ja, dass die "Abspaltung" hier als gesellschaftlich-kulturelles Grundmusterundsoziopsychischer Mechanismus in Vermittlung
mit der geschlechtsspezifischen Funktionsteilung die Gesellschaft als Ganzes
wesentlich bestimmt. Noch im krisenhaften Verfall des warenproduzierenden
Patriarchats, wenn die Kleinfamilie sich auflöst und die Individuen aus ihren
Rollen freigesetzt werden, ist so eine Minderstellung von Frauen und eine
andere Situiertheit als bei Männern ausmachbar, wie
bald zu sehen sein wird. 5. Dabei kann nicht gemäß dem
traditionellen Basis-Überbau-Schema davon ausgegangen werden, dass die
geschlechtsspezifische Funktionsteilung bei der Produktion von Leben und
Lebensmitteln die primäre Ebene darstellt, an die sich dann äußerlich im Lauf
der Geschichte kulturelle Bedeutungen heften, wie Haug dies sieht. Stattdessen
sind die kulturell-symbolische, die (sozial-)psychologische und die materielle
Ebene in ihren wechselseitigen Bezügen auf derselben Relevanzebene anzusiedeln,
ohne dass eine davon den Primat hat. Diese Perspektive übernehme ich von Becker-Schmidt.
Nur insofern sind die Geschlechterverhältnisse in der Tat "eine Art Webwerk,
(...) welches keinen bestimmten Ort hat, sondern alle Orte durchzieht", wie
Haug selber sagt. Die kulturell-symbolische Dimension
erschließt sich dabei zum Beispiel über Diskursanalysen im Anschluss an
Foucault (siehe zum Beispiel Honegger, 1991; Landweer,
1990; Laquer, 1996; und im Hinblick auf das
Körpererleben Duden, 1987); die psychologische Seite bei der Sozialisation der kapitalistisch-patriarchalen Individuen kann mit einem
psychoanalytischen Instrumentarium (vgl. etwa Chodorow,
1985) erfasst werden 8.
Ein Zugang zur materiellen Ebene wiederum, also der geschlechtsspezifischen
Funktionsteilung, der Trennung von Erwerbsarbeit und "Hausarbeit", wird im
kritischen Rekurs zum Beispiel auf Ostner und Haug
möglich. Überhaupt gilt es, sowohl die
Beschränkungen der verschiedenen Ansätze (zum Beispiel das im Grunde
behavioristische Menschenbild, sein positivistisches Vorgehen, die
Machtontologie bei Foucault und den an ihn anschließenden Autorinnen)
aufzuzeigen als auch gleichzeitig ihrer objektiven Berechtigung nachzukommen,
die sie in der verdinglichten, disparaten und fragmentierten
Gesellschaft des warenproduzierenden Patriarchats
haben. Es kann somit nicht um ein ableitungslogisches
Vorgehen gehen, wenn die Interdependenzen zwischen den diversen Ansätzen und
Ebenen herausgestellt werden sollen, sondern - wie es Becker-Schmidt zutreffend
formuliert hat - es geht darum, zu "synthetisieren ohne eindimensional zu
systematisieren", ohne dass deswegen die verschiedenen erkenntnistheoretischen
Prämissen gleichgemacht werden sollen. Eine derartige Herangehensweise im
Kontext der Wert-Abspaltungstheorie vermeidet dann auch Probleme, vor denen
etwa Haug steht, indem sie nämlich einerseits auf die Psychoanalyse rekurriert
und andererseits in anderen Aufsätzen zum Beispiel die "Kritische Psychologie"
eines Klaus Holzkamp bemüht. Denn für eine so gefasste Wert-Abspaltungskritik
stellt sich einfach nicht das Problem eines krampfhaften und "gewalttätigen" Kompatibelmachens verschiedener Theorieansätze von den
Prämissen her. Aus dieser Perspektive ist es gerade kein Manko, was Haug
ausdrücklich als Defizit ihres Ansatzes benennt, nämlich dass dabei nur der
