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Das neue exit!-Heft erscheint voraussichtlich im Mai 2025

Editorial der exit Nr. 22

Mit dem genozidalen Massaker von 7. Oktober 2023 durch die Hamas und der darauf folgenden antisemitischen globalen Hasswelle wurde deutlich, dass Juden nirgendwo mehr wirklich ihres Lebens sicher sein können. Dabei gehören die Hamas, die Hisbollah, das Mullah-Regime in Teheran zu den Erben des eliminatorischen Antisemitismus der Nazis.1 Bereits 1947 brachte Simon Wiesenthal eine Broschüre heraus, die die Zusammenarbeit des Mufti von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini (der Mitglied der SS war) und seinen Schergen mit den Nazis bei der ›Endlösung der Judenfrage‹ dokumentiert.2 Der Antisemitismus der Nazis zielte auf die Vernichtung der Juden. Wie Moishe Postone in seinem theoretisch wegweisenden Artikel Antisemitismus und Nationalsozialismus3 darlegte, war der Antisemitismus der Nazis verwurzelt in der Vorstellung eines auf ›schaffender Arbeit‹ beruhenden Kapitalismus. Die Juden wurden als ›Herren des Geldes‹, des sogenannten ›raffenden Kapitals‹, dämonisiert. Besonders deutlich wurde der er an Wahnbildern von einer ›jüdischen Weltverschwörung‹, ›von jüdischem Geld‹, das die Welt regiere, von ›jüdischem Intellekt‹, der fähig sei, die Welt hinterlistig und konspirativ den Juden zu unterwerfen.

Bis heute bleiben der Antisemitismus und wie er nach 1945 fortlebte von so vielen unverstanden, wird verharmlost oder er wird als solcher gar nicht erkannt. Seit dem 7. Oktober 2023 haben große Teile der antiimperialistischen/postkolonialen, antirassistischen und queeren Linken endgültig ihre politische Glaubwürdigkeit und moralische Integrität verloren.4 Sie sind nicht mal in der Lage den antisemitischen Terror der Hamas auch nur klar zu benennen. Jene (akademischen) Aktivisten, die vorgeblich gegen Rassismus, Sexismus und Diskriminierungen jeder Art anzugehen versuchen, schließen Juden und/oder Israelis aus ihrer Solidarität aus. Die Hetze gegen Israel ist manchen ›feministischen‹ Gruppen wichtiger als die Kritik sexualisierter Gewalt der Hamas.5 Juden werden in der Wahn-Welt der Postkolonialen als ›privilegierte Weiße‹ imaginiert und Israel als ›Kolonialstaat‹. Antisemitismus wird nicht ernst genommen, sondern, wenn nicht schon explizit geleugnet, entschuldigt – schlussendlich seien die Juden bzw. die Israelis selbst schuld, an dem, was ihnen angetan wird. Der antisemitische Krieg gegen Israel wird de-realisiert, um Israel als das eigentliche eskalierende Monster hinstellen zu können, die Bedrohungslage und der Existenzkampf Israels werden verkannt, bis hin zu einer Täter-Opfer-Umkehr. Das zeigen nach wie vor die antisemitischen Demonstrationen, die alles andere als pro-palästinensisch sind, auf denen das genozidale Massaker vom 7. Oktober geleugnet, verharmlost oder gefeiert wird (so auch die Raketenangriffe der Hisbollah im Norden Israels seit dem 8. Oktober 20236). Judith Butler, die Ikone oder eher die bekannteste Hohlfritte der queeren Linken (die hier als exemplarisch für pseudolinke Intellektuelle herausgegriffen sei), für die die Hisbollah und die Hamas als Teil der globalen Linken gelten (genauso könnte man die stalinistischen Gulags als Verwirklichung eines »Verein[s] freier Menschen« (Marx) ansehen), bezeichnete das Ermorden von Juden (und arabischen Israelis sowie Gastarbeitern/-innen aus Thailand) als »Akt des bewaffneten Widerstandes«, zeigte sich skeptisch und verlangte nach Beweisen, dass tatsächlich während des antisemitischen Massakers sexualisierte Gewalt gegen Frauen stattfand; für Butler war der 7. Oktober noch nicht mal ein antisemitischer Angriff!7

Viel Hohn und Spott zogen die sog. Queers for Palestine auf sich.8 Der liberale Journalist Tobias Huch kommentierte den ›Dyke-March‹ am 26. Juli in Berlin, dass solche dort demonstrierenden Leute im Gaza-Streifen unter der Hamas nicht überleben würden, man würde sie kurzerhand exekutieren!9 Caspar Shaller, der diesem Spott und Hohn im Jacobin-Magazin zu widersprechen strebte, verglich die queere ›Solidarität‹ mit den Palästinensern allen Ernstes mit der Solidarität der Homosexuellen mit den Arbeiter/-innen, die in den 1980er Jahren gegen das neoliberale Thatcher-Regime demonstriert haben (wobei er anführt, dass »[i]slamistische Faschisten [...] mit ihrem misogynen Weltbild und ihrer teilweise[] [?] mörderischen Homophobie eindeutig keine politischen Verbündeten für Queers und Linke [sind]«). Der Vorwurf mancher, es werde zu wenig gegen die Hamas demonstriert, sei für ihn »dennoch absurd«. Die Hamas »ist bereits verteufelt«. Verteufelt bedeutet laut Duden so viel wie: etwas als böse, schlimm, schlecht, gefährlich hinstellen. Wird die Hamas für Shaller etwa übertrieben negativ dargestellt oder wie kam diese Wortwahl zustande? Die Hamas »gilt […] als Terrororganisation« und schließlich werde die »israelische Kriegsführung […] vom deutschen Staat finanziell, diplomatisch, juristisch, ideologisch und materiell mit Waffenlieferungen unterstützt« (jacobin.de vom 1.8.2024). Shaller kritisiert also die ›deutsche Staatsräson‹ bezüglich Israel, die allerdings meist nur aus Sonntagsreden besteht! Kein Wort in dem Artikel darüber, dass die Hamas die palästinensische Bevölkerung als menschliche Schutzschilde benutzt und ›Märtyrertum‹ in der islamistischen Ideologie explizit angestrebt wird!10

