Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


Ulrich Leicht

Das Jahr 1999 - ein Jahr ohne "Krisis", aber wegweisender Publikationen

Die Krisis hat diesmal eine längere Pause als gewöhnlich gemacht. Die vorliegende Ausgabe erscheint gut ein halbes Jahr später als vorgesehen. Das liegt aber nicht daran, dass unsere Tätigkeit eingeschlafen wäre - ganz im Gegenteil. Für die Verzögerung sind eher zusätzliche Aktivitäten verantwortlich zu machen, die allesamt über den Rahmen eines theoretischen Selbstverständigungsorgans hinausreichen. Zunächst einmal hat ein "kleiner Weltordnungskrieg" am Rande Europas im Frühjahr 1999 unseren Zeitplan ein wenig durcheinander gewirbelt. Nicht nur aufgrund der Zäsur, die dieser Kriegseinsatz mit einer erstmalig direkten Beteiligung der BRD darstellt, sondern auch weil die Debatte darüber ausgesprochen gespenstische Züge annahm, sahen wir uns genötigt, in dieser Frage öffentlich (publizistisch auf Zeitungsebene und durch Teilnahme an Veranstaltungen) Position zu beziehen. Während die Menschenrechtsbarbarei der westlichen Demokratien und ihrer olivgrünen Bellizisten nach einer radikalen Kritik schreit, wusste die Linke großenteils nichts besseres zu tun, als sich in die ewig fortgesponnene Konstellation des Zweiten Weltkriegs zurückzuphantasieren und die "Hauptrolle Hitler" statt mit Milosevic wahlweise mit Clinton oder Schröder/Fischer/Scharping zu besetzen. Die Auseinandersetzung darüber wird sicher noch einige Nachspiele haben.

Einer früheren Fertigstellung der Krisis kam außerdem die Endphase des umfangreichen Buchprojekts von Robert Kurz in die Quere, das im November 1999 als "Schwarzbuch Kapitalismus" bei Eichborn erschienen ist. Am nachhaltigsten aber hat uns ein anderes Projekt beschäftigt, nämlich der schon länger vorbereitete Versuch, mit unserer Kritik der "Arbeit" offensiv in die mittlerweile ziemlich leerlaufende Debatte um die "Krise der Arbeitsgesellschaft" einzugreifen. Den Platz der hinausgeschobenen neuen Krisis nahmen daher zunächst das im Sommer 1999 unter dem Herausgebernamen "Gruppe Krisis" erschienene "Manifest gegen die Arbeit" und der im Oktober 1999 herausgegebene Sammelband "Feierabend! - Elf Attacken gegen die Arbeit" (Konkret Literatur Verlag - darin u. a. Robert Kurz und Norbert Trenkle: "Die Aufhebung der Arbeit") ein.

Auf den ersten Blick könnte die Ausgliederung dieser neuen Publikationen zur Arbeitskritik aus der Theoriezeitschrift wie ein bloßes Etikettierungsproblem anmuten. Näher betrachtet verhält es sich allerdings nicht so. "Feierabend!" ist keineswegs eine Krisis-Ausgabe unter anderem Namen, und für das "Manifest" gilt dies natürlich erst recht. Die Texte mussten außerhalb der Krisis-Reihe erscheinen, weil sie zwar nicht hinsichtlich der inhaltlichen Orientierung, sehr wohl aber in ihrer Form und "strategischen" Ausrichtung einen anderen Charakter haben als die Theoriezeitschrift. Damit ist ein grundsätzliches Problem des gesellschaftlichen Ortes von kritischer Theorie angesprochen.

Versteht man Wertkritik ausschließlich als das, was die Krisis im Kern ausmacht, nämlich als ein Projekt theoretischer Selbstverständigung, dann hat die Reorientierung auf die Arbeitskritik kaum grundsätzlich Neues zu Tage gefördert. Natürlich hat vor allem der Sammelband den einen oder anderen Aspekt hinzugefügt; die theoretischen Kernaussagen wurden indes bereits vor geraumer Zeit in der Krisis entwickelt und dargestellt (man denke u. a. an "Die verlorene Ehre der Arbeit", "Sexus und Arbeit", "Postmarxismus und Arbeitsfetisch" oder "Zeit ist Geld - Geld ist Zeit" in den Nummern 10, 12, 15 und 19).

Wenn also das "Manifest" und das Buch "Feierabend!" auf der Ebene der theoretischen Entwicklung als eine Art erweiterte Repetition und als bloße Anreicherung mit Material gelten könnten, so stellen diese Publikationen in anderer Hinsicht dennoch völliges Neuland dar. Denn damit hat die radikale Wertkritik der Krisis einen Vorstoß über das Gebiet rein theoretischer Erörterungen hinaus gewagt. Die Reorientierung auf die Arbeitskritik steht für den Versuch, von den Essentials der wertkritischen Analyse aus zu einer Neuformulierung der zeitgenössischen sozialen Grundkonflikte zu gelangen und damit ein breiteres, heute großenteils in Latenz verharrendes oppositionelles Bewusstsein anzusprechen.

Dieser Schritt in Richtung einer vermittelnden Aktivität stellt natürlich keinen Bruch mit unserem bisherigen Theorieverständnis dar. Zwar ist für die Herausbildung der radikalen Wertkritik eine Abgrenzung vom landläufigen linken Praktizismus und Politizismus mit seinem Drang, Theorie in Agitation aufzulösen, konstitutiv gewesen; die von der Krisis beharrlich betonte Eigenlogik des "theoretischen Pols" meinte aber - und das sagt ja schon dieser Begriff selbst - nie eine absolute, sondern immer eine relative Selbständigkeit der gesellschaftskritischen Theorie. Wertkritik lässt sich letztlich ohne Bezug auf die Perspektive einer emanzipatorischen gesellschaftlichen Bewegung und Veränderung gar nicht denken.

Eine Gesellschaftskritik, die es sich selbstgenügsam im berüchtigten Elfenbeinturm der Theorie bequem machen wollte, ließe damit nicht nur ihre ursprüngliche, auf Veränderung gerichtete Intention fallen, sie geriete auch schon theorieimmanent hoffnungslos in die Schieflage. Denn selbst die abstraktesten theoretischen Überlegungen radikaler Wertkritik können nur formuliert werden, indem sie ihren Gegenstand, den warengesellschaftlichen Formzusammenhang und dessen Emanationen, als grundsätzlich aufhebbar unterstellen und damit implizit immer schon in Beziehung zu einer virtuellen Bewegung gegen die herrschende Praxis stehen. Weder die Demokratie noch der kapitalistische Reichtumsbegriff oder die Subjektform der Wertvergesellschaftung etc. lassen sich kritisch analysieren ohne die Annahme, dass die sozialen Konflikte um uns herum anders besetzt werden könnten, als dies in den gegenwärtigen ideologischen Gespensterschlachten des bürgerlichen Bewusstseins geschieht. Wollte die Wertkritik das Vermittlungsproblem verdrängen und löschen, statt selbst noch die Existenz von Gesellschaftstheorie als eine durch den Zwang der Verhältnisse aufgeherrschte und letztlich zu überwindende Zumutung zu begreifen, dann würde sie damit auch als Theorie gegenstandslos und müsste zu ihrer eigenen Karikatur verkommen.

 

Keine chinesische Mauer trennt das Reich der kritischen Theorie vom (wie auch immer diffusen) gesellschaftlichen Bedürfnis nach Befreiung von der Diktatur des Warenfetischs. Dieser implizit von Anfang an vorhandene Bezug ändert freilich nichts daran, dass der Versuch, durch die Propagierung der Arbeitskritik eine Katalysatorfunktion bei der Formierung eines neuen oppositionellen Bewusstseins zu übernehmen, in der Entwicklung der Krisis eine qualitative Veränderung darstellt - auch wenn uns durchaus bewusst ist, dass dieser Versuch zunächst nur in einem sehr beschränkten Rahmen stattfinden kann. Die Notwendigkeit, als Theoriegruppe immer schon paradigmatisch von der letztinstanzlichen gesellschaftlichen Vermittelbarkeit der Wertkritik ausgehen zu müssen, ist das eine; etwas ganz anderes freilich ist es, tatsächlich einen ersten Schritt der Vermittlung zu tun.

 

Der Begriff "Vermittlung" schillert ein wenig. Geistesgeschichtlich hat er mit Hegel Karriere gemacht und bezeichnet in dessen Sprachgebrauch bekanntlich den eigentlichen Inhalt der Philosophie. Philosophisches Denken ist für Hegel und seine Erben per se vermittelndes Denken. Auch in die Marxsche Theorie ist diese Vorstellung "methodisch" (im Sinne einer ihren Gegenstand von innen heraus kritisch sprengenden Denkweise) eingegangen. Vermittlung meint innertheoretisch das Bemühen, den inneren Zusammenhang zwischen Wesen und (empirischer) Erscheinung herzustellen, und in diesem Sinne lässt sich das Marxsche "Kapital" als ein einziges Vermittlungswerk verstehen. Der Begriff "Vermittlung" hat aber noch eine Zweitkarriere gemacht, in der er sich - zunächst im Zuge der 68er Bewegung - einen Ehrenplatz im Pädagogenjargon erobern konnte. In diesem Kontext zielt die Frage nach der Vermittlung schlicht auf das alltägliche Problem jedes Lehrers: Wie sag ich’s meinem Kinde? Wie speise ich einen längst schon fixierten und zum Curriculum versteinerten Inhalt in das arme Schülerhirn ein? Selbst ins Politikergeschwätz hat der so verballhornte Begriff der Vermittlung inzwischen Einzug gehalten. Die inhaltlich endgültig entleerten Parteien haben ihren notorischen Verlautbarungen zufolge immer nur ein "Vermittlungsproblem", sprich: sie haben Schwierigkeiten, das geeignete Marketing zu finden, um ihre jeweilige Inhaltslosigkeit (als Opposition) und die der Marktlogik folgenden immer härteren sozialökonomischen Restriktionen (als Regierung) demoskopisch signifikant an die medial berieselte Wählermasse zu verkaufen.

 

Es kann nicht sonderlich verwundern, dass, sobald es um das Verhältnis von gesellschaftskritischer Theorie und Selbst-Konstitution sozialer Emanzipationsbewegung geht, diese alltagssprachliche Zweitbedeutung sich in einer vom Geist der Aufklärung (der Pädagogik im Großen) geprägten Linken ebenfalls regelmäßig vor die ursprüngliche Bedeutung schiebt. Bereits als die Krisis sich in diversen Artikeln zunächst rein theoretisch dem Problem einer denkbaren Aufhebungs- oder Aneignungsbewegung zuwandte, wurde dieses Missverständnis denn auch von einigen Erbverwaltern Adornos als "Argument" gegen die Fragestellung als solche bemüht. Sie wollten allein schon die theoretische Thematisierung des Problems als "unzulässige" angebliche Vulgarisierung von Wertkritik und als Abgleiten in einen "Populismus" tabuisiert sehen. Um solche Denunziationen als solche kenntlich zu machen, muss der grundlegende Unterschied zwischen Vermittlung und bloßer Popularisierung herausgestellt werden. Wer vom Ausgangspunkt des theoretischen Pols her mit dem Vermittlungsbestreben ernst machen will, kommt ohnehin nicht darum herum, sich dabei über die Differenz dieser beiden Vorgehensweisen Rechenschaft abzulegen.

 

Das "Manifest gegen die Arbeit" hätte sein Ziel von vornherein verfehlt und wirkungslos bleiben müssen, hätten wir es gewissermaßen als "Krisis light" konzipiert, um die Leser irgendwie an die Höhenluft wertkritischer Abstraktionen heranzuführen. Eine "Einführung" in die wertkritische Theorie ist deswegen nicht abzulehnen, hätte jedoch einen gänzlich anderen Charakter: Eine solche Publikation bliebe erstens noch ganz innerhalb des theoretischen Raumes, würde also nicht die Vermittlung des theoretischen Pols mit dem Pol oppositioneller Bewegung zum Gegenstand haben; und zweitens wäre auch eine solche innertheoretische Vermittlung oder "Einführung" nicht zu verwechseln mit einer seichten, verkürzenden "Popularisierung", sondern im Gegenteil müsste es dabei um die Bestimmung der zentralen Begriffe selbst gehen, und zwar im Unterschied zu theoretischen Selbstverständigungs-Texten weitgehend voraussetzungslos (also unter Berücksichtigung eines Bewusstseins, das nicht denselben innertheoretischen Weg bereits zurückgelegt hat).

 

Vermittlung, die über die theoretische Sphäre hinausführt, muss noch einmal anders angelegt sein. Sie kann per se nur als zweiseitiges Geschäft funktionieren; es geht also keinesfalls darum, einfach bestimmte theoretische Gedanken einem größeren Publikum näher zu bringen, sondern Vermittlung in diesem Sinne setzt den anderen Pol als eigenständigen bereits voraus. Insofern kann denn auch die berühmte Marxsche Sentenz, dass nicht nur der Gedanke zur Wirklichkeit drängen müsse, sondern auch die Wirklichkeit zum Gedanken, als Fingerzeig dienen. Während ein Populismus oder eine "Popularisierung" nur eine äußerliche Verknüpfung von Ideologie und (heute medial vermittelten) Massenstimmungen sein kann, wobei die stummen Systemzwänge den objektivierten und absoluten Maßstab bilden, kann wertkritische Vermittlung eben nicht darin bestehen, dass sich die theoretische Kritik selber zum absoluten Maßstab nimmt, um gewissermaßen den unaufgeklärten Alltagsverstand irgendwie zu übertölpeln und ihn äußerlich (etwa als eine Art Gefolgschaft) zu adaptieren. Vermittlung setzt vielmehr dort ein, wo die theoretische Kritik der kapitalistischen Kategorien sich mit dem Ekel an der warengesellschaftlichen Zurichtung und dem Widerwillen gegen die tagtäglichen Zumutungen trifft, wo sie also mithilft, den widerständigen Regungen, für die im herrschenden Bezugssystem kein Platz vorgesehen ist, ein Reflexionsfeld zu eröffnen.

 

Weder der Ansatzpunkt noch der Zeitpunkt für unser Bemühen, die Grenzen der Theorie zu überschreiten, waren zufällig. Die Kritik der "Arbeit" bietet sich als Fokus dafür schon insofern an, als sie sozusagen an der Schnittstelle zweier Welten einsetzt. Als spezifische Tätigkeitsform des ökonomischen Werts (und damit des kapitalistischen Selbstzwecks) stellt die "Arbeit" die allerabstrakteste und allgemeinste Kategorie der Warengesellschaft dar. Zugleich fällt sie jedoch als grundlegende Praxisform der kapitalistischen Gesellschaft in den Bereich der unmittelbaren Alltagserfahrung. Unter der Wertformanalyse kann sich gewöhnlich außer den Theoretikern niemand etwas vorstellen, als "Arbeit" wird das Formprinzip dieser Gesellschaft und sein Wirken indes greif- und sichtbar. Wenn wir die Wertvergesellschaftung auch (negativ) als "Arbeitsgesellschaft" titulieren, dann schafft diese Bezeichnung nicht nur einen Bezug zu der soziologisch beschränkten und inzwischen völlig verflachten Debatte über das "Ende der Arbeitsgesellschaft" und zur alltäglichen Erfahrung; sie ist vom Standpunkt der radikalen Wertkritik aus auch kategorial vollkommen korrekt.

 

Und was den Zeitpunkt angeht, so drängt die negative Wirklichkeit des Zwangsprinzips "Arbeit" gerade in dessen manifester Krise mit Macht zur Kritik. Es ist kein Zufall, dass die akademische und mediale Debatte über die "Krise der Arbeitsgesellschaft" just in dem Maße zurückgefahren wurde, wie es damit in der Realität ernst geworden ist. Ausgerechnet in einer Situation, die keine spielerische, aufgrund einer Weltmarktgewinner-Position systemkonforme Umdefinition des Arbeitsbegriffs oder sonstige seichte Bewältigungskonzepte (Arbeitszeitverkürzung, "Bürgerarbeit" usw.) mehr erlaubt und in der ein fortgeschrittener Reifegrad der Krise deutlich wird, schlägt das Pendel in der bürgerlichen Öffentlichkeit zurück: An die Stelle postarbeitsgesellschaftlicher Luftschlösser in der unaufgehobenen Warenform tritt eine neue Entschlossenheit der herrschenden Institutionen, auf dem Altar der sterbenden Arbeit als dem plötzlich wieder Allerheiligsten alles und jedes zu opfern, was der Kapitalismus an Sicherungen, Selbstbegrenzungen und sozialen Flankierungen hervorgebracht hatte. Die systemimmanente Reflexion der "Arbeitsgesellschaft" baut ab und wird abgebaut; und das schien uns genau der richtige Moment für ein "Manifest gegen die Arbeit" zu sein.

 

Natürlich ist es noch zu früh, die Reaktionen auf diese Initiative und die Erfahrungen der damit verbundenen Reihe von rund 40 Veranstaltungen abschließend zu beurteilen. Wir werden diesen Versuch auswerten und die Ergebnisse in geeigneter Form zugänglich machen bzw. in unsere weitere Tätigkeit einfließen lassen. Jetzt schon lässt sich sagen, dass der Erfolg rein quantitativ äußerst zufrieden stellend ist, die Resultate aber dennoch zwiespältig bleiben müssen. Die Vertriebszahlen des im Selbstverlag erschienenen "Manifests" haben alle Erwartungen weit übertroffen (bis jetzt wurden schon mehr als 7.000 Exemplare in Umlauf gebracht, hinzu kommt noch die Veröffentlichung im Dossier von Jungle World im vergangenen Sommer), und auch das "Feierabend!"-Buch fand erheblichen Zuspruch. Die vermittelnde Wirkung aber ist nur schwer abzuschätzen. Vor allem laufen die monographischen Produkte aus unserer "Werkstatt" und die Krisis fast unvermittelt parallel, d.h. es gibt bis jetzt nur wenige "Synergie-Effekte" für den eigentlichen Krisis-Zusammenhang (was sich auch quantitativ niederschlägt: Unabhängig von größere Kreise ziehenden anderen Publikationen bewegt sich die verkaufte Auflage der Krisis seit gut einem Jahrzehnt zwischen 1.000 und 1.300 Exemplaren).

 

Dabei müssen freilich wichtige Unterschiede zwischen Buchprojekten für größere Publikumsverlage und einer auf Vermittlung im obigen Sinne zielenden Intervention gemacht werden. Rein quantitativ übertrifft die Reichweite in beiden Fällen die der Krisis bei weitem und ebenso ist in beiden Fällen die Rückkoppelung nur schwer auszumachen. So scheint das bei Eichborn veröffentlichte "Schwarzbuch Kapitalismus" mindestens eine ebenso (relativ) große Öffentlichkeit zu erreichen wie acht Jahre zuvor "Der Kollaps der Modernisierung". Aber natürlich ist diese Öffentlichkeit nicht unbedingt identisch mit derjenigen, auf die das "Manifest" zielt. Das beginnt schon rein technisch beim Vertrieb. Während starken Publikumsverlagen naturgemäß eine größere Möglichkeit zur Verfügung steht, in weiter reichende Vertriebswege für den anonymen publizistischen Markt hineinzukommen, war es andererseits im Falle des "Manifests" die wohlorganisierte Vertriebstätigkeit des Krisis-Kreises-Köln, die jenseits der üblichen Marktwege eine breite Streuung ermöglicht hat.

 

Selbstverständlich ist es aber auch die unterschiedliche Art der inhaltlichen Aufbereitung, die der jeweiligen Reichweite zugrunde liegt. Im Verhältnis zur Krisis ist dieser Faktor keineswegs an den Umfang gebunden, denn der 800-Seiten-Wälzer des "Schwarzbuchs" und die dünne Broschüre des "Manifests" können offenbar ähnlich weit über das Krisis -Publikum hinauswirken (wenn auch eben nicht in derselben Weise). Das "Schwarzbuch" verbleibt dabei von vornherein in der theoretisch-publizistischen Sphäre, führt grundlegende Positionen der Krisis -Wertkritik weiter aus (Kritik der abstrakten "Arbeit", Krisentheorie, kapitalistische Immanenz der alten Arbeiterbewegung und der staatssozialistischen "nachholenden Modernisierung" usw.), indem es diese mit umfangreichem historischen Material anreichert und implizit wie teilweise auch explizit ein neues Geschichtsverständnis thematisiert, das dem Kapitalismus die historische Legitimation überhaupt abspricht. Insofern im Durchgang durch den gesamten kapitalistischen Entwicklungsprozess die abstrakten theoretischen Gedanken mit "Fleisch" der Darstellung gefüllt werden, ist dieses Buch sicherlich für ein größeres Publikum "lesbar" als die Krisis mit ihrem theoretischen Werkstatt-Charakter. In anderer Weise gilt das auch für das "Manifest", das seine größere Reichweite aber nicht aus der epischen Fülle bezieht, sondern umgekehrt aus der apodiktischen, dem Manifest-Charakter angemessenen knappen Sprache, die dennoch die massenhafte Alltagserfahrung mit wertkritischer Stoßrichtung aus- und anzusprechen sucht. Das scheinen auch etliche wohlmeinende Kritiker nicht verstanden zu haben, die das "Manifest" wie einen theoretischen Artikel lasen und dann natürlich nur Mängel sehen konnten, wo es sich in Wirklichkeit um den Charakter einer vermittelnden Intervention in Form eines Pamphlets handelt.

 

Aber nicht nur hinsichtlich der Vertriebswege und Inhalte verbergen sich hinter der oberflächlich ähnlichen, (relativ) großen Publikumswirksamkeit des "Schwarzbuchs" und des "Manifests" enorme Unterschiede. Über den Charakter eines großen Publikumsverlags stellt sich leichter eine besondere Art der Wahrnehmung in der bürgerlichen Öffentlichkeit her (etwa durch Rezensionen in großen Medien wie "Zeit", "Süddeutsche", Rundfunkanstalten etc.). Der spezifische Inhalt spielt dabei eine Art Marketing-Rolle: Anscheinend langweilt der konkurrenzlos gewordene Betrieb mit seinem endlosen Geplapper über "Marktwirtschaft-und-Demokratie" seine eigenen Protagonisten und sein Publikum bereits derart grenzenlos, dass ein offener Affront, ein gewisser "Tabubruch" und ein radikales Abweichen vom Mainstream bereits als eine Art "Event" mit Aufmerksamkeit und womöglich Beifall bedacht wird.

 

Das System als solches, an das Ende seiner Entwicklung gelangt, bedarf "eigentlich" keiner umfassenden Legitimation mehr (was sich in postmoderner Diktion als Affekt gegen die "großen Erzählungen" niedergeschlagen hat). Aber für sein geistiges Gleichgewicht sind trotzdem immanente Kritik oder wenigstens irgendwelche nicht im "Istzustand" verschwindende Reflexionen nötig, wie sie in der Durchsetzungsgeschichte des warenproduzierenden Systems stets die Spiegelfläche dafür abgaben, Feind- und damit umgekehrt eigene Leitbilder an den Entwicklungshorizont zu projizieren.

 

Jetzt gibt es diesen Horizont nicht mehr, aber er muss simuliert werden. Dazu bedarf es paradoxerweise einer Reflexion, die bereits über das System hinausgeht, aus dessen Binnenperspektive jedoch im Sinne der eigenen früheren (immanenten) Durchsetzungs-Ideologien wahrgenommen werden kann. In dieser paradoxen Weise erregen Bücher wie der "Kollaps" oder das "Schwarzbuch" nur insoweit Aufsehen, als sie erstens qua Publikationsweise als (relativ prominente) Marktgegenstände in der bürgerlichen Zirkulation erscheinen (und insofern schon unbewusst als entschärft gelten). Zweitens ist wichtig, dass ihr Inhalt nicht mehr dem historisch entwerteten Arbeiterbewegungs-Marxismus, linken Demokratismus usw. angehört, sondern darüber hinausgreift: gerade darin liegt die Paradoxie. Denn ein im Sinne des reflexiven intellektuellen Stellenwerts bereits klinisch toter Gegner, wie ihn der traditionelle Marxismus und die bisherige Linke heute abgeben, kann auch für das Simulieren einer weiteren Selbstreflexion des Systems nicht mehr als Abstoßungspunkt oder Projektionsfläche genommen werden. Damit aber das "Schwarzbuch" für diese Simulation im Medienbetrieb instrumentalisierbar zu machen ist, muss es ganz abstrakt als "satisfaktionsfähig" dargestellt werden, allerdings unter sorgfältiger Ausblendung der "unmöglichen" konkreten Inhalte, die entweder mit sanfter Kritik als "utopisch" moniert oder auf die längst als ungefährlich identifizierte Schiene der angeblichen "Moral" geschoben (also normativ statt kritisch-analytisch interpretiert) werden. Drittens ist es natürlich die Grundvoraussetzung solcher bürgerlicher Rezeptionsweisen eines für das bürgerliche Denken eigentlich nicht mehr denkbaren Inhalts, das diesem keine negatorische soziale Bewegung entgegenkommt und ihn aufgreift. Solange die Vermittlung mit sozialen Protestbewegungen fehlt, können Texte wie das "Schwarzbuch" immer auch als bloßer "Kunstgegenstand", als konsumierbares Produkt mit Neuheitsreiz und eskapistischem Stellenwert aufgegriffen werden, zumal die bürgerliche Geisteskonjunktur selber im Zustand völliger Verödung angelangt ist.

 

An dieser Art der formalen Gefangenschaft im kapitalistischen Geistesbetrieb werden keineswegs überraschend die Grenzen theoretischer Kritik und Analyse überhaupt deutlich. Das heißt aber keineswegs, dass das "Schwarzbuch" in einer derartigen Form der simulativen Rezeption aufginge. Jenseits dieser Form und durch sie hindurch handelt es sich um ein notwendiges Element negatorischer Energie, das seine Wirkung auch unterhalb und außerhalb der bürgerlichen Rezeptionsformen tut; der negatorische Inhalt kann nicht spurlos von der Warenform geschluckt werden. Die kapitalistische Zirkulation und Öffentlichkeit transportiert so unwissentlich und unwillentlich Gedanken, die ihren eigenen Horizont sprengen, auch wenn diese Sprengkraft nicht unmittelbar als Wirkung erscheint. Insofern haben solche Texte noch eine zweite, andere Rezeptionsgeschichte, die das bloße "Marktereignis" hinter sich lässt. Es gibt eben auch jetzt schon Rezipienten, die das "Schwarzbuch" und verwandte Texte nicht als geistigen Konsumgegenstand für den Simulationsbetrieb, sondern als Antwort auf Fragen und als Ansatz einer neuen Perspektive der Kritik verstehen, die nun durch die historische Tiefendimension vielleicht deutlicher geworden ist.

Anders verhält es sich hinsichtlich der Rezeption beim "Manifest gegen die Arbeit". Das zeigt sich schon an der Publikationsform, indem es "unprofessionell" im Selbstverlag erschienen und weniger über den Markt als über viele informelle Kanäle vertrieben worden ist. Im Gegensatz zum "Schwarzbuch" ist die (relativ) rasche und weite Verbreitung nicht auf eine bürgerliche mediale Aufmerksamkeit zurückzuführen oder damit verbunden, sondern eher ein Resultat von Mundpropaganda. Und auch die "Lesbarkeit" für ein größeres Publikum ist von vornherein nicht im Sinne einer simulativen Scheinreflexion zu missbrauchen, eben weil es sich nicht um ein theoretisch-historisches Werk handelt, sondern um eine direkte und dürre Kampfan-sage; einen Versuch also, unmittelbar in Resonanz mit dem abgeblockten gesellschaftlichen Protestpotential zu treten. Das ist offenbar dem bürgerlichen Betrieb zu viel: Derselbe Inhalt ist dann nicht mehr derselbe. Jedenfalls ist das "Manifest" in den bürgerlichen Medien nicht aufgetaucht, nicht einmal als Ufo. Während formal vergleichbare Publikationen, wie etwa das "Manifest der Glücklichen Arbeitslosen", als gewissermaßen popkulturelle Produkte wohlwollend bis amüsiert ziemlich breit besprochen und sogar von Ulrich Beck in die "zweite Moderne" eingemeindet wurden, ist unserem "Manifest" dieser Umweg erspart geblieben. Es hat alle Chancen, regelrechte Underground-Literatur zu bleiben. Das ist auch sein angemessener Platz. Vielleicht sagen es schon die Überschriften: "Glückliche Arbeitslose" lassen sich (unabhängig von ihrer eigenen Intention) noch als Event in den Toleranznischen des Systems interpretieren, ein "Manifest gegen die Arbeit" offenbar nicht mehr.

 

Trotz des keineswegs erfreulichen Zustandes der Linken (nicht nur in diesem Lande) wäre es wohl eine eitle Hoffnung, dass sich eine Rezeptionsgeschichte radikaler Wertkritik an ihr vorbei entwickeln ließe, gewissermaßen als Spekulation auf jungfräuliche Kräfte von Gesellschaftskritik und sozialer Bewegung. In Wahrheit ist das altlinke Syndrom immer schon präsent, auch in den jüngsten Köpfen, die -nachdem die theoretische Kultur der Linken weitgehend verfallen ist - auf der Suche nach geistiger Nahrung oft zu den schauerlichsten Restbeständen und Amalgamierungen Zuflucht nehmen.

Andererseits ist es auf alle Fälle zu vermeiden, in einen innerlinken erbitterten Grabenkampf von Gruppen und Grüppchen zurückzufallen, aus dessen Perspektive Gesellschaft und Geschichte nur noch verzerrt wahrzunehmen sind und die Inhalte in einer Art und Weise formuliert werden, die keiner Vermittlung mehr fähig ist. Ohnehin kann es nicht um Insider-Bezüge und Nuancierungen einer familiären Schlägerei gehen, sondern weiterhin um die Kritik und Überwindung einer an ihre Grenzen gestoßenen großen Geschichte von Gesellschaftskritik und sozialer Bewegung in den Kategorien des warenproduzierenden Systems. In diesem Sinne will die Krisis einerseits die begonnene Überwindung des Arbeiterbewegungs-Marxismus weitertreiben und - trotz aller Warnung vor dem allzu martialischen "Begriffsmord" - den marxistischen Fortschrittsbegriff, die Begriffe des "Materialismus" und der "Revolution" einer wertkritischen Prüfung unterziehen. Dabei muss auch die (ansatzweise im "Schwarzbuch" bereits begonnene) Kritik an der liberalen Erbmasse des Marxismus und an der Aufklärungsphilosophie fortgeführt sowie um eine tiefer greifende Auseinandersetzung mit der "Kritischen Theorie" erweitert werden. Im Mittelpunkt wird dabei die Frage des "Subjekts" im weitesten Sinne stehen. Es ist also klar, dass der versuchte Übergang zu Formen der Vermittlung keineswegs heißt, dass die Krisis nun als Theoriegruppe überwunden wäre; der Fortgang der noch längst nicht abgeschlossenen Theoriebildung wird auch weiterhin unser Hauptbetätigungsfeld bleiben. (...)

Aus dem Editorial der krisis 23, 2000

 

Rezensionen zum "Manifest gegen die Arbeit"

 

Arbeit am Ende? Ein Manifest gegen die Arbeit

 

Die Arbeitsgesellschaft befindet sich in der Krise. Das wahre Ausmaß der ohnehin beständig hohen Arbeitslosenzahlen wird sichtbar in fast täglich zu lesenden Meldungen über weitere Rationalisierungen. Der Staat müht sich "verzweifelt", wie das heißt, mit dem Bündnis für Arbeit und kostspieligen Steuergeschenken, Lohnsubventionen und Beschäftigungsprogrammen die Lage zu verbessern. Während alle anderen noch davon träumen, wie einst eine florierende Wirtschaft endlich auch den Arbeitsmarkt stimulieren wird, beschäftigt sich die Nürnberger Gruppe Krisis um ihren Theoretiker Robert Kurz mit einem Tabuthema: die Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Das vorliegende Manifest ist eine schonungslose und bisweilen provokative theoretische Kritik der gängigen Vorstellungen über Arbeit. Es "soll die herrschenden Denkverbote frontal angreifen und ebenso offen wie klar aussprechen, was sich niemand zu wissen traut und viele doch spüren: die Arbeitsgesellschaft ist definitiv am Ende." (S. 41)

 

In siebzehn kurzen Kapiteln skizzieren die Verfasser eine Gesellschaft, die sich ideologieübergreifend einem Relikt verschrieben hat und nun von einem Leichnam beherrscht wird: dem Götzen Arbeit. Der wird nur noch künstlich und mit großem Aufwand weiter beatmet, denn die Erwerbsgesellschaft stößt nach Meinung der Autoren hier an ihre absolute Grenze: "Erstmals wird mehr Arbeit wegrationalisiert als durch Ausdehnung der Märkte (und die Schaffung neuer Produkte und Branchen) reabsorbiert werden kann." (S. 28) Die früheren Kompensationsmechanismen greifen nicht mehr, der systemimmanente Widerspruch von Kaufkraft und Konsum einerseits und betriebswirtschaftlicher Konkurrenz, d.h. Rationalisierungszwang andererseits, wird zum von der Gruppe bereits des öfteren vorhergesagten Kollaps führen. Die dritte - mikroelektronische - Revolution hat den arbeitenden Menschen überflüssig gemacht und "der Verkauf der Ware Arbeitskraft wird im 21. Jahrhundert genauso aussichtsreich sein wie im 20. Jahrhundert der Verkauf von Postkutschen." (S. 5)

 

Solche Szenarien über den nahenden Zusammenbruch des (fast) weltweit herrschenden warenproduzierenden Systems flößen Angst ein. Da verwundert es nicht, wenn um so vehementer an der Arbeit als gesellschaftlichem Zwangsprinzip festgehalten wird. "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!", tönt es aus allen ideologischen Lagern, und: "Jede Arbeit ist besser als gar keine!" - und sei sie noch so sinnlos. Kann das Dogma von der Arbeit als natürlicher Bestimmung des Menschen gelten, wenn "drei Viertel der Menschheit nur deshalb in Not und Elend versinken, weil das System ihre Arbeit gar nicht mehr brauchen kann?" (S. 13)

 

Die ehedem noch stolz "sozial" genannte Marktgesellschaft ist zu einer neoliberalen und sozialstaatlichen Apartheidsgesellschaft verkommen, die von rücksichtslosem Konkurrenzkampf, Entsolidarisierung, Naturzerstörung und Rechtsnationalismus geprägt ist. "Die ideologische Verwandlung der knappen Arbeit ins erste Bürgerrecht schließt konsequent alle Nicht-Staatsbürger aus." (S. 9) Und sie produziert eine Masse von wohlfahrtsabhängigen Überflüssigen, die als "lästiger Humanmüll" angesehen werden.

 

Robert Kurz und den anderen Autoren des Manifestes ist ein interessanter und mutiger Aufriss des komplexen Themas "Zukunft der Erwerbsarbeit" gelungen. Dass vieles nur angerissen und stellenweise mehr polemisiert als argumentiert wird, tut dem Manifest keinen Abbruch. Gerade dadurch eignet es sich als Diskussionsgrundlage für all diejenigen, die sich trauen, der Wahrheit über eine unsichere Zukunft ins Gesicht zu sehen.

 

Susanne Dehmel

 

Originaltext: www.graswurzel.net, erschienen in der Graswurzelrevolution Nr. 242 Oktober 1999 (Änderung: neue Rechtschreibung)

Aus dem "Manifest gegen die Arbeit"

(...) 16. Die Aufhebung der Arbeit

Der kategoriale Bruch mit der Arbeit findet keine fertigen und objektiv bestimmten gesellschaftlichen Lager vor wie der systemimmanent beschränkte Interessenkampf. Er ist ein Bruch mit der falschen Sachgesetzlichkeit einer "zweiten Natur", also nicht selber wieder ein quasi-automatischer Vollzug, sondern negatorische Bewusstheit - Verweigerung und Rebellion ohne irgendein "Gesetz der Geschichte" im Rücken. Ausgangspunkt kann kein neues abstrakt-allgemeines Prinzip sein, sondern nur der Ekel vor dem eigenen Dasein als Arbeits- und Konkurrenzsubjekt und die kategorische Weigerung, auf immer elenderem Niveau weiter so funktionieren zu müssen.
Trotz ihrer absoluten Vorherrschaft ist es der Arbeit nie gelungen, den Widerwillen gegen die von ihr gesetzten Zwänge ganz auszulöschen. Neben allen regressiven Fundamentalismen und allem Konkurrenzwahn der sozialen Selektion gibt es auch ein Protest- und Widerstandspotential. Das Unbehagen im Kapitalismus ist massenhaft vorhanden, aber in den soziopsychischen Untergrund abgedrängt. Es wird nicht abgerufen. Deshalb bedarf es eines neuen geistigen Freiraums, damit das Undenkbare denkbar gemacht werden kann. Das Weltdeutungsmonopol des Arbeits-Lagers ist aufzubrechen. Der theoretischen Kritik der Arbeit kommt dabei die Rolle eines Katalysators zu. Sie hat die Pflicht, die herrschenden Denkverbote frontal anzugreifen und ebenso offen wie klar auszusprechen, was sich niemand zu wissen traut und viele doch spüren: Die Arbeitsgesellschaft ist definitiv am Ende. Und es gibt nicht den geringsten Grund, ihr Hinscheiden zu bedauern.
Erst die ausdrücklich formulierte Kritik der Arbeit und eine entsprechende theoretische Debatte können jene neue Gegenöffentlichkeit schaffen, die unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass sich eine praktische soziale Bewegung gegen die Arbeit konstituiert. Die Binnenstreitereien innerhalb des Arbeits-Lagers haben sich erschöpft und werden immer absurder. Umso dringender ist es, die gesellschaftlichen Konfliktlinien neu zu bestimmen, entlang derer sich ein Bündnis gegen die Arbeit formieren kann.
Es gilt also in groben Zügen zu skizzieren, welche Zielsetzungen für eine Welt jenseits der Arbeit möglich sind. Das Programm gegen die Arbeit speist sich nicht aus einem Kanon positiver Prinzipien, sondern aus der Kraft der Negation. Ging die Durchsetzung der Arbeit mit der umfassenden Enteignung der Menschen von den Bedingungen ihres eigenen Lebens einher, so kann die Negation der Arbeitsgesellschaft nur darin bestehen, dass sich die Menschen ihren gesellschaftlichen Zusammenhang auf höherem historischem Niveau wieder aneignen. Die Gegner der Arbeit werden deshalb die Bildung weltweiter Verbünde frei assoziierter Individuen anstreben, die der leer laufenden Arbeits- und Verwertungsmaschine die Produktions- und Existenzmittel entreißen und sie in die eigene Hand nehmen. Nur im Kampf gegen die Monopolisierung aller gesellschaftlichen Ressourcen und Reichtumspotentiale durch die Entfremdungsmächte von Markt und Staat lassen sich soziale Räume der Emanzipation erobern.
Dabei ist auch das Privateigentum auf eine neue und andere Weise anzugreifen. Für die bisherige Linke war das Privateigentum nicht die juristische Form des warenproduzierenden Systems, sondern lediglich eine ominöse subjektive "Verfügungsgewalt" der Kapitalisten über die Ressourcen. So konnte der absurde Gedanke entstehen, das Privateigentum auf dem Boden der Warenproduktion überwinden zu wollen. Als Gegensatz zum Privateigentum erschien daher in der Regel das Staatseigentum ("Verstaatlichung"). Der Staat aber ist nichts als die äußerliche Zwangsgemeinschaft oder abstrakte Allgemeinheit der sozial atomisierten Warenproduzenten, das Staatseigentum somit nur eine abgeleitete Form des Privateigentums - egal, ob es mit dem Adjektiv "sozialistisch" versehen wird oder nicht.
In der Krise der Arbeitsgesellschaft wird das Privateigentum ebenso wie das Staatseigentum obsolet, weil beide Eigentumsformen gleichermaßen den Verwertungsprozess voraussetzen. Eben deshalb liegen die entsprechenden sachlichen Mittel zunehmend brach und bleiben verschlossen. Und eifersüchtig wachen die staatlichen, betrieblichen und juristischen Funktionäre darüber, dass dies so bleibt und die Produktionsmittel eher verrotten als für einen anderen Zweck eingesetzt zu werden. Die Eroberung der Produktionsmittel durch freie Assoziationen gegen die staatliche und juristische Zwangsverwaltung kann daher nur bedeuten, dass diese Produktionsmittel nicht mehr in der Form der Warenproduktion für anonyme Märkte mobilisiert werden.
An die Stelle der Warenproduktion tritt die direkte Diskussion, Absprache und gemeinsame Entscheidung der Gesellschaftsmitglieder über den sinnvollen Einsatz der Ressourcen. Die unter dem Diktat des kapitalistischen Selbstzwecks undenkbare gesellschaftlich-institutionelle Identität von Produzenten und Konsumenten wird hergestellt. Die entfremdeten Institutionen von Markt und Staat werden abgelöst durch ein gestaffeltes System von Räten, in denen vom Stadtteil bis zur Weltebene die freien Assoziationen nach Gesichtspunkten sinnlicher, sozialer und ökologischer Vernunft über den Fluss der Ressourcen bestimmen.
Nicht mehr der Selbstzweck von Arbeit und "Beschäftigung" bestimmt das Leben, sondern die Organisation des sinnvollen Einsatzes von gemeinsamen Möglichkeiten, die durch keine automatische "unsichtbare Hand" gesteuert werden, sondern durch bewusstes gesellschaftliches Handeln. Der produzierte Reichtum wird direkt nach Bedürfnissen angeeignet, nicht nach "Zahlungsfähigkeit". Zusammen mit der Arbeit verschwindet die abstrakte Allgemeinheit des Geldes ebenso wie diejenige des Staates. An die Stelle der getrennten Nationen tritt eine Weltgesellschaft, die keine Grenzen mehr benötigt, in der sich jeder Mensch frei bewegen und an jedem beliebigen Ort das universelle Gastrecht beanspruchen kann.
Die Kritik der Arbeit ist eine Kriegserklärung an die herrschende Ordnung, keine friedliche Nischen-Koexistenz mit deren Zwängen. Die Parole der sozialen Emanzipation kann nur lauten: Nehmen wir uns, was wir brauchen! Kriechen wir nicht länger auf Knien unter das Joch der Arbeitsmärkte und der demokratischen Krisenverwaltung! Die Voraussetzung dafür ist die Kontrolle neuer sozialer Organisationsformen (freier Assoziationen, Räte) über die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen der Reproduktion. Dieser Anspruch unterscheidet die Gegner der Arbeit grundsätzlich von allen Nischenpolitikern und Kleingeistern eines Schrebergarten-Sozialismus.
Die Herrschaft der Arbeit spaltet das menschliche Individuum. Sie trennt das Wirtschaftssubjekt vom Staatsbürger, das Arbeitstier vom Freizeitmenschen, das abstrakt Öffentliche vom abstrakt Privaten, die produzierte Männlichkeit von der produzierten Weiblichkeit und sie stellt den vereinzelten Einzelnen ihren eigenen gesellschaftlichen Zusammenhang als eine fremde, sie beherrschende Macht gegenüber. Die Gegner der Arbeit streben die Aufhebung dieser Schizophrenie in der konkreten Aneignung des gesellschaftlichen Zusammenhangs durch bewusst und selbstreflexiv handelnde Menschen an.
 