Versuch unternommen werden könne, "die einzelnen Bereiche, in denen
Geschlechterverhältnisse bis heute wesentlich als Herrschaftsverhältnisse
wirksam sind, abzuschreiten", da immer noch zu wenige Einzelanalysen vorlägen,
die theoretisch zusammengedacht werden könnten (vgl. Haug, 1996 b, S. 128). Im
Grunde hat Haug also den Anspruch einer "runden", schlüssigen Theoriebildung,
in der die verschiedenen Einzelstücke und die unterschiedlichen Ebenen in das
Prokrustesbett eines stimmigen, abgeschlossenen Theoriegebäudes eingepasst
werden. Stattdessen wäre eine solche Zwangsvereinheitlichung mit Adorno in
Frage zu stellen, gerade auch in der Postmoderne. Dennoch kommt in den
dargelegten Ausführungen von Haug gut zum Ausdruck, dass sich eine Abspaltung
des "Weiblichen" im warenproduzierenden Patriarchat
auf allen diesen drei Ebenen erkennen lässt und dabei die Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit eine zentrale Rolle spielt. ------------------------ 8
Dabei ist allerdings Mechthild Rumpf zuzustimmen, wenn sie gegen Chodorow (aber auch gegen Jessica Benjamin) einwendet, dass
"systemische Imperative und gesellschaftlich vermittelte
Verhaltensanforderungen und Zumutungen psychogenetisch erklärt werden". Zu
Recht pocht sie mit Adorno auf eine Dialektik zwischen Individuum und
Gesellschaft, wobei den Einzelnen diese dann als verselbständigter Apparat
gegenübersteht. Leider kommt es in ihrer Gesamtargumentation dann letztlich
doch - ähnlich wie bei Becker-Schmidt - darauf hinaus, dass sich objektive
Strukturen und die gesellschaftlichen Individuen bloß äußerlich gegenüberstehen
(Rumpf, 1989, S. 84). 6. Im warenproduzierend-modernen
Patriarchat bilden sich eine Privatsphäre und eine öffentliche Sphäre aus,
wobei die Hauptprotagonisten im Privaten die Frau und im öffentlichen Bereich
(Wirtschaft, Wissenschaft, Politik) der Mann sind. Diese Bereiche sind
einerseits autonom und gegeneinander verselbständigt, auf der anderen Seite
bedingen sie sich aber gleichzeitig gegenseitig; sie stehen also in einem
vermittelten, dialektischen Verhältnis zueinander. Damit allerdings ist das
Wesen von Öffentlichkeit und Privatheit im warenproduzierenden Patriarchat noch nicht ausreichend
charakterisiert, gilt dieses dialektische Wechselverhältnis doch prinzipiell
für alle (jeweils relativ selbständigen, mit Momenten einer "Eigenlogik"
versehenen) Sphären wie Wirtschaft, Bildungswesen, Privatsphäre,
Erwerbsbereich, Politik usw. gleichermaßen, wenn von grundlegenden qualitativen
Unterschieden abstrahiert wird. In diesem Zusammenhang ist nun aber
entscheidend, dass die Privatsphäre im Gegensatz zu allen anderen Sphären, die
sämtlich im Binnenraum der (warenförmig bestimmten) Öffentlichkeit angesiedelt
sind, nicht aus dem Wertverhältnis deduziert werden kann, sondern eben ein von
allen diesen Sphären bzw. Momenten der Öffentlichkeit gleichermaßen
abgespaltener Bereich ist. Diese qualitative Differenz können
Becker-Schmidt/Knapp wegen ihres soziologistisch
beschränkten Totalitätsverständnisses nicht nehmen. Deshalb kann sie auch das
hierarchische Verhältnis etwa zwischen Erwerbssphäre und Privatsphäre bloß
formal und deskriptiv feststellen und mit dem asymmetrischen
Geschlechterverhältnis in Zusammenhang bringen.
Das warenproduzierende
Patriarchat kann nicht existieren, ohne dass bestimmte Tätigkeiten und
Verhaltensformen wie "Liebe", Hege, Pflege usw.