Für Konservative und Rechte insbesondere ist die pseudolinke Hamas-Solidarität, wie man sie auf den sog. pro-palästinensischen Demonstrationen (auf denen natürlich nicht die bedingungslose Kapitulation der Hamas und die sofortige Freilassung aller Geiseln gefordert wurden) und bei Universitätsbesetzungen sehen kann, natürlich ein gefundenes Fressen: Werden sie nicht darin bestätigt, was sie schon immer über Linke glauben gewusst zu haben, dass sie nichts weiter als ein Haufen Idioten seien? Angesichts der manichäischen Weltanschauung in diesen Kreisen (Mensch mit weißer Hautfarbe = Rassist, ›Dritte-Welt-Mensch‹ = unschuldiges Opfer u. a.) wäre dieses Urteil in der Tat verständlich. Jens Balzer jedoch betont in seinem Buch After Woke (Berlin 2024), hier die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen: Denn Kritik des Rassismus und der Homophobie, des Patriarchats usw. bleiben im Angesicht eines global stattfindenden autoritären Gegenschlages11 dennoch dringend notwendig und es käme hierbei entscheidend darauf an, auf die ursprünglichen Anliegen jener Bewegungen zurück zu kommen und diese gegen ihre heutigen Vertreter/-innen zu wenden! Aufgrund des Erstarkens rechtsextremer und religiös-fundamentalistischer Bewegungen, die allesamt antifeministisch und queerfeindlich sind12, ist es politisch dringend notwendig, sich jenen sog. Linken deutlich entgegen zu stellen, die den antisemitischen Terror verharmlosen, ihm zuarbeiten und bezüglich der Realität des islamistischen Faschismus nach wie vor unbelehrbar bleiben!

Durch Israelhass finden Antiimperialisten und Islamisten vermehrt zusammen.13 Solche pseudolinken Kollaborateure des Islamismus negieren damit alles, was einer wirklichen Linken stets lieb und teuer war! Der Antisemitismus ist wieder einmal die Querfront-Ideologie, die sonst verschiedenste Milieus zusammenführt. Hier können sich sog. Linke, Neonazis, Islamisten, Graue Wölfe und verrohende Bildungsbürger die rechte Hand reichen. Während bei ›Linken‹ der Islamismus nach wie vor derealisiert wird, erscheint er manchen westlichen Nazis als Inspiration: Der katholisch-fundamentalistische AfD-Nazi und SS-Apologet Maximilian Krah sagte in einem rechtsextremen Podcast, angesichts des bei Faschisten verhassten Pride Month, Folgendes: »Das Lustigste, was ich beim Pride Month erlebt habe, war 2021. Da hatte die US-Botschaft in Kabul ganz stolz den Pride Month ausgerufen. Es dauerte keine drei Wochen, bis die Taliban in Kabul eingerückt sind. Ich glaube, dass das die einzig richtige Antwort auf den Pride Month gewesen ist« (fr.de vom 2.8.2023). Selbstverständlich ist Krah kein ›Einzelfall‹. In den Vereinigten Staaten etwa hegen White Supremacists sehnsüchtige Sympathien für die Taliban. Slavoj Žižek zitiert eine Untersuchung der SITE Intelligence Group »die die Online-Aktivitäten von White Supremacist-Gruppen und dschihadistischen Gruppen verfolgt [...] So heißt es beispielsweise in einem Zitat aus dem Telegramm-Kanal ›Proud Boy to Fascist Pipeline‹: ›Diese Bauern und kaum ausgebildeten Männer haben gekämpft, um ihre Nation vom Globo-Homo zurückzuerobern. Sie holten sich ihre Regierung zurück, setzten ihre nationale Religion als Recht ein und richteten Andersdenkende hin … Wenn Weiße im Westen denselben Mut hätten wie die Taliban, würden wir derzeit nicht von Juden regiert.‹«.14 Die Taliban tun offenbar das, was Faschisten im Westen bislang nicht zu tun vermögen, aber gerne täten.

Von sog. Israel-Kritikern wird ignoriert oder heruntergespielt, dass die israelische Staatsgründung eine Konsequenz des europäischen Antisemitismus und vor allem des Holocaust ist, ein Staat, der seine Legitimation daraus zieht, bewaffnete Schutzmacht für alle vom Antisemitismus verfolgten Juden zu sein; und ebenso ist Israel auch ein kapitalistischer Staat mit allen Widersprüchen und Konflikten, der in den letzten Jahren einer zunehmenden autoritären bzw. rechts- und religionsextremistischen Entwicklung ausgesetzt ist, die die israelische Gesellschaft auseinander zu reißen droht; daher wurde von einem Doppelcharakter des israelischen Staates gesprochen. In den Worten von Robert Kurz (2012): »Israel beweist seinen Doppelcharakter, indem es einerseits als Judenstaat zum Hassobjekt Nummer Eins in der weltweiten Krisenverarbeitung geworden ist. Andererseits durchläuft es als kapitalistischer Staat dieselben sozialen Brüche wie alle anderen und hat als innere Selbstzerstörungspotenz seinen eigenen Gottesfaschismus […] hervorgebracht. Prominente Rabbiner sprechen von der Gefahr einer Talibanisierung durch eine Minderheit von fanatischen Ultraorthodoxen, die ihren feindlichen islamistischen Brüdern gleichen wie ein Ei dem anderen. Im Verein mit chauvinistischen Siedlern drohen sie Israel zu barbarisieren und seiner historischen Legitimation zu berauben«.15

Ein von sich verfolgt und ungehört fühlenden ›Israel-Kritikern‹ herbei halluziniertes ›Kritikverbot‹ israelischer Politik, ähnelt nicht zufällig dem Diskursmodus autoritärer Subjekte, die sich als ›Opfer von Zensur‹ inszenieren, als ›verfolgte Unschuld‹ imaginieren, wenn ihre rassistische Agitation mit Kritik gekontert wird.16 Israel zu dämonisieren, sein Existenzrecht abzuerkennen und zugleich die antisemitischen Terrorbanden zu verharmlosen, provoziert zu Recht dezidierten Widerspruch. Daraus folgt aber nicht, dass es ›verboten‹ oder unangemessen wäre, Israel und seine Politik und Kriegsführung oder die rechte Regierung Netanjahus und seine rechtsradikalen & fundamentalistischen Koalitionäre zu kritisieren (was vor allem in Israel selbst viel getan wurde/wird).

Eine Nicht-Reaktion Israels auf den antisemitische Massenmord wäre eine ›Einladung‹ gewesen, einen solchen früher oder später zu wiederholen.17 Folgerichtig bleibt der »Erhalt militärischer Schlagkraft gegen die vereinigten Israelhasser [notwendig], die letztlich eine antisemitische Bereinigung der Landkarte wollen«.18 Das impliziert Waffenlieferungen an Israel. Damit haben gerade ›Vulgärpazifisten‹ wie Sarah Wagenknecht ein Problem. Wenn Israel den antisemitischen Krieg von Hamas, Hisbollah und des iranischen Mullah-Regimes verlieren sollte, hörte Israel auf zu existieren, und das erklärte Ziel der islamistischen Terrorbanden, »from the river to the sea« Israel ›judenrein‹ zu machen, würde Realität. Das Resultat wäre kein demokratisches Palästina, in dem alle gleichberechtigt miteinander leben können, was bildungsferne Demonstranten oder ›Studierende‹ auf den Pro-Hamas-Aufmärschen vielleicht glauben, sondern ein zweites Afghanistan.