Die "Arbeit" ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der "Arbeit" gefasst wird .
(Karl Marx, Über Friedrich Lists Buch "Das nationale System der politischen Ökonomie", 1845)
 

17. Ein Programm der Abschaffungen gegen die Liebhaber der Arbeit

Man wird den Gegnern der Arbeit vorwerfen, sie seien nichts als Phantasten. Die Geschichte habe erwiesen, dass eine Gesellschaft, die nicht auf den Prinzipien der Arbeit, des Leistungszwangs, der marktwirtschaftlichen Konkurrenz und des individuellen Eigennutzes basiere, nicht funktionieren könne. Wollt ihr, Apologeten des herrschenden Zustands, also behaupten, dass die kapitalistische Warenproduktion tatsächlich der Mehrheit der Menschen ein auch nur im Entferntesten annehmbares Leben beschert hat? Nennt ihr es "funktionieren", wenn ausgerechnet das sprunghafte Wachstum der Produktivkräfte Milliarden von Menschen aus der Menschheit stößt und sie froh sein dürfen, auf Müllhalden zu überleben? Wenn Milliarden andere das gehetzte Leben unter dem Diktat der Arbeit nur noch ertragen, indem sie sich isolieren und vereinsamen, indem sie ihren Geist genußlos betäuben und physisch wie psychisch erkranken? Wenn die Welt in eine Wüste verwandelt wird, nur um aus Geld mehr Geld zu machen? Nun gut. Das ist in der Tat die Art und Weise, wie euer grandioses System der Arbeit "funktioniert". Solche Leistungen allerdings wollen wir nicht vollbringen!
Eure Selbstzufriedenheit beruht auf eurer Ignoranz und auf der Schwäche eures Gedächtnisses. Die einzige Rechtfertigung, die ihr für eure gegenwärtigen und zukünftigen Verbrechen findet, ist der Zustand der Welt, der auf euren vergangenen Verbrechen beruht. Ihr habt vergessen und verdrängt, welcher Staatsmassaker es bedurfte, bis den Menschen euer gelogenes "Naturgesetz" ins Hirn gefoltert war, dass es geradezu ein Glück sei, fremdbestimmt "beschäftigt" zu werden und sich die Lebensenergie für den abstrakten Selbstzweck eures Systemgötzen aussaugen zu lassen.
Erst mussten alle Institutionen der Selbstorganisation und der selbstbestimmten Kooperation in den alten Agrargesellschaften ausgerottet werden, bis die Menschheit überhaupt in der Lage war, die Herrschaft von Arbeit und Eigennutz zu verinnerlichen. Vielleicht wurde wirklich ganze Arbeit geleistet. Wir sind keine übertriebenen Optimisten. Wir können nicht wissen, ob die Befreiung aus diesem konditionierten Dasein gelingen wird. Es ist offen, ob der Untergang der Arbeit zur Überwindung des Arbeitswahns führt oder zum Ende der Zivilisation.
Ihr werdet einwenden, mit der Aufhebung des Privateigentums und des Zwangs zum Geldverdienen werde alle Tätigkeit aufhören und eine allgemeine Faulheit einreißen. Gebt ihr also zu, dass euer gesamtes "natürliches" System auf purem Zwang beruht? Und dass ihr deshalb die Faulheit als Todsünde wider den Geist des Arbeitsgötzen fürchtet? Die Gegner der Arbeit jedoch haben überhaupt nichts gegen die Faulheit. Eines ihrer vorrangigen Ziele ist es, die Kultur der Muße wiederherzustellen, die einst alle Gesellschaften kannten und die vernichtet wurde, um ein rastloses und sinnvergessenes Produzieren durchzusetzen. Deshalb werden die Gegner der Arbeit zuerst all die vielen Produktionszweige ersatzlos stilllegen, die überhaupt nur dazu dienen, ohne Rücksicht auf Verluste den verrückten Selbstzweck des warenproduzierenden Systems aufrechtzuerhalten.
Wir sprechen nicht nur von den offensichtlich gemeingefährlichen Arbeitsbereichen wie der Auto-, der Rüstungs- und der Atomindustrie, sondern auch von der Produktion jener zahlreichen Sinnprothesen und albernen Belustigungsgegenstände, die den Arbeitsmenschen einen Ersatz für ihr vergeudetes Leben vortäuschen sollen. Verschwinden wird auch die ungeheure Menge jener Tätigkeiten, die überhaupt nur deswegen anfallen, weil die Produktmassen durch das Nadelöhr der Geldform und Marktvermittlung hindurchgepresst werden müssen. Oder meint ihr, dass noch Buchhalter und Kostenrechner, Marketingspezialisten und Verkäufer, Vertreter und Werbetexter vonnöten sind, sobald die Dinge nach Bedarf hergestellt werden und alle einfach nehmen, was sie brauchen? Und wozu sollte es noch Finanzbeamte und Polizisten, Sozialarbeiter und Armutsverwalter geben, wenn kein Privateigentum mehr geschützt, kein soziales Elend verwaltet und niemand für entfremdete Systemzwänge zugerichtet werden muss?
Wir hören schon den Aufschrei: Die vielen Arbeitsplätze! Jawohl. Rechnet es ruhig einmal aus, wie viel Lebenszeit sich die Menschheit täglich raubt, nur um "tote Arbeit" aufzuhäufen, Menschen zu verwalten und das herrschende System zu schmieren. Wie viel Zeit wir alle in der Sonne liegen könnten statt uns für Dinge zu schinden, über deren grotesken, repressiven und zerstörerischen Charakter schon ganze Bibliotheken geschrieben wurden. Doch keine Angst. Keinesfalls wird alle Tätigkeit aufhören, wenn die Zwänge der Arbeit verschwinden. Allerdings verändert alle Tätigkeit ihren Charakter, wenn sie nicht mehr in eine selbstzweckhafte und entsinnlichte Sphäre von abstrakten Fließzeiten gebannt wird, sondern ihrem eigenen, individuell variablen Zeitmaß folgen kann und in persönliche Lebenszusammenhänge integriert ist; wenn auch in großen Organisationsformen der Produktion die Menschen selber den Ablauf bestimmen, statt vom Diktat der betriebswirtschaftlichen Verwertung bestimmt zu werden. Warum sich hetzen lassen von den dreisten Anforderungen einer aufgezwungenen Konkurrenz? Es gilt, die Langsamkeit wieder zu entdecken.
Nicht verschwinden werden natürlich auch jene Tätigkeiten der Hauswirtschaft und der Pflege von Menschen, die in der Arbeitsgesellschaft unsichtbar gemacht, abgespalten und als "weiblich" definiert worden sind. Das Kochen ist ebenso wenig zu automatisieren wie das Wickeln von Kleinkindern. Wenn zusammen mit der Arbeit die Trennung der sozialen Sphären überwunden wird, können diese notwendigen Tätigkeiten ins Licht bewusster sozialer Organisation jenseits der geschlechtlichen Zuschreibungen treten. Sie verlieren ihren repressiven Charakter, sobald sie nicht mehr Menschen unter sich subsumieren und je nach Umständen und Bedürfnissen von Männern wie Frauen gleichermaßen verrichtet werden.
Wir sagen nicht, dass jede Tätigkeit dadurch zum Genuss wird. Einige mehr, andere weniger. Natürlich gibt es immer Notwendiges, das getan werden muss. Aber wen wollte das schrecken, wenn das Leben nicht davon aufgefressen wird? Und es wird immer viel mehr geben, was aus freier Entscheidung heraus getan werden kann. Denn die Tätigkeit ist ja ebenso ein Bedürfnis wie die Muße. Nicht einmal die Arbeit hat dieses Bedürfnis ganz auslöschen können, sondern es für sich instrumentalisiert und vampirisch ausgesaugt.
Die Gegner der Arbeit sind weder Fanatiker eines blinden Aktivismus noch eines ebenso blinden Nichtstuns. Muße, notwendige Tätigkeit und frei gewählte Aktivitäten müssen in ein sinnvolles Verhältnis gebracht werden, das sich nach Bedürfnissen und Lebenszusammenhängen richtet. Einmal den kapitalistischen Sachzwängen der Arbeit entwunden, können die modernen Produktivkräfte die frei disponible Zeit für alle ungeheuer ausdehnen. Warum Tag für Tag viele Stunden in Fabrikhallen und Büros zubringen, wenn Automaten aller Art uns den größten Teil dieser Tätigkeiten abnehmen können? Warum hunderte menschlicher Körper schwitzen lassen, wenn einige Mähdrescher genügen? Warum Geist auf eine Routine verschwenden, die auch ein Computer ohne weiteres ausführt?
 Allerdings kann für diese Zwecke nur der geringste Teil der Technik in seiner kapitalistischen Form übernommen werden. Das Gros der technischen Aggregate ist völlig umzuformen, wurden diese doch nach den bornierten Maßstäben der abstrakten Rentabilität gebaut. Viele technische Möglichkeiten sind andererseits aus demselben Grund gar nicht erst entwickelt worden. Obwohl solare Energie an jeder Ecke gewonnen werden kann, setzt die Arbeitsgesellschaft zentralisierte und lebensgefährliche Kraftwerke in die Welt. Und obwohl schonende Methoden der agrarischen Produktion längst bekannt sind, schüttet das abstrakte Geldkalkül tausenderlei Gifte ins Wasser, zerstört die Böden und verpestet die Luft. Aus rein betriebswirtschaftlichen Gründen werden Bauteile und Lebensmittel dreimal um den Globus gejagt, obwohl die meisten Dinge ohne große Transportwege leicht vor Ort hergestellt werden können. Ein erheblicher Teil der kapitalistischen Technik ist ebenso sinnlos und überflüssig wie der dazugehörige Aufwand menschlicher Energie.
 Wir sagen euch damit nichts Neues. Und doch werdet ihr niemals Konsequenzen aus dem ziehen, was ihr auch selber sehr gut wisst. Denn ihr verweigert euch jeder bewussten Entscheidung darüber, welche Produktions-, Transport- und Kommunikationsmittel sinnvollerweise einzusetzen und welche schädlich oder schlicht überflüssig sind. Je hektischer ihr euer Mantra der demokratischen Freiheit abnudelt, desto verbissener weist ihr die elementarste soziale Entscheidungsfreiheit zurück, weil ihr weiterhin dem herrschenden Leichnam der Arbeit und seinen "Pseudo-Naturgesetzen" dienen wollt.
 

Dass die Arbeit aber selbst nicht nur unter den jetzigen Bedingungen, sondern insofern überhaupt ihr Zweck die bloße Vergrößerung des Reichtums ist, ich sage, daß die Arbeit selbst schädlich, unheilvoll ist, das folgt, ohne dass der Nationalökonom (Adam Smith) es weiß, aus seinen eigenen Entwicklungen.
(Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844)

Unser Leben ist der Mord durch Arbeit,
wir hängen 60 Jahre lang am Strick und zappeln,
aber wir werden uns losschneiden.
(Georg Büchner, Dantons Tod, 1835)
 

18. Der Kampf gegen die Arbeit ist antipolitisch

Die Überwindung der Arbeit ist alles andere als eine wolkige Utopie. Die Weltgesellschaft kann in der bestehenden Form keine 50 oder 100 Jahre mehr weitermachen. Dass die Gegner der Arbeit es mit dem bereits klinisch toten Arbeitsgötzen zu tun haben, macht ihre Aufgabe freilich nicht unbedingt leichter. Denn je mehr die Krise der Arbeitsgesellschaft sich zuspitzt und alle Reparaturversuche als Fehlschläge enden, desto mehr wächst auch die Kluft zwischen der Vereinzelung der hilflosen sozialen Monaden und den Anforderungen einer gesamtgesellschaftlichen Aneignungsbewegung. Die zunehmende Verwilderung der sozialen Verhältnisse in großen Teilen der Welt zeigt, dass sich das alte Arbeits- und Konkurrenzbewusstsein auf immer niedrigerem Niveau fortsetzt. Die schubweise Entzivilisierung scheint trotz aller Impulse eines Unbehagens im Kapitalismus die naturwüchsige Verlaufsform der Krise zu sein.
Gerade bei derart negativen Aussichten wäre es fatal, die praktische Kritik der Arbeit als umfassendes gesamtgesellschaftliches Programm hintanzustellen und sich darauf zu beschränken, eine prekäre Überlebenswirtschaft in den Ruinen der Arbeitsgesellschaft zu errichten. Die Kritik der Arbeit hat nur eine Chance, wenn sie gegen den Strom der Entgesellschaftung ankämpft, statt sich davon mitreißen zu lassen. Aber zivilisatorische Standards sind nicht mehr mit der demokratischen Politik zu verteidigen, sondern nur noch gegen sie.
Wer die emanzipatorische Aneignung und Transformation des kompletten gesellschaftlichen Zusammenhangs anstrebt, kann schwerlich die Instanz ignorieren, die bislang dessen Rahmenbedingungen organisiert. Es ist unmöglich, gegen die Enteignung der eigenen gesellschaftlichen Potenzen zu rebellieren, ohne sich mit dem Staat zu konfrontieren. Denn der Staat verwaltet nicht nur ungefähr die Hälfte des gesellschaftlichen Reichtums, er sichert auch die zwanghafte Unterordnung aller gesellschaftlichen Potentiale unter das Gebot der Verwertung. Sowenig die Gegner der Arbeit Staat und Politik ignorieren können, ebenso wenig ist mit ihnen Staat und Politik zu machen.
Wenn das Ende der Arbeit auch das Ende der Politik ist, dann wäre eine politische Bewegung für die Aufhebung der Arbeit ein Widerspruch in sich. Die Gegner der Arbeit richten Forderungen an den Staat, aber sie bilden keine politische Partei und sie werden auch keine bilden. Der Zweck der Politik kann es nur sein, den Staatsapparat zu erobern, um mit der Arbeitsgesellschaft weiterzumachen. Die Gegner der Arbeit wollen daher nicht die Schaltzentralen der Macht besetzen, sondern sie ausschalten. Ihr Kampf ist nicht politisch, sondern antipolitisch.
Untrennbar sind Staat und Politik der Moderne mit dem Zwangssystem der Arbeit verquickt und deshalb müssen sie zusammen mit diesem verschwinden. Das Gerede von einer Renaissance der Politik ist nur der Versuch, die Kritik des ökonomischen Terrors auf ein positiv staatsbezogenes Handeln zurückzuzerren. Selbstorganisation und Selbstbestimmung aber sind das genaue Gegenteil von Staat und Politik. Die Eroberung sozial-ökonomischer und kultureller Freiräume vollzieht sich nicht auf dem politischen Umweg, Dienstweg und Irrweg, sondern als Konstitution einer Gegengesellschaft.
Freiheit heißt, sich weder vom Markt verwursten noch vom Staat verwalten zu lassen, sondern den gesellschaftlichen Zusammenhang in eigener Regie zu organisieren - ohne Dazwischenkunft entfremdeter Apparate. In diesem Sinne geht es für die Gegner der Arbeit darum, neue Formen sozialer Bewegung zu finden und Brückenköpfe einzunehmen für eine Reproduktion des Lebens jenseits der Arbeit. Es gilt, die Formen einer gegengesellschaftlichen Praxis mit der offensiven Verweigerung der Arbeit zu verbinden.
Mögen die herrschenden Mächte uns für verrückt erklären, weil wir den Bruch mit ihrem irrationalen Zwangssystem riskieren. Wir haben nichts zu verlieren als die Aussicht auf die Katastrophe, in die sie uns hineinsteuern. Wir haben eine Welt jenseits der Arbeit zu gewinnen.

Proletarier aller Länder, macht Schluss!

 

Fortsetzung aus dem Editorial 23

(...) Allerdings braucht die Zukunft der theoretischen Kritik ihre Zeit. Hinsichtlich der Theoriebildung wird es deshalb zunächst eine wesentliche Aufgabe sein, noch einmal zurückzugehen und die bisherigen Stationen radikaler Wertkritik der Krisis in zweiten Durchgängen genauer darzustellen und auszubauen. Dies betrifft etwa das Abspaltungstheorem", die Kritik der Wertvergesellschaftung als Geschlechterverhältnis. Dazu wird Anfang 2000 in der edition krisis (Horlemann Verlag) von Roswitha Scholz das Buch "Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Kapitals" erscheinen, in dem sie ihre feministische Weiterentwicklung der Wertkritik und der Kritischen Theorie in einem kritischen Durchgang durch die wichtigste feministische Literatur des deutschsprachigen Raums seit den 70er Jahren präzisiert und in modifizierter Form neu ausformuliert. In einem zweiten Teil analysiert sie die postmoderne "Verwilderung" (statt Überwindung) des Patriarchats und setzt sich in diesem Zusammenhang mit den feministischen Beiträgen zur Globalisierungsdebatte auseinander.

 

Für die weitere Zukunft wird die Abspaltungstheorie, die sich ja keineswegs bloß auf die Spezifik des modernen Geschlechterverhältnisses bezieht, sondern einen erweiterten Begriff des gesellschaftlichen Ganzen liefert, auch im Hinblick auf die Erkenntnis- und Wissenschaftskritik zu diskutieren sein. Denn das strukturell "männliche" Handlungssubjekt des Kapitals ist ja gleichzeitig das entsprechende Erkenntnissubjekt. Um die geschlechtliche Dimension der "Abspaltung" erweitert, muss sich das Verhältnis von "Warenform und Denkform" in einem neuen Licht darstellen. Das Problem einer "Aufhebung der Theorie" (im Sinne ihres Daseins als getrennte Sphäre der Abstraktion) wird erst von diesem erweiterten (negativen) Begriff der gesellschaftlichen Totalität her denkbar; einer Totalität, von der erst auf diese Weise genauer gesagt werden kann, warum sie nicht "aufgeht".

 

Dies sind freilich Fragestellungen, die einer langfristigen Befassung bedürfen und deshalb nicht zu unseren derzeit überschaubaren Publikationsvorhaben gehören (was Interessenten daran nicht hindern sollte, ihr Interesse daran anzumelden). In der Krisis, aber auch darüber hinaus, wollen wir uns in der nächsten Zeit vorrangig mit zwei Themenfeldern befassen. Erstens ist es dringend erforderlich, mit wertkritischer Reflexion in die Debatte um die "Weltordnungskriege" seit Anfang der 90er Jahre einzugreifen und dabei die theoretische Analyse um bisher vernachlässigte Aspekte des Verhältnisses von Politik, Ökonomie und Geschichte zu erweitern. Zu untersuchen ist, welche "postpolitischen" Verlaufsformen die Zersetzung des warenproduzierenden Systems im Weltmaßstab annimmt und inwieweit dabei zentrale Kategorien traditioneller Kapitalismusanalyse (Staatlichkeit, Nation, Imperialismus etc.) obsolet werden. In diesen Kontext gehört u.a. auch eine Auseinandersetzung mit den diversen Strömungen der "Antideutschen" über die Frage, in welchem Verhältnis radikale Kapitalismuskritik als Wertkritik zur spezifisch deutschen Geschichte (Nationalsozialismus, Holocaust) steht. Die nächstfolgende Nr. 24 der Krisis sowie unser Seminar im April 2000 werden einige Aspekte dieser Thematiken mit dem Schwerpunkt "Krieg und Gewalt im postpolitischen Krisenzeitalter" behandeln.

 

Zweitens sehen wir es als mindestens ebenso dringlich an, zu den wichtigsten Essentials der Wertkritik zurückzukehren und die zentralen Fragen von Wert- und Akkumulationstheorie, Krisentheorie und Kritik des Klassen-Soziologismus neu aufzunehmen. Seit dem fast vergessenen Artikel über den "Klassenkampffetisch" von Robert Kurz und Ernst Lohoff (in der Nr. 6 unserer Zeitschrift, damals noch "Marxistische Kritik") ist die Wertkritik der Krisis von den diversen Steinzeitmarxisten immer wieder als "opportunistisch", "versöhnlerisch" usw. denunziert worden, weil der traditionelle Begriff von Kapitalismuskritik eben stets soziologisch beschränkt und hinsichtlich der Form unkritisch sein musste. Natürlich ist das Geschimpfe jenes "unglücklichen Bewusstseins", das dort weiterhin krampfhaft nach Rauch Ausschau hält, wo kein Feuer mehr ist, ziemlich unerheblich. Aber auch wenn klar ist, dass der traditionelle "Klassenkampf" nichts anderes als die immanente Bewegungsform des warenproduzierenden Systems in seiner Durchsetzungsgeschichte sein konnte, so ist damit weder die Problematik des soziologischen Klassenbegriffs (auch in seinen Verfallsformen) erschöpfend behandelt noch die soziale Kluft bestimmt, die sich gerade in der Krisenreife des Systems öffnet wie nie zuvor. Diese Problematik steht sowohl innertheoretisch als auch hinsichtlich der Vermittlung über die theoretische Sphäre hinaus in engem Zusammenhang mit der Arbeitskritik. Die zentrale Frage dabei ist, wie sich das, was in der sozialwissenschaftlichen Literatur als "soziale Disparitäten" firmiert, in wertkritischer Diktion neu formulieren lässt. In diesem Kontext ist auch die Kritik an den wertimmanenten und grundsätzlich "formvergessenen" soziologistischen bzw. demokratischen Rückzugs- und Auffangstellungen der Linken (Regulationstheorie, Neo-Neokeynesianismus) erforderlich, insbesondere eine Auseinandersetzung mit dem Soziologen Pierre Bourdieu, der zum neuen intellektuellen Stern am Himmel des wertimmanenten linken Soziologismus aufgestiegen ist.

 

Ein anderer Aspekt derselben Auseinandersetzung ist die Kritik an der versuchten Neuformulierung eines positiven, unkritischen, aber weniger den traditionellen Marxismus wiederholenden, sondern eher der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre angenäherten Wertbegriffs, wie er seit geraumer Zeit vor allem von dem Berliner linksakademischen Ökonomen Michael Heinrich entwickelt wird. Und daran anschließend ist auch eine zusammenfassende, zentrale Argumente erweiternde Antwort auf die seit Jahren in bestimmten Denkfiguren rituell wiederholte Kritik an der Akkumulations-und Krisentheorie der Krisis überfällig. Wichtige Aspekte dieser Themenfelder und Auseinandersetzungen sollen in Krisis 25 mit dem Schwerpunkt "Wert- und Krisentheorie" behandelt werden.

 

KRISIS 23 (2000)
Franz Schandl: Das Phänomen Haider. Prototyp einer neuen Rechten in Europa? -- Gerhard Scheit: Demokratischer Rassismus, Outsourcing des Staates. Thesen zum Verhältnis zwischen Nation und Bande -- Ernst Lohoff: Einer muß den Bluthund machen. Anmerkungen zur neuen Sozialdemokratie und ihrer historischen Mission -- Robert Bösch: Zwischen Allmacht und Ohnmacht. Zur Psychotherapie des bürgerlichen (d.h. männlichen Subjekts -- Rezensionen | Kommentare | Glossen

 

Die vorliegende Nr. 23 ist dem Schwerpunkt "Postpolitik und demokratische Krisenverwaltung" gewidmet (der in gewisser Weise mit anderen Akzentuierungen wie angedeutet in der Nr. 24 fortgesetzt werden soll).

Franz Schandl analysiert in seinem Beitrag das "Phänomen Haider" gegen den Strich der vorherrschenden Interpretationen. Danach kann Haider mit der Bezeichnung "Nazi" nicht angemessen erfasst werden, auch wenn er selektiv mit faschistischen und nationalsozialistischen Versatzstücken hantiert. Seinen Erfolg und seine Gefährlichkeit verdankt er vielmehr der geglückten Ablösung vom traditionellen Rechtsextremismus. Die "Haiderei" steht nicht im Gegensatz zu Demokratie und Marktwirtschaft, sondern ist deren adäquater Ausdruck in Zeiten ihres Niedergangs. Haiders Kennzeichen ist die gelungene ideologische Symbiose aus marktwirtschaftlicher Euphorie und reaktionärem Pseudo-Antikapitalismus mit nationalistischem Hintergrund. Er unterscheidet sich dabei nicht wesentlich von anderen Politikerfiguren, die im Zersetzungsprozeß der Politik und des Parteiensystems sowie im Zuge der ("postpolitisch"-ideologisch zu flankierenden) kapitalistischen Krisenverwaltung an die Oberfläche gespült werden. Was Haider allerdings auszeichnet, ist eine besonders ausgeprägte Geschicklichkeit im völlig flexiblen Umgang mit Inhalten. Er vertritt kein festes Programm, sondern bedient souverän die gefährlichen Stimmungen des gesunden marktwirtschaftlich-demokratischen Menschenverstands. So gelingt es ihm, die widersprüchlichsten Partikularinteressen und Forderungen scheinbar unter einen Hut zu bringen. In Ansätzen können die "Freiheitlichen" daher als eine postpolitische Strömung bestimmt werden, in der die regressiven Potentiale des Postmodernismus ganz ungeschminkt zu sich kommen.

Gerhard Scheit setzt sich in seinem Artikel "Demokratischer Rassismus, Outsourcing des Staates" mit der gleichen Thematik auf einer etwas allgemeineren Ebene auseinander. Auch er charakterisiert Jörg Haider als postmodernen Demokraten, zugleich jedoch als klassischen Rassisten. Beides schließt sich nicht aus, sondern bedingt sich gegenseitig. Die inhaltliche Beliebigkeit Haiders findet ihre Grenzen dort, wo die "Heimat" aufhört und die Gefahren für die "Volksgemeinschaft" beginnen. Die "nationale Identität" ist das Standbein, das dem Spielbein die medienwirksame Lässigkeit erlaubt. Haider steht in herausragender Weise exemplarisch für den "Extremismus der Mitte", der sich am besten als demokratischer Rassismus begreifen lässt. Die nationalsozialistische "Volksgemeinschaft" bleibt dabei bewusste oder unbewusste Referenz, die zwar nicht mehr in derselben Weise mobilisiert werden kann, aber nunmehr in jeder Geldmonade wirksam wird. Was von den Nazis noch als staatliches Programm in Angriff genommen wurde, um phantasmatisch "die arische Rasse höherzuzüchten", wird heute als individualisierte sozialdarwinistische Selektion demokratisch neu organisiert. Dem entspricht die sich abzeichnende Verquickung von Staat und Bandenwesen, worauf nicht nur die "Buberlpartie" FPÖ verweist. Die sogenannten "national befreiten Zonen" in Ostdeutschland und die hohe Zahl rassistischer Übergriffe stehen für ein "Outsourcing" der staatlichen Funktionen und belegen den erschreckenden Erfolg der "direkten Demokratie", die Jörg Haider repräsentiert.

Ernst Lohoff greift mit seiner Analyse "Einer muss den Bluthund machen. Anmerkungen zur neuen Sozialdemokratie und ihrer historischen Mission" den postpolitischen Übergang anhand von "New Labour" in Großbritannien und Rotgrün in der BRD auf. Nach einem Durchgang durch die seit dem Zweiten Weltkrieg gemeinsame Geschichte von Keynesianismus und Sozialdemokratie wird deutlich, dass die systemische Funktion der neuen Sozialdemokratie oder "neuen Mitte" wesentlich darin besteht, unter dem Label des "Pragmatismus" die soziale Repression gegen die Herausgefallenen zu organisieren und mit den arbeitsideologischen Restbeständen der alten Sozialdemokratie zu maskieren; der Keynesianismus stellt dabei kein kohärentes Programm sozialpolitischer Reform nach dem Muster der 70er Jahre mehr dar, wie es sich ein unverbesserlicher Linkssozialismus á la Oskar Negt oder Joachim Bischoff allen Ernstes zusammenphantasiert, sondern bildet nur noch ein Versatzstück im medialen Zirkus. Es geht darum, in scheinbarer Abgrenzung vom Neoliberalismus die "politische Machbarkeit" nicht etwa real wiederherzustellen, sondern als Phantom in den gesellschaftlichen Simulationsprozess einzuspeisen. In diesem Sinne wäre ein kohärenter Inhalt eher schädlich für das Geschäft der Krisenverwaltung, in der die reale Konsistenz der sozialen Repression durch das Surfen auf den Stimmungslagen eines Massenbewusstseins flankiert werden muss, das sich eine politische Kohärenz nicht einmal mehr vorstellen kann. Insofern ist Schröder und Blair nicht nur eine enge Verwandtschaft mit einem Haider nachzuweisen, sondern die neue Sozialdemokratie ist vielleicht auch am besten dafür geeignet, mit ihrem spezifischen "policy mix" die erforderlichen postpolitischen "Bluthund-Maßnahmen" durchzuziehen.

Robert Bösch geht in seinen Thesen "Zwischen Allmacht und Ohnmacht" der Frage nach, worin sich die strukturelle Psychopathologie des bürgerlichen (immer schon als "männlich" konstituierten) Subjekts begründet. Er zeigt, dass die Freudsche Psychoanalyse die Antworten darauf bereits implizit enthält, wenn man sie entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis nicht-anthropologisch interpretiert und die zentrale Idee einer ahistorischen Triebnatur verwirft. Zu fragen ist nicht, welches historische "Schicksal" der "naturale" Trieb erleidet, wenn er in die Sphäre des Gesellschaftlichen eintritt, sondern vielmehr, wie es dazu kommen kann, dass das bürgerliche Individuum in zwei scheinbar unvereinbare Welten - hier triebhafte "Natur", dort repressive Gesellschaft - zerfällt, die nun irgendwie "vermittelt" werden müssen. Es geht also darum, die negative Identität der konträren Standpunkte von "gesellschaftlicher Repression" (Wilhelm Reich) versus "Produktivität der Macht" (Michel Foucault) in die dynamische Logik des bürgerlichen Subjekts als einem prozessierenden Widerspruch aufzuheben. Um diese bei Freud bereits implizit formulierte Logik freizulegen, müssen aber die Widersprüche seiner Theorie und der daran anknüpfenden psychoanalytischen Konzepte (die diese Widersprüche zumeist einseitig aufzulösen versuchen) als ideologischer Ausdruck der Widersprüche der Wertvergesellschaftung verstanden werden. Damit eröffnet der Autor einen unserer Ansicht nach radikal neuen gesellschaftskritischen Zugang zur Psychoanalyse, wie er ihn bereits in seiner Auseinandersetzung mit Jacques Lacan in der letzten Ausgabe der Krisis angedeutet hat. Der zweite Teil der Lacan-Kritik beanspruchte leider etwas mehr Zeit als zunächst vorgesehen und wird deshalb erst in der nächsten Krisis (Nr. 24) erscheinen.

 

Die Rubrik "Rezensionen, Kommentare, Glossen" beginnt mit einem Beitrag, der (ebenso wie einige andere in dieser Rubrik) den Themenschwerpunkt fortsetzt. In seinem Essay "Die Gemeinsamkeit der Demokraten in Italien" analysiert Anselm Jappe die Rolle und Funktion von Silvio Berlusconi und den italienischen Poststalinisten, um dabei festzustellen, dass das "italienische Modell" eigentlich immer schon postpolitische Züge trug und insofern weit geeigneter für postmoderne Zeiten ist als das verblichene "Modell Deutschland". Karl-Heinz Wedel zeigt in seinem Kommentar "Peter und der Wolf", dass die biologistisch-sozialdarwinistische Wendung des Modephilosophen Sloterdijk durchaus in der Logik seiner bisherigen postmodernen Diskurstheorie schon angelegt war. Franz Schandl steuert zwei Rezensionen zum Themenschwerpunkt bei: Unter dem Titel "Vorwärts zur Nachknappheitsordnung" bespricht er die Plattitüden der "Zweiten Moderne" anhand von Anthony Giddens’ Buch "Jenseits von links und rechts"; außerdem zeigt er exemplarisch an dem Buch von Josef Cap und Heinz Fischer (Hrsg.) "Rote Markierungen für das 21. Jahrhundert" den erbärmlich niveaulosen und völlig leer laufenden Charakter des aktuellen sozialdemokratischen "Theoriediskurses" auf ("That’s it? - Forget it!"). Udo Winkel weist in seiner ausführlichen Besprechung "Revolution als Ordnungsmacht" auf das äußerst lesenswerte Buch des Sozialhistorikers Wolfgang Dreßen "Gesetz und Gewalt" hin - eine quer zu den affirmativen Jubelpublikationen stehende Interpretation der Revolution von 1848/49 am Beispiel Berlins. Dreßen zeigt dabei ganz in unserem Sinne die Doppelbödigkeit des demokratischen Revolutionsbegriffs auf, der von Anfang an im Sinne eines Disziplinierungs-Instruments gehandhabt wurde. In seinem zweiten Beitrag "Staatskontrolle oder Assoziation" zeichnet Udo Winkel die beiden Hauptströmungen in der Sozialisierungsdebatte der 20er Jahre nach. Schließlich nimmt sich Roger Behrens ein ungewöhnliches Rezensionsobjekt vor, nämlich den neuen IKEA-Katalog: "Entdecke die Möglichkeiten. Oder: Wie man die Krise möbliert".

 

Wir haben schon auf das zeitgleich mit dieser Krisis-Ausgabe erscheinende Buch "Das Geschlecht des Kapitalismus" von Roswitha Scholz hingewiesen sowie auf das "Schwarzbuch Kapitalismus" von Robert Kurz und unseren parallel zum "Manifest gegen die Arbeit" erschienenen Sammelband "Feierabend! 11 Attacken gegen die Arbeit". Hier möchten wir die Gelegenheit nutzen, auch eine wichtige neue Publikation von Gerhard Scheit anzuzeigen und zu empfehlen: Sein Buch "Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus" ist im November 1999 im ça-ira-Verlag Freiburg herausgekommen. Schließlich weisen wir unsere Leserinnen und Leser noch einmal ganz besonders auf die vom "Kritischen Kreis" in Wien herausgegebene Vierteljahreszeitschrift "Streifzüge" hin, die interessante Beiträge aus einem breiten Spektrum von Wertkritik und kontroverse Debatten veröffentlicht. (Inhaltsverzeichnis der letzten Ausgaben und die Bestelladresse finden sich auf der folgenden Seite dieses Heftes).

Ernst Lohoff, Norbert Trenkle und Robert Kurz für die Redaktion

Aus dem Editorial der krisis 23, 2000

 

Aus dem Buch: "Feierabend! - Elf Attacken gegen die Arbeit"

Robert Kurz

Die Diktatur der abstrakten Zeit
Arbeit als Verhaltensstörung der Moderne


In der Geschichte des westlichen Denkens hat sich die Sprache von Philosophie und Wissenschaft immer weiter von der Sprache der gewöhnlichen Menschen entfernt und ist zur Geheimsprache einer elitären, von der übrigen Gesellschaft getrennten Priesterkaste des bürgerlichen Wissens geworden. Es gibt wenig Begriffe, die gleichzeitig der Sphäre der theoretischen Reflexion und der Sphäre des alltäglichen praktischen Lebens angehören. Gerade dann handelt es sich meistens um besonders schräge Gegenstände, die unfreiwillig auf die Absurdität der bürgerlichen Gesellschaft verweisen. "Arbeit" ist ein solcher Begriff, der einerseits eine philosophische, ökonomische und soziologische Kategorie darstellt, andererseits aber auch auf eine verwirrend vielfältige Weise in der Lebenspraxis aller Menschen verwendet wird. Dieser besondere Charakter der gesellschaftlichen Bedeutung von Arbeit verweist auf einen universellen Zusammenhang in der modernen Welt. Kein Wort ist auf den ersten Blick klarer und keines auf den zweiten Blick unklarer als dieses.

Die Doppeldeutigkeit der Arbeitskategorie erweist sich schon allein daran, dass sie sowohl oppositionell als auch affirmativ verwendet wird. Der Marxismus hat immer versucht, die Arbeit als positives Ideal für sich zu reklamieren und von der angeblichen "Nichtarbeit" der bürgerlichen Welt und ihrer Repräsentanten abzugrenzen. Die sozialistische Presse des 19. Jahrhunderts stellte in ihren Karikaturen die Kapitalisten mit Vorliebe als fettleibige Schmarotzer oder als Dandys und Flaneure dar, die sich auf Kosten der Arbeiterklasse ein angenehmes und "arbeitsloses" Leben verschaffen. Deshalb wurde es ja auch zum zentralen Anliegen, statt der Arbeitskategorie "die Müßiggänger" beiseite zu schieben. Es sind eigentlich eher die alten Feudalherren und die Rentiers großer Geldvermögen, die in diesem groben Feindbild sichtbar werden, und nicht die modernen Manager. Denn die industriellen Tycoons sind bekanntlich schlank, joggen täglich, haben weniger Freizeit als ein Plantagen-Sklave und müssen sich in Therapie begeben, weil sie "arbeitssüchtig" geworden sind.

In Wahrheit ist die Arbeit schon immer ein bürgerlich-kapitalistisches Ideal gewesen, längst bevor der Sozialismus diesen Begriff für sich entdeckte. Insofern stellt der vermeintlich kapitalismuskritische "Standpunkt der Arbeit" schon von haus aus eine Paradoxie dar. Das Lob der Arbeit wird auch von der christlichen Soziallehre in den höchsten Tönen gesungen; und der Liberalismus hat die Arbeit ebenfalls heilig gesprochen und verspricht ganz ähnlich wie der Marxismus ihre "Befreiung". Auch sämtliche konservativen und gerade auch die rechtsradikalen Ideologien beten die Arbeit geradezu an. Offensichtlich ist die Religion der Arbeit das gemeinsame Bezugssystem aller modernen Theorien, politischen Systeme und sozialen Klassen. Sie konkurrieren miteinander, wer in dieser Religion die größte Frömmigkeit an den Tag legt und die größte Leistung aus den Menschen herauskitzelt.


Die seltsame Karriere des Arbeitsbegriffs

Bei solchen Gedanken wird vielleicht der moderne Normalmensch ärgerlich. Was soll das denn? "Man muss doch arbeiten". Haben die Menschen nicht schon immer gearbeitet? Sonst gäbe es ja keine Nahrungsmittel, keine Kleidung, keine Wohnung und keine Kultur. Von nichts kommt nichts. Zweifellos haben die Menschen schon immer Dinge und Ideen produziert, um zu leben, zu genießen, zu forschen und sich zu unterhalten. Aber ist "Arbeit" der richtige, überhistorische, universelle Begriff dafür? "Arbeit" ist eine Abstraktion, ein Wort von vieldeutiger Allgemeinheit. Karl Marx, dessen Verhältnis zum positiven Arbeitsbegriff durchaus zwiespältig ist, meinte einerseits, die Arbeit erscheine "in dieser Abstraktion praktisch wahr (nur) als Kategorie der modernsten Gesellschaft"(Marx 1974/1857, 25). Dennoch verteidigte er zugleich diese unbestimmte Allgemeinheit als eine überhistorische und meinte, es handle sich gewissermaßen um eine "vernünftige" Abstraktion, die "eine uralte und für alle Gesellschaftsformen gültige Beziehung ausdrückt" (ebenda). Friedrich Engels behauptete sogar, die Arbeit sei maßgeblich an der "Menschwerdung des Affen" beteiligt gewesen, womit schon unsere "über und über behaarten" Vorfahren mit "Bärten und spitzen Ohren" jener segensreichen vernünftigen Abstraktion teilhaftig geworden seien (Engels 1946/1896, 6 ff.).

Aber stimmt das wirklich? Eine vernünftige Abstraktion wäre ein sinnvoller allgemeiner Oberbegriff für qualitativ verschiedene, aber trotzdem auf einer bestimmten Ebene zusammengehörige Dinge. So werden zum Beispiel Äpfel, Birnen, Pfirsiche, Orangen usw. zu dem Oberbegriff "Obst" zusammengefasst. Aber in diesem Sinne ist "Arbeit" als Oberbegriff menschlicher Tätigkeiten gerade keine vernünftige Abstraktion. Auch Spazierengehen, Schachspielen oder Romane lesen sind menschliche Tätigkeiten, ohne dass sie normalerweise zur Arbeit gerechnet werden. Wo soll da die Grenze gezogen werden, ohne ein Moment von Willkürlichkeit hineinzubringen? Um hier Klarheit zu schaffen, ist der besondere gesellschaftliche Charakter des abstrakten Arbeitsbegriffs genauer zu bestimmen.

Historisch ist die gesellschaftliche Allgemeinheit des Arbeitsbegriffs als angebliche Selbstverständlichkeit mehr als zweifelhaft. Viele Jäger-, Hirten- oder Bauernkulturen kannten überhaupt keinen abstrakten, ganz unterschiedliche Tätigkeiten übergreifenden Begriff der Arbeit. Aber nicht etwa deswegen, weil sie kein Abstraktionsvermögen gehabt hätten. Es wäre ihnen jedoch im höchsten Grade unvernünftig und geradezu verrückt erschienen, Tätigkeiten wie Jagen und Pflanzen, Kochen und Kinder erziehen, Kranke pflegen und kultische Handlungen ausführen unter einem einzigen abstrakten Oberbegriff von "Tätigkeit überhaupt" zusammenzufassen. Oft gab es in diesen archaischen Gesellschaften (soweit sie rekonstruierbar sind oder noch Reste existieren) für die verschiedenen Bereiche des Lebens, für Männer und Frauen, für verschiedene soziale Gruppen oder Fertigkeiten (Bauern, Künstler, Krieger usw.) auch verschiedene Oberbegriffe der Tätigkeit, die in keiner Weise dem modernen Universalbegriff der Arbeit entsprechen.

Wann und in welchem Kontext ist also historisch dieser abstrakt-allgemeine Begriff der sozialen und ökonomischen Aktivität entstanden? In mehreren Kultursprachen geht die Wurzel des Wortes "Arbeit" auf eine Bedeutung zurück, die den unmündigen Menschen, den Abhängigen oder Sklaven bezeichnet. "Arbeit" ist also ursprünglich keine neutrale und vernünftige, sondern eine soziale Abstraktion: es ist die Tätigkeit derjenigen, die ihre Freiheit verloren haben. Egal, was diese Menschen auch tun mögen, ob sie nun im Bergwerk oder auf der Plantage schwitzen, ob sie als Domestiken im Haus das Essen auftragen, die Kinder zur Schule begleiten oder der Herrin Luft zufächeln: es ist immer die Tätigkeit eines als Knecht definierten Menschen. Das Dasein als Knecht ist der Inhalt der Abstraktion "Arbeit". In diesem Sinne, als sozial eingegrenzte Abstraktion, konnte der Arbeitsbegriff natürlich keinesfalls den Charakter einer gesellschaftlich allgemeinen Tätigkeitsform haben und schon gar nicht positiv bestimmt sein.

So ist es kein Wunder, dass der Begriff der Arbeit in der Antike die metaphorische Nebenbedeutung von Leid und Unglück angenommen hat (etwa im Lateinischen). Es ist das Leid des Menschen, der in dem negativen Sinne tätig ist, dass er "unter einer Last schwankt" (laborare). Diese Last kann auch unsichtbar sein, weil sie in Wahrheit die soziale Last der Unselbständigkeit ist. Das ist auch letzten Endes gemeint, wenn im Alten Testament der Bibel die Arbeit als ein von Gott auferlegter Fluch des Menschen gedeutet wird. Die Gleichbedeutung von Leid und Arbeit meint nicht die bloße Anstrengung. Auch ein freier Mensch kann sich bei bestimmten Gelegenheiten anstrengen und sogar Lust dabei empfinden.

Deswegen ist es ganz falsch, die "Nicht-Arbeit" der Freien und Unabhängigen in der Antike als pures "dolce far niente" und als bloße Faulheit mißzuverstehen, wie es oft in der vulgärmarxistischen Literatur erscheint. Bei Homer ist der Held Odysseus sogar stolz darauf, dass er sein Bett selbst gezimmert hat. Nicht die Tätigkeit als solche war ehrlos, auch nicht die Handarbeit, sondern die Subsumtion des Menschen unter andere Menschen oder unter einen "Beruf". Ein freier Mensch konnte gelegentlich ein Bett oder einen Schrank bauen, aber er durfte nicht von Berufs wegen Schreiner sein; er konnte gelegentlich Handel treiben, aber er durfte nicht Händler sein; er konnte gelegentlich Gedichte schreiben, aber er durfte nicht Dichter sein (schon gar nicht als Gelderwerb). Wer formal frei war, aber sich einer lebenslangen Erwerbsarbeit in irgendeinem Zweig der Produktion unterwerfen musste, war dieser Tätigkeit gegenüber "unmündig" geworden und galt kaum mehr als ein Sklave.

Deswegen musste die Tätigkeit des freien Amateurs allerdings keineswegs ungeschickter oder von schlechterer Qualität sein als die des unfreien "Berufsmenschen". Sich in verschiedenen Künsten zu üben und Kenntnisse zu erwerben, galt durchaus als ehrenhaft; und aus den Märchen verschiedener Kulturkreise können wir erfahren, dass in den alten Gesellschaften sogar Königssöhne und Prinzen manchmal neben der Kriegskunst und geistigem Wissen auch ein Handwerk erlernen mussten - aber eben nicht um lebenslang Handwerker zu "sein" und damit dem Leid der Arbeit unterworfen zu werden, sondern um in vieler Hinsicht "geschickt" zu sein und qualitativ verschiedene Tätigkeitsformen frei miteinander kombinieren zu können.

Es war das Christentum, das zuerst die negative Bedeutung der Abstraktion "Arbeit" positiv umdefiniert hat - und zwar paradoxerweise gerade als Leid und Unglück! Weil nämlich das Leid Christi am Kreuz die Menschheit von ihren irdischen Sünden erlöst hat, verlangt der Glaube daran die "Nachfolge Christi". Und das bedeutet, das Leid freudig und freiwillig auf sich zu nehmen. In einer Art von Masochismus des Glaubens an das positive Leiden adelte also das Christentum auch die Arbeit zum geradezu erstrebenswerten Ziel, etwa in demselben Sinn, wie es gelegentlich üblich war, sich in frommer Extase selber zu geißeln. Die Mönche und Nonnen in den Klöstern unterwarfen sich bewusst und freiwillig der Abstraktion "Arbeit", um als "Knechte Gottes" ein Leben im Sinne des Leids von Christus zu führen. Mentalitätsgeschichtlich waren, und darauf ist oft hingewiesen worden, die klösterliche Zucht und Ordnung, also die strenge Einteilung des Tagesablaufs und die mönchische Askese, Vorläufer der späteren Fabrikdisziplin und der abstrakten "betriebswirtschaftlichen" Zeitrechnung. Aber diese spezifisch christliche Mission der Arbeit bezog sich nur auf die metaphorische Bedeutung des Begriffs als religiöse Akzeptanz des Leids mit Blick auf das Jenseits; es wurde damit noch kein positiver irdischer Zweck verfolgt.

Es war erst der Protestantismus, besonders in seiner calvinistischen Form, der seit dem 16. Jahrhundert den christlichen Masochismus des Arbeits-Leidens zum diesseitigen Gegenstand machte: Der gläubige Mensch sollte die Schmerzen der Arbeit als "Knecht Gottes" nun nicht mehr in klösterlicher Abgeschiedenheit auf sich nehmen, sondern damit in der profanen irdischen Welt Erfolg haben, und zwar gerade um seine Auserwähltheit durch Gott zu beweisen und zu demonstrieren! Natürlich durfte er aber die Früchte des Erfolgs auf keinen Fall genießen, um die göttliche Gnade in der Nachfolge Christi nicht zu verspielen; er mußte also das Ergebnis der Arbeit mit säuerlicher Leidensmiene zum Ausgangspunkt immer neuer Arbeit machen und unaufhörlich abstrakte Reichtümer ohne Genuß aufhäufen. In dieser seltsamen Verschränkung eines tristen jenseitigen mit einem ebenso tristen diesseitigen Zweck entstand die erst recht triste moderne Arbeitsmentalität - Arbeit als eine Art Verhaltensstörung.


Politische Ökonomie der Feuerwaffen

Nun wäre es sicherlich nicht ausreichend, bei der bloß religions- und geistesgeschichtlichen Karriere der abstrakten Arbeitskategorie vom negativen zum positiven Leid stehenzubleiben. Damit die protestantische Verhaltensstörung ihren weltlichen Siegeszug antreten konnte, bedurfte es der Vermittlung mit mächtigen materiellen Interessen. Bekanntlich entwickelte sich seit der Renaissance sprunghaft die Warenproduktion und begann die agrarische Naturalwirtschaft aufzusprengen. Die protestantische Mentalität verband sich mit diesem Aufstieg der Marktwirtschaft, der in den modernen Kapitalismus münden sollte. Und die Positivierung der Arbeitskategorie war natürlich in diesen Zusammenhang eingebunden, der heute als Beginn der "Modernisierung" und ihrer scheinbar endlosen Weiterentwicklung firmiert.

Es ist bezeichnend, dass die Modernisierung genau wie die Arbeit von allen Ideologien, theoretischen Reflexionen und politischen Strömungen der aufsteigenden kapitalistischen Gesellschaft hauptsächlich positiv bestimmt wurde. So spinnefeind sie sonst auch sein mochten, im Heraufdämmern ihrer eigenen Welt wollten sie doch im wesentlichen einen gesellschaftlichen "Fortschritt" erkennen. Für die bürgerliche Ideologie ist die Entfesselung von Warenproduktion und Kapitalismus selbstverständlich gleichbedeutend mit ständig erhöhter Reichtumsproduktion. Auch der Marxismus sieht den bürgerlichen Fortschritt, wenngleich nicht ungebrochen, in der "Entwicklung der Produktivkräfte". Jedenfalls werden stets positive Errungenschaften als die ursprüngliche Triebfeder der Modernisierung und damit der Arbeit angenommen. Prominente Gründe für den "take off" der Moderne sollen wahlweise die künstlerischen und wissenschaftlichen Innovationen der Renaissance, die großen geographischen "Entdeckungen" seit Kolumbus, die protestantisch-calvinistische Idee von der Selbstverantwortung des Individuums und die allmähliche Befreiung vom "mittelalterlichen Aberglauben" gewesen sein.