in Bereiche "abgeschoben" werden, die der Wertlogik mit ihrer Moral von
Konkurrenz, Profit, Leistung usw. entgegengesetzt sind - also in den
Reproduktionsbereich, die Privatsphäre, die Familie, und die dabei gewissen
Personen zugewiesen werden, nämlich den Frauen, die diese dem "Wert" entgegengesetzten Eigenschaften besitzen bzw. denen sie
zugeschrieben werden. Nun waren Frauen im kapitalistischen
Patriarchat wie gezeigt auch schon immer in nicht unerheblichem Maße in der
öffentlichen Sphäre anzutreffen, gingen sie zum Beispiel auch früher schon
einer Erwerbstätigkeit nach. Berücksichtigt man jedoch, dass Frauen im
Gegensatz zu Männern bis heute primär für die Versorgungsleistungen in der
Familie zuständig sind, dass auf der sozialpsychologischen Ebene individuell
wie gesamtgesellschaftlich eine Verdrängung des Weiblichen bei den
dominierenden männlichen Subjekten konstatiert werden muss, weil im Laufe ihrer
Sozialisation in der Regel eben eine Desidentifikation
des männlichen Kindes mit der Mutter stattfindet, und bedenkt man ferner, dass
in der symbolischen Ordnung des warenproduzierenden
Patriarchats entsprechende Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder existieren,
dann bedeutet die Wert-Abspaltung als übergreifendes Formprinzip gleichzeitig
auf einer anderen Abstraktionsebene auch eine spezifische geschlechtliche
Zuordnung von Sphären, nämlich von Frauen zur Privatsphäre und von Männern zur
öffentlichen Sphäre. Die Tatsache, dass sich Frauen selbst früher schon zu
einem nicht unerheblichen Prozentsatz in der Öffentlichkeit bewegten, ficht die geballte Kraft dieses
materiellideell-sozialpsychologischen Kumulationszusammenhanges nicht an. Das
trifft selbst heute noch zu, wenn Frauen als "doppelt vergesellschaftet"
gelten. Aus diesem Verhältnis zwischen
Privatsphäre und öffentlicher Sphäre erklärt sich auch die Existenz von
"Männerbünden", die sich auf den billigen Affekt gegen das "Weibliche" gründen.
So sind auch der gesamte Staat und die Politik über die Prinzipien "Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit" seit dem 18. Jahrhundert von vornherein
männerbündisch konstituiert und mehr oder weniger dementsprechend
interessengeleitet. 7. Somit verbietet sich ein
identitätslogisches Vorgehen sowohl was die Übertragung von Mechanismen,
Strukturen, Merkmalen des warenproduzierenden
Patriarchats auf nicht-warenproduzierende
Gesellschaften angeht, als auch eine In-Eins-Setzung verschiedenerer Ebenen,
Sphären, Bereiche im warenproduzierenden Patriarchat
selbst, die von qualitativen Unterschieden absieht. Dabei könnte meines
Erachtens zwar aus dem negativen Wertverständnis der "fundamentalen Wertkritik"
ebenso eine Kritik der Identitätslogik gewonnen werden wie aus dem verkürzten
Tauschbegriff Adornos. Eine solche um das Geschlechterverhältnis verkürzte
Kritik müsste aber selber formallogisch bleiben. Denn entscheidend ist nicht
einfach, dass das gemeinsame Dritte - unter Absehung von Qualitäten - die
gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit, die abstrakte Arbeit ist, die
gewissermaßen hinter der Äquivalenzform des Geldes steht, sondern dass diese es
ihrerseits noch einmal nötig hat, das als Weiblich konnotierte,
nämlich die "Hausarbeit", das Sinnliche, Emotionale, Nicht-Analytische,
Nicht-Eindeutige, mit wissenschaftlichen Mitteln nicht klar Erfassbare und
Lokalisierbare auszugrenzen und als minderwertig zu betrachten. Dabei ist die Abspaltung des Weiblichen
jedoch keineswegs deckungsgleich mit dem "Nicht-Identischen" bei Adorno;
stattdessen stellt sie die dunkle Kehrseite des Werts selbst dar. Damit
allerdings ist die Abspaltung eine Vorbedingung dafür, dass das
Lebensweltliche, das Kontingente, das Nicht-Analytische, aber auch begrifflich
nicht Erfassbare vernachlässigt wurde und in den männlich dominierten Bereichen