Der berechtigte Ruf nach Solidarität mit den Palästinensern, auch ihre Opfer zu betrauern, die ohne jeden Zweifel ein besseres Leben verdient haben als unter der Terrorherrschaft von Islamisten, ist hohl und unglaubwürdig, wenn man sich mit Antisemiten gemein macht, deren erklärtes Ziel, die Vernichtung des jüdischen Staates ist, wobei die Verheizung der Palästinenser von der Hamas bewusst in Kauf genommen wird (und die Opferzahlen durch die Hamas manipuliert werden19). Die Voraussetzung einer Solidarität mit den Palästinensern dagegen wäre, wenn man mindestens benennt, dass sie von der Hamas unterdrückt sowie als ›Fleischopfer‹ für ihren genozidalen Antisemitismus ›eingesetzt‹ werden, und die Hamas und die mit ihnen alliierten Terrorbanden durch das genozidale Massaker von 7. Oktober, die militärische Reaktion Israels zu verantworten haben. Wobei die Terrorbanden Gazas jederzeit hätten kapitulieren und die Geisel freilassen können; dass sie offenbar ›bis zum letzten Mann‹ zu kämpfen bereit sind, zeigt, wo ihre Prioritäten wirklich liegen – offensichtlich nicht beim Wohl der Palästinenser!20 Von denen, die sich angeblich mit den Palästinensern solidarisieren, hört man nie eine Kritik der UNRWA, die längst von Islamisten unterwandert ist, die den Flüchtlingsstatus der Palästinenser vererbt; kein kritisches Wort gegen die arabischen Regime, die die palästinensischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen nicht integrieren, sie wie Parias behandeln, sie in Abhängigkeit zwingen, um sie als Manövriermasse gegen Israel missbrauchen zu können!21 Kein Wort gegen das Regime der Hamas und kein Interesse für seine Opfer!22 Wo ist denn die viel eingeforderte Solidarität mit den Palästinensern?! Von all dem antisemitischen Gesindel auf der Straße und an den Universitäten ist Solidarität für die Palästinenser jedenfalls nicht zu erwarten. Statt dessen gibt es nur antisemitische Parolen, Täter-Opfer-Umkehr und den Hass auf Israel!


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Wie gewohnt werden in Deutschland der Rechtsextremismus und die AfD insbesondere dadurch bekämpft, dass »demokratische Parteien« deren Positionen mehr und mehr übernehmen und damit zeigen, dass sie den Rechtsextremisten inhaltlich nichts entgegensetzen können oder wollen.23 Vom Klimawandel im öffentlichen Diskurs ist indes kaum noch die Rede. Greta Thunberg versinkt im antisemitischen Sumpf, der Klimabolschewist und Israelhasser Andreas Malm propagiert einen grünen Antisemitismus24 und die Klimakleber-Aktionen der Letzten Generation laufen ins Leere und werden mit allen ›Mitteln des Rechtsstaates‹ verfolgt. Nach wie vor warnen Klimawissenschaftler/-innen vor den Folgen des Klimawandels. Dass der Klimawandel die Zahl der Flüchtlinge langfristig gewaltig erhöhen wird, verdrängt man oder nimmt es in Kauf und setzt auf Abschottung und Abwehr.25 Um die Abwehr von Flüchtlingen zu realisieren, bedient man sich einer polizeistaatlich und militärisch gesicherten ›eingrenzenden Ausgrenzung‹26 in Lagern. Dazu sind die demokratischen Staaten mit den viel gepriesenen westlichen Werten stets bereit, mit autoritären Regimen und Terrorstaaten zusammenzuarbeiten. Dies geht wiederum einher mit den Krisenverhältnissen, die offensichtlich mehr und mehr ›aus dem Ruder laufen‹. Nichts deutet darauf hin, dass sie unter Kontrolle gebracht werden könnten, auch nicht mit autoritär-repressiven Mitteln.

Das deutsche Wirtschaftsmodell – Billiglohn- und Exportland – stößt in Zeiten von Protektionismus und zunehmender Konkurrenz mit China an seine Grenzen. Selbstverständlich wollen die etablierten ›Polit-Eliten‹ und ihre sog. Gegner (und erst recht der wütende ›einfache Mann‹ auf der Straße) von systemischen Zusammenhängen nichts wissen. Einfacher ist es etwa gegen die Grünen27 zu pöbeln, die das alles angeblich durch ihre ›grüne Ideologie‹ zu verantworten haben (Inflation, steigende Energiepreise, Insolvenzen usw.). Statt Kritik und besonnener Selbstreflexion siegen ganz klar das Ressentiment und die Wut im Bauch. Der Gürtel ist bei denen enger zu schnallen, die ohnehin wenig oder nichts haben. Selbstverständlich mit einem widerlichen Paternalismus! Dies zeigte die ›Debatte‹ über das Bürgergeld, das angeblich zu hoch sei und die Armen und prekär Beschäftigten nur faul mache. Ausgerechnet der vermeintliche Missbrauch beim Bürgergeld gerät zur Bedrohung des Standortes Deutschland. Während der Fußball-WM wurde vom Vulgärblatt Focus (vom 27.7.) berichtet, dass Bürgergeld-Empfänger/-innen ihr Bürgergeld auf der ›Fan-Meile‹ für Bier ausgäben, so dass sie sich am Ende des Monats einschränken müssten. Nicht die Höhe des Bürgergeldes wurde hier moniert, sondern, dass das Bürgergeld für Bier »verprasst« werde. Wer arm oder prekär lebt oder sozial abstürzt, der/die dürfte keine angenehmen Zeiten für sich erwarten! Christian Lindner forderte, um die geheiligte »Schuldenbremse« einzuhalten und um die militärische Aufrüstung realisieren zu können, »Brutalitäten in den Sozialsystemen« (tagesspiegel.de vom 20.2.2024). Die werden ganz sicher kommen! Eine Nach-unten-treten-Haltung gegen die Armen ist ohnehin Mainstream. Eine »Brandmauer« hat es hier nie gegeben.