Andererseits hat Marx im berühmten Kapitel über die "ursprüngliche Akkumulation des Kapitals" den beispiellosen terroristischen Charakter der Ur-Modernisierung beschrieben, die gewaltsame Vertreibung der Pächter von ihren Feldern, den regelrechten Krieg gegen die verarmten Massen, die Errichtung von Zuchtanstalten und Arbeitshäusern im großen Maßstab. Wie geht das zusammen mit der vermeintlich friedlichen Erweiterung der Warenproduktion? Lokalen Warentausch hatte es ebenso wie Fernhandel mit speziellen Waren (Salz, Seide, Erze, Waffen usw.) in mehr oder minder großem Umfang schon seit frühesten Zeiten in den "Nischen" der agrarischen Naturalwirtschaft gegeben, ohne daß daraus jemals ein die gesamte Gesellschaft erfassendes "warenproduzierendes System" (alias Kapitalismus) entstanden wäre, in dem dann die Arbeit ihre seltsame Karriere als nunmehr substantielle Realität für alle Menschen fortsetzen und krönen konnte.

Was also war in der frühen Neuzeit jenes wirklich "Neue", das in der Folge unausweichlich die Geschichte der Modernisierung hervorgebracht hat? Man kann dem historischen Materialismus durchaus zugestehen, daß keinem bloßen Wandel der Ideen und Mentalitäten, sondern einer Entwicklung auf der Ebene der harten materiellen Tatsachen die größte und wichtigste Bedeutung zukam. Es war jedoch keine Produktivkraft, sondern im Gegenteil eine durchschlagende Destruktivkraft, die der Modernisierung den Weg gebahnt hat: nämlich die Erfindung der Feuerwaffen. Obwohl dieser Zusammenhang seit langem bekannt ist, blieb er doch in den berühmtesten und folgenreichsten Theorien der Modernisierung (den Marxismus eingeschlossen) völlig unterbelichtet.

Es war der deutsche Wirtschaftshistoriker Werner Sombart, der pikanterweise kurz vor dem Ersten Weltkrieg in seiner Studie "Krieg und Kapitalismus" (1913) ausführlicher auf diese Frage einging; freilich nur, um dann wie so viele der damaligen deutschen Intellektuellen selber der Kriegsbegeisterung zu verfallen. Erst in den letzten Jahren sind die rüstungstechnischen und kriegsökonomischen Ursprünge des Kapitalismus wieder zum Thema gemacht worden, so von dem deutschen Ökonomen Karl Georg Zinn in seinem Buch "Kanonen und Pest" (1989) und von dem US-amerikanischen Neuhistoriker Geoffrey Parker in seiner Untersuchung über "Die militärische Revolution" (1990). Aber diese Analysen haben nicht den großen Widerhall gefunden, den sie verdienen. Offensichtlich können die moderne westliche Welt und ihre Ideologen nur schwer die Einsicht akzeptieren, daß der letzte historische Grund ihres Systems in der Erfindung von perfektionierten Mordinstrumenten zu suchen ist. Und dieser Zusammenhang gilt nicht nur für die dunklen Ursprünge, sondern auch noch für die moderne Demokratie; denn die "militärische Revolution" ist bis heute ein heimlicher Beweggrund der Modernisierung geblieben.

Die Innovation der Feuerwaffen hat die vorkapitalistischen Formen der Herrschaft zerstört, denn sie machte das feudale Rittertum militärisch lächerlich. Schon vor den Feuerwaffen hatte man die gesellschaftlichen Folgen von wirksamen Distanzwaffen geahnt, denn das Zweite Lateranische Konzil verbot im Jahr 1129 den Einsatz der Armbrust gegen Christen. Nicht umsonst galt die von außereuropäischen Kulturen um das Jahr 1000 nach Europa importierte Armbrust als die spezielle Waffe der Räuber, Outlaws und Rebellen. Als die noch viel wirksameren Distanzwaffen der "Feuerrohre" aufkamen, besiegelten sie den Untergang der gepanzerten und berittenen Kriegsherren.

Aber die Feuerwaffe lag nicht mehr in den Händen einer Opposition "von unten" gegen die feudale Herrschaft, sondern sie führte zu einer "Revolution von oben" durch die Fürsten und Könige. Denn die Produktion und Mobilisierung der neuen Waffensysteme war nicht auf der Ebene von lokalen und dezentralen Strukturen möglich, wie sie bis dahin die gesellschaftliche Reproduktion geprägt hatten, sondern erforderte eine völlig neue soziale Organisation auf mehreren Ebenen. Die Feuerwaffen, vor allem die großen Kanonen, konnten nämlich nicht mehr in kleinen Werkstätten produziert werden wie die vormodernen Hieb- und Stichwaffen. Deshalb bildete sich eine besondere Rüstungsindustrie heraus, die in großen Fabriken Kanonen und Musketen produzierte. Gleichzeitig entstand eine neue militärische Defensiv-Architektur in Gestalt riesiger Bollwerke, die den Kanonen trotzen sollten. Es kam zu einem Innovations-Wettlauf zwischen Offensiv- und Defensivwaffen und zu einem Rüstungswettlauf zwischen den Staaten, der bis heute nicht aufgehört hat.

Durch die Feuerwaffen veränderte sich auch die Struktur der Armeen grundsätzlich. Die Krieger konnten sich nicht mehr selbst ausrüsten, sondern mußten sich ihre Waffen von einer gesellschaftlichen Zentralgewalt geben lassen. Deshalb trennte sich die militärische von der bürgerlichen Organisation der Gesellschaft. An die Stelle der von Fall zu Fall für Feldzüge mobilisierten Bürger oder lokalen Herren mit ihren bewaffneten Familien traten "stehende Heere": Es entstand "das Militär" als besondere soziale Gruppe und die Armee wurde zu einem sozialen Fremdkörper in der Gesellschaft. Der Status des Offiziers verwandelte sich aus einer persönlichen Verpflichtung der reichen Bürger in einen modernen "Beruf". Im Zusammenhang mit dieser neuen militärischen Organisation und der neuen Kriegstechnik nahm auch die Größe der Armeen sprunghaft zu: "Die bewaffneten Streitkräfte wuchsen zwischen 1500 und 1700 um das Zehnfache" (Parker 1990, 20).

Rüstungsindustrie, Rüstungswettlauf und die Erhaltung permanent organisierter, von der bürgerlichen Gesellschaft getrennter und gleichzeitig stark vergrößerter Armeen führten notwendig zu einer radikalen Umwälzung der Ökonomie und der gesamten gesellschaftlichen Struktur. Der aus der Gesellschaft herausgelöste militärische Großkomplex erforderte eine "permanente Kriegswirtschaft". Diese neue Ökonomie des Todes legte sich wie ein Leichentuch auf die naturalwirtschaftlichen Strukturen der alten Agrargesellschaften. Weil Rüstung und Militär sich nicht mehr auf die lokale agrarische Form der Produktion stützen konnten, sondern großräumig und in anonymen Zusammenhängen mit Ressourcen versorgt werden mußten, waren sie auf die Vermittlung des Geldes angewiesen. Warenproduktion und Geldwirtschaft als Grundelemente des Kapitalismus erhielten damit ihren entscheidenden Anstoß in der frühen Neuzeit durch die Entfesselung der Militär- und Rüstungsökonomie.

Diese Entwicklung erzeugte und begünstigte die kapitalistische Subjektivität und ihre Mentalität des abstrakten "Plusmachens". Der permanente finanzielle Bedarf der Kriegswirtschaft führte in der zivilen Gesellschaft zum Aufstieg der Geld- und Handelskapitalisten, der großen Geldsammler und Kriegsfinanziers. Aber auch die neue Organisation der Armeen selber brachte die kapitalistische Mentalität hervor. Die alten agrarischen Krieger verwandelten sich in "Soldaten", das heißt in Empfänger von "Sold". Sie waren die ersten modernen "Lohnarbeiter", die ihr Leben vollständig durch Geldeinkommen und Warenkonsum reproduzieren mußten. Und deshalb kämpften sie nicht mehr für idealisierte Ziele, sondern nur noch für Geld. Ihnen war es gleich, wen sie totschossen, wenn nur der Sold "stimmte"; und so wurden sie zu den ersten Repräsentanten der "abstrakten Arbeit" (Marx) für das moderne warenproduzierende System. Sie waren übrigens auch die ersten, die "arbeitslos" werden konnten. Wenn kein Geld mehr in den Kassen der Kriegsherren war, schmolzen die "Arbeitsplätze" in den Armeen dahin. Viele Musketiere und Kanoniere wurden Opfer von Massenentlassungen; sie standen dann buchstäblich auf der Straße und waren gefürchtet als herumstromernde Bettler, Räuber und Gelegenheitstotschläger.

Den Hauptleuten und Führern der "Soldaten" kam es darauf an, durch Plünderungen Beute zu machen und diese in Geld zu verwandeln. Dabei sollte der output der Beute größer sein als der input der Kriegskosten. Das war ein entscheidender Impuls für die Geburt der modernen betriebswirtschaftlichen Rationalität. Die meisten Generäle und Söldnerführer der frühen Neuzeit legten ihr Beute-Geld gewinnbringend an und wurden zu Teilhabern des Geld- und Handelskapitals. Nicht der friedliche Kaufmann, der fleißige Sparer und der ideenreiche Produzent stand also am Anfang des Kapitalismus, ganz im Gegenteil: Wie die "Soldaten" als blutige Handwerker der Feuerwaffen die Prototypen der modernen Lohnarbeiter waren, so die "Geld machenden" Heerführer und Condottieri die Prototypen des modernen Unternehmertums und seiner "Risikobereitschaft".

Als freie Unternehmer des Todes waren die Condottieri jedoch angewiesen auf die großen Kriege der staatlichen Zentralgewalten und deren Finanzierungsfähigkeit. Das wechselhafte moderne Verhältnis von Markt und Staat hat hier seinen Ursprung. Um die Rüstungsindustrien und Bollwerke, die riesigen Armeen und die Kriege finanzieren zu können, mußten sich die frühmodernen Staaten in Militärdespotien verwandeln und ihre Bevölkerung bis aufs Blut auspressen. Der Sache entsprechend geschah dies in einer ebenfalls neuen Form: An die Stelle der alten Naturalabgaben trat die monetäre Besteuerung. Die Menschen wurden also gezwungen, "Geld zu verdienen", um ihre Steuern an den Staat bezahlen zu können. Auf diese Weise forcierte die Kriegswirtschaft nicht nur direkt, sondern auch indirekt das marktwirtschaftliche System. Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert stieg die (monetarisierte) Besteuerung der Massen in den europäischen Ländern um bis zu 2000 Prozent!

Das erzwungene "Geldverdienen" nicht für eigene, sondern für fremde Zwecke, die ungeheure militärdespotische Auspressung, ließ erst die Abstraktion des Geldes und die Abstraktion der Arbeit zusammenfließen. Kein Wunder, daß sich der Protestantismus-Calvinismus hervorragend als Ideologie für die aufkommende frühmoderne Rüstungs-Ökonomie eignete; konnte doch der genußlose Selbstzweck-Charakter der abstrakten Anhäufung von Reichtümern auf diese Weise nicht nur die ihm angemessene "entsinnlichte" Geldform annehmen, sondern auch die weniger "auserwählte" Menschheit mit der dazugehörigen abstrakten Tätigkeitsform kujonieren. Die Abstraktion "Arbeit" wurde nun zum Begriff der Verausgabung von Lebensenergie für den aufgezwungenen äußeren Zweck und ihre alte Bedeutung von Unmündigkeit und Unselbständigkeit gewann in diesem Kontext neues Gewicht, während sie in der religiösen Überhöhung gleichzeitig schon einen gesellschaftlich-allgemeinen Charakter annahm (der Katholizismus mußte in der Folge die protestantische Säkularisierung der Arbeit wohl oder übel nachvollziehen).

Natürlich ließen sich die Menschen nicht freiwillig in die Zumutungen der neuen Rüstungs- und Geldwirtschaft hineinziehen. Sie konnten dazu nur durch blutige Unterdrückung gezwungen werden. Die permanente Kriegswirtschaft der Feuerwaffen erzeugte für einige Jahrhunderte den permanenten Volksaufstand und damit den permanenten Krieg nach innen; von den "Bauernkriegen" der frühen Neuzeit bis zu den Aufständen der "Ludditen" (der angeblichen "Maschinenstürmer") im Zeitalter der Industrialisierung. Um die ungeheuren Abgaben auspressen zu können, mußten die staatlichen Zentralgewalten einen ebenso ungeheuren Apparat der Polizei und der Verwaltung aufbauen: sie wurden "absolutistisch". Alle modernen Staatsapparate stammen aus dieser Geschichte ab. An die Stelle lokaler Selbstverwaltung trat die zentralistische und hierarchische Verwaltung durch eine Bürokratie, deren Kern von den Apparaten der Besteuerung und der inneren Unterdrückung gebildet wurde.

Auch die spätere tatsächliche Entwicklung der "industriellen Produktivkräfte" trug immer das Brandmal dieser Ursprünge. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts war sowohl technologisch als auch organisations- und mentalitätsgeschichtlich ein Abkömmling der Feuerwaffen, der frühmodernen Rüstungsproduktion und ihrer gesellschaftlichen Folgeprozesse. Insofern ist es kaum überraschend, daß die rasante kapitalistische Entwicklung der Produktivkräfte seit der ersten industriellen Revolution niemals anders als in einer destruktiven Form vor sich gehen konnte, selbst noch bei den scheinbar unschuldigsten technischen Erneuerungen.

Nicht nur technologisch, sondern auch in ihrer gesellschaftlichen Struktur kann die moderne westliche Demokratie nicht verbergen, dass sie ein Abkömmling der frühmodernen Rüstungs- und Militärdiktatur ist. Unter der dünnen Oberfläche der demokratischen Abstimmungs-Rituale und der politischen Diskurse finden wir das Monstrum eines Apparats, der die scheinbar freien Staatsbürger permanent verwaltet und diszipliniert im Namen der totalen Geldwirtschaft und der damit bis heute verbundenen Kriegsökonomie. Die "Arbeitsverwaltung" ist zentraler Bestandteil dieser Struktur. In keiner Gesellschaft der Geschichte gab es jemals einen derart hohen prozentualen Anteil von Staatsbeamten und Menschenverwaltern, Soldaten und Polizisten; keine hat jemals einen derart großen Teil ihrer Ressourcen für Rüstung und Militär verschleudert.


Die "herausgelöste Ökonomie"

Versucht man die allgemeine soziale und ökonomische Logik dessen zu erfassen, was die absolutistischen Militärdespotien der Frühneuzeit gesellschaftlich auf den Weg gebracht haben, dann läßt sich diese Logik als selbstzweckhafte Verselbständigung des Geldes und damit auch der dazugehörigen abstrakten Tätigkeitsform "Arbeit" bestimmen. Der sprichwörtliche Geldhunger des Absolutismus hatte zwar noch einen spezifischen und materiellen (allerdings auch schon verselbständigten) Zweck, nämlich eben die neue Politische Ökonomie der Feuerwaffen und ihre Erfordernisse. Aber die einmal in die Welt gesetzte Logik des "Geldmachens" begann die beschränkten Zielsetzungen des Absolutismus zu übersteigen, der sich schon bald in der Rolle des Zauberlehrlings sah. Denn das "Plusmachen" in der Geldform beschränkte sich, nachdem es einmal entfesselt war, nicht mehr auf eine äußerlich (etwa in der Form der monetären Besteuerung) an die bisherige Produktionsweise herangetragene Zumutung, sondern es wurde zum inneren Antrieb einer neuen Produktionsweise, die den gesamten Gesellschaftskörper erfaßte.

Schon die absolutistischen Regimes selbst waren dazu übergegangen, neben der monetären Besteuerung eigene Produktionsunternehmen außerhalb der traditionellen Gilden und Zünfte zu gründen, deren Zweck nicht mehr Bedürfnisbefriedigung, sondern einzig und allein Geldbeschaffung war. Diese staatlichen Manufakturen und Plantagen produzierten erstmals ausschließlich für großräumige anonyme Märkte, die schließlich zur Voraussetzung der "freien" Konkurrenz werden sollten. Das Geld wurde so aus einem bloß marginalen Medium zur allgemeinen Voraussetzung und gleichzeitig zum allgemeinen Endzweck des gesamten gesellschaftlichen Lebens. Im Endresultat konnte kein Stück Brot mehr produziert werden, wenn es nicht der kapitalistischen Tätigkeitsform unterworfen wurde, d.h. der abstrakten Arbeit als selbstzweckhafter Verwandlung menschlicher Energie in Geld. Karl Marx war der erste, der diesen absurden ökonomischen Mechanismus und die darin eingeschlossene Verkehrung von Mittel und Zweck präzise analysiert hat. Das Geld war gewissermaßen zum (irrationalen) "Grundnahrungsmittel" geworden. Es war nun nicht mehr ein Medium, um einen Teil der Bedürfnisse zu vermitteln, sondern genau umgekehrt waren die Bedürfnisse nur noch ein Medium (und ihre Befriedigung ein bloßes Abfallprodukt), um die auf sich selbst rückgekoppelte "Verwertung" des Geldes zu vermitteln.

Damit hatte sich die Endlosbewegung einer Verwandlung von Arbeit in Geld über alle ursprünglichen Zwecke hinaus zu einem kybernetischen "System" geschlossen. Dieser hermetische Systemcharakter fand nach dem Absolutismus seine neuen Repräsentanten in jenem "freien Unternehmertum", das in aufsteigender Linie aus den frühmodernen Söldnerführern, den blutsaugerischen Steuerpächtern und den Verwaltern der absolutistischen Sträflings-Manufakturen und Sklavenplantagen hervorgegangen war. Man kann sich denken, welchen Begriff von "Freiheit" diese illustren Herrschaften in ihrer Ideologie des (ökonomischen) "Liberalismus" kreierten und gegen die absolutistischen Väter kehrten: nämlich für die einen die "Freiheit", in diesem System "unternehmerisch" tätig zu sein zwecks genußloser Geldanhäufung, und für die anderen die "Freiheit", sich den angeblichen "Naturgesetzen" dieses verselbständigten Systems von gesellschaftlicher Zwangsarbeit, Geldverwertung und anonymen Märkten bedingungslos zu unterwerfen!

Die absolutistischen Regimes waren für die Fortentwicklung des Systems dysfunktional geworden, weil ihre dynastische Regierungsform den herausgebildeten versachlichten Strukturen nicht mehr angemessen war. Was blieb, war jene losgelassene Logik, deren Archetypus die Kanone gewesen war: das "Werkzeug", das seinen Schöpfer zu beherrschen beginnt. Damit hat sich überhaupt erst eine vom übrigen Leben getrennte Sphäre der sogenannten Ökonomie oder "Volkswirtschaft" im modernen Sinne herausgebildet.

Diesen besonderen Aspekt hat vor allem der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi analysiert. In seinem schon klassischen Werk "The Great Transformation" (Polanyi 1995/1944) beschäftigt er sich im Unterschied zu Marx weniger mit der inneren Selbstzweck-Logik der "Verwertung des Werts" und ihren Gesetzmäßigkeiten als vielmehr mit der Tatsache, daß sich dabei die Ökonomie, die im ursprünglichen antiken Sinne gleichbedeutend mit Hauswirtschaft für den Bedarf gewesen war, in jene unheimlich verselbständigte Sphäre verwandelt hat, die in keine übergreifende soziale Gesellschaftsordnung mehr eingebunden ist. Mit Blick auf dieses unerhört Neue, das von den liberalen Ideologen zur "menschlichen Natur" umgedeutet worden ist, sagt Polanyi: "Sicherlich kann keine Gesellschaft ohne irgendein System auskommen, das die Erzeugung und Verteilung von Gütern sicherstellt. Daraus folgt aber nicht, daß es separate wirtschaftliche Institutionen geben muß; normalerweise ist die Wirtschaftsordnung bloß eine Funktion der Gesellschaftsordnung, in der sie eingeschlossen ist...Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, in der die wirtschaftliche Tätigkeit herausgelöst und einem spezifischen ökonomischen Trieb zugeschrieben wurde, war in der Tat eine bemerkenswerte Abweichung...Eine solche institutionelle Schablone konnte nicht funktionieren, außer, die Gesellschaft wurde ihren Erfordernissen irgendwie untergeordnet. Eine Marktwirtschaft kann nur in einer Marktgesellschaft existieren...Im Zuge dieser Entwicklung war die menschliche Gesellschaft zu einem Beiwerk des Wirtschaftssystems herabgesunken" (Polanyi, a.a.O., 106 ff.).

Während in allen anderen "integrierten Gesellschaften", wie Polanyi sie nennt, die wirtschaftliche Tätigkeit einem kulturellen Zusammenhang untergeordnet blieb, wie immer dieser zu beurteilen sein mag, stellt der Kapitalismus das Verhältnis von Gesellschaft und Wirtschaft auf den Kopf: Die Gesellschaftsordnung ist nur noch eine Funktion der Wirtschaftsordnung, die allen sozialen Bereichen und Bedürfnissen gegenüber autonom geworden ist. In dieser Verkehrung ist nicht nur das schiere Gegenteil von Selbständigkeit und Selbstverantwortung begründet, nämlich die vollständige Selbstauslieferung an den Selbstzweck des Geldes, sondern auch die Maßlosigkeit eines unaufhörlichen Vermehrungsdranges, da es ja keinerlei Rückkoppelung auf Bedürfnisse, geistige Reflexion und kulturelle Bestimmungen mehr gibt, sondern einzig die Rückkoppelung des verselbständigten ökonomischen Mediums auf sich selbst. Das begann aber nicht erst mit dem "herausgelösten" Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, sondern schon mit der "herausgelösten" Feuerwaffen-Ökonomie der frühneuzeitlichen Regimes; auch wenn es die kapitalistische Industrialisierung seit Ende des 18. Jahrhunderts war, die dann den vollen Durchbruch dieser Logik brachte.

Arbeit im modernen Sinne ist somit, genauer nach dem herausgebildeten unpersönlichen Systemzusammenhang bestimmt, die spezifische Tätigkeitsform der "herausgelösten Ökonomie". Wie es bei der als soziale Abstraktion "Arbeit" bestimmten Tätigkeit des antiken Sklaven gleichgültig war, was er tat, weil es eben immer die Verausgabung von "Knechtsenergie" war, so ist nun der Inhalt der gesamten gesellschaftlichen Reproduktion gleich-gültig geworden, weil es sich immer um dieselbe Verwandlung abstrakter menschlicher Energie in Geld handelt. Indem sich nahezu alle Tätigkeit auf die entfremdete, "herausgelöste" Selbstzweck-Sphäre der Ökonomie konzentriert, hat sich die einstmals sozial eingegrenzte Abstraktion "Arbeit" als Knechtstätigkeit zur gesellschaftlich-allgemeinen Tätigkeitsform gemausert. Letzten Endes heißt das, daß es überhaupt nur noch Knechtstätigkeiten gibt, auch wenn der "Herr" kein persönlicher mehr ist, sondern der anonyme Systemzusammenhang.

Die Arbeit ist selber an die Stelle Gottes getreten, und insofern sind jetzt alle Menschen "Knechte Gottes", die sich nur noch durch ihre funktionelle Stellung in der Hierarchie einer allgemeinen "Leidenstätigkeit" unterscheiden, die keinen Sinn hat als sich selbst. Auch das Management ist Teil der Arbeit und nimmt dieses irdische Kreuz auf sich, um gerade darin seine masochistische Macht zu finden - nunmehr gänzlich säkularisiert, selbst noch von den protestantischen Motiven abgelöst und seiner Ursprünge nicht mehr bewußt. Der homerische Held Odysseus hätte die heutigen sogenannten Herrschenden als armselige Knechte verachtet, weil sie sich selber unter das Joch der Arbeit beugen und sich damit in die Form der Unmündigkeit begeben, die zur gesellschaftlich-allgemeinen geworden ist. Arbeit als Verhaltensstörung der Moderne hat zu einer Gesellschaft der allgemeinen Unzurechnungsfähigkeit geführt.

Es ist merkwürdig, wie der Marxismus ungewollt zum Komplizen dieser Unzurechnungsfähigkeit (und insofern selber zu einem Trendsetter kapitalistischer Entwicklung) wurde, indem er im späteren 19. Jahrhundert als Dissidenz des Liberalismus dessen positiven Arbeitsbegriff übernommen hat. Während Marx als ein für das positivistische Bewußtsein "dunkler" Theoretiker zusammen mit seiner radikalen Kritik der verselbständigten ökonomischen Formen (die er bekanntlich als "Fetischismus" bezeichnete) immerhin an die Kritik der Arbeit wenigstens herankam, ohne sie allerdings konsequent zu vollenden, blieb der Arbeiterbewegungs-Marxismus auf der fälschlich als überhistorisch bestimmten abstrakten Arbeitskategorie sitzen. Daran zeigt sich, daß die uns bekannte Arbeiterbewegung nicht etwa der Beginn einer höheren Reflexionsstufe von Gesellschaftskritik war, sondern eher das Resultat einer historischen Niederlage der alten sozialrebellischen Bewegungen gegen die Arbeit seit dem 16. Jahrhundert. In Verkennung des wirklichen Zusammenhangs machten die "Parteien der Arbeit" den vergeblichen Versuch, den Kapitalismus mit seinem eigenen Tätigkeitsbegriff zu kritisieren.

"Betriebswirtschaft" als abstrakte Raumzeit

In der "herausgelösten Ökonomie" gewinnt zusammen mit der abstrakten Tätigkeitsform "Arbeit" auch die darin eingeschlossene Zeit eine höchst eigentümliche, geradezu gespenstische Qualität. Die Zeit der Produktion wird von allen Bedürfnissen und selbstgesetzten Zwecken der Produzenten abgetrennt; sie wird selbst zur auszubeutenden Ressource. Zeit ist bekanntlich Geld; und deswegen hat die Zeit für den Kapitalismus immer schon eine entscheidende Rolle gespielt. Aber unter seiner verselbständigten Zwecksetzung wird auch die Zeit abstrakt - mit höchst unangenehmen Folgen für die Menschen, die dieser Zeit für den größten Teil ihres Lebens ausgeliefert sind.

Die entscheidende und bis heute gültige philosophische Reflexion des modernen Zeitbegriffs findet sich bei Immanuel Kant (1724-1804). Kant hat entdeckt, daß Raum und Zeit keine inhaltlichen Begriffe des menschlichen Denkens sind, sondern die apriorischen Formen unseres Wahrnehmungs- und Denkvermögens. Wir können die Welt nur in den Formen von Raum und Zeit erkennen, die unserer Vernunft eingeschrieben sind, und zwar vor jeder Erkenntnis. Aber Kant bestimmt diese Formen von Raum und Zeit völlig abstrakt und unhistorisch, als für alle Epochen, Gesellschaftsformen und Kulturen gleichermaßen gültig. Zeit ist für ihn "das Zeitliche überhaupt", ohne jede bestimmte Qualität. Dementsprechend nennt er Raum und Zeit "reine Formen der Anschauung". Zeit ist also für Kant eine abstrakte, inhaltslose und immer gleichförmige Fließzeit, deren Einheiten alle identisch sind: "Verschiedene Zeiten sind nur Teile eben derselben Zeit" (Kant 1979/1781, 104).

Die kulturhistorische Forschung hat längst herausgefunden, daß diese unhistorische Bestimmung des Erlebens und der Wahrnehmung von Zeit nicht haltbar ist. So wurde vor allem erkannt, daß die vormodernen agrarischen Kulturen nicht in einer gleichförmigen linearen Zeit dachten, sondern eher in einer zyklischen Zeit; gewissermaßen in wiederkehrenden Zeitrhythmen, geformt nach jahreszeitlichen (agrarischen) und kosmischen Zyklen. Mag also auch die Zeit eine dem menschlichen Erkenntnisvermögen apriorisch eingeschriebene Form der Wahrnehmung sein, so unterliegt diese Form doch einem kulturellen und historischen Wandel. Die jüngsten Forschungen über verschiedene Zeitkulturen haben diese Erkenntnis bestätigt. In allen Kulturen außerhalb der kapitalistischen Moderne "vergeht" die Zeit nicht nur anders, sondern es gibt sogar ganz verschiedene, parallel verlaufende Formen der Zeit; je nachdem, auf welchen Gegenstand oder Lebensbereich die Wahrnehmung der Zeit bezogen ist: "Jedes Ding hat seine eigene Zeit".

Indem die verselbständigte Ökonomie des Kapitals die Abstraktionen von Geld und Arbeit in jenen auf sich selbst rückgekoppelten Selbstzweck verwandelte, verkehrte sie überhaupt das Verhältnis von Abstraktum und Konkretum: Die Abstraktion (z.B. Arbeit oder Zeit) ist jetzt nicht mehr Ausdruck einer konkreten und sinnlichen Welt, sondern umgekehrt gelten alle konkreten Zusammenhänge und sinnlichen Gegenstände nur noch als Ausdruck der kapitalistischen Abstraktion, die in der verdinglichten Gestalt des Geldes die Gesellschaft beherrscht. Das Maß der Arbeit und damit des Geldes aber ist die Zeit. Allerdings ist auch diese Zeit nicht mehr die konkrete und daher je nach ihrem Bezug qualitativ verschiedene Zeit, sondern dem Selbstzweck der Kapitalakkumulation entsprechend genau jene abstrakte, gleichförmige und lineare Fließzeit, wie sie Kant bereits blind voraussetzte. Jetzt hat kein Ding mehr seine eigene Zeit, den jeweiligen Bedürfnissen und kulturellen Zusammenhängen entsprechend, sondern alle Dinge haben dieselbe Zeit, die mit immer derselben Geschwindigkeit in immer dieselbe Richtung fließt.

Diese Diktatur der abstrakten Zeit, exekutiert durch den Mechanismus der anonymen Konkurrenz, schuf sich den dazugehörigen abstrakten Raum, nämlich den vom übrigen Leben abgetrennten Funktionsraum des Kapitals, der seiner eigenen betriebswirtschaftlichen Rationalität gehorcht. Es entstand so gewissermaßen eine leblose, kulturell entqualifizierte kapitalistische Raumzeit, die den sozialen Körper aufzufressen begann. Die in diese Raumzeit eingesperrte abstrakte Tätigkeitsform "Arbeit" mußte von allen dysfunktionalen Lebenselementen gereinigt werden, um die lineare Fließzeit nicht zu stören: Arbeit und Wohnung, Arbeit und persönliches Leben, Arbeit und Kultur usw. fielen systematisch auseinander. Erst auf diese Weise entstanden auch die moderne Trennung und der Dualismus von Arbeitszeit und Freizeit. Es fällt uns normalerweise gar nicht mehr auf - aber implizit ist damit gesagt, daß die Arbeitszeit eine unfreie Zeit ist, eine (ursprünglich sogar gewaltsam) erzwungene Zeit für einen den Individuen äußerlichen Selbstzweck, bestimmt von der Diktatur der abstrakten, gleichförmigen Zeiteinheiten kapitalistischer Produktion.


Das Licht der Aufklärung

Die abstrakte betriebswirtschaftliche Raumzeit ist zwangsläufig von jener Maßlosigkeit bestimmt, wie sie den rastlosen kapitalistischen Drang zur Geldanhäufung kennzeichnet. Damit gewinnt ein meistens verkanntes Motiv der bürgerlichen Aufklärung eine ebenso merkwürdige wie destruktive Bedeutung. Bekanntlich schwelgt die Geschichte der Modernisierung in Metaphern des Lichts. Die strahlende Sonne der Vernunft soll die Finsternis des Aberglaubens durchdringen und die Unordnung der Welt sichtbar machen, um die Gesellschaft endlich nach rationalen Kriterien zu gestalten. Aber diese vermeintliche Vernunft ist in Wahrheit der gesellschaftliche Irrationalismus der "herausgelösten Ökonomie". In diesem Kontext ist das "Licht der Aufklärung" aber keineswegs bloß ein Symbol im Reich des Gedankens, sondern es hat eine harte sozialökonomische Bedeutung.

Gerade in dieser Hinsicht ist es fatal, daß der Marxismus und die historische Arbeiterbewegung sich als die wahren Erben der Aufklärung und ihrer gesellschaftlichen Metaphorik des Lichts verstanden haben. In der "Internationale", der Hymne des Marxismus, heißt es über die wunderbare sozialistische Zukunft: "Dann scheint die Sonn' ohn' Unterlaß". Ein deutscher Karikaturist hat diese Zeile wörtlich genommen und zeigt im "Reich der Freiheit" schwitzende Menschen, die zur glühenden Sonne hinaufstarren und stöhnen: "Drei Jahre scheint sie jetzt schon und geht nicht mehr unter".

Das ist nicht bloß ein Witz. In gewisser Weise hat die Modernisierung tatsächlich "die Nacht zum Tag gemacht". In England, das bekanntlich Schrittmacher der Industrialisierung war, wurde die Gasbeleuchtung schon im frühen 19. Jahrhundert eingeführt und verbreitete sich bald über ganz Europa. Ende des 19. Jahrhunderts löste das elektrische Licht die Gaslampen ab. Natürlich könnte man sagen, daß darin eine Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten liegt, wenn die künstliche Beleuchtung für selbstbestimmte Zwecke verwendet und also je nach Bedürfnis und freier Übereinkunft benutzt oder nicht benutzt würde. Aber genau darum geht es der kapitalistischen Totalisierung des Lichts nicht. Die "Ausschaltung" der Nacht ist eine flächendeckende und permanente geworden, obwohl längst medizinisch nachgewiesen wurde, daß dadurch physische und psychische Schäden entstehen. Warum diese gewaltige planetarische Beleuchtung, die heute den letzten Winkel erfaßt hat?

Der maßlose Drang der kapitalistischen Produktionsweise kann im Prinzip keine Zeit dulden, die "dunkel" bleibt. Denn die Zeit des Dunkels ist auch die Zeit der Ruhe, der Passivität, der Kontemplation. Der Kapitalismus verlangt dagegen die Ausdehnung seiner Aktivität bis an die äußersten physikalischen und biologischen Grenzen. Zeitlich sind diese Grenzen bestimmt durch die Drehung der Erde um sich selbst, also durch die vollen 24 Stunden des astronomischen Tages, der eine helle (der Sonne zugewandte) und eine dunkle (von der Sonne abgewandte) Seite hat. Die Tendenz des Kapitalismus ist es, die aktive Sonnenseite total zu machen und den gesamten astronomischen Tag zu besetzen. Die Nachtseite stört diesen Drang. Die Produktion, Zirkulation und Distribution der Waren soll also "rund um die Uhr" laufen.

Dieser Vorgang ist analog zur Veränderung der Raummaße. Das metrische System wurde vom Regime der französischen Revolution 1795 eingeführt und verbreitete sich ähnlich schnell wie die Gasbeleuchtung. In Deutschland fand der Übergang zu diesem System allerdings erst 1872 statt. Die am menschlichen Körper orientierten Raummaße (Fuß, Elle usw.) wurden vom abstrakten Maß des Meters abgelöst, der dem vierzigmillionsten Teil des Erdumfangs entsprechen soll. Diese abstrakte Vereinheitlichung des Raummaßes entsprach dem mechanistischen Weltbild der Newtonschen Physik, das wiederum Vorbild wurde für die mechanistische Ökonomie der modernen Marktwirtschaft, wie sie Adam Smith (1723-1790), der Begründer der theoretischen Nationalökonomie, analysiert und propagiert hatte. Das Bild des Weltalls und der Natur als einer einzigen großen Maschine befand sich in Übereinstimmung mit der ökonomischen Weltmaschine des Kapitals, und eine gemeinsame Form der physikalischen und der ökonomischen Weltmaschine wurden die abstrakten Maße von Raum und Zeit - für das Weltall wie für die "herausgelöste" Warenproduktion.

Erst die astronomische Fließzeit machte es möglich, den Tag der abstrakten Arbeit in die Nacht hineinzuschieben und die Zeit der Ruhe aufzufressen. Nur so konnte die abstrakte Zeit von den konkreten Dingen und Verhältnissen abgelöst werden. Der Marxismus hat sich in seiner Fixiertheit auf die Aufklärungsvernunft wenig um diese Dinge gekümmert, und so blieb es konservativen Ideologen - wie z.B. Ernst Jünger in seinem "Sanduhrbuch" - vorbehalten, die abstrakte Zeit der Moderne auf ihre Weise in einem Kontext aufzugreifen, der stets alles andere als emanzipatorisch war (vgl. Jünger 1954). Es ist aber gerade im Interesse der sozialen Emanzipation wichtig, das Problem der abstrakten, aus den wirklichen Lebenszusammenhängen "herausgelösten" Zeit zu thematisieren und mit anderen, uns gar nicht mehr bewußten Zeitformen zu vergleichen, um überhaupt einen Begriff der kapitalistischen Zeit-Zumutung zu gewinnen. Die meisten alten Zeitmesser, z.B. Sand- oder Wasseruhren, zeigten nicht an, "wieviel Uhr es ist", sondern sie waren auf konkrete Vorgänge geeicht, um deren "angemessene Zeit" zu zeigen. Man könnte sie vielleicht mit einer Eieruhr vergleichen, die durch einen summenden Ton angibt, wann ein Ei hart- oder weichgekocht ist. Die Quantität der Zeit ist hier nicht abstrakt, sondern auf eine bestimmte Qualität orientiert. Die astronomische Zeit der abstrakten Arbeit dagegen ist losgelöst von jeder Qualität. Sie erlaubt es zum Beispiel, unabhängig von der Jahreszeit und den körperlichen Rhythmen einen Arbeitsbeginn "um 6 Uhr" festzusetzen.

Deswegen ist die Epoche des Kapitalismus auch die Zeit der "Wecker", der Uhren also, die mit einem schrillen Signalton die Menschen aus dem Schlaf reißen, um sie an die künstlich erleuchteten "Arbeitsplätze" zu treiben. Und war erst einmal der Arbeitsbeginn in die Nacht vorverlegt, dann konnte umgekehrt auch das Arbeitsende nach hinten in die Nacht hineingeschoben werden. Diese Veränderung hat auch eine ästhetische Seite. Wie die Umwelt durch die abstrakte betriebswirtschaftliche Rationalität gewissermaßen "entstofflicht" wird, indem die Materie und ihre Zusammenhänge sich den Kriterien der Rentabilität unterwerfen müssen, so wird sie durch dieselbe Rationalität auch entdimensioniert und entproportionalisiert. Wenn uns alte Gebäude manchmal irgendwie schöner und behaglicher vorkommen als moderne, und wenn wir dann feststellen, daß sie gleichzeitig im Vergleich zu den heutigen "funktionalistischen" Gebäuden irgendwie unregelmäßig zu sein scheinen, dann ist das darauf zurückzuführen, daß ihre Maße Körpermaße und ihre Formen oft landschaftlich angepaßt sind. Die moderne Architektur dagegen verwendet astronomische Raummaße und "dekontextualisierte" Formen, "losgelöst" von der Umgebung. Das gilt aber ebenso für die Zeit. Auch die moderne Architektur der Zeit ist entproportionalisiert und dekontextualisiert. Nicht nur der Raum ist häßlich geworden, sondern auch die Zeit.

Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde die Einführung der abstrakten astronomischen Fließzeit in die Lebenstätigkeit noch als Folter empfunden. Lange Zeit wehrten sich die Menschen verzweifelt gegen die mit der Industrialisierung verbundene Nachtarbeit. Vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang zu arbeiten, galt geradezu als unmoralisch. Wenn im Mittelalter Handwerker aus Termingründen einmal nachts arbeiten sollten, mußten sie üppig verpflegt und fürstlich entlohnt werden. Nachtarbeit war ein seltener Ausnahmefall. Und es gehört zu den "großen" Leistungen des Kapitalismus, daß es ihm gelungen ist, die Zeitfolter zum Normalmaß der menschlichen Tätigkeit zu machen.

Daran hat sich seit dem Frühkapitalismus nichts geändert. Im Gegenteil, die sogenannte Schichtarbeit hat sich im 20. Jahrhundert immer mehr ausgedehnt. Durch einen Zwei- oder sogar Dreischichtbetrieb sollen die Maschinen möglichst durchgehend laufen, unterbrochen nur durch kurze Pausen für Einstellung, Wartung und Reinigung. Auch die Öffnungszeiten der Läden und Kaufhäuser sollen möglichst dicht an die 24-Stunden-Grenze herangeschoben werden, wie die Auseinandersetzung um die Ladenschlußzeit in der BRD zeigt. In vielen Ländern gibt es wie in den USA überhaupt keine gesetzlich festgelegte Ladenschlußzeit und an zahlreichen Geschäften prangt tatsächlich das Schild: "24 Stunden durchgehend geöffnet". Seit die mikroelektronische Kommunikationstechnologie den Fluß des Geldes globalisiert hat, geht auch der Finanztag der einen Erdhälfte nahtlos in den der anderen über. "Die Finanzmärkte schlafen nie", so die Werbung einer japanischen Bank.

Das Licht der Aufklärungs-Vernunft ist die Beleuchtung der Nachtschicht. In demselben Maße, wie die Konkurrenz auf anonymen Märkten total wird, verwandelt sich der äußere, gesellschaftliche Imperativ auch in einen inneren Zwang des Individuums. Der Schlaf wird ebenso zum Feind wie die Nacht, denn solange man schläft, verpaßt man Chancen und ist den Angriffen der anderen hilflos preisgegeben. Der Schlaf des marktwirtschaftlichen Menschen wird daher kurz und flach wie der eines wilden Tieres, und zwar umso mehr, je "erfolgreicher" dieser Mensch sein will. Die fremdbestimmte Arbeitsqual der mechanischen Nachtschicht erscheint auf der Ebene des Managements als "freiwilliger" Verzicht auf Schlaf. Es gibt sogar schon Management-Seminare, auf denen Techniken der Schlaf-Minimierung geübt werden können. Allen Ernstes behaupten heute Schulen des Self-Managements: "Der ideale Business-Mann schläft nie", genau wie die Finanzmärkte!

Die Unterwerfung der Menschen unter die abstrakte Arbeit und ihr astronomisches Zeitmaß ist aber nicht möglich ohne eine ebenso totale Kontrolle. Allseitige Kontrolle wiederum erfordert ebenso allseitige Beobachtung, und Beobachtung ist nur im Licht möglich: ungefähr so, wie die Polizei beim Verhör eine blendende Lampe auf das Gesicht des Delinquenten richtet. Nicht umsonst hat das Wort "Aufklärung" im Deutschen eine militärische Nebenbedeutung, nämlich "Auskundschaften des Feindes". Und eine Gesellschaft, in der jeder dem anderen und sich selbst zum Feind wird, weil alle dem gleichen säkularisierten Gott der Arbeit dienen müssen, wird mit logischer Notwendigkeit zu einem System der totalen Beobachtung und Selbstbeobachtung. Hier wird nicht frei diskutiert über Sinn und Zweck des eigenen Tuns, sondern gnadenlos "ausgeleuchtet", um den Selbstzweck der "herausgelösten Ökonomie" zu exekutieren.


Die Enteignung der Zeit

Mit der Enteignung der Menschen von den Bedingungen ihrer eigenen Reproduktion ist also auch die systematische Enteignung der Zeit verbunden. Das gilt nicht nur in qualitativer, sondern auch in quantitativer Hinsicht, wie sich ja schon am Hinausschieben der Arbeitszeit in den astronomischen Tag ablesen läßt. Obwohl sie den größten Teil der aktiven täglichen Zeit verschlingt, ist die Arbeitszeit für die überwältigende Mehrheit der Produzenten keine eigene Lebenszeit, sondern tote und leere Zeit, die wie in einem Alptraum aus dem Leben herausgesaugt wird. Umgekehrt ist vom Standpunkt der kapitalistischen Raumzeit aus gesehen die Freizeit der Produzenten leere und eigentlich unnütze Zeit. Somit existiert im Kapitalismus eine starke objektive Tendenz, die Freizeit zu minimieren oder wenigstens streng zu rationieren. Nicht nur der "Betrieb" soll möglichst rund um die Uhr laufen, sondern auch die Auspressung der einzelnen Arbeits-Individuen möglichst nahe an diese absolute Grenze herangeschoben werden.

Wie Marx in den "Grundrissen" feststellte, resultiert daraus eine Paradoxie, die den bürgerlichen "Fortschritt" vollständig blamiert: "Die entwickeltste Maschinerie zwingt den Arbeiter daher jetzt länger zu arbeiten als der Wilde tut oder als er selbst mit den einfachsten, rohsten Werkzeugen tat" (Marx 1974/1857, 596). Dieses krasse Mißverhältnis rührt daher, daß die Produzenten ja nicht selbst entscheiden können, wofür sie die Steigerung der Produktivität einsetzen wollen. Wie alle anderen Entscheidungen ist ihnen auch diese von der kapitalistischen Funktionslogik abgenommen worden. In den alten Agrargesellschaften erzeugte das niedrige Niveau der Produktivkräfte zwar viele Bornierungen (zum Beispiel enge Traditionen und blutsverwandtschaftliche Gebundenheit) und manchmal Probleme in der Versorgung (zum Beispiel bei Mißernten). Aber das Ziel der Produktion, auch mit geringen Mitteln, war kein abstrakter Selbstzweck wie unter dem Zwangsverhältnis des modernen warenproduzierenden Systems, sondern Genuß und Muße. Dieser antike und mittelalterliche Begriff der Muße darf nicht mit dem modernen Begriff der Freizeit verwechselt werden. Denn die Muße war kein vom Prozeß der Tätigkeit für den Erwerb abgetrennter Rest, sondern ein ganz eigenständiges Moment des Lebens. Deshalb wurde eine Steigerung der Produktivität in der Regel eher für eine größere Muße verwendet als für mehr Produktion. Die betriebswirtschaftliche Rationalität der Kostensenkung dagegen verwandelt jeden technischen Fortschritt ausschließlich und zwanghaft in überproportionale zusätzliche Produktion und damit in zusätzliche Arbeit, niemals in zusätzliche Muße für die Produzenten.

Schon die rein äußerliche Quantität der Produktionszeit war daher trotz des niedrigeren technischen Niveaus in der Antike und im Mittelalter weitaus kleiner bemessen als im Kapitalismus. Aus den Klosterregeln des frühesten Mittelalters, die ja als Vorläufer der modernen Arbeitsdisziplinierung bereits Elemente der abstrakten Zeit enthielten, geht überraschenderweise hervor, daß für die Leidenspassion der Arbeit fast nie mehr als 6 oder 7 Stunden täglich vorgesehen waren - damals also hielten die Menschen offenbar bereits für eine fromme Kasteiung und Selbstüberwindung, was heute die Gewerkschaften nur in wenigen Branchen und Gewinnerländern des Weltmarkts als größte Errungenschaft der "Arbeitszeitverkürzung" feiern!