von Wissenschaft, Ökonomie und Politik in der Moderne weithin unterbelichtet
blieb. Federführend wurde also ein klassifizierendes Denken, das die besondere
Qualität, "die Sache selbst" nicht in Augenschein nehmen kann und damit
einhergehende Differenzen, Brüche, Ambivalenzen usw. entweder gar nicht
wahrzunehmen oder jedenfalls nicht auszuhalten vermag. Umgekehrt bedeutet dies für die
"vergesellschaftete Gesellschaft" des warenproduzierenden
Patriarchats allerdings genauso, dass die genannten Momente, Ebenen und
Bereiche nicht bloß als "reale" irreduzibel
aufeinander bezogen werden müssen, sondern gleichermaßen auch in ihrer
objektiven und somit "inneren" Verbundenheit auf der grundsätzlichen Ebene der
Wert-Abspaltung als Formprinzip der gesellschaftlichen Totalität zu betrachten
sind, von dem "die Gesellschaft" überhaupt als Wesen (im Sinne einer
durchgängigen Meta-Struktur) konstituiert wird und als dessen Erscheinungen
jene spezifischen Momente und Bereiche sich "real" darstellen. Es geht somit nicht auf simple Weise um
eine interdisziplinäre Zusammenschau eklektischer Art, sondern die
verschiedeneren Momente müssen von vornherein "wesentlich" aufeinander bezogen
werden im Sinne der Wert-Abspaltung als Totalität, wobei die Katogerie
der Wert-Abspaltung - im Gegensatz zum Tauschbegriff Adornos oder dem negativen
Begriff des Werts gemäß der "fundamentalen Wertkritik" - von vornherein schon
immer um ihre Beschränkung weiß, sie sich somit auch nicht gewissermaßen im
Namen der übergreifenden Ebene absolut setzt und insofern die eigene Wahrheit
"partikularer" Ebenen und Bereiche anzuerkennen weiß. 8. Gerade weil der Eigenqualität der
verschiedenen Bereiche, Ebenen, Sphären, des besonderen Gegenstands, der
konkreten Fragestellung und den jeweiligen (historischen) Kontexten stattzugeben
ist, muss heute im spezifischen Zusammenhang der fortgeschrittenen Postmoderne,
da diese zu einer Hypostasierung des Kulturellen neigt, die Bedeutung der
materiellen Ebene als einer wesentlichen im warenproduzierenden
Patriarchat hervorgehoben werden. Sieht man von der problematischen,
falschen Einschätzung des Verhältnisses von Tauschwert-Gebrauchswert/Konsum des
Gebrauchswerts/Abspaltung sowie von der Arbeitsmetaphysik (wonach auch
"Hausarbeit", ja im Prinzip das ganze Leben "Arbeit" ist) sowie von ihrer damit
verbundenen altmarxistischen Basis-Überbau-Konstruktion einmal ab, wodurch Haug
an einer begrifflichen Erfassung des übergreifenden Formprinzips gehindert
wird, so stellt ihre Bestimmung zweier Zeitlogiken auch eine wichtige
Bereicherung für die Wert-Abspaltungstheorie dar; ja genau genommen
widerspricht die Erkenntnis einer eigenen Logik der "Zeitverausgabung" dem
ökonomisch-allgemeinen, inhaltslosen Begriff der "Arbeit", der entsprechend der
Wert-Abspaltung bloß für das warenproduziernde Patriarchat
im Hinblick auf die "abstrakte Arbeit" angemessen ist. "Liebe", Zärtlichkeit,
Fürsorge, Hege und Pflege können dabei eben nicht nach der Zeitsparlogik
organisiert werden (dies gilt übrigens laut Haug ebenso für Tätigkeiten, bei
denen es um einen schonenden Umgang mit der Natur geht). In diesem Sinne ist
die warenförmige Produktionsweise auf die Hierarchisierung beider Zeitlogiken
zugunsten der Zeitsparlogik und so auf Frauenunterdrückung angewiesen.
Verdrängt die Zeitsparlogik die Logik der Zeitverausgabung in der Postmoderne
immer mehr, so steht das warenproduzierend-pariarchale
Zivilisationsmodell selbst zur Disposition. 9. Die Konstituierung von Männlichkeit
und Weiblichkeit in der Moderne ist somit im Kontext des warenproduzierend-patriarchalen
Zivilisationsmodells zu sehen, wie es bislang in seiner ganzen Komplexität
bestimmt wurde. Es ist irrig zu meinen, wie Dekonstruktivistinnen
dies behaupten, "zuerst einmal" müssten Männlichkeit und Weiblichkeit kulturell
hergestellt sein, damit eine geschlechtliche Funktionsteilung erfolgen könne.