Mit der von Olaf Scholz, anlässlich des Angriffskrieges durch das Putin-Regimes gegen die Ukraine verordneten »Zeitenwende« werden die Daumenschrauben fester angezogen, um die Gesellschaft militärisch in Form zu bringen. Schulen in Bayern etwa dürfen sich nicht mehr weigern Bundeswehr-Propaganda in den Klassen zuzulassen, Universitäten müssen mit ihr kooperieren. Mit Zivilklauseln an den Universitäten dürfte vermutlich insgesamt bald Schluss sein. Auch die Einführung von Wehrsportunterricht an Schulen wird diskutiert!28 Erstaunlich wie wenig Widerspruch solche Vorhaben bekommen! Konsens-Störung ist nicht angesagt, eher Duckmäuser- und Denunziantentum. Ganz plötzlich wird eine Gemeinschaft behauptet, der man sich aufzuopfern habe. Wozu soll man sich die ›Nation‹ als angebliche Solidargemeinschaft aufnötigen lassen, für diese töten und sich töten lassen, obgleich das neoliberale Regime auf Entsolidarisierung beruht?, wie der linke Publizist Ole Nymoen vollkommen zu Recht in der Berliner Zeitung (vom 4.8.2024) deutlich machte.

Des Weiteren möchte man durch verschiedene Maßnahmen der Desinformation und der Propaganda & Fake News im Netz Herr werden. Es wäre naiv zu glauben, es ginge dabei wirklich nur darum, vollkommen zu Recht antisemitische und rassistische Propaganda zu löschen. Mögliche Anwendungen beschränken sich bekanntlich nicht auf den ursprünglich angedachten Zweck. Das ermöglichen allein solche dehnbaren und inhaltlich unbestimmten Begriffe wie »Gefährder«, »Delegitimierung des Staates« oder »Hass und Hetze«. Solche Gummibegriffe ermöglichen Willkür und höhlen damit den vielgepriesenen Rechtsstaat aus. Hellhörig muss man werden, wenn angekündigt wird, selbst Äußerungen, die sich »unterhalb der Strafbarkeitsgrenze« (so die grüne Familienministerin Lisa Paus) befinden, ahnden zu wollen. Um die Demokratie zu retten, ist man bereit, den Rechtsstaat zu schleifen! Wie der Rechts- und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl in seinem Buch Law statt Order (Berlin 2024) herausstellt, sind bei der inflationären Rede vom ›Rechtsstaat‹ nicht der Schutz individueller Rechte und die Beschränkung staatlicher Macht gemeint, was Pichls historischer Nachzeichnung zufolge der ideengeschichtliche Sinn des Begriffes Rechtsstaat sei, sondern im Gegenteil die Exekutivgewalten des Staates, deren Befugnisse stetig erweitert werden. Und eine ›Durchsetzung des Rechtsstaates‹ meint, wie Pichl vielfach belegt, oft nichts anderes als dass der staatliche Gewaltapparat rigoros durchgreifen können muss. Im Angesicht der immanent nicht mehr bewältigbaren Krise des Kapitalismus und ihren Verwerfungen darf man dreimal raten, wohin diese ›Reise‹ mittel- bis langfristig wohl oder übel gehen wird. Und das gerade auch unter dem Label »wehrhafte Demokratie«! Autoritäre Formierung und Staatszerfall bzw. -verwilderung dürften sich verschränken und das neue Normal werden. Der wieder gewählte Donald Trump dürfte dazu mit seinem Horror-Kabinett in der westlichen Welt neue Maßstäbe setzen. Die Säuberungsaktionen des Trump-Regimes sind mit Sicherheit nur ein Auftakt!29 Es wird immer deutlicher, dass die ›Demokratie ihre Kinder frisst‹ (Robert Kurz)!


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Robert Kurz geht es in seinem Essay »Geisterfahrer der Geschichte«, der 1993 erschienen ist, um das Aufkommen eines erneuten massiven Nationalismus und Patriotismus nach der deutschen Wiedervereinigung. Er zeigt dabei die Widersprüchlichkeit eines postmodernen ›Anything goes‹ in der damaligen Spaßgesellschaft und einem neo-nationalen Identitätswahn in ihrem inneren Zusammenhang auf. Damit verbunden kritisiert er eine Linke, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, ihres Linksseins überdrüssig, zu Marktfreiheit und Postmoderne, aber auch zum Nationalismus übergelaufen ist. Er weist dabei auch nach, dass ein rechtes und ein traditionsmarxistisches Denken, was Nationalismus und Heimatliebe betrifft, konvergierten, ja eine Identität bildeten, vor allem was autoritäre Haltungen betraf. Dabei stellt er klar, dass die Nation erst über Ware und Geld im 19. Jahrhundert entstand, also ein historisches Produkt und keineswegs eine ontologische Tatsache ist, die mittlerweile durch das Weltmarktverhältnis untergraben wird. Solche Widersprüche werden jedoch ignoriert. Der nationale und neopatriotische Diskurs verweist auf die Globalisierung des Ökonomischen, die sich zum Henker des Sozialen macht. Der Rekurs auf den Nationalstaat ist dabei der vergebliche Versuch, die Krise immanent zu managen – von daher auch der Titel »Geisterfahrer der Geschichte«. Es gibt ihn in seiner traditionellen Form ökonomisch und kulturell nicht mehr, ohne dass seine Funktionen ersetzt würden. In diesem Zusammenhang skizziert Kurz auch knapp die damalige ökonomische Lage. Man klebt an der industriellen Lohnarbeit im Wissen, dass man nicht mehr gebraucht wird. Es kommt zu einer Ausgrenzung sozial Schwacher und von Minderheiten, und es findet eine Brutalisierung im Alltag statt. Kurz thematisiert dabei auch ein entleertes Markt-Individuum, in dem eine Sehnsucht nach der Vergangenheit aufkommt. Die Bewältigung der Krise muss also über Bekanntes hinausgehen, jenseits eines Klassenkampfmarxismus und eines rechten und linken Denkens, das sich weithin überlappt.