Die explosive Ausdehnung der "Arbeitszeit" kam eben erst mit der Arbeit selbst. Erstaunt müssen moderne "Freizeitforscher" feststellen: "Unter den primitiven Agrarvölkern und in der Antike machten die Ruhetage oft die Hälfte des Jahres aus...(Auch) die Lohnarbeit leistenden Sklaven und Banausen waren nicht so intensiv in das Arbeitsleben eingespannt, wie man dies aus neuzeitlicher Sicht annehmen könnte...In der Mitte des vierten Jahrhunderts zählte man in der römischen Republik nicht weniger als 175 Ruhetage..." (Opaschowski 1997, 25 f.). Erst in der glorreichen Moderne wurden die Festzeiten immer weiter minimiert, um die Raumzeit der Arbeit auszudehnen.

Aber noch aus einem anderen Grund lag die Jahresleistung der Produzenten, selbst wo sie herrschaftlich abgedrungen war, erheblich niedriger als im Kapitalismus. Denn in den agrarischen Gesellschaften des alten Europa gab es auch große saisonale Unterschiede im Umfang der Tätigkeit. In der warmen Jahreszeit (etwa bei der Ernte) fielen mehr Aufgaben an als im Winter, der für die bäuerliche Bevölkerung relativ geruhsam war und häufig für das Feiern privater Feste genutzt wurde, wie manchmal noch aus dem überlieferten Liedgut hervorgeht. Diese Begrenzung des jährlichen Leistungsquantums durch den Wechsel der Jahreszeiten fiel natürlich ebenfalls ersatzlos weg, als der Leistungszwang mit der astronomischen Fließzeit des betriebswirtschaftlichen Funktionsraumes systematisch entgrenzt wurde.

Nicht zuletzt war in den vorkapitalistischen Gesellschaften das, was für uns formal wie ein "Arbeitstag" aussieht, keineswegs durchgängig von angespannter Tätigkeit unter der Kontrolle einer objektivierten ökonomischen Macht gekennzeichnet. Es gab zum Beispiel (aus moderner Sicht) extrem lange Pausen, wie sie das betriebswirtschaftliche Regime niemals zulassen könnte; vor allem stundenlange Mittagspausen mit geselligem Essen - eine Sitte, die sich in den mediterranen und überhaupt südlichen Ländern noch längere Zeit als im Norden erhalten hat, bis sie durch die kapitalistische Industrialisierung auch dort dem Takt der abstrakten Fließzeit weichen mußte.

Die vorkapitalistische produktive Tätigkeit war aber auch als solche wenig verdichtet - also von heute aus gesehen sehr langsam und wenig intensiv. Bei einer selbstbestimmten Tätigkeit ohne den Druck der Konkurrenz ist dieser gemäßigte Zeittakt des Produzierens offenbar die "natürliche" Art, wie Menschen sich in ihrer aktiven Tätigkeit verhalten. Wir kennen diese Erfahrung gar nicht mehr. Denn unter dem stummen Zwang der Konkurrenz auf anonymen Märkten wurde die "herausgelöste" Zeit der Arbeit immer mehr verdichtet: Die Raffinesse in der Absaugung von Lebensenergie steigerte sich mit Hilfe der sogenannten "Rationalisierung der Zeit", die bis heute anhält. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich diese neurotische Logik des "Zeitsparens" zur offenen Paranoia gesteigert. Um dem an sich schon verrückten kapitalistischen Selbstzweck trotz absoluter Begrenzung des astronomischen Tages permanent mehr Leistung zuführen zu können, soll immer mehr Raum in die identischen Einheiten der abstrakten astronomischen Fließzeit "hineingepackt" werden.

Dieser absurde Drang möchte gewaltsam auch noch den astronomischen Tag sprengen - der kapitalistischen Logik der Arbeit ist nichts unmöglich, was die Produzenten des Kapitals noch mehr durch die Zeit hetzen könnte. So bastelt man in Japan anscheinend allen Ernstes am 28-Stunden-Tag, wie die Presse berichtet: "Mehr Zeit hat sich schon so mancher gewünscht...noch immer hat der Tag nur 24 Stunden, und für alles, was es zu tun gibt, reichen diese nicht aus. Doch wieso eigentlich 24 Stunden? Weil die Erdrotation 24 Stunden dauert, lautet die gängige Antwort. Danach bestimmt sich der Rhythmus von Tag und Nacht. Aber wie relevant ist das denn wirklich für unser heutiges Leben?...Wäre eine dem menschlichen Lebensrhythmus gut angepaßte Uhr nicht eine solche, die unserem Herzschlag folgt? Pro Stunde ergibt sich ein Überschuß von 600 Sekunden, an einem 24-Stunden-Tag 14.400 Sekunden. Das sind genau vier Stunden. Ist also, kurz gesagt, der 28-Stunden-Tag nicht das unserer Gattung angemessene Maß der Zeit?...Noch bis ins 19. Jahrhundert hatten viele Uhren nur einen Stundenzeiger...In Japan gab es noch in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kein Wort für Sekunde. Heute aber ist man daran gewöhnt, den Sekundenzeiger vorrücken zu sehen, wenn es Zeit für die Fernsehnachrichten ist...So räsoniert jedenfalls Sports Train, eine japanische Firma, die kürzlich >Montu<...auf den Markt brachte, die erste 28-Stunden-Tag-Uhr...Die Arbeitgeber würden...auch noch einen guten Schnitt machen, würden sie mit 28-Stunden-Tagen doch einen ganzen Tag pro Woche einsparen. In der Tat sieht >Montu< die Sechstagewoche vor..." (Coulmas 1999).

Es ist verständlich, daß sich in den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zusammen mit der alten Arbeiterbewegung auch die sozialistische Utopie der Arbeit allmählich verflüchtigt hat. Auch wenn kaum jemand einen kritischen Begriff davon hat, so wissen doch heute alle instinktiv, daß dem Kapitalismus mit einer Verklärung seiner eigenen Tätigkeitsform nicht beizukommen ist. Daraus wird ebenso instinktiv der Schluß gezogen, daß keine Kapitalismuskritik mehr möglich sei. Während der allgemeine Arbeitszwang weiterbesteht, sind die sozialen Bewegungen insgesamt erschlafft. Die kapitalistischen Menschen versuchen sich zunehmend in eine individualisierte Utopie der Freizeit zu flüchten. Aber auch dort wartet schon grinsend derselbe Kapitalismus, der die zur Arbeitszeit bloß komplementäre Freizeit längst kolonisiert hat. Denn weil die Arbeit apriori ein Verhältnis der Entmündigung ist, mußte es auch die Freizeit werden.

Die Freizeit ist keine befreite Zeit, sondern ein sekundärer Funktionsraum des Kapitals. Es handelt sich nicht um freie Muße, sondern um eine selber für den permanenten (und höchst angestrengten) Konsum von Waren funktionalisierte Zeit. Auf diese Weise bilden einerseits die Kultur- und Freizeitindustrie neue Sphären der Arbeit aus, andererseits wird auch die Freizeit als solche der Arbeitszeit angeglichen. Nicht nur dann, wenn er Geld "verdient", sondern auch wenn er Geld ausgibt, ist der kapitalistische Mensch heute ein Arbeiter. Dieser Sachverhalt spiegelt nur die allgemeine Tendenz, daß die "herausgelöste Ökonomie" im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung die abgespaltenen und zersplitterten Lebensbereiche allmählich mit ihrer eigenen Logik durchdringt und sie gewissermaßen "einkassiert": Das Leben wird wieder ein Ganzes, aber eben ein zur Gänze kapitalistisch integriertes.

Die Widersprüchlichkeit dieser absurden Produktions- und Lebensweise, die sich in der Vergangenheit auch als subjektiver Widerspruch, als Einspruch gegen die Zumutungen geltend machte, hat sich ebenfalls fast ganz verobjektiviert und erscheint nur noch als die Realität der Arbeitslosigkeit. Diese allerdings steigt im globalen Maßstab dramatisch an. Nur im negativen Sinne wird so der untragbare Widerspruch noch sichtbar. Arbeitslosigkeit im Kapitalismus ist aber nicht einmal mehr Freizeit, sondern nur noch Armutszeit. Die Arbeitslosen werden nicht in frei disponible Zeit entlassen, sondern in die Überflüssigkeit ihrer Person. Nicht das Prinzip der Arbeit wird ungültig, sondern die Existenz der Arbeitslosen. Die Fortsetzung der Arbeit bekommt eine andere Qualität: Die Arbeit der Arbeitslosen besteht darin, jammervoll nach neuer Arbeit suchen zu müssen, gehetzt und gedemütigt von der bürokratischen Arbeits- und Armutsverwaltung.

Nachdem die Utopie der Freizeit ebenso blamabel gescheitert ist wie die Utopie der Arbeit, könnte der erlösende Einspruch jetzt nur noch darin bestehen, das gesamte Bezugssystem zu verwerfen und sich aus dem Gefängnis der kapitalistischen Kategorien zu befreien. Ein Zurück in die vormoderne Agrargesellschaft ist weder möglich noch wünschenswert. Die historische Analyse kann nur den Sinn haben, das groteske Missverhältnis aufzudecken, dass die ganze ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte in der Moderne nur dazu gedient hat, die freie Muße nahezu vollständig zu vernichten. Dem Kapitalismus kann nur noch der Prozess gemacht werden, wenn der Arbeit selber der Prozess gemacht wird. Um die Befangenheit der untergegangenen Arbeiterbewegung im positiven kapitalistischen Arbeitsbegriff zu überwinden, ist durchaus noch einmal bei Marx nachzuschlagen - allerdings bei jenem "dunklen" Marx, den die Arbeitsmarxisten immer verlegen überblättert haben: "Die >Arbeit< ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der >Arbeit< gefasst wird" (Marx 1845).

 

Literatur

Coulmas, Florian (1999), Montu bis Satsun, in: Wirtschaftswoche 10/1999, Düsseldorf.

Engels Friedrich (1946, zuerst 1896), Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, Berlin.

Jünger, Ernst (1954), Das Sanduhrbuch, Frankfurt/Main.

Kant, Immanuel (1979, zuerst 1781), Kritik der reinen Vernunft, Leipzig.

Marx, Karl (1974, geschrieben 1857), Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin.

Opaschowski, Horst W. (1997), Einführung in die Freizeitwissenschaft, Opladen.

Parker, Geoffrey (1990), Die militärische Revolution, Frankfurt/Main, New York.

Polanyi, Karl (1995, zuerst 1944), The Great Transformation, Frankfurt/Main.

Sombart, Werner (1913), Krieg und Kapitalismus, Berlin.

Zinn, Karl Georg (1989), Kanonen und Pest, Opladen.

 

 

Rezensionen zum "Schwarzbuch Kapitalismus"

Schwarzbuch des Kapitalismus aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Das "Schwarzbuch des Kapitalismus" ist ein 1999 erschienenes Buch von Robert Kurz.

Die kapitalistischen Staaten der Gegenwart und der Vergangenheit werden als ein "System der totalitären Weltmarkt-Demokratien", als "totalitärer Markt", "sozialökonomischer Totalitarismus" beschrieben. Die kapitalistischen Diktaturen und Demokratien sind nach Aussage des Autors nicht die Überwindung des Totalitarismus sondern seine Vollendung, der "freie Markt" totalitärer als der totalitäre Staat, welcher nur williger Erfüllungsgehilfe der Marktwirtschaft sei. Der Kapitalismus zerstöre sich selbst, da er alles der "entfremdeten Arbeit, dem Geldeinkommen und Warenkonsum unterordnet" und da er zur "Entzivilisierung der Welt" führe.

Am Ende des Buch fordert der Autor auf, aufzustehen "gegen die kapitalistische Krisenverwaltung jeglicher Couleur mit ihrer trostlosen Perspektive von demokratischer Zwangsarbeit und Billiglohn-Sklaverei".

Er zählt die Opfer des Kapitalismus auf - die Opfer der Kriege, von Hunger, Armutskrankheiten und Umweltzerstörung. Die soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit sei "nur die Vollendung des Faschismus mit anderen, gemeineren Mitteln". Auch die Staatswirtschaft der sozialistischen Staaten bezeichnet er als Kapitalismus, da sich die dortigen Bürokraten in Wahrheit nach den Richtlinien und Dogmen des kapitalistischen Weltsystems verhielten und nach dessen Kriterien den westlichen Kapitalismus überflügeln wollten - durch höhere Arbeitsproduktivität, mittels Zinswirtschaft und höherer Effizienz.

Den Ideologen der Marktwirtschaft, des Neoliberalismus und Kapitalismus (unter anderem auch den Autoren des "Schwarzbuch des Kommunismus") wirft er vor, einseitig die russischen, chinesischen und antikapitalistischen Revolutionäre wegen Gewaltanwendung zu verurteilen, nicht jedoch ihre Gegner, den Zarismus und die kapitalistischen Tyranneien - und nicht die prokapitalistischen bürgerlichen Revolutionen in England (1648), in Frankreich (1789) und den USA (1777), wo es sich um blutige Gemetzel gehandelt hat, wie in der Analyse des Autors die Geschichte der Durchsetzung und der Herrschaft des Kapitalismus überhaupt mit Hunderten Millionen Todesopfern, mit Folter, Elend, hoher Kindersterblichkeit, Armutkrankheiten, Massenmorden, Terror, Zwang, Unfreiheit, Kriegen, Menschenhandel, Zwangsarbeit, Zwangs- und Kinderprostitution, Obdachlosigkeit, Massenenteignung und Hungersnöten begleitet ist. Er wirft auch dem gegenwärtigen Kapitalismus - der "freien Welt" und der Marktwirtschaft - vor, durchaus gleiche bzw. weitaus höhere Opferzahlen als der Kommunismus zu produzieren, z.B. innerhalb der "Dritten Welt" pro Tag über 100.000 Hungertote, jährlich 7 Millionen verhungerte Kinder, in beiden Weltkriegen etwa 75 Millionen Kriegstote. Dagegen und gegen die Säulen, Verteidiger und Repräsentanten des Kapitalismus gewaltsam vorgegangen zu sein, kann nach Meinung des Autors kein Vorwurf sein.

Robert Kurz schlägt vor, die Reichtümer der Erde, die Bodenschätze, die Landwirtschaft und die Maschinen so einsetzen, "dass allen Menschen ein gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet ist". Als ersten Schritt rät er, "sich der Gehirnwäsche durch den Kapitalismus/Wirtschaftsliberalismus zu entziehen".

 

 

DIE ZEIT

 

51/1999 

Schwarzbuch Kapitalismus

Robert Kurz versenkt unser Wirtschaftssystem. Hat er Recht? Eine Kontroverse

Als vor ein paar Jahren das Schwarzbuch des Kommunismus erschien, gab es gereizte Stimmen, die ein Schwarzbuch des Kapitalismus forderten. Jetzt haben wir es. Allerdings macht Robert Kurz deutlich, dass seine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Rekonstruktion des Kapitalismus nicht den Zweck verfolgt, die Verbrechen des Kommunismus im Schatten derer des Kapitalismus verschwinden zu lassen oder sie wenigstens zu relativieren. Vielmehr kommt Kurz in einem zentralen Abschnitt seines Buches zu dem für manche Leute vielleicht schockierenden Befund, dass der Kommunismus lediglich ein Wechselbalg des Kapitalismus war, ein nachholender Industrialismus unter roter Schminke.

Am Anfang aller neuzeitlichen Menschenschinderei stand ohne Zweifel der Kapitalismus. Sein bis heute nicht abgeschlossenes "Modernisierungsprogramm", das alle Bereiche der Gesellschaft monetarisierte und der Logik des Marktes unterwarf, machte aus Individuen Marktteilnehmer, aus Produzenten Lohnabhängige, aus Menschen "Material" für den Verwertungsprozess des Kapitals. Wer diesem Programm nicht folgen konnte oder wollte, fiel aus der Gesellschaft, buchstäblich als Überflüssiger, heraus. Das ist heute, im Zeitalter des Kasinokapitalismus mit seiner beschleunigten Massenproduktion von unbrauchbarem "Menschenmaterial" nicht anders als vor 200 Jahren.

Der Maßstab, den Kurz zur historischen Bewertung des Kapitalismus anlegt, ist so simpel wie einleuchtend: Er fragt danach, was dieses heute als alternativlos gepriesene Wirtschaftssystem der Mehrheit der Bevölkerung an Lebensstandard, Mußezeit und allgemeinem Wohlbefinden beschert hat, und da sieht die Bilanz ziemlich dürftig aus. Allein die schlichte Tatsache, dass die Menschen im Kapitalismus immer (und bis heute) mehr arbeiten mussten als in allen bekannten sozialen Ordnungen vor dem Kapitalismus, gibt zu denken. Dieser gesteigerte Arbeitszwang, der, scheinbar paradox, durch die Erfindung von arbeitssparenden Geräten keineswegs gemildert wurde, hat damit zu tun, dass die Individuen nicht mehr für sich und ihre Bedürfnisse produzierten, vielmehr für einen abstrakten Markt und für das sinnfälligste Abstraktum der Moderne überhaupt - für Geld. In früheren Zeiten arbeitete man, um zu leben; Geld war nur ein Mittel zum Zweck. Im Kapitalismus lebt man, um zu arbeiten; Geld wird zum Zweck an sich.

Es kann kein Zweifel bestehen, und die von Kurz herangezogenen Quellen belegen es erdrückend, dass der Tanz um das Goldene Kalb, von dem französischen Historiker Jules Michelet schon vor 140 Jahren als "schreckliche Krankheit" gegeißelt, für die Bevölkerungsmehrheit in den kapitalistischen Zentren einen massiven ökonomischen und sozialen Abstieg, vielfach Hunger und absolutes Elend bedeutete. Von den verheerenden Auswirkungen auf die kapitalistische Peripherie, auf Asien, Afrika und Lateinamerika, zu schweigen. Die Dritte Welt der Armut, des Hungers, der Seuchen, der Kindersterblichkeit, der Übervölkerung und Massenmigrationen ist ein genuines Produkt des modernen Kapitalismus. Alle Indikatoren sprechen dafür, dass die Menschen etwa in Afrika vor der kapitalistischen Invasion besser und auskömmlicher existieren konnten als heute, da der Kontinent im Dreck des reichen Westens versinkt.

Zu den wichtigsten, allerdings gern verdrängten Erkenntnissen, die das Schwarzbuch Kapitalismus bietet, gehört, dass es immer nur relativ kurze Phasen waren, in denen ein expandierender Kapitalismus so etwas wie Massenwohlstand hervorbrachte, und das auch das nur in Westeuropa, Angloamerika und Japan.

Seitdem der fordistische Boom - von Kurz im Kapitel über die "totale Mobilmachung" der Autogesellschaft eindrucksvoll illustriert - seinen letzten Seufzer getan hat, also seit Mitte der siebziger Jahre, ist deutlich geworden, dass das alte Erhardsche Versprechen "Wohlstand für alle" peu à peu kassiert wird. Von "Vollbeschäftigung" kann schon lange keine Rede mehr sein; vielmehr sind Unter- und Nichtbeschäftigung für immer größere Bevölkerungsteile an der Tagesordnung und werden es im 21. Jahrhundert noch mehr sein. Nicht nur in den USA geht schon bei den Mittelschichten die nackte Angst um. Die Realeinkommen der Normalverdiener stagnieren seit Jahren oder sinken, während der privilegierte Kreis der kapitalistischen Funktionseliten sich immer schamloser bereichert. Alle heutigen Erhebungen und Statistiken plaudern aus, dass die Kluft zwischen Arm und Reich stetig wächst, und zwar sowohl innerhalb der kapitalistischen Metropolen als auch global im Nord-Süd-Verhältnis.

Mit der dritten industriellen, der mikroelektronischen Revolution, die gemäß betriebswirtschaftlichen Rentabilitätsprinzipien ganze Arbeitspopulationen "freisetzt" und zu "unnützen Essern" degradiert, gelangt der Kapitalismus zusehends an eine historische Schranke - die Geldmaschine hat kein "Material" mehr, das sie verschlingen könnte, seitdem sie Menschen als Produzenten nicht mehr braucht und seitdem die natürlichen Ressourcen weitgehend vernutzt und das globale Ökosystem irreversibel geschädigt ist. Der Kapitalismus kann nur noch an seiner Selbstsprengung laborieren. In ihrer Verzweiflung darüber, dass das Geld arbeitslos wird, lassen es die Shareholder in reiner Selbstbezüglichkeit um den Erdball vagabundieren, um dergestalt "Wertsteigerungen" zu realisieren, die völlig fiktiv, im Wortsinne gegenstandslos sind. Den Zusammenbruch dieses überhitzten spekulativen Systems werden wir alle auszubaden haben.

Das Schwarzbuch Kapitalismus, mit dem Robert Kurz ein großer Wurf, ein wahrhaft notwendiger Protest gelungen ist, richtet sich an alle, die noch nicht gänzlich "verhausschweint" sind und das totalitär gewordene kapitalistische Konkurrenzsystem zu ihrer privaten Innenausstattung gemacht haben. Es beschwört solidarische Formen der Vergesellschaftung jenseits der schwarzen Utopie des totalen Marktes, des tödlichen Konkurrenzkampfs aller gegen alle und der törichten Ideologie der "Selbstverwirklichung". Eine Gesellschaft atomisierter Einzelner, beziehungsloser Sozialmonaden, in welcher jeder seines eigenen Unglücks Schmied sein muss, ist nicht überlebensfähig. Wir brauchen, schrieb jüngst der Ethnologe Hans Peter Duerr, "eine neue, einfachere und ruhigere Zivilisation", die mit dem leeren, ziellosen Dynamismus des Kapitalismus bricht, indem sie sich auf die humane Unvereinbarkeit des Menschen mit den Gesetzen des entfesselten Marktes besinnt. Andernfalls droht uns jenes Schicksal, das der französische Schriftsteller Michel Houellebecq in seinem Roman Elementarteilchen mit unerbittlicher Schärfe auf die Leinwand unserer Zukunft projiziert hat: dass wir an unserer Vereinzelung krepieren, jeder für sich.

Das Schwarzbuch Kapitalismus ist die wichtigste Veröffentlichung der letzten zehn Jahre in Deutschland. Es schlägt keine Symptomkur vor, sondern den radikalen Schnitt. Auf diese Radikalität haben wir lange gewartet. Avanti popolo!

· Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft; Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999; 816 S., 68,- DM

 

Robert Kurz

Schwarzbuch Kapitalismus
Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft

Ambivalenzen und Widersprüche einer alles beherrschenden Systemlogik

Erst das 'Schwarzbuch des Kommunismus', nun das 'Schwarzbuch des Kapitalismus' - da liegt es nahe, an eine billige Retourkutsche zu denken. Aber darauf läßt sich Robert Kurz' voluminöses Werk nicht reduzieren. Dem Autor geht es nicht darum, die Verbrechen des Kommunismus zu relativieren oder sie im Schatten derer des Kapitalismus verschwinden zu lassen. Für Kurz war der Kommunismus sowjetischer Prägung vielmehr durchaus demselben kapitalistischen Geist verhaftet, als dessen Antipode er sich ausgab: ein System nachholender Modernisierung, das wie der Kapitalismus auf der Akkumulation abstrakter Arbeit und der rücksichtslosen Vernutzung des 'Menschenmaterials' beruhte.

Es wäre ein grobes Mißverständnis, wenn man dem Autor unterstellte, er wolle nach dem historischen Debakel des sogenannten 'realen Sozialismus' noch einmal das staatswirtschaftliche System als Alternative zur Marktwirtschaft propagieren. Die Frage nach einer konkreten und praktischen Alternative zum Kapitalismus scheint ihn überhaupt nicht besonders zu interessieren. Jedenfalls wird der Leser auf den achthundert Seiten dieses Buches dazu kaum mehr als ein paar äußerst allgemeine und ziemlich nichtssagende Bemerkungen finden. Der Autor begnügt sich mit der Analyse und Kritik des kapitalistischen Systems, seiner geistigen Grundlegung in der liberalen Ideologie und der praktischen Auswirkungen der drei großen Modernisierungsschübe, die unsere heutige Welt geprägt haben.

Wer die früheren Bücher von Robert Kurz gelesen hat, wird nicht erstaunt sein, daß das Bild, das er vom Kapitalismus zeichnet, düster ist. Zwar leugnet er nicht, daß der Kapitalismus wesentlichen Anteil an der Entfaltung der produktiven Fähigkeiten des Menschen hat. Er widerspricht allerdings vehement, wenn die kapitalistische Modernisierung umstandslos mit Fortschritt, Wohlstands- und Freiheitsmehrung gleichgesetzt wird. Er bemüht sich stattdessen, nachzuweisen, "daß der Kapitalismus einige wenige reich, die Masse aber bettelarm" gemacht hat, daß im Zuge der kapitalistischen Modernisierung die Freiheit der meisten Menschen durch immer neue Zumutungen eher eingeengt denn erweitert wurde.

Zu diesem Zweck zeichnet Robert Kurz mit großem Detailreichtum und in einer geistreich-polemischen Sprache die Blutspur kapitalistischer Modernisierung von der ersten industriellen Revolution bis heute nach. Wie Marx und Engels vor ihm legt er dabei besonderes Gewicht auf die brutalen Vertreibungen und Unterdrük-kungsmaßnahmen zur Zeit der 'ursprünglichen Akkumulation'. Aber im Gegensatz zu den sozialistischen Klassikern sieht er im zumeist vergessenen und ver-drängten Widerstand der Ludditen und anderer als "Maschinenstürmer" belächelten Bewegungen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts die Manifestation einer echten Fundamentalopposition gegen den Kapitalismus, die im Unterschied zum späteren Kommunismus das System der abstrakten Arbeit selbst und die Degradierung des Menschen zum Arbeitstier zum Ziel ihrer Angriffe macht.

Nach Kurz gehört es zu der von Kapitalisten und Kommunisten gemeinsam betriebenen Geschichtsfälschung, die sogenannten "Maschinenstürmer" als rückwärtsgewandte Illusionisten darzustellen. Vielmehr hätten diese Bewegungen die Inhumanität der kapitalistischen Produktionsweise klar erkannt und "elementare und universelle Bedingungen menschlicher Freiheit" eingeklagt, "die durch das kapitalistische Markt- und Fabriksystem von Grund auf zerstört" würden. Eine gründliche Kritik des Kapitalismus, so Kurz, müsse heute jenseits der falschen Alternative von Kapitalismus und SU-Sozialismus an diesen frühen Radikalismus anknüpfen.

Kurz ist es vor allem darum zu tun, deutlich zu machen, daß es sich beim Kapitalismus keineswegs um ein quasinatürliches, in der überzeitlichen Natur des Menschen angelegtes Verhaltensmuster handelt, sondern um einen gegen massive Widerstände und unter großen Opfern durchgesetzten Zwangszusammenhang. Allerdings ist für ihn die Geschichte des Kapitalismus - ganz ähnlich wie für Norbert Elias der 'Prozeß der Zivilisation' - wesentlich geprägt durch die all-mähliche Verinnerlichung dieses äußeren Zwangszusammenhangs, eine Verinnerlichung, die schließlich so weit geht, daß auch noch die sich als Todfeinde des Kapitalismus verstehenden Kommunisten die kapitalistische Arbeitsorganisation und die Herabwürdigung der Menschen zu Produktionsfaktoren übernehmen.

Entscheidenden Anteil an dieser Verinnerlichung hat nach Kurz der Liberalismus als Ideologie. So versucht der Autor zu belegen, daß das liberale Bürgertum keineswegs aus prinzipiellen Erwägungen für die Republik oder die parlamentarische Demokratie eintrat, sondern sich erst dann zum Anwalt der Demokratie aufschwang, als die kapitalistische Produktionsweise und das System der Geldwirtschaft mit Hilfe des absolutistischen Staats durchgesetzt worden war und das Bewußtsein der Menschen nahezu vollständig okkupiert hatte, so daß sich in dieser Hinsicht massiver Zwang weitgehend erübrigte.

In der Frühzeit des Liberalismus, als diese Voraussetzung noch nicht erfüllt war, gestattete sich ein Großteil des Bürgertums tatsächlich keine menschlichen Regungen, wenn es um die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise ging. Kurz verweist hier nicht nur auf die mehr oder weniger bekannten Tat-sachen der brutalen Ausbeutung und des Massenelends in der Phase der ersten industriellen Revolution, der unerbittlichen Härte, mit der jeder Versuch der arbeitenden Menschen, sich eine Interesssenvertretung zu schaffen, verhindert wurde, der menschenverachtenden Praxis in den Armenhäuser usw. Er versucht auch zu zeigen, daß die frühen Theoretiker des Liberalismus im Kern alles andere als liberal im modernen freiheitlichen Sinne waren.

Und in der Tat gibt es eine weitgehend verdrängte Theoriegeschichte des Liberalismus, die Belege für diese Sicht der Dinge bietet. Jeremy Bentham, Erzvater des Liberalismus und utilitaristischer Moralphilosoph, ist des Autors Kronzeuge. In der Schrift 'The Inspection House' entwickelt er in allen Details das Modell eines totalitären Überwachungssystems, wie es später in Nazi-Deutschland und unter Stalin in der Sowjetunion realisiert wurde. Die ausgeklügelte Disziplinierungsmaschine des Liberalen Bentham dient natürlich einem guten Zweck, nämlich der Verinnerlichung der kapitalistischen Arbeitsdisziplin und damit letztlich auch dem - nicht zufällig in Geldgrößen gemessenen - "größten Glück der größten Zahl".

Die Kritik an Bentham ist plausibel und nachvollziehbar. Schwieriger wird es, wenn Kurz auf Kant zu sprechen kommt. Kants berühmte Aufforderung an die Menschen seiner Zeit, sich aus der "selbstverschuldeten Unmündigkeit" zu befreien und sich ihres eigenen Verstandes "ohne Leitung eines anderen zu bedienen", ist nach Kurz nie anders gemeint gewesen, "als sich dem kapitalistischen 'System der Vernunft' nicht nur äußerlich zu unterwerfen, sondern es zu verinnerlichen, kapitalistisch selbstregulativ zu werden: jeder sein eigener Polizist, Erzieher, Gefängniswärter und Antreiber!" Hier, wie auch schon bei der Bezugnahme auf Bentham, tritt Kurz in die Fußstapfen der Aufklärungskritik Foucaults. Philosophie und Pädagogik, die ganze Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, steht für ihn im Dienst dieses Dressurprogramms.

Auch die Arbeiterbewegung, die sich als Gegenspieler des Kapitalismus profiliert, stellt nach Kurz den Kapitalismus nicht wirklich in Frage. Die reformistische Sozialdemokratie apostrophiert der Autor als "sozialdemokratische Sonn-tagsschule des Liberalismus", und der Kommunismus sowjetischer Prägung ist für ihn nichts als ein Nachzügler der liberal-kapitalistischen Umwälzungen, der die Schrecken der ursprünglichen Akkumulation und der kapitalistischen Modernisierungskrisen im Zeitraffer nachholt. Sogar noch die faschistische Mobilisierung mit ihren unvergleichlichen Verbrechen sieht Kurz im Bentham-Liberalis-mus des 19. und im Fordismus des 20. Jahrhunderts angelegt. Auschwitz, so der Autor, kann "nur als die nicht mehr zu überbietende äußerste Konsequenz der liberalen Ideologie in der Tradition von Hobbes, Mandeville, de Sade, Bentham, Mathus u. Co. verstanden werden..."

Nun ist es zweifellos richtig, daß eine ganze Reihe liberaler Theoretiker mit Gesellschaftsmodellen liebäugeln, die deutlich die Grundzüge eines totalitären Überwachungsstaats und einer Erziehungsdiktatur tragen. Und ebenso richtig ist, daß manche Helden der 'freien Marktwirtschaft' wie Henry Ford zumindest zeitweilig den Ordnungsvorstellungen Stalins und der Nazis Anerkennung zollten. Allerdings ist das Bild des politischen Liberalismus, das Kurz entwirft, alles in allem doch erschreckend einseitig. Daß die modernen Vorstellungen der Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit, daß die Vorstellung grundlegender Menschen- und Bürgerrechte u.a. auch aus dieser Quelle stammen, gerät ihm dabei aus dem Blick.

Überhaupt neigt Kurz dazu, die ganze bunte und in sich widersprüchliche Wirklichkeit auf ein einziges Prinzip zurückzuführen, Ambivalenzen und Widersprüche einer alles beherrschenden Systemlogik zu opfern. So vermag er nicht einzusehen, daß in den modernen westlichen Demokratien eben gerade nicht nur die Logik der Kapitalverwertung, sondern auch die damit keineswegs immer kompatible Logik der demokratischen Selbstbestimmung das gesellschaftliche Leben bestimmt. Daß nirgends in diesem Buch die Konturen einer Alternative sichtbar werden, kann bei einem solch totalen Systembegriff nicht verwundern.

Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, daß der Autor an die Möglichkeit einer wirksamen antikapitalistischen Praxis nicht zu glauben scheint. Was bleibt, ist die Hoffnung auf den endgültigen Zusammenbruch des Systems. Und in der Tat glaubt Kurz deutliche Anzeichen für eine solche finale Krise zu erkennen. "In der dritten industriellen Revolution", so sein Fazit, "entläßt der Kapitalismus seine Kinder. Das Weltsystem einer auf sich selbst rückgekoppelten Verwandlung menschlicher Energie in Geld hat sich endgültig selber ad absurdum geführt."

Wer nun aber glaubt, daß hier das bekannte revolutionäre Schema von Untergang und Neugeburt noch einmal beschworen wird, sieht sich enttäuscht. Denn selbst der 'big bang' des globalen Kapitalismus bedeutet nach Kurz nicht notwendig den Auftakt zu einer anderen, humaneren Entwicklung. Vielmehr hält er es für möglich, ja sogar für wahrscheinlich, daß der Zusammenbruch des glo-balisierten Geldsystems in eine veritable Spenglersche Götterdämmerung einmündet. "Der 'biopolitische' Zeitgeist der verwilderten Haßkonkurrenz", heißt es am Ende seines Buches, "erscheint als Spengler redivivus; und die neoliberal vermittelte Ragnarök könnte gelingen als 'molekulare' endemische Zerstörung der menschlichen Gesellschaft überhaupt. Das Credo des Kapitalismus, dieser zum totalen Weltsystem objektivierten größten Untergangssekte aller Zeiten, lautet: Nach dieser soll keine andere Welt mehr kommen."

Es ist dieser apokalyptische Ton, der es den von Kurz angegriffenen Anwälten des modernen Kapitalismus leicht machen dürfte, sich seiner Kritik zu entziehen. Das ist bedauerlich, denn über weite Strecken ist die Argumentation des Autors moralisch und intellektuell überzeugend. Wer den düsteren Radikalismus des Autors nicht teilt, wird das Buch dennoch, sofern er nicht moralisch unempfindlich und ideologisch vernagelt ist, mit Gewinn lesen können. Am Ende wird er wohl nicht mehr ganz so sicher sein, daß Kapitalismus und Marktwirtschaft tatsächlich jene große Beglückungsmaschine sind, als welche sie von ihren Lobrednern auch heute wieder gern dargestellt werden.

Johano Strasser

03. März 2001

 

Aus dem "Schwarzbuch Kapitalismus"

Robert Kurz

Schwarzbuch Kapitalismus

Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft

 

»Übrigens sah der Verurteilte so hündisch ergeben aus, dass

es den Anschein hatte, als könnte man ihn frei auf den Abhängen

herumlaufen lassen und müsse bei Beginn der

Exekution nur pfeifen, damit er käme

Franz Kafka

 

 

Inhalt

 

Prolog 4

 

Modernisierung und Massenarmut 7

Marktwirtschaft macht arm 8

Weberelend und Weberaufstand 11

Die Geburt des Weltmarkts aus dem Geist des Absolutismus 13

 

Die schwarze Utopie der totalen Konkurrenz 18

Eine Gesellschaft von Ungeheuern 18

Private Laster als öffentliche Vorteile 25

Die Frau als Hündin des Mannes 29

Die unsichtbare Hand 36

Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl 42

Die Meuterei auf der Bounty 50

 

Die Geschichte der Ersten industriellen Revolution 57

Die Vernunft der Betriebswirtschaft 60

Die Mühlen des Teufels 62

Maschinenstürmer 70

Das Bevölkerungsgesetz: Verschwindet von der Erde! 78

Soziale Emanzipation oder staatsbürgerliche Nationalrevolution? 68

Die sozialdemokratische Sonntagsschule des Liberalismus 94

Freihandel und nachholender Nationalismus 100

Das Gesetz des Gleichgewichts und das industrielle Schneeballsystem 105

 

Das System der nationalen Imperien 112

Vater Staat 114

Gründerschwindel und Große Depression 123

Das Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit 128

Sozialistischer Absolutismus 133

Panzerkreuzer und Raubnationalismus 141

Ausgerechnet Bananen 149

 

Die Biologisierung der Weltgesellschaft 154

Der Kampf ums Dasein 155

Menschenzucht und Fortpflanzungshygiene 158

Rassenkampf und Weltverschwörung 162

Die deutsche Abstammungsgemeinschaft 168

Sozialismus der höheren Wirbeltiere 176

 

Die Geschichte der Zweiten industriellen Revolution 186

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts 189

Henry Ford und die Geburt der Auto-Gesellschaft 205

Die Rationalisierung des Menschen 217

Weltwirtschaftskrise 234

Diktaturen und »Krieg der Welten« 248

Arbeitsstaat und Führersozialismus 254

Der verlorene Traum und der kapitalistische Furor 259

Die negative Fabrik Auschwitz 270

Löcher graben und Pyramiden bauen: die keynesianische Revolution 279

 

Das System der totalitären Weltmarkt-Demokratien 289

Nagelneue Ruinen 289

Der totalitäre Markt 295

Totale Mobilmachung 303

Totalitärer Freizeitkapitalismus 317

Die totalitäre Demokratie 323

Der kurze Sommer des Wirtschaftswunders 327

Weltzerstörung und Bewusstseinskrise 332

 

Die Geschichte der Dritten industriellen Revolution 338

Visionen der Automatisierung 340

Die Wegrationalisierung des Menschen 346

Der Staat dankt ab 360

Der letzte Kreuzzug des Liberalismus 374

Die neue Massenarmut 391

Die Fata Morgana der Dienstleistungsgesellschaft 402

Kasinokapitalismus: Das Geld wird arbeitslos 408

Das Ende der Nationalökonomie 419

Die Dämonen erwachen 427

 

Epilog 438

 

Literatur 445

 

 

Prolog

 

Das historische Gedächtnis der Menschen ist kurz. Sogar die eigene Biografie verblasst in der Erinnerung. Was wissen wir noch wirklich von unserem Leben, unseren Gedanken, Gefühlen und Befindlichkeiten vor zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren? Die meisten Menschen sind überrascht, wenn sie zufällig auf einen objektiven dokumentarischen Beleg ihrer Vergangenheit stoßen und dann feststellen müssen, wie sehr sich die einstige Realität oft von dem Bild unterscheidet, das sie in ihrem Kopf davon gespeichert haben. Immer sind wir andere und uns selbst fremd geworden. Es scheint aber weniger die begrenzte Kapazität des menschlichen Gehirns zu sein, die solche Fehlleistungen der Erinnerung bewirkt. Vielmehr sind wir in der Regel Verdrängungskünstler, die sich die eigene Geschichte zurechtfärben und für das Selbstwertgefühl passend legitimieren. Jeder Mensch affirmiert sein noch so fadenscheiniges Ego, um möglichst bequem und unangefochten in seiner Haut leben zu können, ohne sich selbst in Frage stellen zu müssen.

 

Ähnliches gilt in verstärktem Maße für das kollektive Gedächtnis der Menschheit. Alles, was hinter den Horizont des eigenen lebensgeschichtlichen Anfangs zurückreicht, liegt für uns in einem noch schwärzeren Dunkel als die persönliche Vergangenheit. Es kommt uns seltsam vor, wenn wir daran denken, dass die Eltern und Großeltern, die doch so vertraut scheinen, ein Leben vor unserem Leben hatten, das für uns immer wildfremd bleiben muss. Und hier beginnt schon die Geschichte der Gesellschaft, denn jenseits der bloß blutsverwandtschaftlichen Stammesorganisation, die in der modernen Welt vollends auf die Kleinfamilie mit Dackel und in der postmodernen Version auf den Single als Gesellschaftsatom geschrumpft ist, mischt sich in die persönliche Geschichte der Generationen die kulturelle, politische und sozialökonomische Geschichte. Abgesehen davon, dass der Habitus, die Umgangsformen und die Klamotten der Vorvergangenheit immer zum Schreien komisch sind, wissen wir von den wirklichen Umständen so gut wie gar nichts mehr. Die Erzählungen sind bruchstückhaft und selber wieder von Verdrängungen gefärbt, so dass die Geschichte wahlweise als »die gute alte Zeit« oder umgekehrt als »die schlechten Zeiten« firmiert; oder als beides zusammen, denn um unaufgelöste Widersprüche ist der Alltagsverstand nie verlegen. Die »Ich war dabei-Geschichten sind so ziemlich die unzuverlässigsten.

 

Wie sich aber die einzelne Person selbst lebensgeschichtlich legitimiert, so erst recht die herrschende Struktur der Gesellschaft. In die persönlichen Erinnerungen dringen wie Ätzmittel die ideologische Selbstrechtfertigung und die offizielle, in den Schulbüchern kolportierte Geschichtsschreibung der bestehenden Machtverhältnisse ein, setzen das Denken unter Druck und drohen es aufzulösen. Zur persönlichen Selbstzensur addiert sich die gesellschaftliche. Weltmeister in dieser Hinsicht ist der moderne Kapitalismus. Noch keine Gesellschaft in der menschlichen Geschichte hat sich derart unverfroren als Absolutes gesetzt. Das totale Marktsystem färbt seine eigene Geschichte aber nicht bloß schön, sondern löscht sie sogar großenteils aus. Der »homo oeconomicus« lebt quasi im Zeithorizont eines kleinen Kindes; nämlich in einer ewigen Gegenwart von Markthandlungen, die alle auf derselben zeitlosen Ebene stattzufinden scheinen. Beschwört der konservative Geist die Geschichte, um sie im Namen der Autorität zu verfälschen, so verscherbelt der wirtschaftsliberale Geist die Geschichte wie Unterhosen, Kampfbomber, Fertigsuppen und andere Marktgegenstände, in die sich die erfahrbare Welt unterschiedslos verwandelt. Und war schon die mündliche Überlieferung mythologisch standardisiert, so enthistorisieren die kapitalistischen Medien die Geschichte selbst und lösen sie in die Ökonomie des Marktes auf.

 

Diese Methode ist ideologisch vorteilhafter als alle bloßen Geschichtsklitterungen. Denn die Beliebigkeit der bunten Warenwelt verschluckt jede objektive Wahrheit, und die so genannte Postmoderne ist ja folgerichtig nicht nur beim totalen Markt, sondern auch beim totalen Relativismus gelandet, also in einer Paradoxie. »Alles ist nur ein Film«. Somit entfällt jede kritische Reflexion über das historische Gewordensein »dessen, was ist«. Es »ist« einfach und damit Schluss. Für dieses Denken (oder vielmehr für diese Gedankenlosigkeit) kommt allerdings dem medialen oder ideologischen Schein genauso viel Tatsachengehalt zu wie dem realen Sein; genauer gesagt »scheint« es keinen Unterschied zwischen Realität und Inszenierung mehr zu geben. Die Lüge ist genauso wahr wie die Wahrheit, und somit leben wir mitsamt unserer demokratischen Freiheit längst in einer Orwellschen Welt.»1984« liegt ja auch schon hinter uns, nur hat es niemand bemerkt.

 

Während der einem zynischen Realismus verfallene Marktmensch sich einbildet, das aufgeklärteste Wesen der Welt zu sein, lässt er nahezu alles mit sich machen, nimmt die unglaublichsten Zumutungen fatalistischer hin als ein orientalischer Mystiker und lässt sich größeren Unsinn einreden als ein mittelalterlicher Bauer. Weil er jeden Maßstab verloren hat, kann er weiß und schwarz nicht mehr unterscheiden; und ob ihm etwas weh tut, muss er den Diagnosen von Experten oder der Statistik entnehmen. Erst dieser komplette, seiner kritischen Vernunft beraubte und entmündigte Idiot ist reif für eine flächendeckende Marktwirtschaft, an deren »Gesetze« er glauben darf wie der feudale Hintersasse an die Realexistenz von Hölle und Fegefeuer.

 

Der letzte kümmerliche Rest eines Maßstabs schien in der Nachkriegsgeschichte die Tatsache des Systemkonflikts zwischen Ost und West zu sein. Es war freilich ein allzu billiges Maß, an dem sich der kapitalistische Westen dabei selber messen konnte. Denn bekanntlich ging der bürokratische Staatssozialismus nirgendwo aus der Krisenreife eines kapitalistischen Systems hervor, sondern im Gegenteil aus einer Krise der »Unterentwicklung« an der Peripherie des Weltmarkts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Regimes der »nachholenden Modernisierung« im Osten und Süden nicht nur in einer lediglich anderen ideologischen Verkleidung die längst vergessenen und verdrängten westlichen Frühformen des Kapitalismus wiederholten, um eine moderne industrielle Warenwirtschaft im Schnelldurchgang aus dem Boden zu stampfen; sie ahmten auch bis zur Lächerlichkeit die Affekte und die Mythologie der bürgerlichen Revolutionen, die kapitalistischen Lebensformen und sogar noch das westliche Design nach. Der Osten war insofern von Anfang an keine historische Alternative, sondern immer nur eine gröbere, eher mickrige und auf halbem Weg stecken gebliebene Billigversion des Westens selbst. Die ökonomische und technologische Überlegenheit des westlichen Kapitalismus war nie mehr als diejenige eines älteren Bruders, der den jüngeren gewohnheitsmäßig zusammenschlägt und darauf auch noch stolz ist.