Derartige Positionen können nicht mehr angeben, welchen Sinn es überhaupt hat,
warum sich Individuen im spezifischen Kontext des warenproduzierenden
Patriarchats eigentlich als Männer und Frauen konstituieren müssen. Die Frage
nach diesem Sinn, nach diesem "Warum" verweist auf das übergreifende
Formprinzip der Wert-Abspaltung. Der Wert, die abstrakte Arbeit, die
"Zeitsparlogik" und der Markt, der nach Rentabilitäts-, Konkurrenz- und
Profit-Gesichtspunkten funktioniert, brauchen ihr Anderes, die "Hausarbeit",
bei der es darum geht, Zeit zu verlieren, und damit Frauen, denen die entgegengesetzten Eigenschaften wie Männern zugeschrieben
werden. Die Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit im modernen Sinne
und die Herausbildung von abstrakter Arbeit und "Hausarbeit" bedingen sich so
notwendig gegenseitig. Es ist also unsinnig zu fragen, ob hier zuerst die Henne
oder das Ei da war. Auf einer makrostrukturellen Ebene wird bei Haug dieser
Zusammenhang für das "kapitalistische Patriarchat" sichtbar, auch wenn sie
letztlich von ihren Prämissen her die materielle Ebene hypostasiert. Die
Tatsache, dass es im spezifischen Kontext des warenproduzierenden
Patriarchats auch Geschlechtswechsel von Berufen gibt und von keiner linearen
Entsprechung zwischen beruflichen Inhalten einerseits und den Tätigkeiten im
Haushalt, den Frauen zugeschriebenen Eigenschaften usw. andererseits
ausgegangen werden kann, ficht die Bestimmung des Wesens des
Geschlechterverhältnisses im Sinne der Wert-Abspaltung nicht im mindesten an. Es geht vielmehr darum, die Spannung
zwischen Wesen (Wert-Abspaltung) und Erscheinung (dass Frauen auch berufliche
Tätigkeiten ausüben, die nicht frauenspezifischen Zuschreibungen entsprechen)
auszuhalten und in der Untersuchung eines androzentrischen
gesellschaftlichen Unbewussten fruchtbar zu machen; erst dadurch wird klar,
warum Frauen als "Besondere, Mindere, Andere" gelten, egal was der Inhalt ihrer
Tätigkeit ist, und warum sogar ehedem männlich konnotierte
Bereiche einer Abwertung unterliegen, wenn sie schließlich weiblich codiert
werden. 10. Die Wert-Abspaltung muss also
insgesamt als Formprinzip des warenproduzierenden
Patriarchats angesehen werden, auch wenn davon auszugehen ist, dass die patriarchal-warenförmige Entwicklung in den verschiedenen
Weltregionen ungleichmäßig stattgefunden hat (vgl. zum Beispiel Hasenjürgen/ Preuss, 1993), bis
hin zu (ehemals) geschlechtssymmetrischen Gesellschaften, in denen die
westlich-modernen Geschlechtervorstellungen bis heute nicht bzw. nicht gänzlich
übernommen worden sind (vgl. etwa Weiss, 1995). In diesem Zusammenhang muss auch
berücksichtigt werden, dass sich das Geschlechterverhältnis und die
Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit selbst innerhalb der abendländisch-modernen
Entwicklung nicht immer gleich darstellen. Erst im 18. Jahrhundert bildete sich
das moderne "System der Zweigeschlechtlichkeit" heraus und kam es zu einer
"Polarisierung der Geschlechtscharaktere"; vorher wurden Frauen dagegen eher
als -117 gewissermaßen - bloß andere Variante des Mann-Seins betrachtet.