Der Aufsatz »Krisenökonomie des deutschen Faschismus – Beobachtungen zur Wechselwirkung von ökonomischer Krisenentfaltung und der Faschisierung Deutschlands im 21. Jahrhundert« von Tomasz Konicz beschäftigt sich mit der Wechselwirkung von Krisenentfaltung und Rechtsentwicklung in Deutschland. Mit der Agenda 2010 und Hartz-IV und Dank des Euro gelang es dem ›Exportweltmeister‹ Deutschland die Krise zu verzögern bzw. auf andere abzuwälzen (Beggar-thy-Neighbor). Dieses ›Wirtschaftsmodell‹ stößt an seine Grenzen. Die starke Exportabhängigkeit wird dem ›Land der Leistungsstarken‹ zum Verhängnis. Die Hetze und Knechtung gegen Arbeitslose und Arme, die Sarrazins rassistisches Machwerk Deutschland schafft sich ab zum bürgerliche Mainstream verhalfen, laufen im Angesicht von Protektionismus und der Tendenz zur Deglobalisierung ökonomisch ins Leere. Konicz zeigt, dass die Reformpolitik des Schröder-Regimes sich nicht mit ökonomischen Erfolg wiederholen lässt, mögen Hetze und bürokratische Knechtung gegen ›Sozialschmarotzer‹ noch so heftig und grausam ausfallen. Dabei stellt Konicz klar, dass die Ideologeme der Neofaschisten (›fauler Südländer‹, die Suche nach ›Schuldigen‹ usw.) ins Extrem getriebene Bestandteile der neoliberalen Ideologie, also der bürgerlichen ›Normalität‹ selbst sind. Rechts ist, wo die Mitte steht. Die totale ökonomische Konkurrenz, der Kontrollverlust auf vielen Ebenen, der (befürchtete) soziale Abstieg u. a. schwitzen den Rechtsextremismus aus. Nun ist das trotz alledem keine Zwangsläufigkeit. Konicz betont die Wichtigkeit, den Fetischismus des Kapitals in Frage zu stellen, der allgemeinen Regression und Enthemmung zu widerstehen, die Verwerfungen und Katastrophen im historischen Zusammenhang zu sehen (im Gegensatz zum Instant-Schein-Bewußtsein der bürgerlichen Unvernunft). Von einer Linken, die das ernsthaft tut, die die Abschaffung des Kapitalismus und eine entsprechende ›Transformationspraxis‹ überhaupt denkbar machen könnte, ist so gut wie nichts zu sehen. Nicht zuletzt zeigten die letzten Jahre mit Pegida, Verschwörungswahn & Co, dass neofaschistische Agitation und Propaganda milieuübergreifend auf breite Zustimmung stoßen. Die inhaltliche Konvergenz nahezu aller Parteien spätestens sei Auflösung der Ampel-Koalition zur AfD zeigt dies deutlich.

Angesichts des Terrors der Hamas und Israels militärischer Antwort entlädt sich in weiten Teilen der Linken, vor allem in postkolonialen Zusammenhängen, auf Israel bezogener Antisemitismus, der gesellschaftlich auf positive Resonanz stößt. Von dieser Situation ausgehend greift der Text »Projektiver Antisemitismus, ›rohe Bürgerlichkeit‹ und gesellschaftlicher Wahn« von Herbert Böttcher auf Ansätze der Kritischen Theorie zur Bestimmung des Antisemitismus zurück. Sie hatte auf dem Zusammenhang von Antisemitismus und kapitalistischer Gesellschaft insistiert und Antisemitismus als projektive Krisenverarbeitung und darin als Ausdruck gesellschaftlichen Wahns verstanden. Daran anknüpfend geht es um die Frage, wie sich projektiver Antisemitismus angesichts der gegenwärtig sich dramatisch zuspitzenden Krisenlagen darstellt. Dabei werden Moishe Postones Reflexion auf die abstrakte Herrschaft des Kapitals und die mit ihr einhergehende Antinomie von Konkretem und Abstraktem als wesentlichem Hintergrund antisemitischen Wahns aufgegriffen, ebenso wie der Rekurs von Robert Kurz auf die Vermehrung von Kapital als irrationalem Selbstzweck samt ihres Krisencharakters sowie Roswitha Scholz’ Reflexion darauf, Antisemitismus und Rassismus im Ausgriff auf das Ganze der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung zu verstehen und zugleich – sich dem Druck identitärer Ableitungslogik verweigernd – ihrer Eigenlogik stattzugeben.

Antisemitismus als projektive Krisenverarbeitung wird aktuell verortet in der immanent nicht mehr zu bewältigenden Krise des Kapitalismus, die sich in den sog. Vielfachkrisen ausagiert. Kontrollverluste sollen in ›roher Bürgerlichkeit‹ kompensiert werden durch die Abwehr von an der Misere Schuldigen. Der Ausfall der Reflexion verbindet sich mit der Unmittelbarkeit projektiver Konkretisierungen bzw. Personalisierungen. Reflexionslos vorausgesetzt bleibt die Normalität: der wahnhafte Selbstzweck der Vermehrung von Kapital samt seiner zerstörerischen Krisendynamik. ›Lösungen‹ aber können erst in Sicht kommen, wenn kritische Reflexion auf ›konkrete Totalität‹ als Irritation und Unterbrechung der wahnhaften Normalität zur Geltung kommen kann.

Der Text »Als die Rede über den Holocaust vom Klassenkampf ablenkte: Holocaust-Leugnung, traditioneller Marxismus und Ultralinke in Frankreich« von Johannes Vogele widmet sich einem wenig bekannten Teil der Holocaustleugnung: In Frankreich weist die Geschichte der Holocaustleugnung eine besondere Komponente auf, die man anderswo nicht findet. Eine Zeit lang wurde die Leugnung des Holocaust von einem Teil der ›Ultralinken‹ – einer marxistischen, antileninistischen und rätekommunistischen Bewegung/Schule – propagiert und aktiv in die Öffentlichkeit getragen. Sie stützten sich dabei auf die italienischen linkskommunistischen Bordiguisten und deren Anti-Antifaschismus. Inwiefern stellt diese Geschichte mehr als nur eine Anekdote oder eine Skurrilität dar und steht auf der einen Seite in der Tradition des linken Antisemitismus und Antizionismus und vertritt auf der anderen Seite eine manichäische Sichtweise des Kapitalismus als im Wesentlichen geprägt von Klassenkampf und politischen Macht-Strategien? Wo treffen sich eine ultralinke verkürzte Kapitalismuskritik und eine (rechtsextreme) antisemitische Verschwörungstheorie? In welchem Verhältnis steht die völlige Leugnung des Genozids zur heute stark verbreiteten Leugnung durch Verharmlosung (wobei die Erinnerung an den Genozid für die Ultralinken zwei Zwecken diene: der Ablenkung des Proletariats von seiner historischen Mission und der Rechtfertigung der Gründung des Staates Israel)?