 

Nur die bis zur Vollendung gediehene Geschichtsblindheit machte es möglich, dass der Zusammenbruch des vorsintflutlichen Staatssozialismus als kapitalistischer Endsieg und als Endlösung der sozialen Frage ausgerufen werden konnte. Es erscheint heute mehr denn je als undenkbar, dass die gemeinsamen Geschäftsgrundlagen des modernen warenproduzierenden Systems, an denen sich die historischen Nachzügler ihrerseits von Anfang an messen lassen mussten, selber zum Auslaufmodell werden könnten. Zwar haben sich alle kapitalistischen Verheißungen seit 1989 als Luftblasen erwiesen. Die offenen Märkte des Ostens bescherten der westlichen Gesellschaft kein neues Wirtschaftswunder, sondern nur eine desperate Billiglohn-Konkurrenz. Und die Menschen des Ostens reiben sich ungläubig die Augen, weil sie feststellen müssen, dass noch die finstersten Ideologen des Kasernenkommunismus, deren Lügenpropaganda über die eigene Herrschaft doch so durchsichtig und jämmerlich gewesen war, die sozialen Defizite der westlichen Marktwirtschaft mit boshafter Präzision durchaus zutreffend beschrieben hatten.

 

Aber die Idee ist paralysiert, die utopischen Energien scheinen verbraucht. Nach dem Ende der Geschichte herrschen Verwirrung und innere Verhärtung. Die Hoffnung wird irre, weil sie keine Alternative mehr denken kann. Sogar der gemäßigte Reformismus bricht zusammen. Der Kapitalismus ist von der Kette und zeigt ein Gesicht, das ihm so bösartig viele nicht mehr zugetraut hätten. Eine wüste Konzeptheckerei hat begonnen, die mit einem absurden Billigvorschlag nach dem ändern aufwartet, um die schier unaufhaltsame sozialökonomische Krise auf dem Boden der »alternativlosen« Marktwirtschaft zu bannen. Die Selbstzensur des kapitalistischen Menschen, die wirksamer ist als jede Polizeibehörde, hat zum Ende des kritischen Denkens geführt. Nicht einmal die Subkultur ist mehr oppositionell.

 

Um eine neue, andere Alternative wieder denken zu können, muss zuerst die Geschichte rehabilitiert werden. Den scheinbar ahistorisch gewordenen Kapitalismus gilt es zu historisieren. Das ist heute keine Frage mehr, die sich auf das unverbindliche Reich des Gedankens beschränken könnte. In Wahrheit haben wir die historische Schmerzgrenze der Marktwirtschaft erreicht, deren ökonomischer Totalitarismus unerträglich zu werden beginnt. Während die letzten kalten Krieger immer noch von der »freien Welt« faseln, entpuppt sich das planetarische System des Kapitalismus als eine Gesellschaft, »die dabei ist, buchstäblich verrückt zu werden« (Oskar Negt). Das ist bekanntlich das Schicksal jeder Hybris. Eine Selbstheilung der Gesellschaft, eine Rückkehr auf den sozialen und ökologischen Boden der Tatsachen, eine Beruhigung des enthemmten und entgrenzten Fortschritts, ein erträgliches gesellschaftliches Leben und eine Grundgeborgenheit als Voraussetzung von Mitgefühl, generativer Verantwortung und ideeller Reflexion werden nur möglich sein, wenn dem absurd und gemeingefährlich gewordenen System der totalen Konkurrenz von atomisierten Individuen der Spiegel seiner eigenen Geschichte vorgehalten wird, damit die Selbsterkenntnis des kapitalistischen Menschen ein Ende des Kapitalismus ohne Schrecken erleichtert.

 

Nicht bloß vordergründig ist diese Geschichte vor allem eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Denn wenn »das Medium die Botschaft ist« (Marshall McLuhan), dann kann die Geschichte des modernen »homo oeconomicus« in der Tat nur die Geschichte seiner Ökonomie sein, die Geschichte der »Produktivkräftentwicklung«, die Geschichte der Konjunkturen, der Krisen und des abstrakten Geldreichtums. Mit der Gewaltsamkeit und den ungeheuren Potentialen dieser Geschichte kontrastiert ihre nicht weniger ungeheure Trivialität. Nachdem die existentiellen, metaphysischen und erkenntnistheoretischen Fragen der Menschheit durch die so genannten Marktgesetze erstickt worden sind, bleibt nur die triviale Metaphysik des Geldes übrig. Die Abenteuer sind zu Ende, denn in der totalen Banalität des Marktes gibt es nichts zu entdecken und nichts zu erleben. Da hilft kein Risikosport und kein Erlebnistourismus im Himalaya mehr. Der Held der Woche heißt z. B. Hartwig Piepenbrock, »Herr einer riesigen Putzkolonne« von 30000 Billiglohn-Schrubbern (Wirtschaftswoche 37/1996), dessen Lebensziel es ist, in der Billiglohn-Schrubber-Branche der Größte zu werden. Die historische Schmerzgrenze der Marktwirtschaft ist auch diejenige ihres Weltbildes, ihrer »Warenästhetik« (W. F. Haug) und der peinlichen Borniertheit des menschlichen Strebens.

 

Eine Schmerzgrenze ist folgenlos nicht überschreitbar. Jenseits dieser Grenze ist der Patient entweder tot oder ein anderer. Die überfällige Historisierung des Kapitalismus kann allerdings nicht mehr von den Binnenkonflikten der bisherigen Modernisierungsgeschichte ausgehen. Sie muss das Ganze in den Blick nehmen, d. h. aus der Analyse des Gewordenseins auf das Ende schließen. Die Ironie der Geschichte könnte es sein, dass für den Kapitalismus absoluter Triumph und Endkrise historisch zusammenfallen. Dass diese unerwartete Krise freilich ganz anders aussieht, als früher gedacht, ergibt sich aus dem Zerfall des bisherigen Bezugssystems selbst. Die gegenwärtige weltweite »Standort«-Debatte ist deswegen so grotesk, weil sie nicht realisieren will, dass das flächendeckende System marktwirtschaftlicher »Arbeitsplätze« sich heute selbst zerstört und unmöglich geworden ist. Natürlich verweist auch die Arbeitsplatzfrage auf die Geschichte. Die kapitalistische Industrialisierung, die im späten 18. Jahrhundert angestoßen wurde, tritt in das Stadium der Ausweglosigkeit ein. Es kann nur noch ein Abenteuer geben: die Überwindung der Marktwirtschaft jenseits der alten staatssozialistischen Ideen. Danach mag eine andere Geschichte beginnen.

"Die Mühlen des Teufels" - so "schwarz" ist der Kapitalismus!

(...) "Unter dem Diktat des betriebswirtschaftlichen Kalküls konnte die Erste industrielle Revolution die sozialen Katastrophen des Kapitalismus nicht mildern, sondern nur verstärken. Die Konkurrenz von billiger Sklavenarbeit des peripheren Agro-Kapitalismus und die Konkurrenz der arbeitsteiligen Staatsmanufakturen potenzierten sich durch die Konkurrenz des Maschinensystems. Schon die ersten Takte des neuen Industriezeitalters führten daher auch zu einer ersten technologisch forcierten, strukturellen Massenarbeitslosigkeit, wie sie heute auf viel höherer Stufenleiter erneut zu beobachten ist. Aber im frühen 19. Jahrhundert war diese Arbeitslosigkeit der Transformation des gerade erst entstehenden Industriesystems geschuldet und betraf vor allem die untergehenden handwerklichen Produzenten, die nun endgültig kapitulieren mussten. Außerdem konzentrierte sie sich auf den einen großen, immer noch paradigmatischen Produktionszweig der Textilindustrie, während in anderen Bereichen die alten Verhältnisse noch wesentlich länger aushielten.

 

Sowohl in England selbst als auch in ganz Europa wurde das gesamte Textilhandwerk durch die billige englische Fabrikware ruiniert. Die Goetheschen Spinner und Weber von 1820 hatten zu Recht schwarzgesehen, und auch noch der schlesische Weberaufstand von 1844 war indirekt durch die Maschinenkonkurrenz mitverursacht. Das gesamte Verlagswesen und damit die abhängige Heimindustrie schmolzen dahin und wurden durch Fabriken mit großen, immer häufiger dampfgetriebenen Maschinenaggregaten ersetzt. Aus der von den Verlegern ausgepressten »arbeitenden Armut« nach dem Muster der schlesischen und böhmischen Webersiedlungen wurden die vollständige Arbeitslosigkeit und die soziale Verödung ganzer Landstriche.

 

Die erste große Welle der Massenarbeitslosigkeit und vagabundierenden Armut war seit dem 16. Jahrhundert unter der ländlichen Bevölkerung durch die Konkurrenz der Sklavenhalter-Latifundien für den Weltmarkt und durch brutale Vertreibungsaktionen der Landlords wie in England entstanden, die Platz für ihre gewinnbringende Schafzucht brauchten. Die ruinierten und vertriebenen Landbewohner strömten in die Städte, vor allem nach London, und bildeten dort die Millionenarmee eines »arbeitslosen« sozialen Bodensatzes in wuchernden Slums (»Schlammvierteln «), durch die sich die Städte zu riesigen Agglomerationen aufblähten. Denselben Prozess finden wir heute überall in der Dritten Welt: Die einen werden zu Sklavenbedingungen auf die Weltmarkt-Plantagen gezwungen, die anderen wandern ab in die Slums der 10- und 20-Millionenstädte, die immer noch unaufhörlich weiterwachsen. Das Schreckensbild einer solchen »Dritten Welt« war damals London (und ist es heute unter dem neoliberalen Regime wieder geworden).

 

Mit der industriellen Revolution kam die zweite große Welle der Massenarbeitslosigkeit, die bald das gesamte Textilhandwerk erfasst hatte. Zu den Elendsmassen der ehemaligen Bauern gesellten sich nun die Massen der arbeitslosen ehemaligen Textilproduzenten; und durch die Konkurrenz auf den Märkten strahlte dieser Prozess in großem Maßstab auch auf den Kontinent aus. Nur ein Teil der Arbeitslosen fand im entstehenden Fabriksystem eine neue Existenz. Aber zu welchen Bedingungen! Die völlig entwurzelten Menschen mussten sich um jeden Preis verkaufen und wurden Arbeitsformen unterworfen, die jeder Beschreibung spotten. Neben den halbsklavischen Landarbeitern, Bettlern, Vagabunden, Insassen der Arbeits- und Armenhäuser und verslumten Gelegenheitsarbeitern entstand eine neue Kategorie von »arbeitenden Armen«: das Fabrikproletariat.

 

Nicht alle Intellektuellen zeigten sich dieser Erniedrigung des Menschen gegenüber so ignorant und zynisch wie die großen Aufklärungsphilosophen. Ungefähr zur selben Zeit, als die bürgerliche »Tugendmaschine« des Dr. Guillotin in Aktion trat und der liberale Gemütsmensch Bentham seine Kosten sparende Prügelmaschine entwarf, griff der englische Mystiker und Frühromantiker William Blake (1757-1827) den Alptraum des beginnenden Fabriksystems in dunklen Versen an:

 

Und schien einst Gottes Angesicht

Auf unsere bewölkte Flur?

Und wurde Jerusalem erbaut

Zwischen finstern Mühlen des Satans nur?

 

Die den modernen Philologen (und schon den »hochkulturellen« Zeitgenossen) oft als verstiegen erscheinende Lyrik Blakes war in Wirklichkeit, wie der englische Sozialhistoriker Edward P. Thompson bemerkt, »die einzigartige und unverfälschte Stimme einer langen Volkstradition« (Thompson 1987/1963, 57); und gerade die letzte Verszeile der obigen Gedichtstrophe erwies sich als ein Volltreffer: Die »Mühlen des Teufels« wurden als Bezeichnung für die Fabriken zum geflügelten Wort, das die vom Kapitalismus Erniedrigten und Beleidigten aus tiefstem Herzen nachempfinden konnten. Denn die »Arbeitsplätze« der Ersten industriellen Revolution waren in der Tat wahre Höllenlöcher. Die Maßlosigkeit des betriebswirtschaftlichen Kalküls erzwang gerade durch die arbeitssparenden Maschinen ein drakonisches Arbeitsregime, das bis zur totalen physischen Auspowerung der Arbeitenden ging. Dies betraf sowohl die direkten Arbeitsbedingungen als auch die allgemeinen Lebensbedingungen. Das privatkapitalistische industrielle Fabriksystem setzte die schlimmsten Erscheinungen des staatlichen Manufaktursystems fort, übertraf und verallgemeinerte sie.

 

Über die Fabrikhöllen der Ersten industriellen Revolution in England liegt eine Fülle von Dokumenten und Untersuchungen vor. Bis heute unübertroffen ist in dieser Hinsicht jenes Werk, das 1845 ein junger deutscher Intellektueller vorlegte: Als Sohn eines Wuppertaler Spinnereibesitzers hatte er einige Zeit geschäftlich in England verbracht und mit wachem Interesse die neue »Arbeiterfrage « des Fabriksystems aus eigener Anschauung studiert. Das Buch des 25-jährigen Friedrich Engels über »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« erregte nicht nur zeitgenössisches Aufsehen durch seine unbestechliche Sicht damaliger Fabrikverhältnisse, sondern bietet grundsätzliche Einsichten in die sozialen Zerstörungsmechanismen betriebswirtschaftlicher Rationalität überhaupt.

 

Ins Auge stechend sind natürlich besonders jene Aspekte der »Mühlen des Teufels«, die der westmitteleuropäische kapitalistische Normalmensch heute für überwunden hält und als böse Märchen aus einer schlimmen, aber lange vergangenen Zeit eher gelangweilt zur Kenntnis nimmt. Dies betrifft vor allem die Schrecken der unmenschlich langen Arbeitszeit, der Kinderarbeit und der Lebensbedingungen eines absoluten Elends. Hatte der Frühkapitalismus seit dem 16. Jahrhundert die Arbeitszeiten schrittweise immer mehr ausgedehnt, so kannte das industriekapitalistische Fabriksystem in dieser Hinsicht kein Halten mehr. Das betriebswirtschaftliche Kalkül trieb die tägliche Arbeitszeit auf 12,14,16 und teilweise sogar mehr Stunden hinauf, und die Kinder wurden dabei am allerwenigsten geschont. Der kannibalistische Kinderfraß der Marktwirtschaft verlagerte sich von der indirekten Form der aus der Gesellschaft herausgefallenen Bettelarmut (wie bei Swift) auf die direkte Verwurstung von Kinderkörpern in den Fabriken. Vor einer solchen Höllenfolter schreckten sogar die zur Untersuchung dieser Verhältnisse eingesetzten Kommissäre zurück, die eigentlich durchaus dem liberalen Unternehmertum wohl gesonnen waren. Engels zitiert aus einem einschlägigen Untersuchungsbericht des Kommissärs Dr. Loudon:

»Ich denke, es ist klar genug bewiesen worden, dass Kinder unvernünftig und unbarmherzig lange haben arbeiten und selbst Erwachsene ein Quantum Arbeit übernehmen müssen, das kaum irgendein menschliches Wesen aushärten kann. Die Folge davon ist, dass viele vor der Zeit gestorben, andere lebenslänglich mit einer fehlerhaften Konstitution behaftet worden sind [...]« (Engels 1976/1845, 381).

So sah also die soziale Wirkung der arbeitssparenden Maschinen in der »wohlfahrtssteigernden« marktwirtschaftlichen Praxis aus. Der maßlose Hunger der Kapitalmaschine nach abstrakten menschlichen Arbeitsquanten ließ wirklich keine Scheußlichkeit aus, wie der junge Engels voll Zorn feststellt:

»Und wenn man erst die Barbarei der einzelnen Fälle liest, wie die Kinder von den Aufsehern nackt aus dem Bette geholt, mit den Kleidern auf dem Arm unter Schlägen und Tritten in die Fabriken gejagt [...] wurden, wie ihnen der Schlaf mit Schlägen vertrieben, wie sie trotzdem über der Arbeit eingeschlafen, wie ein armes Kind noch im Schlaf, und nachdem die Maschine stillgesetzt war, auf den Zuruf des Aufsehers aufsprang und mit geschlossenen Augen die Handgriffe seiner Arbeit durchmachte, wenn man liest, wie die Kinder, zu müde, nach Hause zu gehen, sich im Trockenzimmer unter der Wolle verbargen, um dort zu schlafen, und nur mit dem Riemen aus der Fabrik getrieben werden konnten, wie viele Hunderte jeden Abend so müde nach Hause kamen, dass sie vor Schläfrigkeit und Mangel an Appetit ihr Abendbrot nicht verzehren konnten [...]; wenn man das alles und noch hundert andere Infamien und Schändlichkeiten in diesem einen Berichte liest, alle auf den Eid bezeugt, durch mehrere Zeugen bestätigt, [...] wenn man bedenkt, dass [...] die Kommissäre selbst auf Seiten der Bourgeoisie sind und alles das wider Willen berichten - so soll man nicht entrüstet, nicht ingrimmig werden über diese Klasse, die sich mit Menschenfreundlichkeit und Aufopferung brüstet, während es ihr einzig auf die Füllung ihrer Börsen ä tout prix ankommt?« (Engels, a.a.O., 388 f.)

 

Vielleicht hatte Engels noch nicht genug Bentham gelesen, um all das zu verstehen und für »natürlich « zu halten. Die Unmenschlichkeit war aber gerade deswegen so gnadenlos, weil sie nicht aus bloß subjektiver Bereicherungssucht herrührte, sondern aus den strukturellen Bedingungen von Konkurrenz und betriebswirtschaftlicher Rationalität, die auch noch den sanftesten Menschen durch die Wirkungen seines ökonomisch bestimmten Handelns zu einer Bestialität objektivieren, wie sie kein sadistischer KZ-Aufseher sich schlimmer auszudenken vermöchte.

 

Dass überhaupt Kinderarbeit in großem Maßstab »angewendet« werden konnte, war wiederum den Maschinen zu verdanken, die nicht nur an sich arbeitssparend waren, sondern auch menschliche Muskelkraft durch Dampfkraft ersetzten. Kinder sind nicht konkurrenzstark und wenig organisationsfähig. So folgte die Kinderarbeit ebenso wie die maßlose Verlängerung der Arbeitszeiten wie von selbst aus dem ökonomischen Kalkül, dessen Raffinesse nun erwachsene Männer dazu zwang, mit dem Billigpreis kindlicher Arbeitskraft konkurrieren zu müssen. Der Ruin der selbständigen Handwerker wurde dadurch ungeheuer beschleunigt, denn gegen die Kombination von Maschineneinsatz und billiger Kinderarbeit konnten sie nicht bestehen und ihre Erlöse fielen auf ein beschämendes Niveau unter dem Existenzminimum, wie eine Untersuchung über die Löhne der Textilarbeiter in Württemberg Anfang des 19. Jahrhunderts zeigt: »Ein württembergischer Handspinner verdiente danach bei einer Arbeitszeit von 6 bis 22 Uhr soviel wie ein Fabrikkind in einer Maschinenspinnerei bei 12- bis 14-stündiger Arbeitszeit und die Hälfte bis ein Drittel des Lohnes einer erwachsenen Fabrikarbeiterin« (Fischer 1992, 140).

 

In vielen Fällen wurden also erwachsene Männer arbeitslos, während Kinder und Frauen zu Niedriglöhnen in den industriellen Fabriken beschäftigt wurden. Und es ist Augenwischerei, solche Verhältnisse einer bloßen historischen Verirrung zuzuschreiben und heute für grundsätzlich überwunden zu halten. Dass es selbst in den westlichen Kernländern mehr als eines Jahrhunderts erbitterter Auseinandersetzungen bedurfte, um wenigstens die gröbsten Brutalitäten des Fabriksystems zu mildern, zeigt nur eines: dass nämlich der im ökonomischen Kalkül verankerte Liberalismus grundsätzlich und unabhängig von jedem subjektiven Empfinden dazu tendiert, die kapitalistischen Scheußlichkeiten der »Mühlen des Teufels« zu wiederholen, sobald er von der Kette ist. Die maßlose Verlängerung der Arbeitszeit und die maßlose Anwendung von Kinderarbeit ist relativ unabhängig vom technologischen Niveau in der Struktur betriebswirtschaftlicher Rationalität als solcher angelegt und kann jederzeit wieder hervorbrechen, solange diese Rationalität selber nicht durch einen emanzipatorischen Aufstand gegen die Marktwirtschaft zerstört wird.

 

In Wahrheit konnte die Kinderarbeit nur in wenigen historischen Gewinnerländern des Weltmarkts beseitigt werden (und selbst in diesen nur zeitweilig). Für den größten Teil der Menschheit haben die frühindustrielle Auspowerung der Arbeitskraft und insbesondere die Kinderarbeit mit allen ihren Schrecken niemals aufgehört; heute versucht man sich mit solchen Methoden an der kapitalistischen Peripherie gegenüber dem hohen Kapitaleinsatz der Zentren konkurrenzfähig zu halten.

 

Sobald das ökonomische Kalkül einmal anerkannt und axiomatisch geworden ist, tendiert das soziale Bewusstsein der Gesellschaft dazu, die Wirkungen zu beschönigen und nur noch verzerrt wahrzunehmen; nur die klügsten Köpfe des affirmativen Denkens zeigen durch offenen Zynismus, dass sie den Sachverhalt durchschauen. Die frühindustriellen Unternehmer sahen sich großenteils allen Ernstes als Wohltäter, die Bettelkinder von der Straße wegholen und einer »nützlichen« Vorsicht, Bentham Betätigung zuführen. Der liberale Management-Theoretiker Andrew Ure (1778-1857) wollte bei der Betrachtung der Kinder in den Teufelsmühlen folgende paradiesische Szenen gesehen haben:

»Es war entzückend (delightful), die Hurtigkeit zu beobachten, mit der sie die zerrissenen Fäden

wieder vereinigten, sowie der Mule-Wagen zurückging [...] Die Arbeit dieser flüchtigen (lively) Elfen schien einem Spiel zu gleichen, worin ihnen ihre Übung eine gefällige Gewandtheit gab« (zit. nach Engels, a.a.O., 390).

 

Nicht viel anders ist die Betrachtungsweise heute in der kapitalistischen Peripherie - und indirekt auch bei den westlichen Wohltätigkeitsorganisationen, die allesamt nicht im Traum daran denken, die Marktwirtschaft und das ihr inhärente ökonomische Kalkül anzugreifen. Seitdem dieses System nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus vermeintlich »alternativlos« geworden ist, hat sich sogar bei christlichen Kinderhilfswerken eine ebenso erstaunliche wie konformistische ideologische Wendung vollzogen. Die industrielle Kinderarbeit in den Ländern der kapitalistischen Peripherie wird nun mit fast denselben Argumenten wie seitens der frühindustriellen Unternehmer grundsätzlich gerechtfertigt; und zwar sei die Alternative ja doch nur Bettelei, Prostitution und noch größere Verelendung der Familien. Nur innerhalb der Marktwirtschaft ist das richtig, aber wer kann eine solche Alternative hinnehmen, ohne sich vollständig zu diskreditieren? Die Hilfsorganisationen lassen sich also von liberalen »Experten« nur allzu willig an der Nase herumführen, dozieren als marktwirtschaftliche Musterschüler altklug über »ökonomische Notwendigkeiten« und orientieren nur noch auf eine (blauäugig für machbar gehaltene) Milderung und soziale Verbesserung der globalen Kinderarbeit, die sich übrigens auch heute im Wesentlichen noch auf die Textilindustrie konzentriert. Damit beweisen diese Organisationen ungewollt, dass jede grundsätzliche Akzeptanz der Marktwirtschaft als allgemeiner Form der Reproduktion noch den überzeugtesten Gutmenschen vollautomatisch in ein objektiviertes Scheusal des Kapitals verwandelt, das in Benthamscher Gemütsruhe am »Glück« der Menschheit zu basteln glaubt.

Und weil sich die »Mühlen des Teufels« für Millionen von Kindern Tag für Tag weiterdrehen und ein Ende dieser Hölle nur durch die Verbindung der Hilfstätigkeit mit radikaler Kritik der kapitalistischen Produktionsweise und ihres Marktsystems zu haben wäre, diese aber verweigert wird - trifft jenes Wort von Terroristen jeglicher Couleur, die irrational auf die irre Vernunft der Aufklärung reagieren, als Bumerang dieser Vernunft ins Schwarze: »Es gibt keine Unschuldigen«. Die Bombe, die den zufälligen Passanten in Stücke reißt, ist ebenso sinnlos wie das unaufhörliche marktwirtschaftliche Verheizen von Kinderfleisch, für das der Passant keine persönliche Verantwortung trägt, an dem er aber besinnungslos immer schon beteiligt ist. Wenn die gesellschaftliche Maschine solche Wirkungen hervorbringt, ruft der junge Engels in seinem ersten Buch aus, »so ist das ebenso gut Mord wie die Tat des einzelnen, nur versteckter, heimtückischer Mord, ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch wieder niemand dieser Mörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht und weil er weniger eine Begehungssünde als eine Unterlassungssünde ist. Aber er bleibt Mord« (Engels, a.a.O., 325).

 

Es ist aber keineswegs bloß die im Weltmaßstab bis heute nicht überwundene und dem ökonomischen Kalkül wesenseigene Maßlosigkeit der Arbeitszeiten und der Kinderarbeit, die den Charakter der »Mühlen des Teufels« ausmacht. Selbst wenn die Arbeitszeit ein wenig verkürzt und die Kinderarbeit abgeschafft würde, blieben jene an ihr selber unaufhebbaren Momente der Betriebswirtschaft zurück, die Karl Marx mit dem allgemeinen Begriff der »Entfremdung« bezeichnet hat: Wer Geld verdienen muss in den »dark satanic mills«, der muss sich selber fremd werden, ohne es am Ende überhaupt noch zu merken. Das ist ein keineswegs schwer einsehbarer Sachverhalt. Denn der objektivierte Selbstzweck der Kapitalverwertung entzieht den Lohnarbeitern ebenso wie dem Management jegliche Selbstbestimmung über das Zweck-Mittel-Verhältnis ihrer Tätigkeit. Erst das Auseinanderfallen von Produktion und Konsumtion, die anonyme Tätigkeit für den anonymen Markt ohne bewusste Verständigung über den inhaltlichen Sinn und Zweck, getrieben von den Zwängen der Konkurrenz, macht die Tätigkeit aller Beteiligten zur »abstrakten Arbeit«. »Der Arbeiter«, so schrieb der 28-jährige Emigrant Karl Marx 1844 in sein Pariser Notizbuch, »fühlt sich erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich« (Marx 1968/1844, 55). Und der junge Engels brachte in seinem ein Jahr später erschienenen Buch erstmals das Lebensgefühl auf den Punkt, das den geldverdienenden Arbeitsmenschen bis heute niemals losgelassen hat, auch wenn es ins Unbewusste gerutscht ist:

»Nichts ist fürchterlicher, als alle Tage von morgens bis abends etwas tun zu müssen, was einem

widerstrebt. Und je menschlicher der Arbeiter fühlt, desto mehr muss ihm seine Arbeit verhasst sein, weil er den Zwang, die Zwecklosigkeit für sich selbst fühlt, die in ihr liegen. Weshalb arbeitet er denn? Aus Lust am Schaffen? Aus Naturtrieb? Keineswegs. Er arbeitet um des Geldes, um einer Sache willen, die mit der Arbeit selbst gar nichts zu schaffen hat [...]«(Engels, a.a.O., 346).

 

Die Fabrik und das Büro werden zu einem funktionalistischen Raum der abstrakten Zeit und der abstrakten Tätigkeit, getrennt von allen eigenen Lebensäußerungen. Schon der Zuschnitt der Räume und die Art, wie die Maschinen ausgelegt werden, stehen unter dem Bann des objektivierten Zwangs, dessen Exekutor die Konkurrenz ist. Ich habe oft in Fabriken gearbeitet und immer wieder bemerkt, wie vor allem Frauen (ihrer antrainierten Geschlechtsrolle entsprechend, die sie für das gemütvolle Herrichten des »Heims« konditioniert) auf rührende Weise versuchen, irgendein Moment von »Gemütlichkeit« in die Teufelsmühle hineinzuschmuggeln, z. B. durch das Aufhängen eines Adventskranzes in einer Maschinenhalle. Dadurch wird freilich die un-menschliche Gestalt des kapitalistischen Funktionsraums nur umso grotesker hervorgehoben.

 

Hier ist nichts dem Charakter gesellschaftlicher Tätigkeit an sich geschuldet, sondern alles der Zurichtung für den Selbstzweck des Geldes. Und weil die Entmenschlichung des Funktionsraums nicht von selbst aus dem bloßen Zusammenwirken von Menschen entspringt, findet in dieser Hinsicht ein mehr oder weniger versteckter Kampf zwischen »Beschäftigten« und Management statt, dessen Geschichte noch nicht geschrieben ist. Ein Bekannter aus der Ex-DDR hat mir erzählt, wie es den Arbeitern einer Spielzeugfabrik in Thüringen ergangen ist, die sich Wunder von der DM erhofften und dann ihr blaues Wunder erlebten: Abgesehen davon, dass die Hälfte der Belegschaft schlagartig auf die Straße flog, wurden dem verbliebenen Rest als erstes ihre kleinen Kaffee-Kochstellen und »Plaudernischen« als »efflzienzstörend« entfernt und die bis dahin selbstverständliche Benutzung von Werkzeug für persönliche Zwecke verboten.

 

Es wäre ein leichtes, eine Sammlung von Aushängen, Abmahnungen und Reglements zusammenzustellen, die alle dasselbe belegen, nämlich den direkten und indirekten Druck auf die »Beschäftigten«, sich als Menschen in der kapitalistischen Funktionszeit unsichtbar zu machen, sich möglichst restlos in Verausgabungsmaschinen von Energie zu verwandeln und somit »in der Arbeit außer sich« zu sein. Engels zitiert z. B. aus einem englischen Fabrikreglement: »Jeder Arbeiter, der mit einem ändern sprechend, der singend oder pfeifend betroffen wird, entrichtet [...] Strafe. Wer während der Arbeit von seinem Platze geht, ebenfalls« (a.a.O., 399). Ganz ähnliche Vorschriften finden sich in der deutschen Industrialisierungsgeschichte. Überall war der kapitalistische »Erziehungsanspruch « dem Menschenmaterial gegenüber mit einem System von Fabrikstrafen verbunden, d. h., es gab Lohnabzüge für »Verfehlungen« aller Art. Überliefert ist etwa das »Rothe Strafbuch« der 1817 gegründeten ersten deutschen Maschinenfabrik Koenig und Bauer bei Würzburg. Mit Geldstrafen zwischen 8 Pfennig und 20 Groschen und Namensnennung bestraft wurden Arbeiter u. a. wegen folgender »Delikte«:

»Zu Zweit auf Abtritt gewesen; Wegen angeblichem Bohrersuchen herumgelaufen; War Montag

früh krank, ist übrigen Tag auch nicht gesund; Wegen Schimpferei des Herrn Pfarrer auf Landgericht vorgeladen; Wegen Schmuserei; Wegen Heiraten, 12 Stunden gefehlt, auch noch verschlafen; Wegen kindischer Streiche; Wegen Unfolgsamkeit; Wegen Schlägerei im Wirtshaus; Einen Obstputzen durchs Fenster geworfen; Wegen Vorwitz; Bei der Arbeit geschlafen« usw. (zit. Nach Deneke 1987,113 f.).

 

Und in der »Allgemeinen Fabrikordnung der Gelatine-Fabriken von Carl Simeons« in Höchst aus dem Jahr 1869 heißt es unter anderem:

»Es ist keinem Arbeiter gestattet, sich durch Verwandte oder Fremde Erfrischungen in die Fabrik

bringen zu lassen [...] Es ist den Arbeitern untersagt, sich mit Fremden in irgendwelche Gespräche einzulassen [...] Es ist keinem Arbeiter gestattet, ohne besondere Erlaubnis nach Beendigung der Arbeit oder während der Ruhestunden in den Fabriklokalitäten zurückzubleiben [...] In allen Arbeitszimmern und Werkstätten soll stets Ruhe und Stille herrschen, es darf nicht gepfiffen, gesungen und unnötiges Geschwätz geführt und kein Handel getrieben oder Spiele gespielt werden« (zit. nach Eiler 1984,264!.).

 

Auch heute noch gibt es eine Fülle von an sich irrationalen Vorschriften dem Wesen nach ähnlicher Art (wenn auch inzwischen in einer mehr abstrakt-allgemeinen Form), die denselben Charakter der Zurichtung und Fremdbestimmung als Hintergrund haben. Vieles muss nicht einmal extra kodifiziert sein. Ich habe es oft erlebt, wie Vorarbeiter und Meister, die »Unteroffiziere des Kapitals« (Marx), unruhig werden, wenn sich jemand »während der Arbeitszeit« hinsetzt, Zeitung liest oder herumalbert; selbst dann, wenn gar nichts zu tun ist, eine Materialstockung eintritt oder eine Maschine neu eingestellt werden muss.

 

Neuere und postmoderne Management-Konzepte, die vorgeblich den Selbstzweck des Kapitals gerade durch ein gesteigertes Wohlbefinden der Produzenten befeuern wollen, haben allesamt etwas Verkrampftes und Unwahrhaftiges an sich. Da der Zweck der Veranstaltung den Menschen an sich äußerlich ist, können sie »in der Arbeit« nur »bei sich« sein, insofern sie aufhören, Menschen zu sein, und den fremden Selbstzweck des Geldes verinnerlichen. Der funktionalistischen Reduktion ist damit natürlich nicht zu entkommen. Wenn etwa die Farben der Wände nach »psychologischen Erwägungen« ausgewählt werden, um (angeblich) die Leistung zu steigern, dann wird damit die Abrichtung des Menschenmaterials nur verfeinert. Dasselbe gilt für Formen einer »Enthierarchisierung «, die einzig und allein den Zweck haben, die Menschen nach Bentham-Muster dahin zu bringen, dass sie zu ihren eigenen Aufsehern und Antreibern werden.

 

Dass es im Staatssozialismus der DDR ganz ähnliche Zurichtungsbegriffe gab, verweist wiederum auf die innere Verwandtschaft der warenproduzierenden modernen Gesellschaftsformationen. Die staatssozialistische Kategorie der »Arbeitszufriedenheit«, in deren Namen Betriebspsychologen auf die »Beschäftigten« losgelassen wurden, ist geradezu der Beweis für die Anwesenheit von Entfremdung, die untrennbar von abstrakten Verwertungsprozessen ist; egal, ob diese mehr durch den blinden Konkurrenzmechanismus oder mehr staatsbürokratisch exekutiert werden. Unfreiwillig hat allerdings die staatsbürokratische Administration »in der Arbeit« offenbar mehr Lücken für persönliche Nischen des Menschenmaterials gelassen als der stumme Totalzwang der Konkurrenz im westlichen Kapitalismus. Dies wurde von den westlichen Ideologen als »mangelnde Effizienz« ausgelegt. Der Staatssozialismus wurde damit an dem Maß gemessen, das er sich in der gesellschaftlichen Form eines warenproduzierenden Systems selber auferlegt hatte.

 

Es ist leicht erkennbar, dass in den »Mühlen des Teufels« der Traum eines gemeingefährlichen Irren wie Bentham endlich gesellschaftlich verallgemeinert wurde. Aus den Staatsmanufakturen, Weltmarkt-Sklavenplantagen, Arbeitshäusern und Irrenanstalten, in denen die »abstrakte Arbeit« zuerst eingeübt wurde, trat der Ausnahmefall für Delinquente nun in den gesellschaftlichen Normalzustand über. Alle Elemente des Benthamschen Panopticon finden sich im Fabriksystem wieder. Schon der Ausdruck »Beschäftigte« für das Menschenmaterial verweist auf den Ursprung der Fabrik- und Büroarbeit in den Zucht- und Irrenhäusern des 18. Jahrhunderts mit ihren Tretmühlen und ausgeklügelten Arbeitsfoltermaschinen, die nun, potenziert durch die Dampfkraft, über die gesamte Menschheit herfallen und sie der von Bentham geforderten kapitalistischen »Nützlichkeit« zuführen konnten. In England nannte man das solcherart ausgenutzte Menschenmaterial bezeichnenderweise »hands« (Hände), was die Reduktion der Individuen auf Verausgabungseinheiten von Arbeitskraft deutlich macht.

 

Das panoptische Wahnsystem Benthams konnte sich sedimentieren in den Maschinenaggregaten des Kapitals und somit als technische Objektivität und Voraussetzung des menschlichen Lebens in Erscheinung treten. Denn das war es ja, was Bentham gewollt hatte: Die kapitalistische Zumutung sollte sich entsubjektivieren in dinglichen Strukturen, um gerade dadurch zur Verhaltensspur des »inneren Menschen« zu werden; und was wäre dafür über die architektonische und organisatorische Zurichtung hinaus besser geeignet gewesen als eine Matrix von technischen Abläufen, die sich unschuldig als eine zweite materielle Natur darzustellen vermögen? Der Selbstzweck der kapitalistischen Weltmaschine konnte so aus einer sozialökonomischen Apparatur in eine buchstäblich technische übersetzt werden, die ihre Gewalt hinter angeblichen »Notwendigkeiten« der gesteigerten Produktivkräfte selber versteckt. Einem zeitgenössischen Management-Guru wie Andrew Ure war dies durchaus bewusst, im Unterschied zu so manchen späteren Sozialisten. 1835 schrieb er in seinem Buch The philosophy of manufactures in schöner Offenherzigkeit über die Anordnung bei den Spinnmaschinen des Erfinder-Unternehmers Arkwright:

 

»Meiner Ansicht nach war das Hauptproblem Arkwrights nicht so sehr, einen selbsttätigen Mechanismus zu erfinden, der die Baumwolle herausziehen und einen fortlaufenden Faden einflechten konnte, als vielmehr [...] den Leuten ihren unsteten Arbeitstag abzugewöhnen und sie dazu zu bringen, sich mit der unveränderlichen Ordnung eines komplexen Automaten zu identifizieren. Es ging darum, ein System der Fabrikdisziplin zu planen und zu verwalten [...] Es erforderte wirklich einen Mann von der Nervenkraft und dem Ehrgeiz eines Napoleon, um mit dem widerspenstigen Charakter von Arbeitern fertig zu werden, die bis dahin nur ihren unregelmäßigen Anfällen von Arbeitslust gehorcht hatten« (zit. nach: Eimer 1984,153).

 

Erst mit dem kapitalistischen Maschinensystem war der letzte Schritt getan, um die Reduktion des Menschen und seiner Gesellschaftlichkeit auf einen toten Funktionsmechanismus zu vollenden, auch wenn diese Vollendung dann auf dem Boden des kapitalistischen Industrialismus selber noch einmal eine lange Entwicklung durchmachen sollte. 1845 beschreibt Friedrich Engels die Anfänge dieser letzten Transformation.

 

»Die Beaufsichtigung der Maschinen, das Anknüpfen zerrissener Fäden ist keine Tätigkeit, die das Denken des Arbeiters in Anspruch nimmt, und auf der anderen Seite wieder derart, dass sie den Arbeiter hindert, seinen Geist mit ändern Dingen zu beschäftigen [...] Dazu kann er keinen Augenblick abkommen - die Dampfmaschine geht den ganzen Tag, die Räder, Riemen und Spindeln schnurren und rasseln ihm in einem fort in den Ohren [...] Der Arbeiter muss morgens um halb sechs in der Fabrik sein [...] Er muss auf Kommando essen, trinken und schlafen [...] Die despotische Glocke ruft ihn aus dem Bette, ruft ihn vom Frühstück und Mittagstisch« (Engels, a.a.O., 397 ff.).

 

Die Unmenschlichkeit dieser »Arbeit« scheint sich jedoch aus der technischen Produktivkraft selbst zu ergeben; und an dieser Stelle stutzt Engels, der sich nicht gegen die modernen Produktivkräfte aussprechen und versündigen will, um sich dann gewissermaßen argumentativ seitwärts in die Büsche zu schlagen:

»Man wird mir sagen, solche Regeln seien notwendig, um in einer großen, geordneten Fabrik das nötige Ineinandergreifen der verschiedenen Manipulationen zu sichern; man wird sagen, eine solche strenge Disziplin sei hier ebenso notwendig wie bei der Armee - gut, es mag sein, aber was ist das für eine soziale Ordnung, die ohne solche schändliche Tyrannei nicht bestehen kann? Entweder heiligt der Zweck das Mittel, oder der Schluss von der Schlechtigkeit des Mittels auf die Schlechtigkeit des Zwecks ist ganz gerechtfertigt« (Engels, a.a.O., 400).

 

Hier erscheint erstmals zögernd und noch in negativer Formulierung jene Metapher von den »Armeen der Arbeit«, die wenig später im »Kommunistischen Manifest« schon positiv besetzt wurde: Es kündigt sich eine Lebenslüge des späteren Marxismus an, die schließlich zu seinem »Umkippen« in eine selber repressive Modernisierungsideologie führen sollte. Der junge Engels schaudert hier noch vor einer solchen Perspektive zurück, aber sie drängte sich schon unwiderstehlich auf, weil die in den Maschinen materialisierte soziale Abstraktion des Kapitals begrifflich nicht von den neuen Produktivkräften als menschlicher Potenz getrennt werden konnte.

 

Das intellektuelle Milieu, das Engels vorfand und in dem er sich (nicht nur in England) bewegte, hatte auch unter dem neuen Vorzeichen des »Sozialismus«, in den sich der konsequentere Teil der bürgerlichen Philanthropie zu verwandeln begann, durchaus die liberale Doktrin der »Arbeitszucht « und der Unterwerfung eines Menschenmaterials unter die Maschine abstrakter Wertproduktion verinnerlicht; nur sollte diese Disziplinierung für den fremden Gott der »abstrakten Arbeit« auf menschenfreundlichere Weise gestaltet werden. In aller Unschuld feiert Engels die einschlägige »Bildungsarbeit« eines liberal-sozialistischen Amalgams, unter dessen Ideengebern kein anderer als der nützlichkeitsphilosophische Menschenfreund und Arbeitszuchthaus-Ideologe Jeremy Bentham hervorsticht:

»Die beiden größten praktischen Philosophen der letzten Zeit, Bentham und Godwin, sind [...] fast ausschließliches Eigentum des Proletariats; wenn auch Bentham unter der radikalen Bourgeoisie eine Schule besitzt, so ist es doch nur dem Proletariat und den Sozialisten gelungen, aus ihm einen Fortschritt zu entwickeln. Das Proletariat hat sich auf diesen Grundlagen eine eigene Literatur gebildet, die meist aus Journalen und Broschüren besteht [...]« (Engels, a.a.O., 455).

 

So begegnet man sich wieder. Zugunsten des jungen Engels muss gesagt werden, dass er 1845 die Schriften und somit die wahren Absichten Benthams kaum oder nur bruchstückhaft gekannt haben dürfte. Das geht auch daraus hervor, dass er sich in seinem Buch wenige Seiten später über die Einrichtung und die Verhältnisse der so genannten Arbeitshäuser für arbeitslose Arme empört:

»Selbst die Diät der Gefängnisse ist durchgehend besser, so dass die Bewohner des Arbeitshauses häufig irgendein Vergehen absichtlich sich zuschulden kommen lassen, um nur ins Gefängnis zu kommen. Denn auch das Arbeitshaus ist ein Gefängnis; wer sein Quantum Arbeit nicht tut, bekommt nichts zu essen, wer herausgehen will, muss erst um Erlaubnis bitten, die ihm je nach seinem Betragen oder der Meinung, die der Inspektor davon hat, verweigert werden kann [...] die Paupers tragen eine Arbeitshaus-Uniform und sind der Willkür des Inspektors ohne Schutz überliefert [...] Im Arbeitshause zu Greenwich wurde im Sommer 1843 ein fünfjähriger Knabe drei Nächte zur Strafe in die Totenkammer gesperrt, wo er auf den Deckeln der Särge schlafen musste. Im Arbeitshause zu Herne geschah dasselbe mit einem kleinen Mädchen [...] Dies Arbeitshaus, das in einer der schönsten Gegenden von Kent liegt, zeichnet sich auch dadurch aus, dass alle Fenster nach innen, nach dem Hofe zu gehen [...]«(a.a.O., 497f.).

 

Offenbar ohne es zu wissen, beschreibt Engels hier das Benthamsche Panopticon, dessen organisatorische und architektonische Realität zu dieser Zeit bereits eine Selbstverständlichkeit geworden war. Aber die Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, auch wenn natürlich durch diesen merkwürdigen Bezug das aufrüttelnde Buch von Engels und die Wahrheit seiner Darstellung nicht beeinträchtigt wird. Marx und Engels sind später oft und mit großem Recht über die seichten Duseleien des »kleinbürgerlichen Sozialismus« hergefallen und haben stets die liberalen

Scheußlichkeiten gegeißelt, ohne jedoch die kapitalistische Verfasstheit der neuen Produktivkräfte auch auf der technologischen und organisatorischen Ebene (sozusagen auf der Bentham-Ebene) kritisch zu durchdringen. Indem so die repressive Ideologie von den »Armeen der Arbeit« gedeihen konnte, finden wir hier ein frühzeitiges ebenso unbewusstes wie untergründiges Andocken des Sozialismus an den Liberalismus." (...)

 

 

Epilog

 

Menschen, die gerade unter dem Diktat der kapitalistischen »Selbstverantwortung« jeder Selbstbestimmung über das eigene Leben beraubt und eigentlich selber nichts mehr sind, fragen unvermeidlich nach einem »Rezept«, wenn sie sich der Ausweglosigkeit ihrer Daseinsweise überführt sehen. Damit beweisen sie nur, dass sie selbst die Überwindung des Kapitalismus noch in kapitalistische Kategorien einbannen wollen. Denn ein »Rezept« setzt bereits voraus, dass die anzustrebende Selbstbestimmung nach vorgefertigten Mustern einer äußerlichen Instanz abzulaufen hat, also sich selber dementiert. Was sich angeben lässt, sind nicht »Rezepte« nach einem sozialen Baukastensystem (das wäre nichts als Sozialtechnologie, die ihren Ort nur im Kapitalismus haben kann), sondern vielmehr Kriterien der Emanzipation. Die »böse Horizontale« fängt nicht mit dem Abspulen eines vorgedachten Programms an, sondern mit der sozialen Rebellion gegen die unverschämten Zumutungen von »Marktwirtschaft und Demokratie«.