Deshalb wird in den Sozial- und Geschichtswissenschaften neuerdings auch von
der Institution eines "Ein-Geschlecht-Modells" in vorbürgerlichen Zeiten
ausgegangen. So sah man etwa in der
Vagina einen nach innen gestülpten Penis (Laqueur,
1996). Obwohl Frauen auch damals als
minderwertig galten, hatten sie über informelle Wege durchaus noch viele
Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, solange sich eine Öffentlichkeit im großen
Maßstab wie in der Moderne noch nicht herausgebildet hatte. Der Mann hatte in
der vormodernen Gesellschaft eher eine symbolische Vorrangstellung, wie Heintz/Honegger (1981) schreiben. Frauen wurden noch nicht ausschließlich als
Hausfrau und Mutter definiert, wie dies ab dem 18. Jahrhundert komplementär zu
den Zuschreibungen für Männer der Fall war, die nun für die neu herausgebildete
hypertrophe Form von Öffentlichkeit zuständig sein sollten. Der weibliche
Beitrag zur materiellen Reproduktion wurde in agrarischen Gesellschaften
ähnlich wichtig erachtet wie der des Mannes (Heintz/Honegger,
1981, S. 15 ff.). War das moderne Geschlechterverhältnis
mit den entsprechenden polaren Geschlechterzuweisungen zunächst auf das
Bürgertum beschränkt, so breitete es sich mit der Verallgemeinerung der
Kleinfamilie allmählich auf alle Schichten und Klassen aus, mit einem letzten
Schub der fordistischen Entwicklung in den 50er
Jahren dieses Jahrhunderts. Die Wert-Abspaltung ist somit keine starre
Struktur, wie sie etwa bei manchen soziologischen Strukturmodellen anzutreffen
ist, sondern ein Prozess. Sie ist daher nicht als statisch und als immer
dieselbe zu begreifen. In der Postmoderne zeigt sie wiederum ein neues Gesicht.
Frauen gelten nun als "doppelt vergesellschaftet", wie Becker-Schmidt zeigt,
das heißt sie sind für Familie und Beruf gleichermaßen zuständig. Das Neue
daran ist jedoch nicht dieses krude Faktum allein, wie schon mehrfach
festgestellt - ein großer Teil der Frauen war auch schon früher doppelt
vergesellschaftet, dies galt insbesondere für Unterschichtsfrauen
-, sondern dass diese Tatsache und die damit einhergehenden strukturellen
Widersprüche nun auffallen. Schon prinzipiell muss von einer
Dialektik zwischen Individuen und Gesellschaft ausgegangen werden - die
Individuen gehen einerseits niemals in den objektiven Strukturen und den
Vorstellungen der symbolischen Ordnung auf, andererseits wäre allerdings auch
die umgekehrte Annahme verfehlt, dass diese Strukturen und
kulturell-symbolischen Deutungsmuster ihnen bloß äußerlich gegenüberstünden;
schließlich konstituieren die gesellschaftlichen Individuen diese
gesellschaftlich-kulturellen Strukturen selbst mit, auch wenn diese ihnen dann
als verselbständigtes System gegenübertreten.
Allerdings geraten die Widersprüche der "doppelten Vergesellschaftung"
von Frauen mit einer Differenzierung der Frauenrolle in der Postmoderne erst
voll in den Blick, wie Ostner richtig festgestellt
hat. 11.
Entscheidend ist es bei der Bestimmung des postmodernen
Geschlechterverhältnisses, wiederum auf einer Dialektik zwischen Wesen und
Erscheinung zu bestehen und sich nicht durch die empirisch feststellbare
Tatsache der "doppelten Vergesellschaftung" zu einer vornehmlich
soziologisch-sozialwissenschaftlichen Theoriebildung hinreißen zu lassen, wie dies bei Becker-Schmidt
geschieht. Vielmehr ist die weiterhin konstitutive (da niemals positiv
aufgehobene) übergreifende Wert-Abspaltungsform als Formprinzip der
gesellschaftlichen Totalität in ihrer neuen historischen Brechung zu bestimmen,
die ihrerseits wieder, um es noch einmal zu sagen, in ebenfalls postmodern
fortentwickelter Gestalt die materielle, sozialpsychologische und kulturelle
Dimension gleichermaßen und somit auch alle einzelnen Bereiche der Gesellschaft
umfasst. Dementsprechend müssen Veränderungen des Geschlechterverhältnisses aus
den Mechanismen und Strukturen der Wert-Abspaltung selbst verstanden werden. Dabei untergraben vor allem die