In dem Aufsatz von Roswitha Scholz »Intersektionalität und Diversität in der altlinken Sachgasse« werden zwei neuere prominente Ansätze zu Rasse, Klasse, Geschlecht bzw. Intersektionalität, nämlich das Konzept von Eleonora Roldán Mendívi/Bafta Sarbo zur »Diversität der Ausbeutung« (2021) sowie Karin Stögners Überlegungen zu Ideologie und Intersektionalität (2021) mit den Ausarbeitungen in dem Buch »Differenzen der Krise – Krise der Differenzen« (2005), das ihrer Meinung nach in wesentlichen Punkten heute noch Bestand hat, konfrontiert. Kritisiert wird dabei vor allem, dass diverse Diskriminierungsformen und Ungleichheiten wieder unter die Klassenkategorie subsumiert und eine Arbeitsontologie betrieben werden, wie es Richtungen tun, die vor allem auf einen Traditionsmarxismus rekurrieren. In diesem Zusammenhang stellt eine Wert-Abspaltungs-Kritik auch eine überkommene ›Normalität‹ infrage, die heute wieder heiß begehrt ist und die ›kleinen Leute‹ zum Maßstab linker Kritik macht. Hierbei spielt vor allem auch der Verfall der Mittelschichten eine maßgebliche Rolle, die bestimmen, was als ›normal‹ gilt. Die Veränderungen der letzten Jahrzehnte erfordern jedoch andere Kategorien und ein Totalitätsverständnis jenseits altbackener marxistischer Theorien; stattdessen findet heute in großen Teilen der Linken eine Regression statt und es kommt zu »Totenbeschwörungen« (Marx). Derartige Tendenzen lassen sich auch bei Roldán Mendívil/Sarbo, die aus einer traditionsmarxistischen Ecke kommen, und Stögner, die in der Tradition der Frankfurter Schule steht, in unterschiedlicher Weise erkennen. Stattdessen gilt es aus einer wertabspaltungskritischen Perspektive ökonomische Disparitäten, Antisemitismus, Rassismus usw. sowohl in ihrer Eigenlogik als auch in ihrer Verbundenheit wahrzunehmen und eben auch ein hierarchisches Geschlechterverhältnis nicht wieder einmal zum Nebenwiderspruch machen.

Mit dem Abstieg der westlichen Staaten, der mit dem Ukraine-Krieg ausgerufenen Zeitenwende und dem relativen Aufstieg Chinas im globalen Krisenkapitalismus hat ein manichäisches Denken im politischen Diskurs Hochkonjunktion. Es heißt, es finde ein Kampf zwischen der liberalen Demokratie und Autokratien statt. Mit einer »Achse der Autokratien« (Anne Applebaum) befinde sich der Westen in Konfrontation. Thomas Meyer zeichnet in dem Text »Demokratie versus Autokratie?« diese ideologische Schieflage nach, die sich aus dem Entweder-Oder-Denken des Kalten Krieges und Samuel Huntingtons clash of civilizations speist. Dabei wird gezeigt, warum diese Entgegensetzung an der Oberfläche verbleibt und worin die fundamentalen Grenzen der vielgepriesenen westlichen/bürgerlichen/liberalen Demokratie selbst und ihrer Freiheit liegen.

Postkoloniale Theorie ist, so scheint es heute auf den flüchtigen Blick, die Rückkehr des Antiimperialismus in postmodernem Jargon. Und tatsächlich müssen viele der in den letzten zehn Jahren aufgekommenen politischen Haltungen zu Rassismus und zu Fragen der internationalen Machtverhältnisse, die als postkolonial bezeichnet werden, zur Retraditionalisierung gezählt werden, die die Linke in dieser Zeit erfasst hat. Allerdings verfehlt diese Betrachtung zwei entscheidende Punkte. Zum einen ist es eigenartig, dass unter dem Schlagwort Postkolonialismus kaum noch versucht wird, den Zustand der Welt nach der Kolonisierung zu analysieren. Vielmehr sieht es so aus, als liefe die Zeit rückwärts. Es wird wieder zur Dekolonisierung aufgerufen, als ob die antikolonialen & nationalen Befreiungsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg keine Erfolge gehabt hätten. Zum anderen war die postkoloniale Theorie, wie ein Blick in ihre Geschichte ab Mitte der 1980er-Jahre zeigt, eine Theorie, die dem traditionellen Antiimperialismus in mehrfacher Hinsicht entgegengesetzt war. Dass sie heute der Erneuerung der schlechten Tradition dienen kann, ist daher zumindest erklärungsbedürftig und damit einer Ideologiekritik würdig, die sich von der des Antiimperialismus unterscheidet. Zu diesem Zweck geht es JustIn Monday im ersten Teil des Beitrages »Diskontinuität des Kolonialismus – Zu Geschichtsphilosophie und Realgeschichte von Post- und Dekolonialismus« zunächst einmal um die Frage nach der Position des Postkolonialismus im Wissenschaftsbetrieb insgesamt, denn das postkoloniale Denken ist sehr auf diesen konzentriert und verteilt sich dabei über das gesamte Spektrum der Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften. Dabei wird auch die Geschichtsphilosophie erörtert, die das postkoloniale Denken impliziert, obwohl es sich in postmodernen, bzw. genauer poststrukturalistischen Paradigmen bewegt, denen zufolge Geschichtsphilosophie zu dekonstruieren ist. Diese Vorgehensweise folgt der Auffassung, dass die zentralen Inhalte postkolonialer Kritik so sehr von den Formen dekonstruktivistischer Methodenkritik bestimmt sind, dass sie ohne deren Rekonstruktion nicht verstanden, geschweige denn kritisiert werden können. Daher werden die Kernbestandteile des postkolonialen Denkens erst in einem zweiten Schritt (im zweiten Teil) mit ihrer Entstehungsgeschichte sowie der Weltgeschichte konfrontiert, in der die ehemaligen Kolonien durchaus dekolonisiert und damit nationalisiert worden sind (erscheint in der exit! Nr. 23). Nur eben nicht mit den Ergebnissen, die sich der linke Flügel der antikolonialen Befreiungsbewegungen einmal erhofft und erwartet hat.