 

Radikale theoretische Kritik und Rebellion müssen zusammenkommen, nicht schwächelnde »Ethik« und der Ruf nach einer »gerechten« demokratischen Menschenverwaltung. Der Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« gehört zum Plastikwortschatz der Medienpolitiker und damit zum Diskurs der demokratischen Krisenverwaltung. Nicht etwa die Befreiung der Reichtumsproduktion von den absurden kapitalistischen Restriktionen ist damit angesagt, sondern die »gerechte« protestantische Zuteilung der Notrationen gerade unter diesem pseudo-naturgesetzlichen Diktat. So forderte im Juli 1999 der so genannte »Duisburger Appell« einer Initiative »Verzicht für alle!«, angestoßen bezeichnenderweise vom protestantischen »Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt«, allen Ernstes »Nullrunden auch für Spitzenverdiener« - der »geplante Anschluss der Arbeitnehmer an den Verzicht der Rentner« müsse »ergänzt werden durch die Solidarität aller anderen« (Nürnberger Nachrichten, 30.7.1999). Es ist eine schlichtweg närrische Idee, auf die gesellschaftliche Naturkatastrophe des Kapitalismus mit einer bloß negativen »Solidarität« zu reagieren, als handle es sich um die Heimsuchung eines zürnenden Gottes, der durch allgemeinen »Verzicht« besänftigt werden könnte. Ganz abgesehen davon, dass dieser »Verzicht« ökonomisch völlig sinnlos ist (es würde damit unter den Bedingungen der Dritten industriellen Revolution Geld nicht vom Konsum in reale Investitionen umgelenkt, sondern immer nur in die spekulative Blase), deuten solche Initiativen darauf hin, dass nach dem angeblichen »Tod der Kritik« die bis zum Überdruss wiedergekäute Ethik nur noch in Albernheit umschlagen kann, statt eine Widerstandslinie gegen die offene Barbarei zu ziehen.

 

Aber auch im positiven Sinne einer monetären »Umverteilung« ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen; der Keynesianismus hat sich objektiv verbraucht und kann erst recht nicht durch moralische Appelle wieder belebt werden: Umverteilungsethik ist genauso sinnlos geworden wie Verzichtsethik. Der ganze ethische Zirkus, dessen Aufführungen in den 90er Jahren immer idiotischer geworden sind, hat ja die bedingungslose Unterwerfung unter die herrschende kapitalistische Form der Gesellschaft zur stillen Voraussetzung. Deshalb können ethische Leitbilder sozialen Handelns auch nur in der Fetischform des Geldes gedacht werden, die als allgegenwärtiges Selbstzweck-Medium den gesellschaftlichen Raum erfüllt. Aber selbst wenn alle Milliardäre Teile ihres Geldvermögens an die Armen dieser Welt abgeben müssten, käme dabei für jeden einzelnen von einer Milliarde hungernder Menschen vielleicht nicht einmal eine Handvoll Reis heraus. Das Problem ist nicht die »Gerechtigkeit« in der herrschenden gesellschaftlichen Form, sondern eben diese Form selber.

 

Die Aufgaben, die gelöst werden müssen, sind von geradezu ergreifender Schlichtheit. Es geht erstens darum, die real und in überreichem Maße vorhandenen Ressourcen an Naturstoffen, Betriebsmitteln und nicht zuletzt menschlichen Fähigkeiten so einzusetzen, dass allen Menschen ein gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet wird. Unnötig der Hinweis, dass dies längst mit Leichtigkeit möglich wäre, würde die Organisationsform der Gesellschaft diesen elementaren Anspruch nicht systematisch verhindern. Zweitens gilt es, die katastrophale Fehlleitung der Ressourcen, soweit sie überhaupt kapitalistisch mobilisiert werden, in sinnlose Pyramidenprojekte und Zerstörungsproduktionen zu stoppen. Unnötig zu sagen, dass auch diese ebenso offensichtliche wie gemeingefährliche »Fehlallokation« durch nichts anderes als die herrschende Gesellschaftsordnung verursacht ist. Und drittens schließlich ist es erst recht von elementarem Interesse, den durch die Produktivkräfte der Mikroelektronik gewaltig angeschwollenen gesellschaftlichen Zeitfonds in eine ebenso große Muße für alle zu übersetzen statt in »Massenarbeitslosigkeit « einerseits und verschärfte Arbeitshetze andererseits.

 

Es hat die Züge eines verrückten Märchens, in dem das Absurde normal und das Selbstverständliche ganz unverständlich erscheint, dass das, was offen auf der Hand liegt und eigentlich gar nicht erwähnt zu werden braucht, im gesellschaftlichen Bewusstsein vollständig verdrängt worden ist, als wäre darüber ein Zauberbann ausgesprochen worden. Trotz der geradezu schreiend evidenten Tatsache, dass ein auch nur einigermaßen sinnvoller Einsatz der gemeinsamen Ressourcen mit der kapitalistischen Form völlig unvereinbar geworden ist, werden nur noch »Konzepte« und Vorgehensweisen diskutiert, die genau diese Form voraussetzen.

 

Es handelt sich weder um ein materielles noch um ein technisches oder organisatorisches Problem, sondern allein um eine Bewusstseinsfrage. Um zivilisatorisch überleben zu können, muss die Menschheit die Gehirnwäsche des Liberalismus und seines Bentham-Systems abschütteln, also gewissermaßen die verinnerlichten Zwänge und Zumutungen der blinden Geldmaschine wieder herauswürgen, um sich überhaupt unbefangen dem Verhältnis von vorhandenen Ressourcen und ihrer vernünftigen gesellschaftlichen Anwendung stellen zu können. Das würde bedeuten, die herrschenden gesellschaftlichen Formen, Kategorien und Kriterien nicht mehr in irgendeiner anderen Kombination gruppieren zu wollen, sondern sie schlicht abzuschaffen. Der gesamte Betrieb von abstrakter »Arbeit«, betriebswirtschaftlicher Rationalität, Wachstumszwang und Marktwirtschaft, die gesellschaftliche Reproduktion über »Arbeitsmärkte« unter dem leitenden Selbstzweck des Geldkapitals und seiner »Verwertung« - dieser unhaltbar gewordene ganze Systemzusammenhang kann nur noch stillgelegt werden. Es bedarf eines weltweiten sozialökonomischen »Maschinensturms « gegen die in Wahrheit grauenhaft hässliche Weltmaschine des Kapitals, um sie zum Stehen zu bringen und zu verschrotten, bevor sie vollends in die Luft fliegt und die Reste menschlicher Zivilisation mit sich ins Verderben reißt.

 

Die Aufgabe gleicht derjenigen eines abergläubischen »Wilden« (und der wahre »Wilde« ist der kapitalistisch domestizierte, moderne Mensch), der sein Leben nur retten kann, wenn er ein tiefsitzendes, völlig unsinniges Tabu bricht. Dieses Tabu ist der geheiligte Dreischritt von abstrakter »Arbeit« (Warenproduktion für anonyme Märkte), Geldeinkommen und Warenkonsum gemäß »Kaufkraft«. Der gordische Knoten des »Geldrätsels« kann nicht aufgeknotet, sondern nur gewissermaßen mit dem Schwert durchschlagen werden. Von diesem Tabubruch ist natürlich weit und breit nichts zu sehen. Wie die Menschen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts oft lieber verhungerten, als sich unter das Diktat der Geldmaschine zu beugen, so verhungert anscheinend heute das domestizierte Menschenmaterial dieser Maschine lieber, als dass es seine eingedrillte fetischhafte Geldsubjektivität abschüttelt. Die Kritik des als Kapital zum Selbstzweck gewordenen Geldes, dieses blendenden Scheins gesellschaftlicher Paranoia, ist dennoch in der Krise als Gespenst anwesend. Anders ist es nicht zu erklären, dass die beiden Ökonomen des »Club of Rome«, Orio Giarini und Patrick M. Liedtke, ihre Zwangs-arbeits- und Billiglohnprojekte in einer merkwürdigen Passage gegen einen völlig unsichtbaren Gegner verteidigen:

 

»Von einer Rückkehr zu den alten Utopien des vergangenen Jahrhunderts oder zu neuen, die von einer geldlosen Gesellschaft träumen, kann überhaupt nicht die Rede sein. Geld war eine der wesentlichen Schöpfungen der Zivilisation, weil durch seine Einführung erst wahrer Fortschritt (!) ermöglicht worden ist. Natürlich liegt es in der Natur des Menschen, dass Geld [...] missbraucht werden kann [...] Ebenso klar sollte jedoch sein, dass die alten Utopien einer geldlosen Gesellschaft der Vergangenheit in Wirklichkeit unbewusste Bestrebungen waren, sich den modernen Realitäten und Chancen (!) zu entziehen, und dass sie lediglich den Widerstand gegen eine mögliche neue Verbesserung widerspiegeln. Gleich, welcher Mythos gesponnen wird, eine steinzeitliche Gesellschaft (!) ist, insbesondere in einer Situation massiver gegenseitiger Abhängigkeiten der Menschen, nicht realisierbar und würde höchstwahrscheinlich in eine Katastrophe führen. Da unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem zu einem großen Teil auf dem Einsatz von Geld beruht - und wir wollen daran nichts ändern -, ist es von grundlegender Bedeutung, dass jeder einzelne Zugang zu einer gewissen Geldmenge hat, um für die nötigsten Dinge des Lebens aufzukommen [...]« (Giarini/Liedtke 1998,191 f.).

 

Das Phantom der Kritik am Geldfetisch muss schon arge Panik hervorrufen, wenn ihm in einem Schattengefecht derart schwache Argumente entgegengeschleudert werden. Bis zum Beginn der Modernisierung war Geld ein völlig randständiges Medium für den Austausch von Überschussprodukten oder (im Fernhandel) von Spezialgegenständen wie Seide, Metallen usw. zwischen unabhängigen Produzenten, während die alltägliche Reproduktion größtenteils ganz ohne Geld und Markt »naturalwirtschaftlich« stattfand. Die überwiegende Mehrzahl der Erfindungen und zivilisatorischen Errungenschaften in der ganzen Menschheitsgeschichte vor dem 17. Jahrhundert kam ganz unabhängig von der Geldform zustande. Es ist nur ein Zeichen für den Fetischismus der Ökonomen, dass sie »wahren Fortschritt« nur als Ausdruck der Geldform gelten lassen wollen, womit die Erfindung des Ackerbaus, der Viehzucht, des Rades, der Schrift, der Malerei und unzähliger anderer Errungenschaften anscheinend ein »unwahrer« Fortschritt gewesen sein müssen. Zur alltäglichen gesellschaftlichen Beziehungsform wurde das Geld aber durch keinerlei menschlichen Fortschritt, sondern allein durch die zwangsweise und blutig durchgesetzte Einführung von »Arbeitsmärkten «, mit der die frühmodernen Militärdespotien die Menschen in das Material ihres Geldhungers verwandelten.

 

Als »freie« Systemsklaven einer irrationalen Gesellschaftsmaschine von anonymen Märkten mussten sich die Gesellschaftsmitglieder den Bewegungsgesetzen des verselbständigten Geldkapitals unterordnen bis zur sozialen Selbstaufgabe, deren Gipfelpunkt heute erreicht zu sein scheint. Es sind gerade keine »unabhängigen Produzenten«, die im Kapitalismus ihre Produkte über das Medium des Geldes »tauschen« würden, wie es die Ideologie der Ökonomen vorgaukeln möchte. Im Gegenteil handelt es sich ja um hochgradig vergesellschaftete Aggregate, in denen die Menschen sich nicht mehr isoliert voneinander in Familienwirtschaften reproduzieren, sondern im unmittelbaren gesellschaftlichen Zusammenwirken. Ausgerechnet diese in hohem Maße vergesellschaftete Reproduktion jedoch wird durch eine Form oder ein Medium gesteuert, das ursprünglich seinen relativen und marginalen Sinn nur in der Beziehung zwischen tatsächlich unabhängigen Familienwirtschaften hatte!

 

Die »massive gegenseitige Abhängigkeit« in direkt gesellschaftlichen Aggregaten spricht also gerade gegen die Geldform, die unter diesen Umständen ebenso verrückt ist, wie wenn Leute, die in demselben Haus wohnen, sich nur per Satellitentelefon verständigen dürften. Die Geldform ist bei einem derart hohen Grad der Vergesellschaftung eben keine Form menschlicher Verständigung, sondern umgekehrt werden alle menschlichen Beziehungen dem Diktat eines rasend prozessierenden, verständigungslosen und unansprechbaren Dinges unterworfen. Was für eine freche Verdrehung, die Kritik dieser Verrücktheit als »Mythos« einer »steinzeitlichen Gesellschaft« denunzieren zu wollen! Damit beweisen die Ökonomen wieder einmal, dass sie das Phantom »Nicht-Geld« nur mit äußerster Primitivität gleichsetzen wollen, weil die Befreiung vom kapitalistischen Selbstzweck ihren fetischistisch indoktrinierten Verstand übersteigt. So beeilen sie sich, alle denkbaren Vertreter einer Kritik dieses Fetischismus im Vorhinein zu psychiatrisieren als Leute, die sich »unbewusst« den »Chancen« der Modernisierung (Zwangsarbeit und Billiglohn als letztes Wort!) »entziehen« wollten. Weil »unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem« auf dem »Einsatz von Geld beruht«, soll daran nichts geändert werden; das tautologische Nicht-Argument, dass es so sein soll, weil es so ist, zeigt das Ende jeder kapitalistischen Argumentationsfähigkeit an.

 

Dass das Geld, wie oft behauptet wird, wenigstens eine Art »Leistungsmaß« sei, wenn es schon aufgrund des hohen Vergesellschaftungsgrades kein Tauschmedium unabhängiger Produzenten mehr sein kann, hat ebenfalls noch nie gestimmt. Weder sind die großen Geldvermögen von den Konquistadoren bis zu den Rockefellers durch andere als mörderische und destruktive »Leistungen« angehäuft worden, noch ist im kapitalistischen Alltag »Leistung« etwas anderes als ein Synonym für Skrupellosigkeit einerseits und Selbstunterdrückung andererseits; bezogen stets auf eine verständigungslose, hochgradig irrationale Tätigkeitsform. In der Dritten industriellen Revolution führt sich sogar dieser irrationale Leistungsbegriff selber ad absurdum; unter diesen Bedingungen kann es gar keinen sinnvollen individuellen Leistungsbegriff mehr geben, weil die eigentliche Produktionspotenz längst im verwissenschaftlichten gesellschaftlichen Aggregat steckt. Die Blähungen des Kasinokapitalismus machen die Geldform als »Leistungsmaß« vollends lächerlich.

 

Die Panik der Ökonomen vor dem Phantom der Geldkritik zeigt sich auch im falschen Verweis auf die angeblichen »alten Utopien« eines »vergangenen Jahrhunderts«. In Wirklichkeit hat es eine konsequente Kritik der Geldform bis jetzt außer im »esoterischen«, vom Arbeiterbewegungs-Marxismus systematisch verdrängten Aspekt der Marxschen Theorie noch nie gegeben. Abgesehen von einigen moralisierenden Auslassungen gegen den »schnöden Mammon« haben sowohl die Utopisten und Anarchisten als auch der Marxismus niemals den Geldfetisch als solchen kritisiert, sondern immer nur an Surrogatformen des Geldes oder an einer staatlich-leviathanischen Moderation dieser unüberwundenen gesellschaftlichen Form gebastelt. Einer radikalen Kritik des Geldfetischs kann es aber nicht um eine oberflächliche »Abschaffung des Geldes« in seiner unmittelbaren Erscheinungsform gehen, sondern vielmehr um die Aufhebung der dieser Form zugrunde liegenden gesellschaftlichen Beziehungen, also eben des Systems von abstrakter »Arbeit«, »Arbeitsmärkten«, betriebswirtschaftlicher Rationalität und anonymen Warenmärkten, deren zusammenfassendes Selbstzweck-Medium das Geld nur ist.

 

Dass das eigentliche Problem erst jetzt nach einer mehrhundertjährigen Domestizierung zum Durchbruch kommt, wird bei Giarini/Liedtke unfreiwillig in der seltsamen Formulierung einer »Rückkehr zu neuen Utopien« deutlich, denn in der Tat handelt es sich um eine Art »Rückkehr in die Zukunft«: Die Dritte industrielle Revolution setzt unausweichlich das Problem auf die Tagesordnung, an dem die alten Sozialrevolten gegen das Terrorsystem der abstrakten »Arbeit« gescheitert sind. Natürlich kann es kein Zurück in diese gesellschaftlichen Konstellationen und kein Anknüpfen an den Bewusstseinsstand dieser Revolten geben. Aber auf einer viel höheren Entwicklungsstufe stellt sich erneut die Frage, wie die Produktivkräfte, die schon lange nicht mehr in der Form unabhängiger Familienbetriebe organisiert werden können, in die Form einer bewussten Verständigung der Gesellschaftsmitglieder zu bringen sind, statt von einem blinden und anonymen Mechanismus gesteuert zu werden.

 

Allein das Phantom dieses vernünftigen Gedankens denunzieren Giarini/Liedtke bereits als »Gang in die Katastrophe«. In Wahrheit verhält es sich genau umgekehrt: Der Kapitalismus, das heißt das System von »Arbeitsmärkten« und allgemeiner Geldwirtschaft, hat bereits in die Katastrophe geführt. Die »unsichtbare Hand« schlägt blind um sich und zerstört alle zivilisatorischen Mindeststandards, gerade weil die menschlichen Möglichkeiten ungeheuer gesteigert worden sind! Nicht die Verwirklichung irgendeiner träumerischen und »unrealistischen« Utopie steht auf der Tagesordnung, sondern im Gegenteil muss die realisierte Negativ-Utopie des Kapitalismus in ihrem sozialökonomischen Amoklauf gestoppt werden, um durch bewusste gesellschaftliche Verständigung den verrückten Dogmen des Geldes zu entkommen und überhaupt erstmals pragmatisch (also nicht einem entsinnlichten, den Bedürfnissen gegenüber autonomen Fetischgesetz folgend) über den sinnvollen Einsatz der Ressourcen und Produktivkräfte zu beraten.

 

Die Ökonomen sind von diesem elementar vernünftigen Gedanken schon axiomatisch abgeschnitten; ihr »negativer Realismus« kann sich allein auf das Kategoriensystem der »schönen Maschine« beziehen, die für sie identisch mit Gesellschaftlichkeit überhaupt ist. Daran ist allerdings auch das »Humankapital« ihres sektenhaften Priesterwissens gebunden. Wenn sich die Menschheit von der kapitalistischen Maschine befreit, wird mit einem Schlag nahezu die gesamte ökonomische Literatur der letzten dreihundert Jahre zusammen mit ihrem gesellschaftlichen Bezugssystem »entwertet «. Dieses als schriftlicher Corpus fixierte Denksystem wäre dann so historisch wie die altägyptischen Totenbücher oder die Opferrituale der Maya. Für die überlebensnotwendig gewordene Kritik der Ökonomie ist von den Ökonomen nichts zu erwarten.

 

Der Gedanke einer permanenten gesellschaftlichen Beratung über den Einsatz der Ressourcen verweist schon auf ein mögliches institutionelles Gefüge, das »Marktwirtschaft und Demokratie« ablösen könnte: nämlich eben »Räte«, beratende Versammlungen aller Gesellschaftsmitglieder auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Reproduktion. Sich einfach versammeln und die Dinge in die eigene Hand nehmen, ohne sich länger von der kapitalistischen Menschenverwaltung kujonieren und auf lächerliche Notrationen ohne Not setzen zu lassen - nur darin kann die Entfesselung der »bösen Horizontale« sich darstellen. Die historischen, immer nur kurzlebigen Ansätze von »Räten« seit der Pariser Commune sind daran gescheitert, dass sie in den kapitalistischen Kategorien von abstrakter »Arbeit«, Geldform, Marktvermittlung und »Politik« befangen blieben, also ihren eigenen Gesichtspunkt gegen die herrschenden Fetischformen nicht geltend machen konnten. Unter den Bedingungen der Dritten industriellen Revolution könnten »Räte« dagegen tatsächlich nur noch an die Stelle von Geldform und anonymen Märkten treten. Die Mikroelektronik stellt dafür gleichzeitig die Möglichkeit einer allseitigen kommunikativen Vernetzung bereit, die alle Herrschaftszentren »vertikaler« Menschenverwaltung leicht aushebeln kann.

 

Damit die »böse Horizontale« in Gang kommen kann, bedarf es einer bewussten »Palaverkultur «; also genau das, was für Ford und Lenin der Horror eines ewigen »Gequatsches« war, das ihre schöne Gesellschaftsmaschine beeinträchtigen könnte. Genau darum geht es: alles zu bereden und abzuwägen, statt sich einer blinden und zerstörerischen abstrakten Leistungsmaschine zu unterwerfen und als deren Rädchen zu funktionieren. Zeit für das Palaver stünde übergenug zur Verfügung; und zwar nicht nur durch die Produktivkräfte der Dritten industriellen Revolution, sondern auch durch die Perspektive, alle destruktiven und unsinnigen Produktionen ersatzlos stillzulegen, die nur der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems dienen (von der Geldverwaltung bis zur nervtötenden medialen Glocke der »Werbung«).

 

Das entscheidende Problem ist, ob in der destabilisierten Weltkrisengesellschaft des Kapitalismus im beginnenden 21. Jahrhundert ein ideeller und organisatorischer Fokus entstehen kann, der die radikale Kritik zu formulieren wagt und ihr ein Gesicht zu geben vermag. Es ist nach wie vor die Linke im weitesten Sinne, die allein dafür in Frage kommt. Aber im Hinblick auf die wahre Aufgabe wurden die Weichen seit den 80er Jahren genau verkehrt herum gestellt. Die von Haus aus in den kapitalistischen Kategorien befangene Linke zog aus dem Ende des Staatssozialismus die völlig unangemessene Konsequenz, theoretisch abzurüsten und die Gesellschaftskritik weitgehend fallenzulassen, um sich als Musterschüler der Rentabilitätslogik zu gebärden. Die intellektuelle und moralische Verwahrlosung der regierenden Armani-Linken ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sie bereits unumkehrbar zum integralen Bestandteil der kapitalistischen Krisenverwaltung, der sozialen Repression und Barbarisierung der Verhältnisse geworden ist.

 

Dennoch befindet sich ein größerer Teil der Linken überall in der Phase einer unbestimmten Latenz. Es ist immer noch möglich, eine Kehrtwendung zu machen und sich den katastrophalen Erfahrungen der 90er Jahre zu stellen. Die Linke muss begreifen, dass sie nicht etwa »zu radikal«, sondern im Gegenteil niemals radikal genug war. Nicht eine stärkere Anpassung an das ökonomische Gesetz des Kapitalismus ist das Gebot der Stunde, sondern im Gegenteil der vollständige Bruch mit diesem Gesetz. Die Linke muss ihre eigene Geschichte kritisieren, ihre eigene apriorische Verbundenheit mit der bürgerlichen Welt aufdecken und sich davon lösen. Nur dann waren die systemimmanenten Kämpfe der letzten hundert Jahre nicht umsonst, mit denen die Linke dem Kapitalismus stets nur vorübergehend ein niemals genügendes Minimum an sozialen Gratifikationen und eine Begrenzung der schlimmsten Zumutungen abgetrotzt hat, wenn diese Linke am definitiven Ende der kapitalistischen Geschichte den Mut findet, aus dem eisernen Käfig von »Marktwirtschaft und Demokratie« auszubrechen.

 

Die Marxsche Theorie ist nicht widerlegt, sie gewinnt erst jetzt ihren historischen Wahrheitsgehalt; allerdings nur, wenn sie gegen den Strich des Arbeiterbewegungs-Marxismus gebürstet und endlich als radikale Kritik des modernen Fetischismus warenproduzierender Systeme gelesen wird. Die Idee der sozialen Emanzipation muss aufhören, sich wieder und wieder in die vom Liberalismus aufgestellte Falle locken und zwischen den kapitalistischen Polen von Markt und Staat hin- und herhetzen zu lassen. Markt und Staat sind die beiden Seiten derselben Medaille, und es ist eine billige Ausflucht, nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus den Markt als »alternativlos« zu setzen, als wäre die staatskapitalistische Kritik am Konkurrenzsystem die einzig mögliche. Die wirkliche Alternative ist die Selbstverwaltung der Gesellschaft durch die »böse Horizontale« eines umfassenden Rätesystems; und eine solche Selbstverwaltung ist das Gegenteil nicht nur des Staates, sondern damit auch des Marktes.

 

Eine solche Reformulierung radikaler Kritik ist allerdings auch nur in einer Perspektive möglich, die sich nicht mehr blenden lässt vom falschen Fortschrittsbegriff der »Modernisierung«, der sich heute endgültig als Synonym für soziale Degradation, Verelendung und Entsolidarisierung entlarvt. Gerade in dieser Fixiertheit auf die »Modernisierung«, die nie etwas anderes als der blinde kapitalistische Entwicklungsprozess gewesen ist, zeigt sich die babylonische Gefangenschaft der Linken im bürgerlichen Denksystem. Seitdem die »Antimoderne« der alten Sozialrevolten von den Terrorregimes des Liberalismus in ihrem Blut erstickt worden ist, hat die Idee der sozialen Emanzipation sich nicht mehr gegen das perfide »Neusprech« und »Doppeldenk« der Aufklärungsphilosophie positionieren können, von der die Unterwerfung unter die moderne Systemsklaverei als Inbegriff der Freiheit verkauft wurde. An die Stelle der emanzipatorischen, sozialrebellischen Antimoderne trat jene reaktionäre, »rechte« Antimoderne, die in Wahrheit immer ein Derivat des bürgerlichen Aufklärungsdenkens selber gewesen ist. Diese rechte Scheinkritik der Moderne konnte das dämonische Potential des Kapitalismus entbinden; sie zeigte immer nur den Irrationalismus der bürgerlichen Rationalität selbst an, um die Nachtseite der Moderne für die Massaker der »Modernisierung« zu instrumentalisieren.

 

Die falsche Gegenüberstellung einer guten, aufklärerischen Moderne, die links zu besetzen wäre, und einer negativen, vermeintlich gegenaufklärerischen Antimoderne, die irgendein phantasmatisches »Mittelalter« anbetet, ist erst recht eine Falle. Auch in dieser Hinsicht handelt es sich um die beiden Pole der kapitalistischen Moderne selbst. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts bedarf es einer neuen »emanzipatorischen Antimoderne«, die sich nicht mehr von den innerkapitalistischen Gegensätzen instrumentalisieren und für dumm verkaufen lässt, sondern der gesamten Modernisierungsgeschichte auf der Höhe der Dritten industriellen Revolution den Prozess macht. Dieser Gedanke muss nicht erschrecken, denn eine neue emanzipatorische Antimoderne kann sich leicht von der reaktionären Pseudo-Antimoderne abgrenzen und wird den de Benoist u. Co. Niemals die Hand reichen.

 

Die rechte Antimoderne ist immer irrational und biologistisch; sie verlängert den liberalen Naturalismus des Sozialen in darwinistische Rassen- und Volksmythologien. Die emanzipatorische Antimoderne dagegen kann nur der vollständige Bruch mit jeder Art von Naturalisierung des Gesellschaftlichen sein; sie begreift die Gesellschaft als eine Daseinsebene sui generis, die nur in sozialen, psychischen und historischen Kategorien zu entschlüsseln ist. Die rechte Antimoderne ist immer antisolidarisch, ausgrenzend und von Vernichtungsdiskursen erfüllt; sie stellt nichts als die Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln dar. Die emanzipatorische Antimoderne dagegen ist der ebenso vollständige Bruch mit dem kapitalistischen Konkurrenzsystem und stellt die Solidarität über alle Grenzen hinweg in den Mittelpunkt. Ferner ist die rechte Antimoderne immer elitär und autoritär; ihre Organisationsform ist das »Führerprinzip« und damit die Extremform der im kapitalistischen Sinne »braven Vertikale«. Demgegenüber entfesselt die emanzipatorische Antimoderne eben genau umgekehrt die »böse Horizontale«; sie ist konsequent antielitär, antiautoritär und sozialrebellisch.

 

Schließlich fasst sich der ganze Gegensatz im Verhältnis zur kapitalistischen Erfindung und Realkategorie der so genannten »Nation« zusammen: Die rechte Pseudo-Antimoderne beweist sich gerade dadurch als integraler Bestandteil der Moderne selbst, dass sie immer die »Nation« zu ihrem zentralen Bezugsfeld erkoren hat und diesen Begriff mythisch auflädt, auch wenn dies im Zeitalter der Globalisierung nur noch in der Form medialer Inszenierungen oder andererseits einer mörderischen Banden-Ideologie möglich ist. Die emanzipatorische Antimoderne kann sich umgekehrt nur dadurch wirklich von der bürgerlichen Gefangenschaft lösen, dass sie unwiderruflich mit der Kategorie der »Nation« bricht und konsequent jede nationale Loyalität aufkündigt, um sich von vornherein in transnationalen Beziehungsformen zu organisieren. Der Bruch mit der »Nationalität« ist für die Linke die Gretchenfrage, ob ihr der Ausbruch aus dem »eisernen Käfig« gelingt, denn die Befangenheit in der »nationalen Identität« und im bürgerlichen Nationalstaat bildete ja spätestens seit 1848 die entscheidende Fußfessel, die den Arbeiterbewegungs-Sozialismus an das kapitalistische Kategoriensystem gekettet hat.

 

Es ist fast müßig, sich die Frage zu stellen, auf welche Weise eine neue radikale Kapitalismuskritik jenseits von Markt und Staat als emanzipatorische Antimoderne zur gesellschaftlichen Massenbewegung werden kann. Denn das ist eine Frage, die nur durch die Tat zu entscheiden ist. Voraussetzung dafür ist einerseits die theoretische Innovation, die zur Kritik der grundlegenden kapitalistischen Gesellschaftsformen vordringt, statt sich wie bisher »in« diesen Formen auszudrücken. Andererseits bedarf es des regelrechten Aufstands, der Rebellion gegen die kapitalistische Krisenverwaltung jeglicher Couleur mit ihrer trostlosen Perspektive von demokratischer Zwangsarbeit und Billiglohn-Sklaverei. Die Parole »Niemals Billiglohn kann vielleicht endlich umschlagen in die Parole »Nieder mit dem Lohnsystem!« und Elemente einer gesellschaftlichen Gegenbewegung jenseits der abgewirtschafteten demokratischen Politik hervorbringen. Der kürzeste Weg in den sozialen Erschütterungen der kommenden Jahre wäre die Besetzung^ Produktionsbetriebe, Verwaltungsinstitutionen und sozialen Einrichtungen durch eine Massenbewegung, die sich die gesellschaftlichen Potenzen direkt aneignet und die gesamte Reproduktion in eigener Regie betreibt, also die bislang herrschenden »vertikalen« Institutionen schlicht entmachtet und abschafft. Denkbar wäre auch eine Übergangsphase, in der sich eine Art Gegengesellschaft bildet, die bestimmte soziale Räume gegen die kapitalistische Logik eröffnet, aus denen Markt und Staat vertrieben werden.

 

Am wahrscheinlichsten ist es gegenwärtig allerdings, dass die Zukunftsmusik wirklich ausgespielt hat, weil der »Bewusstseinssprung« nicht mehr vollzogen wird, der für eine neue soziale Emanzipationsbewegung erforderlich wäre. Der Kapitalismus kann dennoch nicht weiterleben, weil seine innere Schranke ebenso blind objektiviert ist wie der Funktionsmechanismus der »schönen Maschine«, der an sich selbst zuschanden wird. Bleibt die radikale Gegenbewegung aus, ist das Resultat die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt, wie sie jetzt schon überall sichtbar wird. Selbst dann wäre für eine Minderheit immer noch wenigstens eine Kultur der Verweigerung möglich. Wenn schon das ökonomische Terrorsystem in seinem Zerstörungs- und Selbstzerstörungsprozess nicht mehr aufgehalten werden kann, so gilt doch immer noch die Devise der Kritischen Theorie, sich von der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen. Unter den gegebenen Umständen kann das nur heißen, jede Mitverantwortung für »Marktwirtschaft und Demokratie« zu verweigern, nur noch »Dienst nach Vorschrift« zu machen und den kapitalistischen Betrieb zu sabotieren, wo immer das möglich ist. Selbst wenn es nur wenige sind, die im Zerfallsprozess des Kapitalismus eine neue innere Distanz gewinnen können: Es ist immer noch besser, Emigrant im eigenen Land zu werden, als in den inhaltslosen Plastikdiskurs der demokratischen Politik einzustimmen. Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst gar nichts mehr frei ist.

 

 

Aus dem Buch: Roswitha Scholz - "Das Geschlecht des Kapitalismus"

Roswitha Scholz

Das Geschlecht des Kapitalismus

Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats

 
Inhalt
Einleitung: Zum Problem der Kulturalisierung des Sozialen seit den 80er Jahren

Erster Teil: Zum Begriff von Wert und Wert- Abspaltung

Zweiter Teil: Feministische Theorieansätze

I. Frauen und Deklassierung im universellen Maßstab? (R. Becker- Schmidt)

Warenform und Denkform -- Frauentausch und Identitätslogik -- Androzentrismus alspsychogenetisches Unterbauphänomen

II. Geschlecht im warenproduzierenden Patriarchat
1. Beruf und Hausarbeit bei E. Beck-Gernsheim/I. Ostner

Soziologische Basisannahmen -- Die Herstellung von (Zwei-)Geschlechtlichkeit, das androzentrische gesellschaftliche Unbewusste und die relative Berechtigung des Ansatzes von Beck- Gernsheim/Ostner -- Gebrauchswert Tauschwert, Männlichkeit und Weiblichkeit

2. Das Geschlechterverhältnis als sozialer Strukturzusammenhang bei R. Becker-Schmidt/G.-A. Knapp und U. Beer

a) Geschlecht als soziale Strukturkategorie bei R. Becker- Schmidt/

G-A. Knapp

Doppelte Vergesellschaftung und Geschlecht als "soziale Strukturkategorie" -- Doppelte Vergesellschaftung als Widerständigkeit? -- Die Kritik der Identitätslogik als "Methode" und das Wesen des warenproduzierenden Patriarchats -- Gesellschaftliches Ganzes und Geschlechterverhältnis -- Tausch, Arbeit, Geld und Geschlecht

b) Geschlecht-Struktur-Geschichte bei U. Beer

3. Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse bei F. Haug

Das kapitalistische Patriarchat als Zivilisationsmodell -- Erwerbsarbeit - Hausarbeit und die Arbeitsmetaphysik bei F. Haug -- Die Zeitsparlogik und die Logik der Zeitverausgabung -- Die symbolische Ordnung des

kapitalistischen Patriarchats

III. Abschließende Bemerkungen zu den verschiedenen Theorieansätzen

 

Dritter Teil: Die modifizierte Wert- Abspaltungstheorie

 

Vierter Teil: Geschlechterverhältnisse und Postmoderne im universellen Maßstab - die Verwilderung des warenproduzierenden Patriarchats in der Globalisierungsära

I. Die "Kleine Selbständige" (I.Schultz)

II. "Juchitan" - ein Spezialfall des warenproduzierenden Patriarchats? Eine Alternative zum warenproduzierenden Patriarchat? (V. Bennholdt-Thomsen & Co.)

III. Patriarchat ade alias Heterosexualität ade? (C. Dormagen)

IV. Globalisierung und feministische Handlungskonzeptionen

1. Differenzen zwischen Frauen, Bündnispolitik und Frauennetzwerke im internationalen Kontext

2. Nationalstaatliche und international orientierte Ansätze, Subsistenz- und Eigenarbeitsvisionen Nationalstaatliche und international orientierte Handlungskonzepte Subsistenz- und Eigenarbeitsvisionen

Einige (anti-)methodische Schlussthesen
Literatur

 

Einleitung: Zum Problem der Kulturalisierung des Sozialen seit den 80er Jahren

 

Spätestens seit dem Zusammenbruch des Ostblocks spielt die Marxsche Theorie im Feminismus keine große Rolle mehr. Fragestellungen, die vor allem bis Mitte der 80er Jahre noch die Diskussion bestimmten, also zum Beispiel: Wie kann die so genannte "Frauenfrage", das asymmetrische Geschlechterverhältnis, mit dem Marxschen Konzept organisch verbunden werden? Wie kann die Geschlechtsneutralität Marxscher Kategorien aufgebrochen werden? Welche theoretischen Weiterungen sind dazu notwendig? scheinen der Vergangenheit anzugehören. Ausgerechnet in einer Zeit, in der große Krisen sozialer, ökonomischer und ökologischer Art buchstäblich die Welt erschüttern, in der zahllose Bürgerkriege den globalen Alltag bestimmen, in der sich die soziale Lage zunehmend verschärft, Ethnofundamentalismen und Nationalismen schon lange von sich reden machen, die Zerstörung der Naturgrundlagen durch betriebswirtschaftliche Kostenlogik voranschreitet und ein Finanzkrach droht, sind so genannte Großtheorien, die die globale Krisenlage begrifflich erhellen könnten, in Verruf geraten.

 

Aus dem Niedergang des "real existierenden Sozialismus" wird fälschlicherweise häufig der Schluss gezogen, dass das Marxsche Theoriegebäude fast schon als Ganzes am Ende sei. Die 90er Jahre sind durch eine "Kulturalisierung des Sozialen" gekennzeichnet, die sich zum Beispiel in einer - die neuen barbarischen Tendenzen begleitenden - Re-Ethnisierung ausdrückt, aber auch in der Mode (de-)konstruktivistischer Ansätze; und zwar nicht nur im Feminismus.

 

Anstatt nach einem neuen, ergiebigeren Totalitätsverständnis als dem altmarxistischen zu suchen, das dazu fähig wäre, den neuen Krisenentwicklungen in der "One World" beizukommen, wird auch bei nicht wenigen Restoppositionellen auf kulturalistische Modelle zurückgegriffen, die in der Neunziger-Dekade einen Haupttrend in der Theoriebildung ausmachen.

So gibt es zum Beispiel nicht nur in feministischen und postmodernen Milieus, sondern auch bei poststrukturalistisch beeinflussten Linken Positionen, die einer (Neu-)Konstruktion von "Identitäten" die dekonstruktivistische Sicht entgegensetzen, etwa was die "ethnische Identität" angeht. Auf diese Weise versucht man der Neobarbarei, die in einer reaktionären Gemeinschaftsideologie wurzelt, im Rekurs auf die Differenz, die Besonderheit des Einzelnen etc. zu begegnen.

Das ist sicherlich gut gemeint. Nichtsdestoweniger bewegt sich man/frau dabei bloß auf derselben (theoretischen) Basis und Ebene wie die angeprangerten Phänomene, Zustände und Ideologien selbst: der kulturellen eben. Überdies wird hier die Dialektik zwischen einer weit fortgeschrittenen Individualisierung in der Postmoderne, die mit einer neoliberalen Theorie und Praxis korrespondiert (und sei es auch in der sozialdemokratischen Variante), und einer gleichzeitig auftretenden Gemeinschaftsorientierung nicht erkannt; denn im nochmaligen Rekurs auf das Differente, Einzelne, Besondere gegenüber der Nation, Ethnie u.ä. schlägt man sich faktisch, wenngleich auch sicher subjektiv unbeabsichtigt, auf die neoliberale Seite. In einem gewissen Sinn wird so fatalerweise versucht, die gegebenen Verhältnisse mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Selbst in den marginalisierten marxistischen Diskursen der 90er Jahre haben sich "Kulturmarxisten" wie Gramsci oder Althusser einen zentralen Platz erobert.

Erst in jüngerer Zeit werden wieder Rufe lauter, die gesellschaftstheoretische Dimension müsse stärker berücksichtigt werden - sogar bei postmodernen Theoretikerinnen (vgl. Knapp, 1998 a, S.66). Und auch im (feministischen) Globalisierungsdiskurs spielt die Marxsche Theorie wieder eine gewisse Rolle, wenngleich auch meist nur als Hintergrundtheorie und in regulationstheoretischer und/oder keynesianischer Domestizierung. Diese Neubesinnung hat vermutlich etwas mit dem rot-grünen Wechsel zu tun, der sich stimmungsmäßig schon seit einigen Jahren ankündigte. Sichtbar ist allerdings längst, dass bei diesem Wechsel nicht hinter die neoliberale Wende zurückgegangen werden soll, sondern bestenfalls versucht wird, den neoliberalen Geist auf der Grundlage seiner eigenen Essentials noch einmal in die Flasche zurückzukorken. In den Fallstricken dieser Widersprüche verheddert sich derzeit die rot-grüne Regierung.

Nun kann es freilich nicht darum gehen, postmoderne Einwände einfach abzutun. In den letzten 30 Jahren hat im Zuge einer umfassenden Computerisierung, Medialisierung und auch Kommerzialisierung ein gesellschaftlicher Wandel stattgefunden, der für gewöhnlich mit soziologischen Begrifflichkeiten wie "Individualisierung", "Freisetzung aus traditionellen (Geschlechts-) Rollen", "Flexibilisierung von Biographien", "Pluralisierung der Lebenswelten und -stile" umschrieben wird. "Differenzen" - seien sie individueller, "ethnischer" oder sexueller Art - gewannen in diesem Zusammenhang vermittelt über die kulturell-symbolisch-ästhetische Dimension zunehmend an Bedeutung. Postmoderne und poststrukturalistische Konzeptionen reflektieren diese Entwicklung, allerdings nicht kritisch (wie es meines Erachtens notwendig wäre), sondern ausgesprochen positiv. In den krisengeschüttelten 90er Jahren wurde aber schon überdeutlich, wohin diese Differenzorientierung in einer sich weltweit verschärfenden Konkurrenzsituation führen kann: in (Ethno-)fundamentalismus, Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus.

Meines Erachtens können weder die modernen Subjekte mit ihren fixen (Geschlechts-) Identitäten, noch die postmodernen Flexi-Individuen als irgendwie bessere bzw. schlechtere gegeneinander gestellt werden; als warenförmig-patriarchal strukturierte Subjektformen können beide nicht ungeschoren bleiben. Das neue Zwangs- Flexi-Subjekt, das ein postmoderner Kasinokapitalismus unerbittlich einklagt, ist dabei nichts anderes als die Fortsetzung des modernen Subjekts in zersplitterter Form, das einer emanzipativen Aufhebung nach wie vor harrt.

Gewiss hat der traditionelle Mainstream-Marxismus die kulturell-symbolische Ebene und damit zusammenhängende Dimensionen der gesellschaftlichen Realität prinzipiell vernachlässigt. Mit dieser Kritik haben die Postmodernen zweifellos recht. Die Hypostasierung des "Kulturellen" seit den 80er Jahren, die mit den postmodernen Individualisierungstendenzen eng zusammenhängt, unterstützt jedoch aktuelle barbarische Entwicklungen und behinderte lange Zeit den Einbezug von gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklungen, der meines Erachtens gerade im Globalisierungs-Zeitalter bitter notwendig ist.

Unter diesen Bedingungen käme es deshalb darauf an, in der bestimmten Negation zutreffende Momente der kulturalistischen Argumentation unemphatisch und unspektakulär in die Theoriebildung mit aufzunehmen, ansonsten jedoch jegliches postmodern-kulturalistische Marktschreiertum zu unterlassen, wie es in postmodern-linken Kreisen gegenüber "Altlinken" und "Altfeministinnen" gelegentlich immer noch zu vernehmen ist.

Mithin darf weder der modernen Identität noch der postmodernen Nicht-Identität, den Differenzen - weder der Großtheorie noch einer szientifischen und/oder einer postmodernen Registrierung von Unterschieden, einer Schau des Einzelnen/Besonderen (etwa mit poststrukturalistischer Untermauerung) gehuldigt werden. Vielmehr gilt es, die Spannung zwischen beidem auszuhalten und diese theoretisch fruchtbar zu machen, wobei auch die historische Verortung bestimmter Fragestellungen (zum Beispiel nach den Differenzen in der Postmoderne im Rahmen einer kritischen Reflexion) auf einer "großtheoretischen" Meta-Ebene zu erfolgen hätte. Es geht also um eine Theoriebildung, die die "große Erzählung" und die Annahme eines gesellschaftlichen "Wesens" nicht scheut, das traditionell-marxistisch im Tausch bzw. dem (Mehr-)Wert gesehen wird. In diesem Zusammenhang sind auch die Globalisierungstendenzen der letzten Jahre gebührend zu berücksichtigen, inclusive der damit verbundenen immanenten Pseudo-Lösungsstrategien; egal, ob es sich hierbei um neu erwachte neokeynesianische Illusionen oder internationalististisch-zivilgesellschaftliche Handlungsentwürfe oder aber auch um rückwärtsgewandte Eigenarbeits-/Subsistenzvisionen handelt.

 

Vor dem Hintergrund dieses kurzen Problemaufrisses möchte ich nun im folgenden versuchen, die Thematik des hierarchischen Geschlechterverhältnisses in ihrer theoretischen Mehrdimensionalität mit wertkritischen Grundannahmen in Beziehung zu setzen, d.h. also sowohl die materielle als auch die kulturell-symbolische, aber auch die sozialpsychologische Ebene theoretisch zu berücksichtigen. Dabei steht die von mir schon in früheren Artikeln aufgestellte "Wert-Abspaltungsthese" im Zentrum meiner Überlegungen (vgl. dazu vor allem Scholz, 1992). Im Zuge meiner weiteren Argumentation wird unvermeidlich die diesem Theorem "schon immer" inhärente Infragestellung des (Groß-)Begriffs sichtbar werden, bei gleichzeitig radikalkritischer Insistenz auf die gesellschaftliche Totalität.

 

Die "Kritische Theorie" der Frankfurter Schule im Sinne Adornos bleibt dabei nach wie vor zentraler Bezugspunkt, hat sie doch das "Nichtidentische", die in der Hegelschen Dialektik eben gerade nicht aufgehende Differenz, das Besondere usw. sozialphilosophisch thematisiert, lange bevor der Feminismus und die "Postmoderne" allenthalben von sich reden machten. Gleichzeitig hält diese Theorie unerbittlich am Totalitätsdenken fest; im Gegensatz zu einem bloß sozialreformerischen (zum Beispiel keynesianischen) Denken jedoch grundsätzlich kritisch. Für sie ist Totalität schon per se negative Totalität. Freilich geht es nicht darum, die Kritische Theorie in dogmatischer Weise und völlig unverändert zu übernehmen: Auch dieses Denken kann von heutiger Warte aus nicht gänzlich von Kritik verschont bleiben, auch nach Adorno & Co. ist die gesellschaftliche Entwicklung weitergegangen.

Zum anderen schließe ich an das ökonomiekritische Wertverständnis der "fundamentalen Wertkritik" an, wie es von der Zeitschrift "Krisis" entwickelt worden ist; wobei ich dieses Verständnis allerdings patriarchatskritisch zu modifizieren gedenke. Vom alten Arbeiterbewegungsmarxismus unterscheidet sich die "fundamentale Wertkritik" vor allem dadurch, dass sie nicht bloß den "Mehrwert" skandaliert, sondern die Warenform als Vergesellschaftungsprinzip der modernen Weltgesellschaft schlechthin in Frage stellt. Dies schließt eine Abgrenzung von traditionellen Marxismen ein, die in soziologischer Verkürzung die Kategorie der "Arbeiterklasse" zum Dreh und Angelpunkt machen und denen es um bloße Verteilungsgerechtigkeit innerhalb warenproduzierender Systeme geht.