Produktivkraftentwicklung und die Marktdynamik, die selber auf der
Wert-Abspaltung beruhen, ihre eigene Voraussetzung, indem sie bewirken, dass
Frauen sich ein gutes Stück von ihrer traditionellen Rolle entfernen und ihnen
eine schon immer dagewesene "doppelte
Vergesellschaftung" mit den entsprechenden Widersprüchlichkeiten im Zuge von
Individualisierungstendenzen zu Bewusstsein kommt. So wurden etwa seit den 50er
Jahren auch immer mehr Frauen aus den mittleren Schichten in den Erwerbsbereich
eingebunden; und u. a. auch bedingt durch Rationalisierungsprozese
im Haushalt sind Frauen - zumindest hierzulande -mittlerweile mit den Männern
bildungsmäßig gleichgezogen, kann beobachtet werden, dass zunehmend auch Mütter
berufstätig sind, ist eine Konzeptionsplanung aufgrund empfängnisverhütender
Mittel möglich geworden usw. Kurzum: es besteht seit längerem schon die Tendenz
zur verstärkten Integration von Frauen in die "offizielle" (öffentliche, im warenproduzierenden Patriarchat männlich konnotierte) Gesellschaft. Dennoch sind sie auch in den
veränderten postmodernen Verhältnissen nach wie vor im Gegensatz zu Männern für
Haushalt und Kinder zuständig, sind sie an den Schalthebeln der Macht in der
öffentlichen Sphäre nach wie vor selten zu finden, verdienen sie im
Durchschnitt nach wie vor weniger als Männer usw. (vgl. etwa Beck/Beck-Gernsheim, 1990). Es kommt also zu einer Modifizierung
der Wert-Abspaltungsstruktur, die "doppelte Vergesellschaftung" gewinnt eine
neue Qualität. Frauen sind nun nicht mehr bloß objektiv "doppelt
vergesellschaftet" wie früher, sondern sie sind auch dem Leitbild nach nun
nicht mehr nur auf ein Hausfrau- und Mutterdasein festgelegt. Damit
einhergehend 119 ändern sich auch psychische Befindlichkeiten bei Frauen, wie
noch zu sehen sein wird, ohne dass jedoch die Wert-Abspaltungsform aufgehoben
wäre. 12. Ziel der Wert-Abspaltungstheorie ist
nun gerade diese radikale Aufhebung, das heißt die reale Überwindung von
sozialer Männlichkeit und Weiblichkeit, wie sie sich in der patriarchalen
Moderne und auch noch Postmoderne darstellen, und damit die Abschaffung der
abstrakten Arbeit, der "Hausarbeit", der Familie, der "doppelten
Vergesellschaftung" von Frauen und der entsprechenden Geschlechtervorstellungen
samt der dazugehörigen psychosozialen Konstitution. Dabei kann es eben nicht bloß um die
"Zurückdrängung" des strukturell mit Frauenunterdrückung zusammenhängenden
"Gewinnerhöhungsmotivs" gehen, also darum, die herrschenden Maßstäbe aus
verschiedenen Bereichen der unaufgehobenen Wert-Abspaltungsform in eine
lediglich neue Anordnung zu bringen, auf dass eine vermeintlich
emanzipatorische Entwicklung der menschlichen Gesellschaft (ökonomisch, sozial,
ökologisch) möglich und der Pelz gewaschen werde, ohne ihn nass zu machen.
Derartige Vorstellungen gehen immer noch von den gegebenen Anordnungen und
Prinzipien aus, die es bloß zu verschieben bzw. zu verkleinern oder zu
vergrößern gelte. Sie verbleiben in einem längst gespenstisch unwirklich
gewordenen, bloß quantitativen, kategorial dagegen unkritischen und deshalb
heute geradezu anachronistischen Reformismus fernab einer radikalen
Perspektive, die grundsätzliche Motive und Ziele der feministischen
Gesellschaftskritik überhaupt erst einlösen könnte. Dabei müssten die verschiedenen
immanenten Bereiche/Absichten/Prinzipien selbst aufgehoben werden und damit
eben auch der Bereich der "Hausarbeit" samt der damit verbundenen isolierten
(zur herrschenden "Zeitsparlogik" bloß komplementären) Logik der
"Zeitverausgabung". Denn obwohl Haug
einerseits eine Gleichheitsperspektive verfolgt und das Hausfrauendasein in
Frage stellt, hat man andererseits doch auch den Eindruck, dass die diesem
Bereich entsprechende Zeitverausgabungslogik bloß linear verlängert, im Prinzip
unverändert der herrschenden Zeitsparlogik konkurrierend-kämpfend