Mit dem Begriff der ›Pseudoindividualität‹ (Adorno/Horkheimer 1947) beschäftigt sich Peter Schmitt in seinem Gastbeitrag »Pseudoindividualität heute – Zur Aktualität der Dialektik der Aufklärung«. An diesem Begriff lassen sich bis heute hochbrisante Fragestellungen auffächern. Fragestellungen, die inmitten allgegenwärtig gewordener technischer Anwendungszusammenhänge neue Dringlichkeit entwickeln: Was bedeuten Individualität und Freiheit in permanenter Koexistenz zum Apparat? Können wir beim Anwender der Massenprogramme überhaupt noch vom Individuum sprechen? Und schließlich: Wie distanzieren wir uns von hochideologisierten Technologien, die wir so tief in unser ›individuelles‹ Leben eingearbeitet haben? Obwohl aus dem radio- und kinodominierten Mediensystem längst vergangener Tage stammend, kann Pseudoindividualität angesichts der Entwicklungen in unserer Gegenwart als nützliches Theorem begriffen werden, das im Kontext der sich gerade vollziehenden Digitalisierungsschübe neue Erklärungskraft gewinnt. Die Relektüre relevanter Passagen aus der Dialektik der Aufklärung erfolgt in zwei Schritten. Erstens werden einzelne Aspekte mit zeithistorischen Bezügen exponiert, um sie dann zweitens vor dem Hintergrund ubiquitär gewordener digitalökonomischer Lebenszusammenhänge neu zu lesen.

Wenn man für soziale und psychologische Katastrophen die polit-ökonomische Ebene und die historische Bedingtheit des Sozialen außer Acht lässt, liefern bekanntlich Biologisierungen Erklärungen und die notwendigen Begründungen. In »Psychische Erkrankungen und Neurowissenschaft – Anmerkungen zur Naturalisierung der Gesellschaft« von Thomas Meyer wird, anlässlich einer kritischen Rekapitulation, des mittlerweile nicht mehr allzu öffentlichkeitswirksamen neurowissenschaftlichen Diskurses, der üblichen Diktion widersprochen, Geisteserkrankungen seien im Wesentlichen Gehirnerkrankungen und daher medikamentös zu behandeln. Dazu wird in breiterem Umfang die Naturalisierung des Sozialen kritisiert, mit der sich die bürgerliche Gesellschaft seit jeher eine Erklärung und damit Rechtfertigung des Bestehenden lieferte.


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Traditionell seien wie immer zum Schluss einige Publikationen erwähnt. Auf Französisch sind erschienen (bei Crise & Critique/Albi) von Roswitha Scholz Forme sociale et totalité concrète – Sur l’urgence d’un réalisme dialectique aujourd’hui30 sowie von Robert Kurz Quand la démocratie dévore ses enfants – Remarques sur les fascismes historiques et le nouvel extrémisme de droite, ergänzt um ein Nachwort von Roswitha Scholz La démocratie dévore toujours ses enfants, aujourd’hui plus que jamais!.31

Von Tomasz Konicz ist eine aktualisierte Neuauflage von Klimakiller Kapital – Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört als E-Book erschienen sowie drei Publikationen, ebenfalls als E-Book, die sich mit der ideologischen Entwicklung der letzten Jahre auseinandersetzen: Deutschlands Querfront – Altlinke auf dem Weg zur Neuen Rechten, Faschismus im 21. Jahrhundert: Skizzen der drohenden Barbarei, Krisenideologie: Wahn und Wirklichkeit spätkapitalistischer Krisenverarbeitung.

Von Elisabeth Böttcher und Roswitha Scholz erschien der Artikel Identitätspolitik und Klassenpolitik – Einige Anmerkungen zum linken Abstraktionsverbot in dem Sammelband: Elsner, Steffen; Höcker, Charlotte; Decker, Oliver; Türcke, Christoph (Hg.): Desintegration und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Kritische Theorie – Psychoanalytische Praxis, (Psychosozial-Verlag/Gießen).

Von Roswitha Scholz wurde O sexo do capitalismo – teorias feministas e a metamorfose pós-moderna do patriarcado veröffentlicht (Elefante-Verlag/São Paulo).

In der von Marcos Barreira und Maurilio L. Botelho bei Consequência (Rio de Janeiro) herausgegebenen Aufsatzsammlung No Rastro do Colapso – Reflexõnes sobre a obra de Robert Kurz [Auf den Spuren des Zusammenbruchs – Reflexionen zum Werk von Robert Kurz] werden einige der Hauptthemen des vor dreißig Jahren in Brasilien veröffentlichten Buches von Robert Kurz Der Kollaps der Modernisierung erneut aufgegriffen und eine Reihe von Überlegungen entwickelt: Von der historischen Bedeutung der Krise des Sozialismus und der Erschöpfung der marxistischen Theorie über die Instabilität des globalen Kapitalismus bis hin zum Anstieg des chinesischen Wachstums in den letzten Jahrzehnten. Des Weiteren werden die Rezeption des Werkes Kurz’ in Brasilien behandelt sowie die Krise der modernen Geschlechterverhältnisse und ihre Beziehung zu den systemischen Widersprüchen des Kapitalismus: Wird das 21. Jahrhundert ein neues finsteres Zeitalter? Kann ein Szenario der verbrannten Erde westlicher Marktdemokratien mehr als drei Jahrzehnte nach der Ankündigung dieses Trends zum Chaos und zum Niedergang sozialer Strukturen einfach als unrealistisch abgetan werden? Sind die wirtschaftlichen und politischen Grundlagen der kapitalistischen Globalisierung nur von außen bedroht oder werden sie durch ihre eigenen Widersprüche untergraben, aus denen der religiöse Fundamentalismus und der neue Rechtsextremismus hervorgehen? Die Beiträge aus diesem Buch versuchen, diese Fragen zu beantworten.

Von Herbert Böttcher erschien im LIT-Verlag das Buch Religionskritik, Gottesverdunstung und Apokalyptik in Krisenzeiten – Theologie als Herrschaftskritik. Theologie, Glaube und Kirche werden oft als stabilisierende Faktoren in Krisen verstanden. Der Glaube gilt als Hilfe für die Bewältigung individueller Lebenskrisen und gesellschaftlich als Ressource der Orientierung in den diversen Krisensituationen. Auch Böttcher knüpft an den polit-ökonomischen Kontext der Krisen an, die das Leben der Individuen wie das gesellschaftliche Zusammenleben mehr und mehr unter Druck bringen, weil die Kontrolle über individuelles wie gesellschaftliches Leben mehr und mehr verloren geht. Dies ist kein Zufall, sondern Ausdruck dafür, dass der Kapitalismus auf Grenzen stößt, die im Rahmen des Kapitalismus nicht mehr überwunden werden können. Statt sich dem zu stellen, kommt es dazu, dass sich Individuen und Politik an eine illusionäre gesellschaftliche Normalität klammern und vorgeben Kontrollverluste durch Abschottung, Militarisierung, Autoritarismus und Rückgriff auf identitäre Vorstellungen von Volk und Nation bis hin zu Klasse und Klassenkampf bewältigen zu können. An diese Konstellationen können theologische Reflexion und kirchliche Verkündigung nicht einfach affirmativ anknüpfen. Im Blick auf den Kontext des einbrechenden Kapitalismus wären – so Böttcher – die jüdisch-christlichen Traditionen kritisch zur Geltung zu bringen. Aus der Erinnerung an biblische Traditionen lässt sich jedoch keine unmittelbare theologische Gesellschaftskritik ableiten. Sie muss sich in Verbindung mit einer kritischen Gesellschaftsanalyse herauskristallisieren. Daher insistiert Böttcher auf der notwendigen Verbindung von Theologie und gesellschaftskritischer Analyse.