Damit ist allerdings nicht gemeint, dass soziale Disparitäten nicht mehr angeprangert werden, ganz im Gegenteil, jedoch geschieht dies nicht auf der 8 Basis eines traditionellen Klassendenkens, das in der Globalisierungsära ohnehin keine Bedeutung mehr hat. Dabei wird nicht nur die westliche Entwicklung als warenförmig vermittelte angesehen, sondern auch der verblichene Ostblocksozialismus als spezifisches warenproduzierendes System einer "nachholenden Modernisierung" begriffen. In diesem Zusammenhang war das traditionelle Klassenverhältnis selbst bloß ein Durchsetzungsmoment des warenproduzierenden Systems. Zur Disposition stehen somit die Warenform, die abstrakte Arbeit, das Geld, der Wert überhaupt. Mittlerweile hat sich längst gezeigt, dass gerade diese Perspektive hinsichtlich der globalen Entwicklung prognostische Aussagekraft hat (vgl. Kurz, 1991).

Mein Anliegen besteht somit darin, den Wertbegriff der "fundamentalen Wertkritik" mit der Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule in der Wert-Abpaltungsthese patriarchatskritisch zu synthetisieren. Die Wert-Abspaltungsthese behauptet nun - kurz gesagt - eine "Abspaltung" des Weiblichen, der Hausarbeit etc. vom Wert, von der abstrakten Arbeit und den damit zusammenhängenden Rationalitätsformen, wobei bestimmte weiblich konnotierte Eigenschaften wie Sinnlichkeit, Emotionalität usw. der Frau zugeschrieben werden; der Mann hingegen steht etwa für Verstandeskraft, charakterliche Stärke, Mut usw. Der Mann wurde in der modernen Entwicklung mit Kultur, die Frau mit Natur gleichgesetzt. Wert und Abspaltung stehen dabei in einem dialektischen Verhältnis zueinander.

Sieht man von den Ausführungen zum Kernverhältnis Tauschwert-Gebrauchswert/ Konsum des Gebrauchswerts/Abspaltung des Weiblichen einmal ab, das in früheren Texten, wenngleich in komprimierter Form, aber dennoch exakt bestimmt wurde und deshalb auch zur nicht mehr zu begründenden Folie der nachfolgenden Untersuchung gemacht werden soll (siehe Kurz, 1992), so ist die Wert-Abspaltungsthese als Theorie bislang eher kursorisch ausgeführt worden. Deshalb beabsichtige ich, sie im zweiten Teil dieses Textes theoretisch besser zu untermauern und sie dabei zugleich weiter auszuarbeiten. Dies soll vor allem in der Auseinandersetzung mit den prominenten theoretischen Versuchen von Regina Becker-Schmidt/Gudrun-Axeli Knapp, Elisabeth Beck- Gernsheim/Ilona Ostner und Frigga Haug geschehen, die die marxofeministische Theoriedebatte des deutschsprachigen Raumes in den letzten 20 Jahren entscheidend geprägt haben.

Ein weiteres Ziel dieser Arbeit ist es, dabei gleichzeitig zu zeigen, dass sich über die Wert-Abspaltungsthese ein qualitativ neuer patriarchatskritischer Zugang eröffnet, der die verhandelten Theorieentwürfe wie das Geschlechterverhältnis in Moderne und Postmoderne überhaupt in einem neuen Licht erscheinen lässt. In diesem Zusammenhang soll vor allem deutlich gemacht werden, dass ein kritischer Rekurs der feministischen Theoriebildung auf die 9 Frankfurter Schule auch zu einer völlig anderen Konzeption führen kann, als dies bei Becker-Schmidt der Fall ist.

Da mich zum Teil erst die Lektüre aller dieser Theorieansätze auf den Abspaltungsgedanken gebracht hat, auch wenn sie auf jeweils unterschiedliche Weise an altmarxistische Vorstellungen anknüpfen, bin ich nicht darauf aus, nur die Differenzen zu ihnen herauszustellen. Wo Kritik angebracht ist, wird sie entschieden betrieben; wo Affinitäten vorhanden sind, werden sie kenntlich gemacht. Denn wie man sich denken kann, kam die Anregung zur Abspaltungsthese gerade nicht von den marxistischen Männern, die eine "fundamentale Wertkritik" vertreten (deren Urheber und auch jetzige Träger sind nach wie vor in erster Linie Männer). Vielmehr musste sich die Perspektive der Wert-Abspaltung bei diesen erst mühsam Gehör verschaffen.

Im dritten Teil ziehe ich dann eine Art Fazit und stelle noch einmal pointiert heraus, welche neuen Aspekte und Weiterungen sich nach meinem Theorie-Durchgang im Spannungsfeld von Kritik und Rekurs auf die diversen Theoriekonzeptionen für die Wert-Abspaltungsthese ergeben haben. Damit ist freilich noch nicht das letzte Wort gesprochen, vielmehr erst ein Forschungsprogramm formuliert, das es in Nachfolgeprojekten auszuarbeiten gilt.

Auf das Geschlechterverhältnis in der Postmoderne/der Globalisierungsära im Weltmaßstab gehe ich, auf meine bisherigen Überlegungen und Ergebnisse aufbauend, im Rekurs auf die Untersuchungen/Arbeiten von Irmgard Schultz, Veronika Bennholdt-Thomsen u.a. und Christel Dormagen vor allem im vierten Teil ein. Dabei hat Irmgard Schultz - soweit ich sehe - die feministische Diskussion zum Thema "Globalisierung" bis Anfang der 90er Jahre erstmals umfassend aufgearbeitet. Da Veröffentlichungen zu diesem Gegenstand, die mittlerweile zuhauf aus dem Boden geschossen sind, ihre Ausführungen im wesentlichen bestätigen, ergänze ich diese bloß um neuere Befunde aus der zweiten Hälfte der 90er Jahre.

Nicht zuletzt auch aus folgenden Gründen soll dieser Thematik größerer Raum gegeben werden: Zum einen wurde gegen die Position der Wert-Abspaltung schon des Öfteren eingewendet, sie könne nur auf das moderne Geschlechterverhältnis bezogen werden; demgegenüber werde ich zeigen, dass diese theoretische Perspektive sehr wohl die Kraft besitzt, auf Fragen nach dem postmodernen Geschlechterverhältnis Antworten zu geben. Zum anderen scheint mir die Einschätzung des Verhältnisses von Geschlecht und Postmoderne/Globalisierung im Feminismus generell besondere Schwierigkeiten zu bereiten. Die Positionen bewegen sich zwischen den Polen: "Trotz aller Veränderungen in den letzten 30 Jahren hat sich prinzipiell nichts geändert" und der Feier eines "Endes des Patriarchats" (etwa bei Libreria delle donne di Milano, 1996). Im Unterschied zu diesen Positionen vertrete ich die 10 These einer Verwilderung des warenproduzierenden Patriarchats in der späten Postmoderne. Die Überlegungen von Schultz, aber auch von anderen Globalisierungsexpertinnen, auf die ich mich dabei beziehe, legen eine derartige Schlussfolgerung nahe; auch wenn diese Autorinnen sie selbst nicht ziehen.

Eine weitere zentrale These, die ich ebenso (u. a. im Rückgriff auf Schultz) gewonnen habe, lautet in diesem Zusammenhang, dass in der neoliberalen Postmoderne Flexi-Zwangsidentitäten gefordert werden, die nach wie vor geschlechtsspezifisch und -hierarchisch geprägt sind. So gesehen stützen nicht nur "essentialistische" Konzepte der "neuen Weiblichkeit" die schlechte patriarchale Realität, sondern gleichermaßen auch "antiessentialistische" Ansätze, die eine Kritik an starren Geschlechtervorstellungen und traditionellen Geschlechtsidentitäten zum Beispiel in dekonstruktivistischer Absicht betreiben.

Den vierten Teil abschließend, widme ich mich noch verschiedenen Handlungskonzeptionen, die Antworten auf die Globalisierungproblematik zu geben versuchen und häufig auf dem Bündnis- bzw. Netzwerkgedanken basieren. Nachweisen möchte ich dabei vor allem, dass sowohl nationalstaatlich-keynesianische als auch internationalistisch-zivilgesellschaftliche und ebenso "Eigenarbeits"- bzw. Subsistenz-Konzepte der Verwilderung des warenproduzierenden Patriarchats mit seinen geschlechtsspezifischen Flexi-Zwangsidentitäten nichts wirklich Substantielles entgegenzusetzen haben. Dies gilt nicht bloß für das Geschlechterverhältnis im engeren Sinn, sondern für das mittlerweile desolat gewordene kapitalistisch-patriarchale System insgesamt, dessen ökonomische, soziale und ökologische Grenzen längst überdeutlich geworden sind.

Ganz zum Schluss gehe ich noch einmal explizit auf mein bisheriges Vorgehen ein. Schon vorher, insbesondere aber in diesen (anti-)methodischen Schlussthesen, soll - in Abgrenzung u. a. zu Positionen im theoretischen Feminismus, die das Verfahren Adornos primär auf der soziologischen Oberflächenebene und damit meines Erachtens positivistisch "anwenden" - nochmals deutlich gemacht werden, dass sich die Position der Wert-Abspaltung eines solchen Vorgehens zu entschlagen hat, ohne dass sie deswegen in ein haltloses Schwadronieren verfallen muss.

Im Grunde wird erst in den (anti-)methodischen Schlussthesen völlig klar, worauf meine Überlegungen hinauslaufen. Den LeserInnen ist also anzuraten, meinen Text von Anfang bis Ende durchzuarbeiten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch von vornherein Erwartungen entgegentreten, die sich ein "perfektes" Konzept erhoffen, das die materielle, kulturell-symbolische und sozialpsychologische Dimension unter dem Hut der Wert-Abspaltung -womöglich noch nach Konkretions-Hierarchien gestaffelt - systematisch und stringent zusammenbringt: quadratisch-praktisch-gut gewissermaßen. Vielmehr ist es geradezu ihrem eigenen Inhalt nach das Ziel der Wert-Abspaltungskritik, die sich schon immer als vorläufig und beschränkt weiß, ein derartiges Ansinnen zu hintertreiben (ohne wie gesagt eine Totalitätsperspektive aufzugeben), auch wenn dies manche LeserInnen beunruhigen mag.

 

Eine derart komplexe Theoriearchitektur, wie ich sie für notwendig erachte, erheischt freilich auch einen entsprechenden Stil. Wem lange Sätze zuwider sind; wem Windungen und Wendungen in einer diffizilen, schlüssig-unschlüssigen bzw. unschlüssig-schlüssigen Argumentation unerträglich sind; wer denkt, dass auf eine Frage schon im nächsten Satz die Antwort zu folgen hat, ohne geduldig ihre Entfaltung abwarten zu können; wer der Auffassung ist: "Wenn du deine Meinung nicht in drei Sätzen sagen kannst, lass es sein"; wer sich theoretische Aufsätze "reinziehen" und sie nicht durcharbeiten und studieren will; wer meinen Text am Strand lesen möchte; kurz, wer sich einen "Theorieburger" wünscht, sollte schon jetzt das Buch aus der Hand legen, er/sie wird enttäuscht werden.

 

In diesem Zusammenhang kann und will ich auch nicht auf sprachliche Marotten verzichten und sind bei mir stilistische Ausreißer und argumentative Umwege wohl gelitten. Auch dies entspricht dem Inhalt der Wert-Abspaltungsthese, die deutlich macht, dass nicht alles "identitätslogisch" (Adorno) im Wert, im Begriff, in der Struktur aufgeht. Ich bin kein "Schneider Meck-Meck-Meck nach dem Durchlauf in der formal-publizistischen Mühle"1, wo alles Überstehende eskamotiert werden soll, was nicht den allgemeinen Stilgesetzen entspricht. Auch insofern lassen sich Form und Inhalt nicht auseinanderdividieren. Ein unkomplizierter Satzbau, mehr kurze, knackige Zusammenfassungen immer mal zwischendrin und das Motto von Focus-Markwort "Und an die Leser denken" (wobei man sich das "Fakten, Fakten, Fakten" vorweg verkniffen hat, schließlich hat man die adornitische Positivismuskritik doch irgendwie verinnerlicht) wurden mir nach dem Lesen der ersten Fassung dieses Textes ungeachtet des komplexen Gegenstandes jedoch keineswegs bloß von doktorarbeitsgeschädigten Aspiranten einer Hochschule nahe gelegt.

 

Dies vorausgeschickt, möchte ich nun im ersten Teil, als Voraussetzung, um sie im folgenden in der Konfrontation mit anderen theoretischen Entwürfen besser fundieren und gleichzeitig auch weiterentwickeln zu können, noch einmal zentrale Aspekte der Wert-Abspaltungsthese repetieren, wie sie in früheren Artikeln bereits dargetan wurden.

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1 Ich habe diese Formulierung in Anlehnung an Barbara Duden übernommen, die einmal in einem anderen Zusammenhang schrieb: "Ich bin kein Schneider MeckMeckMeck nach dem Durchlauf in der dekonstruktiven Mühle" (Duden, 1993, S. 29).

 

Erster Teil: Zum Begriff von Wert und Wert-Abspaltung

Am besten lässt sich zeigen, was "Wert-Abspaltung" meint, wenn zuvor erhellt wird, was ein androzentrischer Wertbegriff im Sinne der "fundamentalen Wertkritik", an den ich kritisch anschließen will, bedeutet. Gemeinhin wird der Wertbegriff positiv genommen, sei es im traditionellen Marxismus, im Feminismus oder in der Volkswirtschaftslehre, in der er etwa in der Form von Preisen als voraussetzungsloser und überhistorischer Gegenstand menschlicher Gesellschaft schlechthin erscheint. Nicht so bei der "fundamentalen Wertkritik". Der Wert wird hier als Ausdruck eines gesellschaftlichen Fetischverhältnisses verstanden und kritisiert. Unter den Bedingungen von Warenproduktion für anonyme Märkte setzen die Gesellschaftsmitglieder ihre Ressourcen nicht nach einem gemeinsamen Beschluss für die sinnvolle Reproduktion ihres Lebens ein, sondern sie produzieren isoliert voneinander Waren, die erst durch den Austausch auf dem Markt zu gesellschaftlichen Produkten werden. Indem diese Waren "vergangene Arbeit" (Verausgabung abstrakt-menschlicher, gesellschaftlicher Energie) "repräsentieren", sind sie "Wert"; das heißt, sie stellen eine bestimmte Quantität verausgabter gesellschaftlicher Energie dar. Diese Darstellung wiederum äußert sich in einem besonderen Medium, dem Geld, das die allgemeine Form des Werts für das gesamte Waren-Universum abgibt.

Das gesellschaftliche Verhältnis, das durch diese Form vermittelt wird, stellt die Beziehungen von Personen und sachlichen Produkten auf den Kopf: Die Gesellschaftsmitglieder als Personen erscheinen ungesellschaftlich, als bloße Privatproduzenten und zusammenhanglose Individuen; umgekehrt erscheint die gesellschaftliche Beziehung als das Verhältnis von Sachen, von toten Dingen, die sich über die abstrakten Quantitäten des Werts, den sie jeweils repräsentieren, miteinander ins Verhältnis setzen. Die Personen werden versachlicht und die Sachen quasi verpersönlicht. Es entsteht eine wechselseitige Entfremdung der Gesellschaftsmitglieder, die ihre Ressourcen nicht nach bewussten gemeinsamen Beschlüssen einsetzen, sondern sich einem blinden Verhältnis toter Dinge - ihrer eigenen Produkte - aussetzen, das durch die Geldform gesteuert wird. Auf diese Weise kommt es immer wieder zu einer Fehlsteuerung der Ressourcen, zu Krisen und gesellschaftlichen Katastrophen.

Die Kritik dieses Fetischismus, der die Menschen als gesellschaftliche Wesen den Verhältnissen ihrer eigenen Produkte unterordnet, muss also 13 schon auf der Ebene von Warenproduktion, Wert, abstrakter Arbeit und Geldform ansetzen. Genau daran ist die bisherige marxistische Theoriebildung gescheitert, von der diese eigentliche Radikalität der Marxschen Theorie ins Philosophische ausgegrenzt wurde, während sie konkret gesellschaftstheoretisch, also im sozialen und ökonomischen Sinne, das kategoriale Gefängnis des modernen warenproduzierenden Systems (in allen seinen historisch ungleichzeitigen Ausformungen) nicht zu sprengen vermochte. Der "fundamentalen Wertkritik" kommt es im Gegensatz dazu genau darauf an, diesen verschollenen Kern der Kritik der politischen Ökonomie aufzudecken und die scheinbar selbstverständliche Form des Werts in ihrem negativen Fetischcharakter bewusst zu machen, um zu einer Reformulierung radikaler Gesellschaftskritik zu gelangen: "Als Waren sind die Produkte entsinnlichte abstrakte Wert-Dinge und nur in dieser seltsamen Gestalt gesellschaftlich vermittelt. Im Kontext der Marxschen Kritik an der Politischen Ökonomie ist dieser ökonomische Wert rein negativ bestimmt, als verdinglichte, fetischistische, von jedem konkreten sinnlichen Inhalt losgelöste, abstrakte und tote Darstellungsform vergangener gesellschaftlicher Arbeit an den Produkten, die sich in einer permanenten Formbewegung der Austauschbeziehungen bis zum Geld als dem ’abstrakten Ding’ fortentwickelt" (Kurz, 1991, S. 16f.).

Allerdings findet sich dieser spezifische Fetischismus der Warenform als allgemeines und dominierendes Prinzip der Vergesellschaftung erst in den modernen warenproduzierenden Systemen. Es war allein der moderne Kapitalismus, der eine vom übrigen Leben und anderen Beziehungsformen abgelöste und verselbständigte, auf anonyme Märkte bezogene Warenform hervorbrachte, die gleichzeitig den gesellschaftlichen Lebensprozess beherrscht. Vorher wurde primär für den Gebrauch produziert, nicht nur in agrarischen Zusammenhängen, sondern selbst in den Zünften, die speziellen Zunftgesetzen unterlagen. Auch der Begriff einer gesellschaftlichen "Totalität" konnte überhaupt erst mit diesem real totalitären Zugriff der Waren- und Geldform auf die Gesellschaft entstehen. Warenproduktion, Geldbeziehung und "Marktwirtschaft" als allgemeiner Systemzusammenhang entstanden dadurch, dass sich der Wert und damit seine Erscheinungsform, das Geld, aus einem bloßen Medium, das real unabhängige Produzenten (Familienwirtschaften etc.) vermittelte, in einen allgemeinen gesellschaftlichen Selbstzweck verwandelte: Das Geld wurde als Kapital auf sich selbst rückgekoppelt, um es zu "verwerten", das heißt aus Geld in einem rastlosen Prozess "mehr Geld" (Mehrwert) zu machen.

Für diese kapitalistisch produktive "Verwertung des Werts" sind zwei Bedingungen konstitutiv, die eine solche kapitalistische Produktionsweise von jeder vormodernen Warenproduktion unterscheiden. Erstens wird die 14 Produktion von Gebrauchsgütern, die in vorkapitalistischen Verhältnissen noch der selbstverständliche Sinn der Produktion war, nunmehr zum bloßen Träger der Wertabstraktion und damit die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse zum bloßen "Nebenprodukt" der Akkumulation von Geldkapital. Es findet also eine Verkehrung von Zweck und Mittel statt: "Der Fetischismus ist selbstreflexiv geworden und konstituiert dadurch die abstrakte Arbeit als Selbstzweckmaschine. Er ’erlischt’ jetzt nicht mehr im Gebrauchswert, sondern stellt sich dar als Selbstbewegung des Geldes, als Verwandlung eines Quantums toter und abstrakter Arbeit in ein anderes, größeres Quantum toter und abstrakter Arbeit (Mehrwert) und somit als tautologische Reproduktionsbewegung und Selbstreflexion des Geldes, das erst in dieser Form Kapital, also modern wird" (Kurz, 1991, S. 18).

Zweitens muss die menschliche Arbeitskraft selber zur Ware werden. Von jedem eigenständigen und eigenwilligen Zugriff auf die Ressourcen enteignet, wurde ein wachsender Teil der Gesellschaft unter das Joch von "Arbeitsmärkten" geschickt und das menschliche Produktionsvermögen auf diese Weise zu einem grundsätzlich fremdbestimmten gemacht. Erst unter diesen Bedingungen wird die Produktionstätigkeit zur "abstrakten Arbeit", die nichts anderes ist als die spezifische Tätigkeitsform für den abstrakten Selbstzweck der Geldvermehrung im Funktionsraum der kapitalistischen "Betriebswirtschaft", das heißt abgetrennt vom Lebenszusammenhang und von den Bedürfnissen der Produzenten selbst.

 

Mit der Entfaltung des Kapitalismus wird demnach das gesamte individuelle und gesellschaftliche Leben rund um den Globus durch die Selbstbewegung des Geldes geprägt, wobei die "lebendige Arbeit nur noch als Ausdruck der verselbständigten toten Arbeit (erscheint)" und die erst im Kapitalismus entstandene (abstrakte) Arbeit jetzt unhistorisch als ontolgisches Prinzip angenommen wird (Kurz, 1991, S. 18 f.).

 

Die verkürzte Sicht des traditionellen Arbeiterbewegungs-Marxismus auf diesen Systemzusammenhang bestand nun gerade darin, dass er den "Mehrwert" in einem bloß oberflächlichen und soziologischen Sinne kritisierte, nämlich als dessen "Aneignung" durch die "Kapitalistenklasse". Nicht die Form des auf sich selbst fetischistisch rückgekoppelten Werts als solche war also der Stein des Anstoßes, sondern lediglich dessen "ungleiche Verteilung". Eben deshalb blieb dieser "Arbeitsmarxismus", so die Vertreter der "fundamentalen Wertkritik", auch in der Ideologie einer bloßen "Verteilungsgerechtigkeit" stecken.

Der absurde Selbstzweck der totalitären Waren- und Geldform selbst ist das Problem, während die "gerechte Verteilung" innerhalb dieser Form den Systemgesetzen und damit den systemischen Restriktionen unterworfen bleibt, also eine bloße Illusion ist. Eine bloße Umverteilung in der Waren-, 15 Wert- und Geldform, wie immer sie vorgenommen wird, kann weder die Krisen verhindern noch die globale, kapitalistisch erzeugte Armut überwinden; nicht die Abschöpfung des abstrakten Reichtums in der unaufgehobenen Geldform ist das entscheidende Problem, sondern diese Form selbst. Die alte Arbeiterbewegung konnte demnach mit ihrer verkürzten "Kapitalismuskritik" in den unüberwundenen Kategorien des Kapitalismus selber nur vorübergehend systemimmanente Verbesserungen und Erleichterungen erringen, die heute - in der Krise des warenproduzierenden Systems -schrittweise wieder zunichte gemacht werden. Der traditionelle Marxismus und die politische Linke überhaupt machten sich dabei alle grundlegenden kapitalistischen Vergesellschaftungs-Kategorien zu eigen, insbesondere die abstrakte "Arbeit", den Wert als vermeintlich überhistorisches allgemeines Prinzip, demzufolge auch Waren- und Geldform als allgemeine Beziehungsform und den universellen anonymen Markt als Sphäre der fetischistischen gesellschaftlichen Vermittlung usw., während die mit diesem kategorialen Systemzusammenhang einhergehende Misere und Entfremdung durch äußerliche politische Eingriffe behoben werden sollte - eine auch heute wieder und immer noch in (links)keynesianischer Verwässerung stets aufs neue aufgewärmte Illusion.

Ein innerhalb der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte relativ eigenständiges Übergangssystem konnte mit der Legitimation dieser Ideologie nur in den historisch ungleichzeitigen Nachzügler-Gesellschaften der modernen Warenproduktion entstehen; nämlich als jene "nachholende Modernisierung" in staatskapitalistischen Formen, die als "sozialistisches Gegensystem" (miss)verstanden wurde, obwohl sie nirgends aus der Krisenreife eines entwickelten Kapitalismus hervorging, sondern dieses Paradigma nur in kapitalistisch "unterentwickelten" Gesellschaften an der Peripherie des Weltmarkts für einige Jahrzehnte dominant wurde (Rußland, China, Dritte Welt). Da es sich auch bei diesen Gesellschaften um - wenngleich "nachholende" - warenproduzierende Systeme handelte, war in ihnen zwangsläufig die kapitalistische Ware-Geld-Dynamik anonymer Marktvermittlung (die immer schon das Prinzip der Konkurrenz einschließt) wirksam, wenngleich in anderer Weise als im Westen, indem hier nämlich der Staat als Generalunternehmer auftrat.

Und diese Dynamik der auch in den Ostblock-Staaten auf sich selbst rückgekoppelten abstrakten Wertform war es schließlich auch, die den "realexistierenden Sozialismus" (alias Staatskapitalismus) - vermittelt über Weltmarktprozesse und den Wettlauf in der Produktivkraftentwicklung - zu Fall brachte und die weltweiten Krisen- und Bürgerkriegsszenarios der 90er Jahre heraufführte. Mit dem Zusammenbruch der "nachholenden Modernisierung" eröffnete sich freilich keine "Reformperspektive" für den Übergang zu 16 "Marktwirtschaft und Demokratie" (wie der westliche Urkapitalismus im Jargon auch der konformistischen Linken inzwischen genannt wird), sondern unter der Bedingung, dass das warenproduzierende System und seine Kriterien beibehalten werden, nur noch die "Perspektive" der Barbarei.

Schon in den 80er Jahren verflog die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen auch in der "Dritten Welt". Die Perspektive der immer schon warenförmig-fetischistisch gedachten so genannten "Entwicklung", die - verbunden mit einer Modernisierungseuphorie - noch den Zeitgeist bis etwa Mitte der 70er Jahre bestimmt hatte, war zeitweise via Kredit als einlösbar erschienen. In den 80er Jahren brach jedoch auch dieses auf den Rahmen des kapitalistischen Weltsystems beschränkte Konzept zusammen und viele Dritt-Welt-Länder wurden durch den neoliberalen Druck, der zum Beispiel zu einer Verschuldung bei IWF und Weltbank führte, ins Elend gerissen. Vorgaben zur Tilgung der Kredite durch diese Institutionen führten zu euphemistisch so genannten "Strukturanpassungsprozessen" und einer drastischen Verschlechterung der sozialen Lage beim Großteil der Bevölkerung. Mittlerweile lässt sich absehen, dass sich diese prekären Existenzbedingungen auch in den hoch industrialisierten westlichen Industrienationen selber ausbreiten. Der Wert, die abstrakte Arbeit, die warenförmige Vermittlung auf der Basis des kapitalistischen Selbstzwecks werden überhaupt obsolet; der "Kollaps der Modernisierung" zeigt sich immer deutlicher (Kurz, 1991).

Die Paradoxie der postmodernen Situation besteht gerade darin, dass der Kapitalismus einerseits unfähig zur Reproduktion der Menschheit wird (selbst nach seinen eigenen, ohnehin inakzeptablen Kriterien), andererseits aber die bisherigen Paradigmen einer verkürzten, kategorial in den Formen des warenproduzierenden Systems befangenen "Kapitalismuskritik" (sei es altmarxistisch-arbeiterbewegter, sei es keynesianischer, sei des "nationalrevolutionär"-antiimperialistischer Provenienz) schlichtweg ins Leere gehen. Die sozialen Disparitäten sind nicht verschwunden, sondern haben sich im Gegenteil dramatisch verschärft; aber sie können nicht mehr in Begriffen eines "vorenthaltenen Mehrwerts", das heißt nicht im Sinne eines bloß soziologischen (von den basalen gesellschaftlichen Formzusammenhängen absehenden) Verständnisses von "Klassenverhältnissen" oder "nationalen Abhängigkeitsverhältnissen" abgebildet werden.

Diese Sicht der "fundamentalen Wertkritik", so logisch sie in sich auch ist und so plausibel sie viele Erscheinungen der gegenwärtigen Weltkrise zu erklären vermag, bleibt in dieser ihrer Logik aber dem Geschlechterverhältnis gegenüber indifferent. Es ist unmittelbar einsichtig, dass hier geschlechtsneutral bloß der Wert und in diesem Zusammenhang die "abstrakte Arbeit", wenngleich auch als Gegenstand radikaler Kritik, zu theoretischen Ehren kommen. Dass im warenproduzierenden System auch Haushaltstätigkeiten 17 verrichtet, Kinder erzogen und Pflegetätigkeiten ausgeführt usw., also Aufgaben erledigt werden müssen, die für gewöhnlich Frauen (selbst wenn sie erwerbstätig sind) zufallen und die nicht bzw. nicht ausschließlich professionell "bearbeitet" werden können, bleibt dabei außen vor (vgl. zum folgenden Kurz, 1992, S. 135 ff. und 155 ff.; Scholz, 1992).

Der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang bestimmt sich also keineswegs allein aus der fetischistischen Selbstbewegung des Geldes und dem Selbstzweckcharakter der abstrakten Arbeit im Kapitalismus. Vielmehr findet eine geschlechtsspezifische "Abspaltung" statt, die mit dem Wert dialektisch vermittelt ist. Das Abgespaltene ist kein bloßes "Subsystem" dieser Form (wie etwa der Außenhandel, das Rechtssystem oder auch die Politik), sondern wesentlich und konstitutiv für das gesellschaftliche Gesamtverhältnis. Das heißt, es besteht kein logisch-immanentes "Ableitungsverhältnis" zwischen Wert und Abspaltung. Die Abspaltung ist der Wert und der Wert ist die Abspaltung. Beides ist im anderen enthalten, ohne deshalb jeweils mit ihm identisch zu sein. Es handelt sich um die beiden zentralen, wesentlichen Momente desselben in sich widersprüchlichen und gebrochenen gesellschaftlichen Verhältnisses, die auf demselben hohen Abstraktionsniveau erfasst werden müssen.

Denn dasjenige, was nicht vom Wert erfasst werden kann, also abgespalten wird, dementiert ja den Totalitätsanspruch der Wertform; es stellt das Verschwiegene der Theorie selbst dar und kann deswegen nicht mit dem Instrumentarium der Wertkritik erfasst werden. Da sie die Kehrseite der abstrakten Arbeit darstellen, können die weiblichen Reproduktionstätigkeiten so auch nicht einfach mit dem abstrakten Arbeitsbegriff belegt werden, wie dies im Feminismus häufig geschieht, der die positive Arbeitskategorie weitgehend vom Arbeiterbewegungs-Marxismus übernommen hat. In die abgespaltenen Tätigkeiten, die nicht zuletzt auch menschliche Zuwendung, Betreuung, Pflege bis hin zu Erotik, Sexualität, "Liebe" umfassen, gehen Gefühle, Emotionen und Haltungen mit ein, die der "betriebswirtschaftlichen" Rationalität im Bereich der abstrakten Arbeit entgegengesetzt sind und sich der Arbeitskategorie widersetzen, auch wenn sie von zweckrationalen Momenten und protestantischen Normen nicht völlig frei sind.

Dabei werden in der patriarchalen Moderne nicht nur bestimmte Tätigkeiten, sondern auch Gefühle und Eigenschaften (Sinnlichkeit, Emotionalität, Verstandes- und Charakterschwäche usw.) an "die Frau" delegiert bzw. ihr zugeschrieben und in sie hineinprojiziert. Das männliche Aufklärungssubjekt, das als gesellschaftsbestimmendes für Durchsetzungskraft (in der Konkurrenz), Intellekt (hinsichtlich kapitalistischer Reflexionsformen), Charakterstärke (in der Anpassung an kapitalistische Zumutungen) u. ä. steht und das selbst noch etwa den disziplinierten männlichen Feinmechaniker der 18 fordistischen Phase in der Fabrik (unbewusst) konstituierte, ist selber wesentlich über diese "Abspaltung" strukturiert. Insofern hat die Wert-Abspaltung also auch eine kulturell-symbolische Seite und eine sozialpsychologische Dimension, der meines Erachtens nur mit einem psychoanalytischen Instrumentarium beizukommen ist.

Demgemäß sind die - entsprechend der Wert-Abspaltung - gleichermaßen dialektisch vermittelten Sphären von Privatheit und Öffentlichkeit idealiter jeweils männlich bzw. weiblich besetzt. Dennoch "sitzt" das Geschlechterverhältnis freilich nicht verdinglicht in den Bereichen von Privatsphäre und Öffentlichkeit, wie es stereotype Annahmen nahe legen könnten. Frauen waren schon immer auch in öffentlichen Sphären, vor allem der kapitalistischen Erwerbssphäre, anzutreffen; aber die Abspaltung setzt sich eben auch innerhalb der öffentlichen Sphären fort.

Selbst noch in der Postmoderne, wenn die Berufstätigkeit von Frauen immer mehr zunimmt, ihre Qualifikationen mit denen der Männer gleichgezogen haben und die "Verwirrung der Geschlechter" beliebtes Medienthema wird, fällt auf, dass die Geschlechterhierachie und die Zurücksetzung von Frauen keineswegs grundsätzlich verschwunden sind. Frauen sind im Verhältnis zu Männern immer noch bevorzugt in der Privatsphäre für Kinder und Hausarbeit zuständig, werden in der Erwerbssphäre schlechter bezahlt, sind in führenden öffentlichen Positionen selten anzutreffen usw., was wohl in den "klassisch" modernen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, Zuordnungen und dementsprechend realen Zuständigkeiten der Frauen für private Reproduktionsbelange wurzelt und sich selbst noch in postfordistischen Zeiten bemerkbar macht.

Diese Kritik an einem androzentrisch gedachten Wertbegriff, wie sie mit der Theorie der Wert-Abspaltungsform als übergreifendem Begriff gesetzt ist, hat nicht nur für die "fundamentale Wertkritik" Konsequenzen, sondern ebenso für andere Ansätze, die sich schon in der Vergangenheit kritisch (wenn auch meistens inkonsequent) mit Wertabstraktion und Warenfetisch auseinandergesetzt haben. In die Schusslinie gerät dabei insbesondere auch ein in linken und in manchen feministischen Konzepten vorfindbarer, emphatischer und prinzipiell positiv besetzter Begriff des "Gebrauchswerts", weil dieser zum Beispiel als "weiblich" gedacht wird und als solcher angeblich per se bereits Widerstandspotentiale in sich bergen soll. Denn bei der Entsprechung Gebrauchswert = Weiblich, Tauschwert = Männlich werden unter Beibehaltung der hierarchischen Unterordnung des Gebrauchswerts unter den Tauschwert wiederum geschlechtsspezifische Disparitäten lediglich aus der vermeintlich geschlechtsneutralen Warenform abgeleitet. Die Analyse verbleibt weiterhin in androzentrischer Manier bloß im Binnenraum der Ware.

Nach Kornelia Hafner ist es dagegen schon bei Marx entscheidend, "dass die Gebrauchswerte als Geschöpfe des Kapitals selbst erscheinen" und die Annahme eines selber abstrakten "reinen Nutzens" des Gebrauchswerts in verallgemeinerter Form erst auftaucht, nachdem sich die Warenform durch das Kapitalverhältnis einigermaßen flächendeckend verallgemeinert hat (Hafner zit. n. Kurz, 1992, S. 137). Für die hier zentral in Rede stehende "fundamentale Wertkritik" folgt daraus, dass die Ware nur im Zirkulationsprozess, als Marktding, "Gebrauchswert" ist, und insofern bleibt auch der Gebrauchswert bloß eine abstrakt-ökonomische Fetischkategorie. Er bezeichnet nicht den konkreten Nutzen des sinnlich-stofflichen Gebrauchs, sondern nur den abstrakten "Nutzen schlechthin" als Gebrauchswert eines Tauschwerts. Vom Standpunkt der Wert-Abspaltung aus ist der Gebrauchswert-Begriff somit gewissermaßen selbst Teil des abstrakt-androzentrischen Warenuniversums.

Die Sphäre, die nun tatsächlich aus dem ökonomischen Formzusammenhang herausfällt, sind die Konsumtion und die damit verbundenen vor- und nachgelagerten Tätigkeiten; deshalb ist der Zugang zum "Abgespaltenen" der Wertform zunächst auch hier zu suchen. Real stofflich-sinnlich gebraucht und genossen werden die Waren erst im Konsum. Damit entzieht sich das im Konsum "verknusperte", warenförmig hergestellte Produkt der Warenform. Außer acht bleibt dabei, dass das Herausfallen der Güter aus dem ökonomischen Formzusammenhang nicht einfach unmittelbarer "bloßer" Konsum ist, sondern vermittelt durch eine Sphäre von Reproduktionstätigkeiten, die sich mit teilweise oder sogar apriorisch nicht-warenförmig vermittelten Tätigkeiten, Momenten und Beziehungen verschränken.

Das so bestimmte "Abgespaltene", das aus der Sicht des androzentrischen, vom Wert erfassten Formzusammenhangs an der Grenze zur Konsumtion gewissermaßen ins Leere führt, erscheint deshalb in der männlichen, eindimensional auf die Reflexion des Werts bezogenen Gesellschaftstheorie gleichsam als Ahistorisches, Qualliges und Formloses wie das Weibliche in der christlich-abendländischen Gesellschaft überhaupt, dem wertformanalytisch nicht mehr beizukommen ist. Nicht zur Abspaltung gehörig ist dagegen die Konsumtion von Produktionsmitteln, die betriebswirtschaftlich vernutzt werden, wie Maschinen, Investitionsgüter usw.; diese verbleiben unmittelbar im "männlichen Universum" des Werts.

Nun geht die "Abspaltung" freilich begrifflich nicht im Konsum und in der Zubereitung der gekauften Gebrauchsdinge für den Verbrauch auf; hinzu kommen noch zentral Zuwendung, Betreuung, Pflege, "Liebe" usw. bis hin zur Sexualität und Erotik. Was dabei verpflichtende Tätigkeit und existentielle Lebensäußerung ist, lässt sich nicht mehr exakt auseinander halten. Gerade dies aber macht das Belastende der weiblichen Reproduktionstätigkeiten im Gegensatz zur Situation des "abstrakten Arbeiters" aus.

Die Herausbildung der abstrakten Arbeit und der Abspaltung ist somit -historisch und logisch - grundsätzlich gleich ursprünglich; es kann also das eine gegenüber dem anderen nicht als Erzeuger angesehen werden. Beide sind jeweils die Voraussetzung für die Konstitution des anderen. Insofern stellt das Verhältnis Wert-Abspaltung gewissermaßen eine Metastruktur gegenüber der reduktionistischen Annahme dar, allein der Wert sei das Konstitutionsprinzip, das Wesen warenproduzierender Gesellschaften.

Das weibliche Abgespaltene ist so das Andere der Warenform als ein für sich stehendes; andererseits bleibt es aber unselbständig und minderbewertet, gerade weil es sich um das abgespaltene Moment im Zusammenhang der gesellschaftlichen Gesamtreproduktion handelt. Man könnte somit sagen: Entspricht der Ware die abstrakte Form, dann dem Abgespaltenen die abstrakte Formlosigkeit; ja man könnte beim Abgespaltenen geradezu paradox von einer Form der Formlosigkeit sprechen, wobei diese - um es noch einmal zu betonen - logischerweise nicht mehr von den Kategorien des warenförmigen Binnenzusammenhangs erfasst werden kann. Die warenförmig-androzentrische Wissenschaft und Theorie vermag diesem Verhältnis nicht Rechnung zu tragen, da sie das aus der Warenform Herausfallende als "Nichtlogisches" und "Nichtbegriffliches" aus ihrer Theoriebildung und ihren Begriffsapparaten herauskatapultieren muss.

Dabei handelt es sich bei der hier angesprochenen "Sinnlichkeit" im Kontext der "Abspaltung" freilich um eine historisch gewordene. Dies gilt nicht nur für die Reproduktionsleistungen von Frauen (Zubereitung der Güter für den Konsum, Liebe, Pflege, Zuwendung usw.), die erst mit der Ausdifferenzierung in einen kapitalistischen Erwerbsarbeitsbereich einerseits und einen Bereich häuslich-privater Reproduktion andererseits im 18. Jahrhundert entstanden (vgl. zum Beispiel Hausen, 1976), sondern ebenso für die Bedürfniskonstitution überhaupt 2.

Dass im Kontext der Wert-Abspaltungsform das abgespaltene "Weibliche" nicht das irgendwie "bessere" gegenüber der warenförmigen "Männlichkeit" ist, ergibt sich schon allein daraus, dass es sich um eine negative Einheit von Warenform und "Abgespaltenem" handelt. Daraus resultiert wiederum, dass auch Frauen, die (nur) im Reproduktionsbereich tätig sind (eine Bestimmung, die empirisch nicht für jede Frau gelten muss), eine bornierte und entfremdete Existenz führen, die sich spiegelbildlich zur Entfremdung der abstrakten Arbeit im betriebswirtschaftlichen Funktionsraum des Kapitals verhält. Der sinnliche Gebrauch und Genuss, aber auch die sich darum rankenden Tätigkeiten und zugeschriebenen Eigenschaften der Frau als abgespaltenes Moment sind demnach kapitalistisch gesellschaftsimmanent, wenngleich auch nicht wertformimmanent.

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2 Ohne hier in eine vulgärkonstruktivistische Haltung verfallen zu wollen, die selbst noch von einem dynamischen, durch Gesellschaftlichkeit vermittelten Naturverhältnis nichts wissen will, muss gesagt werden, dass jeder Trieb schon immer gesellschaftlich-kulturell strukturiert ist und nie einfach als natürlich-unmittelbarer vorkommt.

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Gemäß der Wert-Abspaltungsthese muss somit davon ausgegangen werden, dass das moderne Geschlechterverhältnis im Kontext des warenproduzierden Patriarchats zu untersuchen ist, also (ebenso wie der Wert selbst) nicht als überhistorische Gegebenheit "parallel" zu den verschiedenen Gesellschaftsformationen. Dies heißt nicht, dass es keine Vorgeschichte hat. Allerdings erreicht das Geschlechterverhältnis in der warenproduzierenden Moderne eine gänzlich neue Qualität, der es theoretisch und analytisch Rechnung zu tragen gilt. In der Postmoderne ist nun wiederum eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses zu konstatieren. Dennoch ist dabei, wie schon angedeutet, die moderne Grundcodierung im Sinne der Wert-Abspaltung und die dementsprechende Geschlechter-Hierarchisierung nach wie vor in all ihren postmodernen Brechungen, Diversifikationen, Umpolungen, Um- und Überformungen, Rückkoppelungen und Ausdifferenzierungen festzustellen; im Karrierefrauen- oder Hausmann-Dasein ebenso wie im Damenfußball und Männerstriptease, in Lesben- und Schwulenhochzeiten oder in den heute medial hofierten Transi-Shows, um nur einige pointierte Beispiele zu nennen.

Seit der Veröffentlichung der hier kurz referierten Positionsbestimmungen zur übergreifenden Metastruktur der Wert-Abspaltung sind nun schon einige Jahre ins Land gezogen, und es gibt mancherlei zu modifizieren und zu präzisieren, wie ich zeigen werde. So wird etwa mittlerweile noch klarer, wohin die postmoderne Entwicklung des warenproduzierenden Patriarchats treibt: Es kommt nicht nur zu den besagten Um- und Überformungen, Rückkoppelungen und Umpolungen, sondern im Zuge der strukturell bedingten Krise des nunmehr weltumspannenden kapitalistischen Systems sogar zu einer Verwilderung des warenproduzierenden Patriarchats im globalen Maßstab. Frauen sind so in den heftigen sozialen Verwerfungen der Weltkrise zwar - im Gegensatz zu den früheren Verhältnissen bis in die fordistische Phase hinein heute auch dem Leitbild nach - nicht mehr für die Reproduktionssphäre allein zuständig, dafür allerdings im Gegensatz zu Männern nunmehr für Haushalt und Erwerbstätigkeit gleichermaßen, wobei ihre Minderbewertung dennoch oder gerade deshalb bleibt. Damit blamieren sich allerdings auch jene optimistischen Einschätzungen seit Mitte der 80er Jahre, die eine Emanzipation der Frauen fast schon für erreicht hielten bzw. derartiges sogar heute noch behaupten.

Diesen Verwilderungstendenzen stellt die Position der Wert-Abspaltungskritik das Ziel der Aufhebung von Wert, Warenform, Marktwirtschaft, abstrakter Arbeit und Abspaltung entgegen; eine Perspektive somit für die Überwindung des warenproduzierenden Gesamtverhältnisses, die sowohl in materieller als auch in ideeller und sozialpsychologischer Hinsicht greifen muss. In diesem radikalen Sinne steht die Aufteilung dieser Ebenen und Bereiche generell zur Disposition, was eine Kritik der heute bloß verfallenden Kleinfamilie einschließt. Mithin geht es um die Aufhebung von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" im bisherigen Sinne überhaupt, und damit auch der ihnen entsprechenden Zwangssexualitäten.

Im Folgenden soll nun von dieser Position radikaler Kritik aus eine Auseinandersetzung mit einigen maßgeblichen Konzepten im theoretischen Feminismus erfolgen. Dabei will ich im kritischen Bezug auf einen Aufsatz von Regina Becker-Schmidt erst einmal grundsätzlich herausarbeiten, dass Strukturen, Mechanismen, Phänomenologien etc. der Wert-Abspaltung nur für das warenproduzierende Patriarchat Geltung beanspruchen können und es verfehlt wäre, diese auch in nicht-modernen Gesellschaften am Werke zu sehen, ja sie womöglich noch als "gattungsgegeben" hinzustellen. Nach dieser basalen Abgrenzung wende ich mich sodann Ansätzen zu, die das Geschlechterverhältnis im warenproduzierenden Patriarchat theoretisch einzufangen trachten.

(...)