"um ihren gerechten Anteil" im gesellschaftlichen Ganzen ringend
gegenübergestellt werden soll. Die Idee, dass die isolierte Logik der
Zeitverausgabung in ihrer immanenten Abstraktheit, als bloßer Gegenpol zur
Zeitsparlogik, in ihrem abgespaltenen Dasein radikal hinterfragt werden muss,
kommt Haug dabei nicht. Die entsprechenden Bereiche, Prinzipien usw. sollen nur
in anderer Relation zueinander, dem modern-geschlechtsspezifisch-diskriminierenden
Bezug vermeintlich enthoben, innerhalb der Wert-Abspaltungsform zukunftsmächtig
werden. Laut Becker-Schmidt hätten demgegenüber
Frauen diese Integrationsleistung individuell-gesellschaftlich schon immer
erbracht und wären deshalb im Grunde schon deshalb über das System im Sinne des
Protests gegen die ihnen zugedachte Rolle hinaus. Dass dem nicht so ist, soll
im Folgenden klarer als bisher entwickelt werden. Die "doppelte
Vergesellschaftung" von Frauen ist paradoxerweise dem warenproduzierenden
Patriarchat in seinem Verfall durchaus "funktional". Dennoch hat Becker-Schmidt
rein deskriptiv etwas Richtiges beschrieben: Dass Frauen für "Geld und
(Über-)Leben" (Irmgard Schultz) gleichermaßen verantwortlich sind, ist auch im
universellen, das heißt im Weltmaßstab der Fall, auch wenn es dabei kulturelle
Besonderheiten zu berücksichtigen gilt. War die "doppelte Vergesellschaftung"
in ihrer postmodernen Form in den entwickelten westlichen Staaten nicht zuletzt
auch mit einem Mehr an Gleichheit im Zuge der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung
verbunden (Angleichung der Bildungschancen von Männern und Frauen, höhere
Berufstätigkeit auch bei Müttern usw.) und bedeutete dies ein Heraustreten aus
der traditionell gedachten Nur-Hausfrauenrolle, so
wird nun deutlich, dass mit fortschreitender ökonomischer Krise, mit dem Knapperwerden öffentlicher Kassen usw. die "doppelte
Vergesellschaftung" von Frauen zur "Krisenexistenz" wird - ja sie wird geradezu
Moment des desolaten Krisenmanagements, das von oben nicht mehr so recht
funktionieren will. Noch deutlicher als bisher wird sich
dabei zeigen, dass statt einer Aufhebung des warenproduzierenden
Patriarchats mit allen seinen Implikationen im Zuge von
Globalisierungsprozessen eher seine "Verwilderung" tritt, wobei gerade seit
1989 die Logik von "Lohn, Preis und Profit" (Marx), also die Fetischform des
"Werts", just in der Epoche ihres endgültigen Obsoletwerdens objektiv und
normativ nahezu alles bestimmt. Die nach wie vor notwendigen
Reproduktionstätigkeiten von Frauen als "schon immer" abgespaltene werden dabei
erst recht randständig mit den entsprechenden "Nebenfolgen" für das moderne
Zivilisationsmodell, wie es Haug schon richtig benannt hat. Entscheidend ist
dabei freilich die Wert-Abspaltung als historisch-dynamische Realkategorie, die
derartige Konsequenzen in der globalisierten Postmoderne hervorbringt. Die
Frauenexistenzen der "Dritten Welt" und der "Ersten Welt" gleichen sich
vielleicht gar nicht so langfristig an, zumindest was einen großen Teil der
Frauen anbelangt. War die Existenz der bürgerlichen Frau lange Zeit Vorbild für
die Underdog-Frauen der Dritten Welt, so wird nun umgekehrt deren
Drittweltexistenz zur (Real-)Norm für die Frauen im bisherigen "Zentrum". Damit
verlasse ich die Ebene der "großtheoretischen" Reflexionen und wende mich
empirienäheren Gefilden zu, um die postmoderne Modifikation der
Wert-Abspaltungs-Vergesellschaftung näher in Augenschein zu nehmen. [Dies ist der 3.Teil der
"Kleinen Geschichte des wertkritischen Theoriebildungsprozesses"
(Version 3.0 vom 20. Februar 2005), die sozusagen ein "work
in progress" ist. Sie wird fortlaufend (auch
Fehler im bereits veröffentlichten Teil korrigierend) weitergeführt um die
Abschnitte: "2000 - 2003: An der Aufklärungskritik und
dem neuen Weltordnungskrieg scheiden sich die Geister" - "2004: Der
"Coup" und die Spaltung der "Krisis""
- "Ausblick:
Mit "Exit"
gehts weiter"] |