Dritter Teil: Die modifizierte Wert-Abspaltungstheorie

Als nächstes soll nun der Ertrag der bisherigen Überlegungen dargestellt werden. Welche Innovationen ergeben sich nach meinem Theoriedurchgang für die Wert-Abspaltungstheorie? Mein Ziel besteht dabei darin, die Silhouette einer so gewonnenen, erweiterten Fassung einer Theorie der Wert-Abspaltung im Spannungsfeld von Kritik und Rekurs auf die diskutierten Theorieansätze erkennbar werden zu lassen. Dies heißt freilich nicht, dass ich die theoretischen Ausführungen zur "Wert-Abspaltung" damit für abgeschlossen halte. Vielmehr ist mit dem nachfolgenden Fazit ein Programm formuliert, das zu weiteren Forschungen und Entfaltungen drängt; ist doch offenbar, dass manches in meinen Überlegungen bislang eher kursorisch dargetan wurde, so zum Beispiel zum Verhältnis von Identitätslogik und Geschlechterverhältnissen oder auch zum androzentrischen gesellschaftlichen Unbewussten. Die Erkenntnis der Grenzen von Theoriebildung schlechthin, die gerade aus den erweiternden Ausführungen der Wert-Abspaltungstheorie folgt, schließt freilich eine weitere Ausgestaltung und Präzisierung dieser Theorie nicht aus. Andernfalls könnte man von vornherein auf Theorie überhaupt verzichten und sich in falscher Ummittelbarkeit gleichermaßen positivistisch - bloß in der vitalistischen Umkehrung - mit dem positiv Gegebenen begnügen.

Auf die Konzeption Ostners zur Trennung von "Beruf und Hausarbeit" gehe ich in diesem Zusammenhang nicht mehr ein, weil ich diesen Ansatz einerseits bereits in früheren Aufsätzen (vgl. Kurz, 1992, Scholz, 1992) kritisch aufgehoben sehe und ich andererseits, wenngleich in einer altmarxistischen Variante, in der Bestimmung des "kapitalistischen Patriarchats als Zivilisationsmodell" von Haug eine Weiterentwicklung der Gedanken von Ostner erblicke, die ebenfalls wert-abspaltungstheoretisch korrigiert werden muss.

Die Konzeption von Ostner wurde in meinen Überlegungen nichtsdestoweniger berücksichtigt, weil sie wie gezeigt trotz vielem Kritisierenswerten in einigen Momenten der "fundamentalen Wertkritik" und der Wert- Abpaltungstheorie nahe kommt, ohne diese Ebene explizit darzustellen. In diesem Zusammenhang hat Ostner neueren Ansätzen durchaus auch etwas voraus. Beispielsweise könnte durch eine kritische Neulektüre zumindest zum Teil deutlich gemacht werden, warum sich in der modern-patriarchalen Entwicklung Individuen überhaupt als Männer und Frauen "konstituieren" müssen; und damit zusammenhängend, warum es überhaupt zu Geschlechtswechseln von Berufen kommen kann. Die dabei nicht zuletzt zugrunde liegende 107 Herausbildung von Berufsarbeit und "Hausarbeit", von Reproduktions- und Produktionsbereich spielt etwa bei Gildemeister/Wetterer, denen es bloß um die "Herstellung von (Zwei-)geschlechtlichkeit" nicht nur bei Geschlechtswechseln von Berufen geht, überhaupt keine Rolle, ja mehr noch: mit aller Kraft soll bei ihnen derartigen Argumentationen die Stirn geboten werden (vgl. Gildemeister/Wetterer, 1992). Deshalb halte ich es für nicht gerechtfertigt, den Ansatz von Ostner pauschal für erledigt zu halten, wie es seit den 80er Jahren in der Frauen(Gender-)Forschung Usus ist, auch wenn sicher richtig ist, dass die These vom "weiblichen Arbeitsvermögen" nicht haltbar und dieser Ansatz in vielerlei Hinsicht zu modifizieren ist.

Dies vorausgeschickt, möchte ich die nun modifizierte Wert-Abspaltungstheorie noch einmal ganz grundsätzlich gewissermaßen in einer "zweiten Runde" darstellen, um ihre Umrisse in Bezug auf den kritischen Durchgang durch die (links-)feministischen Theorieansätze deutlich werden zu lassen.

1. Das hierarchische Geschlechterverhältnis ist in theoretischer Hinsicht beschränkt auf die Moderne zu untersuchen. Rückprojektionen auf nicht-moderne Gesellschaften verbieten sich. Dies soll nicht heißen, dass das moderne Geschlechterverhältnis keine Vorgeschichte hat, die in der Tat bis in die griechische Antike zurückverfolgt werden kann. Allerdings nimmt das Geschlechterverhältnis in der Moderne doch eine gänzlich neue Qualität mit der Verallgemeinerung der Warenproduktion an, wenn die "abstrakte Arbeit zum tautologischen Selbstzweck" wird, vor diesem Hintergrund die "Banalität des Geldes" (R. Kurz) um sich greift und sich Produktions- und Reproduktionsbereich trennen, wobei der Mann hauptsächlich für den Produktionsbereich, die öffentliche Sphäre überhaupt, und die Frau primär für den -minderbewerteten - Reproduktionsbereich zuständig ist.

 

2. Dabei kann es nicht darum gehen, Geschlecht analog zur "Klasse" bloß auf der soziologischen Oberflächenebene als soziale Strukturkategorie zu bestimmen, die soziale Chancen zuweist, wie dies Becker-Schmidt propagiert. Diese von Becker-Schmidt eingenommene Perspektive offenbart, dass sie bloß das immanente Prinzip von Verteilungsgerechtigkeit im Sinne eines alten Klassendenkens zum Maßstab ihrer Konzeption nimmt. Stattdessen geht es auf einer ganz grundsätzlichen Ebene darum, die Wert-Abspaltung als Formprinzip im Sinne eines gesellschaftlichen Wesens in den Blick zu nehmen, das die Gesellschaft auf grundlegende Weise als Ganzes strukturiert und als solches kritisiert und prinzipiell in Frage gestellt werden muss. Nur so kann es gelingen, sowohl moderne Identitätsformen als auch geschlechtsspezifisch-postmoderne Flexi-Zwangsidentitäten (auf die ich noch

genauer zurückkomme) theoretisch zu bestimmen und sie einer kritischen Revision zu unterziehen.

Mit Wert-Abspaltung ist dabei wie gezeigt gemeint, dass weibliche Reproduktionstätigkeiten, aber auch damit verbundene Gefühle, Eigenschaften, Haltungen usw. (Sinnlichkeit, Emotionalität, Fürsorglichkeit zum Beispiel) vom Wert, der abstrakten Arbeit strukturell abgespalten sind. Die weiblichen Reproduktionstätigkeiten haben so einen qualitativ-inhaltlich wie der Form nach anderen Charakter als die abstrakte Arbeit; deshalb können sie auch nicht einfach unter den Arbeitsbegriff subsumiert werden. Eine derartige Bestimmung würde überdies der verbreiteten postmodernen Tendenz Vorschub leisten, wonach selbst noch von "Beziehungsarbeit", "Gefühlsarbeit" usw. gesprochen wird, ja sogar noch Liebe und Sexualität unter den Begriff "Arbeit" gefasst werden.

Wert und Abspaltung stehen dabei in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Das eine kann nicht aus dem anderen abgeleitet werden, sondern beide gehen auseinander hervor; die Abspaltung ist dem Wert nicht theoretisch untergeordnet. Folglich reichen die Kategorien der politischen Ökonomie nicht hin, der Wert-Abspaltung gerecht zu werden. Dies gilt auch für den Begriff des Gebrauchswerts, der als Gegenbegriff zum Tauschwert, entgegen einer häufigen Interpretation, selbst noch in der ökonomisch-androzentrischen Sphäre verbleibt. Demgegenüber ist es der private Konsum, im Sinne des sinnlichen Genusses bzw. des realen Gebrauchs (und der entsprechenden Aufbereitung) jenseits der abstrakten Wertform, um den sich die Tätigkeiten von Frauen im Reproduktionsbereich gruppieren. Insofern kann die Wert-Abspaltung auch als übergeordnete Logik begriffen werden, die über die warenförmigen Binnenkategorien hinausgreift. Der so bestimmte Konsum, die weiblichen Reproduktionstätigkeiten und die Warenform bedingen sich dabei gegenseitig und sind als solche immanente Kategorien des warenproduzierenden Patriarchats - "immanent" nun nicht mehr bloß im Sinne des Werts, sondern eben im Sinne der dialektisch vermittelten Wert-Abspaltung als einem umfassenderen Konstitutionsprinzip modernpatriarchaler Gesellschaften. Deshalb ist die Wert-Abspaltung auch in Gänze radikal in Frage zu stellen; das, wofür "Weiblichkeit" steht, darf somit keinesfalls als das Bessere, Bewahrenswerte und Transzendente (miss)verstanden werden, sondern es ist über das Gesamtverhältnis hinauszugehen.

Die Kategorien der politischen Ökonomie reichen jedoch auch noch in anderer Hinsicht nicht aus. Die Wert-Abspaltung impliziert auch ein spezifisches sozio-psychisches Verhältnis: bestimmte minderbewertete Eigenschaften, Haltungen, Gefühle (Sinnlichkeit, Charakter- und Verstandesschäche, Passivität u.ä.) werden im warenproduzierenden Patriarchat der Frau zugeschrieben, in sie hineinprojiziert, vom männlichen, modernen Subjekt abgespalten. Umgekehrt haben sich auch Frauen in der Geschichte des warenproduzierenden Patriarchats nicht selten selber in derartigen Zuordnungen erkannt. Diese geschlechtsspezifischen Zuschreibungen charakterisieren somit die symbolische Ordnung des warenproduzierenden Patriarchats als Ganzes. Es gilt also auch die sozialpsychologische und die kulturell-symbolische Dimension zu berücksichtigen. Nicht zuletzt auch in der Präsenz der "Abspaltung" auf diesen beiden Ebenen erweist sich die Wert-Abspaltung als Formprinzip, das die Gesellschaft des warenproduzierenden Patriarchats insgesamt durchzieht.

3. Dabei gehe ich davon aus, dass das warenproduzierende Patriarchat als umfassendes Zivilisationsmodell aufzufassen ist. In diesem Zusammenhang übernehme ich von Haug folgende Annahmen: In der symbolischen Ordnung des warenproduzierenden Patriarchats sind Politik und Ökonomie dem Mann zugeordnet; männliche Sexualität wird zum Beispiel als subjekthaft, aggressiv, gewaltsam definiert; Frauen firmieren dagegen als Objekt bzw. sogar bloße Körper. Der Mann wird so als Mensch, Geistmann/Körperüberwinder/-unterwerfer gesehen, die Frau dagegen als Nichtmensch, als Körper. Der Krieg ist männlich konnotiert, Frauen dagegen gelten als friedfertig, passiv, willenlos, geistlos. Männer müssen nach Ruhm, Tapferkeit, "unsterblichen Werken" streben.

 

Zentral geht es dabei immer um die Überwindung des Todes. Frauen obliegt die Sorge für den einzelnen wie für die Menschheit. Dabei werden ihre Taten gesellschaftlich minderbewertet und in der Theoriebildung vergessen, wobei im Prozeß der Sexualisierung der Frau ihre Unterordnung unter den Mann beschlossen liegt und ihre gesellschaftliche Marginalisierung eingeschrieben ist. Der Mann wird als Held und als werktätig gedacht. Dabei muss Natur produktiv unterworfen, beherrscht werden. Der Mann befindet sich ständig im Wettbewerb mit anderen. Diese Vorstellung bestimmt auch die Vorstellungen vom Gemeinwesen in der christlich-abendländischen Geschichte insgesamt.

Mehr noch: Leistungsfähigkeit und -willigkeit, rationelle, wirtschaftliche, effektive Zeitverausgabung, Konkurrenz und Profitstreben bestimmen das Zivilisationsmodell auch in seinen objektiven Strukturen als Gesamtzusammenhang, seine Mechanismen, seine Geschichte ebenso wie die Handlungsmaximen der Einzelnen. Insofern könnte auch reißerisch formuliert vom männlichen Geschlecht als dem "Geschlecht des Kapitalismus" die Rede sein; vor dem Hintergrund, dass eine dualistische Fassung von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" die dominierende Vorstellung von "Geschlecht" in der Moderne überhaupt ist. Das warenproduzierende Zivilisationsmodell hat somit Frauenunterdückung, die Marginalisierung von Frauen sowie damit gleichzeitig einhergehend eine Vernachlässigung des Sozialen und der Natur zur Voraussetzung. Diese Momente werden in die Reproduktionssphäre abgedrängt und führen dort ein abstraktes, borniert-privates Dasein.

4. Es lässt sich so unschwer erkennen, dass eine "Psychologie der Geschlechterdifferenz", wie sie Becker-Schmidt ontologisch annehmen zu müssen glaubt, auf jeden Fall eine Angelegenheit der Moderne ist (wobei deren Wurzeln freilich, wie schon gesagt, bis in die westliche Antike zurückreichen; dennoch hat sich das System der "Zweigeschlechtlichkeit" erst im Kontext des modernen Kapitalismus ausgebildet). Die modernen Imaginationen einer Überwindung des Todes sowie die spezifischen Dichotomien von Subjekt-Objekt, Geist-Natur, Herrschaft-Unterwerfung, Mann-Frau, die mit einer Herrschaft/Unterwerfung sowohl der Natur als auch der mit Natur gleichgesetzten Frauen einhergehen, sind als typische Kennzeichen des warenproduzierenden Patriarchats anzusehen. Es liegt so auf der Hand, dass die Abspaltung/Verdrängung/Herabsetzung des Weiblichen eine zentrale Struktur des warenproduzierenden Patriarchats auch im Sinne eines "gesellschaftlichen Unbewussten" darstellt. Haug zieht die Konsequenz eines androzentrisch bestimmten gesellschaftlichen Unbewussten nicht, obwohl dieser Gedanke sich ihrer Analyse doch geradezu aufdrängt.

 

Dabei spielt in der Konstitution dieses androzentrischen gesellschaftlichen Unbewussten im warenproduzierenden Patriarchat freilich auch die in der bürgerlich-patriarchalen Kleinfamilie bestehende Notwendigkeit der Desidentifikation des Jungen (der später dominiert) mit der Mutter, um ein Selbst ausbilden zu können, eine wichtige Rolle, die mit einer Verdrängung des Weiblichen einhergeht; aber auch der umgekehrte Vorgang, dass sich Mädchen mit der Mutter gleichsetzen, um eine weibliche Identität entwickeln zu können und bereit zu sein, eine untergeordnete Position (nicht nur) im häuslichen Bereich einzunehmen. Androzentrismus als "psychogenetisches Unterbauphänomen" möchte ich in der Diktion der Wert-Abspaltung (mich dabei von der Erfinderin dieser Formulierung, Becker-Schmidt, entfernend) und beschränkt auf das warenproduzierende Patriarchat nun so ausdeuten, dass die Verdrängung/Abspaltung des Weiblichen, die Inferiorsetzung der realen Frauen und die Existenz männlicher Dominanz in psychischen Tiefenschichten verankert ist; ja, dass die "Abspaltung" hier als gesellschaftlich-kulturelles Grundmusterundsoziopsychischer Mechanismus in Vermittlung mit der geschlechtsspezifischen Funktionsteilung die Gesellschaft als Ganzes wesentlich bestimmt. Noch im krisenhaften Verfall des warenproduzierenden Patriarchats, wenn die Kleinfamilie sich auflöst und die Individuen aus ihren Rollen freigesetzt werden, ist so eine Minderstellung von Frauen und eine andere Situiertheit als bei Männern ausmachbar, wie bald zu sehen sein wird.

5. Dabei kann nicht gemäß dem traditionellen Basis-Überbau-Schema davon ausgegangen werden, dass die geschlechtsspezifische Funktionsteilung bei der Produktion von Leben und Lebensmitteln die primäre Ebene darstellt, an die sich dann äußerlich im Lauf der Geschichte kulturelle Bedeutungen heften, wie Haug dies sieht. Stattdessen sind die kulturell-symbolische, die (sozial-)psychologische und die materielle Ebene in ihren wechselseitigen Bezügen auf derselben Relevanzebene anzusiedeln, ohne dass eine davon den Primat hat. Diese Perspektive übernehme ich von Becker-Schmidt. Nur insofern sind die Geschlechterverhältnisse in der Tat "eine Art Webwerk, (...) welches keinen bestimmten Ort hat, sondern alle Orte durchzieht", wie Haug selber sagt.

 

Die kulturell-symbolische Dimension erschließt sich dabei zum Beispiel über Diskursanalysen im Anschluss an Foucault (siehe zum Beispiel Honegger, 1991; Landweer, 1990; Laquer, 1996; und im Hinblick auf das Körpererleben Duden, 1987); die psychologische Seite bei der Sozialisation der kapitalistisch-patriarchalen Individuen kann mit einem psychoanalytischen Instrumentarium (vgl. etwa Chodorow, 1985) erfasst werden 8. Ein Zugang zur materiellen Ebene wiederum, also der geschlechtsspezifischen Funktionsteilung, der Trennung von Erwerbsarbeit und "Hausarbeit", wird im kritischen Rekurs zum Beispiel auf Ostner und Haug möglich.

 

Überhaupt gilt es, sowohl die Beschränkungen der verschiedenen Ansätze (zum Beispiel das im Grunde behavioristische Menschenbild, sein positivistisches Vorgehen, die Machtontologie bei Foucault und den an ihn anschließenden Autorinnen) aufzuzeigen als auch gleichzeitig ihrer objektiven Berechtigung nachzukommen, die sie in der verdinglichten, disparaten und fragmentierten Gesellschaft des warenproduzierenden Patriarchats haben. Es kann somit nicht um ein ableitungslogisches Vorgehen gehen, wenn die Interdependenzen zwischen den diversen Ansätzen und Ebenen herausgestellt werden sollen, sondern - wie es Becker-Schmidt zutreffend formuliert hat - es geht darum, zu "synthetisieren ohne eindimensional zu systematisieren", ohne dass deswegen die verschiedenen erkenntnistheoretischen Prämissen gleichgemacht werden sollen.

Eine derartige Herangehensweise im Kontext der Wert-Abspaltungstheorie vermeidet dann auch Probleme, vor denen etwa Haug steht, indem sie nämlich einerseits auf die Psychoanalyse rekurriert und andererseits in anderen Aufsätzen zum Beispiel die "Kritische Psychologie" eines Klaus Holzkamp bemüht. Denn für eine so gefasste Wert-Abspaltungskritik stellt sich einfach nicht das Problem eines krampfhaften und "gewalttätigen" Kompatibelmachens verschiedener Theorieansätze von den Prämissen her. Aus dieser Perspektive ist es gerade kein Manko, was Haug ausdrücklich als Defizit ihres Ansatzes benennt, nämlich dass dabei nur der Versuch unternommen werden könne, "die einzelnen Bereiche, in denen Geschlechterverhältnisse bis heute wesentlich als Herrschaftsverhältnisse wirksam sind, abzuschreiten", da immer noch zu wenige Einzelanalysen vorlägen, die theoretisch zusammengedacht werden könnten (vgl. Haug, 1996 b, S. 128). Im Grunde hat Haug also den Anspruch einer "runden", schlüssigen Theoriebildung, in der die verschiedenen Einzelstücke und die unterschiedlichen Ebenen in das Prokrustesbett eines stimmigen, abgeschlossenen Theoriegebäudes eingepasst werden. Stattdessen wäre eine solche Zwangsvereinheitlichung mit Adorno in Frage zu stellen, gerade auch in der Postmoderne. Dennoch kommt in den dargelegten Ausführungen von Haug gut zum Ausdruck, dass sich eine Abspaltung des "Weiblichen" im warenproduzierenden Patriarchat auf allen diesen drei Ebenen erkennen lässt und dabei die Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit eine zentrale Rolle spielt.

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8 Dabei ist allerdings Mechthild Rumpf zuzustimmen, wenn sie gegen Chodorow (aber auch gegen Jessica Benjamin) einwendet, dass "systemische Imperative und gesellschaftlich vermittelte Verhaltensanforderungen und Zumutungen psychogenetisch erklärt werden". Zu Recht pocht sie mit Adorno auf eine Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft, wobei den Einzelnen diese dann als verselbständigter Apparat gegenübersteht. Leider kommt es in ihrer Gesamtargumentation dann letztlich doch - ähnlich wie bei Becker-Schmidt - darauf hinaus, dass sich objektive Strukturen und die gesellschaftlichen Individuen bloß äußerlich gegenüberstehen (Rumpf, 1989, S. 84).

 

6. Im warenproduzierend-modernen Patriarchat bilden sich eine Privatsphäre und eine öffentliche Sphäre aus, wobei die Hauptprotagonisten im Privaten die Frau und im öffentlichen Bereich (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik) der Mann sind. Diese Bereiche sind einerseits autonom und gegeneinander verselbständigt, auf der anderen Seite bedingen sie sich aber gleichzeitig gegenseitig; sie stehen also in einem vermittelten, dialektischen Verhältnis zueinander. Damit allerdings ist das Wesen von Öffentlichkeit und Privatheit im warenproduzierenden Patriarchat noch nicht ausreichend charakterisiert, gilt dieses dialektische Wechselverhältnis doch prinzipiell für alle (jeweils relativ selbständigen, mit Momenten einer "Eigenlogik" versehenen) Sphären wie Wirtschaft, Bildungswesen, Privatsphäre, Erwerbsbereich, Politik usw. gleichermaßen, wenn von grundlegenden qualitativen Unterschieden abstrahiert wird.

 

In diesem Zusammenhang ist nun aber entscheidend, dass die Privatsphäre im Gegensatz zu allen anderen Sphären, die sämtlich im Binnenraum der (warenförmig bestimmten) Öffentlichkeit angesiedelt sind, nicht aus dem Wertverhältnis deduziert werden kann, sondern eben ein von allen diesen Sphären bzw. Momenten der Öffentlichkeit gleichermaßen abgespaltener Bereich ist. Diese qualitative Differenz können Becker-Schmidt/Knapp wegen ihres soziologistisch beschränkten Totalitätsverständnisses nicht nehmen. Deshalb kann sie auch das hierarchische Verhältnis etwa zwischen Erwerbssphäre und Privatsphäre bloß formal und deskriptiv feststellen und mit dem asymmetrischen Geschlechterverhältnis in Zusammenhang bringen.

 

Das warenproduzierende Patriarchat kann nicht existieren, ohne dass bestimmte Tätigkeiten und Verhaltensformen wie "Liebe", Hege, Pflege usw. in Bereiche "abgeschoben" werden, die der Wertlogik mit ihrer Moral von Konkurrenz, Profit, Leistung usw. entgegengesetzt sind - also in den Reproduktionsbereich, die Privatsphäre, die Familie, und die dabei gewissen Personen zugewiesen werden, nämlich den Frauen, die diese dem "Wert" entgegengesetzten Eigenschaften besitzen bzw. denen sie zugeschrieben werden.

Nun waren Frauen im kapitalistischen Patriarchat wie gezeigt auch schon immer in nicht unerheblichem Maße in der öffentlichen Sphäre anzutreffen, gingen sie zum Beispiel auch früher schon einer Erwerbstätigkeit nach. Berücksichtigt man jedoch, dass Frauen im Gegensatz zu Männern bis heute primär für die Versorgungsleistungen in der Familie zuständig sind, dass auf der sozialpsychologischen Ebene individuell wie gesamtgesellschaftlich eine Verdrängung des Weiblichen bei den dominierenden männlichen Subjekten konstatiert werden muss, weil im Laufe ihrer Sozialisation in der Regel eben eine Desidentifikation des männlichen Kindes mit der Mutter stattfindet, und bedenkt man ferner, dass in der symbolischen Ordnung des warenproduzierenden Patriarchats entsprechende Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder existieren, dann bedeutet die Wert-Abspaltung als übergreifendes Formprinzip gleichzeitig auf einer anderen Abstraktionsebene auch eine spezifische geschlechtliche Zuordnung von Sphären, nämlich von Frauen zur Privatsphäre und von Männern zur öffentlichen Sphäre. Die Tatsache, dass sich Frauen selbst früher schon zu einem nicht unerheblichen Prozentsatz in der Öffentlichkeit bewegten, ficht die geballte Kraft dieses materiellideell-sozialpsychologischen Kumulationszusammenhanges nicht an. Das trifft selbst heute noch zu, wenn Frauen als "doppelt vergesellschaftet" gelten.

Aus diesem Verhältnis zwischen Privatsphäre und öffentlicher Sphäre erklärt sich auch die Existenz von "Männerbünden", die sich auf den billigen Affekt gegen das "Weibliche" gründen. So sind auch der gesamte Staat und die Politik über die Prinzipien "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" seit dem 18. Jahrhundert von vornherein männerbündisch konstituiert und mehr oder weniger dementsprechend interessengeleitet.

7. Somit verbietet sich ein identitätslogisches Vorgehen sowohl was die Übertragung von Mechanismen, Strukturen, Merkmalen des warenproduzierenden Patriarchats auf nicht-warenproduzierende Gesellschaften angeht, als auch eine In-Eins-Setzung verschiedenerer Ebenen, Sphären, Bereiche im warenproduzierenden Patriarchat selbst, die von qualitativen Unterschieden absieht. Dabei könnte meines Erachtens zwar aus dem negativen Wertverständnis der "fundamentalen Wertkritik" ebenso eine Kritik der Identitätslogik gewonnen werden wie aus dem verkürzten Tauschbegriff Adornos. Eine solche um das Geschlechterverhältnis verkürzte Kritik müsste aber selber formallogisch bleiben. Denn entscheidend ist nicht einfach, dass das gemeinsame Dritte - unter Absehung von Qualitäten - die gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit, die abstrakte Arbeit ist, die gewissermaßen hinter der Äquivalenzform des Geldes steht, sondern dass diese es ihrerseits noch einmal nötig hat, das als Weiblich konnotierte, nämlich die "Hausarbeit", das Sinnliche, Emotionale, Nicht-Analytische, Nicht-Eindeutige, mit wissenschaftlichen Mitteln nicht klar Erfassbare und Lokalisierbare auszugrenzen und als minderwertig zu betrachten.

Dabei ist die Abspaltung des Weiblichen jedoch keineswegs deckungsgleich mit dem "Nicht-Identischen" bei Adorno; stattdessen stellt sie die dunkle Kehrseite des Werts selbst dar. Damit allerdings ist die Abspaltung eine Vorbedingung dafür, dass das Lebensweltliche, das Kontingente, das Nicht-Analytische, aber auch begrifflich nicht Erfassbare vernachlässigt wurde und in den männlich dominierten Bereichen von Wissenschaft, Ökonomie und Politik in der Moderne weithin unterbelichtet blieb. Federführend wurde also ein klassifizierendes Denken, das die besondere Qualität, "die Sache selbst" nicht in Augenschein nehmen kann und damit einhergehende Differenzen, Brüche, Ambivalenzen usw. entweder gar nicht wahrzunehmen oder jedenfalls nicht auszuhalten vermag.

Umgekehrt bedeutet dies für die "vergesellschaftete Gesellschaft" des warenproduzierenden Patriarchats allerdings genauso, dass die genannten Momente, Ebenen und Bereiche nicht bloß als "reale" irreduzibel aufeinander bezogen werden müssen, sondern gleichermaßen auch in ihrer objektiven und somit "inneren" Verbundenheit auf der grundsätzlichen Ebene der Wert-Abspaltung als Formprinzip der gesellschaftlichen Totalität zu betrachten sind, von dem "die Gesellschaft" überhaupt als Wesen (im Sinne einer durchgängigen Meta-Struktur) konstituiert wird und als dessen Erscheinungen jene spezifischen Momente und Bereiche sich "real" darstellen.

Es geht somit nicht auf simple Weise um eine interdisziplinäre Zusammenschau eklektischer Art, sondern die verschiedeneren Momente müssen von vornherein "wesentlich" aufeinander bezogen werden im Sinne der Wert-Abspaltung als Totalität, wobei die Katogerie der Wert-Abspaltung - im Gegensatz zum Tauschbegriff Adornos oder dem negativen Begriff des Werts gemäß der "fundamentalen Wertkritik" - von vornherein schon immer um ihre Beschränkung weiß, sie sich somit auch nicht gewissermaßen im Namen der übergreifenden Ebene absolut setzt und insofern die eigene Wahrheit "partikularer" Ebenen und Bereiche anzuerkennen weiß.

8. Gerade weil der Eigenqualität der verschiedenen Bereiche, Ebenen, Sphären, des besonderen Gegenstands, der konkreten Fragestellung und den jeweiligen (historischen) Kontexten stattzugeben ist, muss heute im spezifischen Zusammenhang der fortgeschrittenen Postmoderne, da diese zu einer Hypostasierung des Kulturellen neigt, die Bedeutung der materiellen Ebene als einer wesentlichen im warenproduzierenden Patriarchat hervorgehoben werden.

Sieht man von der problematischen, falschen Einschätzung des Verhältnisses von Tauschwert-Gebrauchswert/Konsum des Gebrauchswerts/Abspaltung sowie von der Arbeitsmetaphysik (wonach auch "Hausarbeit", ja im Prinzip das ganze Leben "Arbeit" ist) sowie von ihrer damit verbundenen altmarxistischen Basis-Überbau-Konstruktion einmal ab, wodurch Haug an einer begrifflichen Erfassung des übergreifenden Formprinzips gehindert wird, so stellt ihre Bestimmung zweier Zeitlogiken auch eine wichtige Bereicherung für die Wert-Abspaltungstheorie dar; ja genau genommen widerspricht die Erkenntnis einer eigenen Logik der "Zeitverausgabung" dem ökonomisch-allgemeinen, inhaltslosen Begriff der "Arbeit", der entsprechend der Wert-Abspaltung bloß für das warenproduziernde Patriarchat im Hinblick auf die "abstrakte Arbeit" angemessen ist. "Liebe", Zärtlichkeit, Fürsorge, Hege und Pflege können dabei eben nicht nach der Zeitsparlogik organisiert werden (dies gilt übrigens laut Haug ebenso für Tätigkeiten, bei denen es um einen schonenden Umgang mit der Natur geht). In diesem Sinne ist die warenförmige Produktionsweise auf die Hierarchisierung beider Zeitlogiken zugunsten der Zeitsparlogik und so auf Frauenunterdrückung angewiesen. Verdrängt die Zeitsparlogik die Logik der Zeitverausgabung in der Postmoderne immer mehr, so steht das warenproduzierend-pariarchale Zivilisationsmodell selbst zur Disposition.

9. Die Konstituierung von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Moderne ist somit im Kontext des warenproduzierend-patriarchalen Zivilisationsmodells zu sehen, wie es bislang in seiner ganzen Komplexität bestimmt wurde. Es ist irrig zu meinen, wie Dekonstruktivistinnen dies behaupten, "zuerst einmal" müssten Männlichkeit und Weiblichkeit kulturell hergestellt sein, damit eine geschlechtliche Funktionsteilung erfolgen könne. Derartige Positionen können nicht mehr angeben, welchen Sinn es überhaupt hat, warum sich Individuen im spezifischen Kontext des warenproduzierenden Patriarchats eigentlich als Männer und Frauen konstituieren müssen. Die Frage nach diesem Sinn, nach diesem "Warum" verweist auf das übergreifende Formprinzip der Wert-Abspaltung.

 

Der Wert, die abstrakte Arbeit, die "Zeitsparlogik" und der Markt, der nach Rentabilitäts-, Konkurrenz- und Profit-Gesichtspunkten funktioniert, brauchen ihr Anderes, die "Hausarbeit", bei der es darum geht, Zeit zu verlieren, und damit Frauen, denen die entgegengesetzten Eigenschaften wie Männern zugeschrieben werden. Die Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit im modernen Sinne und die Herausbildung von abstrakter Arbeit und "Hausarbeit" bedingen sich so notwendig gegenseitig. Es ist also unsinnig zu fragen, ob hier zuerst die Henne oder das Ei da war. Auf einer makrostrukturellen Ebene wird bei Haug dieser Zusammenhang für das "kapitalistische Patriarchat" sichtbar, auch wenn sie letztlich von ihren Prämissen her die materielle Ebene hypostasiert. Die Tatsache, dass es im spezifischen Kontext des warenproduzierenden Patriarchats auch Geschlechtswechsel von Berufen gibt und von keiner linearen Entsprechung zwischen beruflichen Inhalten einerseits und den Tätigkeiten im Haushalt, den Frauen zugeschriebenen Eigenschaften usw. andererseits ausgegangen werden kann, ficht die Bestimmung des Wesens des Geschlechterverhältnisses im Sinne der Wert-Abspaltung nicht im mindesten an.

 

Es geht vielmehr darum, die Spannung zwischen Wesen (Wert-Abspaltung) und Erscheinung (dass Frauen auch berufliche Tätigkeiten ausüben, die nicht frauenspezifischen Zuschreibungen entsprechen) auszuhalten und in der Untersuchung eines androzentrischen gesellschaftlichen Unbewussten fruchtbar zu machen; erst dadurch wird klar, warum Frauen als "Besondere, Mindere, Andere" gelten, egal was der Inhalt ihrer Tätigkeit ist, und warum sogar ehedem männlich konnotierte Bereiche einer Abwertung unterliegen, wenn sie schließlich weiblich codiert werden.

10. Die Wert-Abspaltung muss also insgesamt als Formprinzip des warenproduzierenden Patriarchats angesehen werden, auch wenn davon auszugehen ist, dass die patriarchal-warenförmige Entwicklung in den verschiedenen Weltregionen ungleichmäßig stattgefunden hat (vgl. zum Beispiel Hasenjürgen/ Preuss, 1993), bis hin zu (ehemals) geschlechtssymmetrischen Gesellschaften, in denen die westlich-modernen Geschlechtervorstellungen bis heute nicht bzw. nicht gänzlich übernommen worden sind (vgl. etwa Weiss, 1995). In diesem Zusammenhang muss auch berücksichtigt werden, dass sich das Geschlechterverhältnis und die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit selbst innerhalb der abendländisch-modernen Entwicklung nicht immer gleich darstellen. Erst im 18. Jahrhundert bildete sich das moderne "System der Zweigeschlechtlichkeit" heraus und kam es zu einer "Polarisierung der Geschlechtscharaktere"; vorher wurden Frauen dagegen eher als -117 gewissermaßen - bloß andere Variante des Mann-Seins betrachtet. Deshalb wird in den Sozial- und Geschichtswissenschaften neuerdings auch von der Institution eines "Ein-Geschlecht-Modells" in vorbürgerlichen Zeiten ausgegangen. So sah man etwa in der Vagina einen nach innen gestülpten Penis (Laqueur, 1996).

 

Obwohl Frauen auch damals als minderwertig galten, hatten sie über informelle Wege durchaus noch viele Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, solange sich eine Öffentlichkeit im großen Maßstab wie in der Moderne noch nicht herausgebildet hatte. Der Mann hatte in der vormodernen Gesellschaft eher eine symbolische Vorrangstellung, wie Heintz/Honegger (1981) schreiben. Frauen wurden noch nicht ausschließlich als Hausfrau und Mutter definiert, wie dies ab dem 18. Jahrhundert komplementär zu den Zuschreibungen für Männer der Fall war, die nun für die neu herausgebildete hypertrophe Form von Öffentlichkeit zuständig sein sollten. Der weibliche Beitrag zur materiellen Reproduktion wurde in agrarischen Gesellschaften ähnlich wichtig erachtet wie der des Mannes (Heintz/Honegger, 1981, S. 15 ff.).

War das moderne Geschlechterverhältnis mit den entsprechenden polaren Geschlechterzuweisungen zunächst auf das Bürgertum beschränkt, so breitete es sich mit der Verallgemeinerung der Kleinfamilie allmählich auf alle Schichten und Klassen aus, mit einem letzten Schub der fordistischen Entwicklung in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts. Die Wert-Abspaltung ist somit keine starre Struktur, wie sie etwa bei manchen soziologischen Strukturmodellen anzutreffen ist, sondern ein Prozess. Sie ist daher nicht als statisch und als immer dieselbe zu begreifen. In der Postmoderne zeigt sie wiederum ein neues Gesicht. Frauen gelten nun als "doppelt vergesellschaftet", wie Becker-Schmidt zeigt, das heißt sie sind für Familie und Beruf gleichermaßen zuständig. Das Neue daran ist jedoch nicht dieses krude Faktum allein, wie schon mehrfach festgestellt - ein großer Teil der Frauen war auch schon früher doppelt vergesellschaftet, dies galt insbesondere für Unterschichtsfrauen -, sondern dass diese Tatsache und die damit einhergehenden strukturellen Widersprüche nun auffallen.

Schon prinzipiell muss von einer Dialektik zwischen Individuen und Gesellschaft ausgegangen werden - die Individuen gehen einerseits niemals in den objektiven Strukturen und den Vorstellungen der symbolischen Ordnung auf, andererseits wäre allerdings auch die umgekehrte Annahme verfehlt, dass diese Strukturen und kulturell-symbolischen Deutungsmuster ihnen bloß äußerlich gegenüberstünden; schließlich konstituieren die gesellschaftlichen Individuen diese gesellschaftlich-kulturellen Strukturen selbst mit, auch wenn diese ihnen dann als verselbständigtes System gegenübertreten. Allerdings geraten die Widersprüche der "doppelten Vergesellschaftung" von Frauen mit einer Differenzierung der Frauenrolle in der Postmoderne erst voll in den Blick, wie Ostner richtig festgestellt hat.

11. Entscheidend ist es bei der Bestimmung des postmodernen Geschlechterverhältnisses, wiederum auf einer Dialektik zwischen Wesen und Erscheinung zu bestehen und sich nicht durch die empirisch feststellbare Tatsache der "doppelten Vergesellschaftung" zu einer vornehmlich soziologisch-sozialwissenschaftlichen Theoriebildung hinreißen zu lassen, wie dies bei Becker-Schmidt geschieht. Vielmehr ist die weiterhin konstitutive (da niemals positiv aufgehobene) übergreifende Wert-Abspaltungsform als Formprinzip der gesellschaftlichen Totalität in ihrer neuen historischen Brechung zu bestimmen, die ihrerseits wieder, um es noch einmal zu sagen, in ebenfalls postmodern fortentwickelter Gestalt die materielle, sozialpsychologische und kulturelle Dimension gleichermaßen und somit auch alle einzelnen Bereiche der Gesellschaft umfasst. Dementsprechend müssen Veränderungen des Geschlechterverhältnisses aus den Mechanismen und Strukturen der Wert-Abspaltung selbst verstanden werden.

Dabei untergraben vor allem die Produktivkraftentwicklung und die Marktdynamik, die selber auf der Wert-Abspaltung beruhen, ihre eigene Voraussetzung, indem sie bewirken, dass Frauen sich ein gutes Stück von ihrer traditionellen Rolle entfernen und ihnen eine schon immer dagewesene "doppelte Vergesellschaftung" mit den entsprechenden Widersprüchlichkeiten im Zuge von Individualisierungstendenzen zu Bewusstsein kommt. So wurden etwa seit den 50er Jahren auch immer mehr Frauen aus den mittleren Schichten in den Erwerbsbereich eingebunden; und u. a. auch bedingt durch Rationalisierungsprozese im Haushalt sind Frauen - zumindest hierzulande -mittlerweile mit den Männern bildungsmäßig gleichgezogen, kann beobachtet werden, dass zunehmend auch Mütter berufstätig sind, ist eine Konzeptionsplanung aufgrund empfängnisverhütender Mittel möglich geworden usw. Kurzum: es besteht seit längerem schon die Tendenz zur verstärkten Integration von Frauen in die "offizielle" (öffentliche, im warenproduzierenden Patriarchat männlich konnotierte) Gesellschaft. Dennoch sind sie auch in den veränderten postmodernen Verhältnissen nach wie vor im Gegensatz zu Männern für Haushalt und Kinder zuständig, sind sie an den Schalthebeln der Macht in der öffentlichen Sphäre nach wie vor selten zu finden, verdienen sie im Durchschnitt nach wie vor weniger als Männer usw. (vgl. etwa Beck/Beck-Gernsheim, 1990). Es kommt also zu einer Modifizierung der Wert-Abspaltungsstruktur, die "doppelte Vergesellschaftung" gewinnt eine neue Qualität. Frauen sind nun nicht mehr bloß objektiv "doppelt vergesellschaftet" wie früher, sondern sie sind auch dem Leitbild nach nun nicht mehr nur auf ein Hausfrau- und Mutterdasein festgelegt. Damit einhergehend 119 ändern sich auch psychische Befindlichkeiten bei Frauen, wie noch zu sehen sein wird, ohne dass jedoch die Wert-Abspaltungsform aufgehoben wäre.

12. Ziel der Wert-Abspaltungstheorie ist nun gerade diese radikale Aufhebung, das heißt die reale Überwindung von sozialer Männlichkeit und Weiblichkeit, wie sie sich in der patriarchalen Moderne und auch noch Postmoderne darstellen, und damit die Abschaffung der abstrakten Arbeit, der "Hausarbeit", der Familie, der "doppelten Vergesellschaftung" von Frauen und der entsprechenden Geschlechtervorstellungen samt der dazugehörigen psychosozialen Konstitution.

 

Dabei kann es eben nicht bloß um die "Zurückdrängung" des strukturell mit Frauenunterdrückung zusammenhängenden "Gewinnerhöhungsmotivs" gehen, also darum, die herrschenden Maßstäbe aus verschiedenen Bereichen der unaufgehobenen Wert-Abspaltungsform in eine lediglich neue Anordnung zu bringen, auf dass eine vermeintlich emanzipatorische Entwicklung der menschlichen Gesellschaft (ökonomisch, sozial, ökologisch) möglich und der Pelz gewaschen werde, ohne ihn nass zu machen. Derartige Vorstellungen gehen immer noch von den gegebenen Anordnungen und Prinzipien aus, die es bloß zu verschieben bzw. zu verkleinern oder zu vergrößern gelte. Sie verbleiben in einem längst gespenstisch unwirklich gewordenen, bloß quantitativen, kategorial dagegen unkritischen und deshalb heute geradezu anachronistischen Reformismus fernab einer radikalen Perspektive, die grundsätzliche Motive und Ziele der feministischen Gesellschaftskritik überhaupt erst einlösen könnte.

 

Dabei müssten die verschiedenen immanenten Bereiche/Absichten/Prinzipien selbst aufgehoben werden und damit eben auch der Bereich der "Hausarbeit" samt der damit verbundenen isolierten (zur herrschenden "Zeitsparlogik" bloß komplementären) Logik der "Zeitverausgabung". Denn obwohl Haug einerseits eine Gleichheitsperspektive verfolgt und das Hausfrauendasein in Frage stellt, hat man andererseits doch auch den Eindruck, dass die diesem Bereich entsprechende Zeitverausgabungslogik bloß linear verlängert, im Prinzip unverändert der herrschenden Zeitsparlogik konkurrierend-kämpfend "um ihren gerechten Anteil" im gesellschaftlichen Ganzen ringend gegenübergestellt werden soll. Die Idee, dass die isolierte Logik der Zeitverausgabung in ihrer immanenten Abstraktheit, als bloßer Gegenpol zur Zeitsparlogik, in ihrem abgespaltenen Dasein radikal hinterfragt werden muss, kommt Haug dabei nicht. Die entsprechenden Bereiche, Prinzipien usw. sollen nur in anderer Relation zueinander, dem modern-geschlechtsspezifisch-diskriminierenden Bezug vermeintlich enthoben, innerhalb der Wert-Abspaltungsform zukunftsmächtig werden.

 

Laut Becker-Schmidt hätten demgegenüber Frauen diese Integrationsleistung individuell-gesellschaftlich schon immer erbracht und wären deshalb im Grunde schon deshalb über das System im Sinne des Protests gegen die ihnen zugedachte Rolle hinaus. Dass dem nicht so ist, soll im Folgenden klarer als bisher entwickelt werden. Die "doppelte Vergesellschaftung" von Frauen ist paradoxerweise dem warenproduzierenden Patriarchat in seinem Verfall durchaus "funktional". Dennoch hat Becker-Schmidt rein deskriptiv etwas Richtiges beschrieben: Dass Frauen für "Geld und (Über-)Leben" (Irmgard Schultz) gleichermaßen verantwortlich sind, ist auch im universellen, das heißt im Weltmaßstab der Fall, auch wenn es dabei kulturelle Besonderheiten zu berücksichtigen gilt. War die "doppelte Vergesellschaftung" in ihrer postmodernen Form in den entwickelten westlichen Staaten nicht zuletzt auch mit einem Mehr an Gleichheit im Zuge der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung verbunden (Angleichung der Bildungschancen von Männern und Frauen, höhere Berufstätigkeit auch bei Müttern usw.) und bedeutete dies ein Heraustreten aus der traditionell gedachten Nur-Hausfrauenrolle, so wird nun deutlich, dass mit fortschreitender ökonomischer Krise, mit dem Knapperwerden öffentlicher Kassen usw. die "doppelte Vergesellschaftung" von Frauen zur "Krisenexistenz" wird - ja sie wird geradezu Moment des desolaten Krisenmanagements, das von oben nicht mehr so recht funktionieren will.

Noch deutlicher als bisher wird sich dabei zeigen, dass statt einer Aufhebung des warenproduzierenden Patriarchats mit allen seinen Implikationen im Zuge von Globalisierungsprozessen eher seine "Verwilderung" tritt, wobei gerade seit 1989 die Logik von "Lohn, Preis und Profit" (Marx), also die Fetischform des "Werts", just in der Epoche ihres endgültigen Obsoletwerdens objektiv und normativ nahezu alles bestimmt. Die nach wie vor notwendigen Reproduktionstätigkeiten von Frauen als "schon immer" abgespaltene werden dabei erst recht randständig mit den entsprechenden "Nebenfolgen" für das moderne Zivilisationsmodell, wie es Haug schon richtig benannt hat. Entscheidend ist dabei freilich die Wert-Abspaltung als historisch-dynamische Realkategorie, die derartige Konsequenzen in der globalisierten Postmoderne hervorbringt. Die Frauenexistenzen der "Dritten Welt" und der "Ersten Welt" gleichen sich vielleicht gar nicht so langfristig an, zumindest was einen großen Teil der Frauen anbelangt. War die Existenz der bürgerlichen Frau lange Zeit Vorbild für die Underdog-Frauen der Dritten Welt, so wird nun umgekehrt deren Drittweltexistenz zur (Real-)Norm für die Frauen im bisherigen "Zentrum". Damit verlasse ich die Ebene der "großtheoretischen" Reflexionen und wende mich empirienäheren Gefilden zu, um die postmoderne Modifikation der Wert-Abspaltungs-Vergesellschaftung näher in Augenschein zu nehmen.

 

[Dies ist der 3.Teil der "Kleinen Geschichte des wertkritischen Theoriebildungsprozesses" (Version 3.0 vom 20. Februar 2005), die sozusagen ein "work in progress" ist. Sie wird fortlaufend (auch Fehler im bereits veröffentlichten Teil korrigierend) weitergeführt um die Abschnitte:

"2000 - 2003: An der Aufklärungskritik und dem neuen Weltordnungskrieg scheiden sich die Geister" - "2004: Der "Coup" und die Spaltung der "Krisis"" - "Ausblick: Mit "Exit" geht’s weiter"]