Wir machen des Weiteren auf das Moishe Postone Legacy Project aufmerksam, das sich dem Leben und Werk von Moishe Postone widmet https://www.moishepostone.org/, sowie auf die Seite https://exitinenglish.com/, auf der regelmäßig englische Übersetzungen erscheinen.


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Johannes Vogele und Ralf Pieper sind in die Redaktion aufgenommen worden.

Wir bitten auch dieses Jahr unsere Leser & Leserinnen, uns mit einer Spende und/oder einem Abonnement zu unterstützen.


Thomas Meyer für die exit!-Redaktion im Februar 2025.


  1. Vgl. Rössel, Karl: Mit Nazis gegen Juden – zur Tradition des eliminatorischen Antisemitismus in der islamischen Welt, jungle.world vom 11.1.2024.^

  2. Grossmufti – Grossagent der Achse, Salzburg/Wien 1947.^

  3. Vgl. https://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Postone,%20Nationalsozialismus%20und%20Antisemitismus.pdf.^

  4. Eine Auswahl: Linfield, Susie: Der 7. Oktober und die linke Solidarität mit den Tätern, jungle.world vom 11.1.2024; Barreira, Marcos: In Brasilien gewinnt die traditionalistische Linke an Einfluss und fördert den Israelhass, jungle.world vom 29.2.2024; Konar, Kacper: Erstarkender Antisemitismus – Innenansichten aus der polnischen Linken, jungle.world vom 8.8.2024; Matteonie, Federica: In Italien rufen Studierende zur »studentischen Intifada« gegen Israel auf, jungle.world vom 23.5.2024; Thielen, Philipp: Antisemitismus in Frankreich – die Linke ist Teil des Problems, jungle.world vom 16.11.2023; Dreis, Ralf: Linke Demonstrationen am »Nakba-Tag« in Griechenland, jungle.world vom 30.5.2024.^

  5. Vgl. etwa: Frey, Lisa: »I love Hamas«, jungle.world vom 2.1.2025.^

  6. Sarah Maria Sander: Als die Hisbollah das Leben in Nordisrael zerstören wollte, 21.12.2024, https://www.youtube.com/watch?v=tglYp-BPSw8.^

  7. Vgl. z. B. Illouz, Eva: How the Left Became a Politics of Hatred Against Jews, 15.3.2024, https://k-larevue.com/en/illouz-butler/.^

  8. Vgl. Stöver, Merle: Wer sind eigentlich die Queers for Palestine?, belltower.news vom 18.7.2024.^

  9. Queer-Demonstrantinnen fordern eigene Hinrichtung!, https://www.youtube.com/watch?v=cUVLjWAcRJA.^

  10. Es gefriert einer/einem das Blut in den Adern, wenn man sich Statements wie dieses anschaut: https://www.memri.org/tv/hamas-event-honoring-mothers-palestinian-terrorists-sacrifice-our-children-grandchildren. Vgl. u. a. auch: https://www.memri.org/reports/hamas-indoctrination-children-jihad-martyrdom-hatred-jews.^

  11. Vgl. Goetz, Judith; Mayer, Stefanie: Globalisierter Backlash – Queerfeindlichkeit und Antifeminismus verbinden autoritäre Bestrebungen weltweit, in: iz3w Nr. 401, iz3w.org vom 19.2.2024.^

  12. Vgl. Kaiser, Susanne: Politische Männlichkeit – Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobil machen, Berlin 2020. Vgl. auch Wettig, Hannah: Komplimente von rechts – Traditionelle Familienwerte verbinden Rechtsextreme und konservative Muslime, jungle.world vom 10.8.2023.^

  13. Vgl. etwa Antonio Amadeo Stiftung (Hg.): Antisemitische Allianzen nach dem 7. Oktober, 6.6.2024, https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2024/06/Lagebild-Antisemitismus-13.-Antisemitische-Allianzen.-Pressefahne.pdf sowie Mohammed, Peshram: Eine unheilige Allianz – Das Bündnis zwischen Linken, Postkolonialen und Islamisten, jungle.world vom 21.12.2023.^

  14. Žižek, Slavoj: Die Paradoxien der Mehrlust – Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten, Frankfurt 2023, zuerst London 2022, 384.^

  15. Kurz, Robert: Der Tod des Kapitalismus: Marxsche Theorie, Krise und Überwindung des Kapitalismus, Hamburg 2012, 159.^

  16. Vgl. Konicz, Tomasz: Sarrazins Sieg, konicz.info vom 12.9.2010.^

  17. Der hochrangige Hamas-Funktionär Ghazi Hamad sprach explizit aus, ein solches Massaker so lange wiederholen zu wollen, bis Israel vernichtet ist. https://www.jpost.com/arab-israeli-conflict/article-771199.^

  18. Kurz 2012, ebd.^

  19. Vgl. Sarah Maria Sander: Falsche Opferzahlen in Gaza – übernehmen die Medien manipulierte Daten der Hamas?, 29.12.2024, https://www.youtube.com/watch?v=HNFsGWoSH9c&t=0s.^

  20. Vgl. Sarah Maria Sander: Die Hamas will mehr Todesopfer in Gaza, 30.12.2024, https://www.youtube.com/watch?v=UzdNbbdqiX8.^

  21. Vgl. z. B. Jewish News Syndicate: UN-Watch Bericht: UNRWA ließ wissentlich Infiltrierung durch Hamas zu, mena-watch.com vom 13.1.2025 und Shvili, Jason: Warum die Palästinenser in der arabischen Welt Parias sind, mena-watch.com vom 13.11.2023.^

  22. Nowotny, Konstantin: »Wir wollten sie stürzen«, Interview mit Hamza Howidy, taz.de vom 13.7.2024.^

  23. Vgl. etwa Elbe, Anni: Räuberleiter für die AfD – Die Migrationspolitik der Ampel ist am Tiefpunkt angekommen, iz3w.org vom 16.10.2024, Schultheis, Joschua: Dieser Weg führt zu einer Koalition mit der AfD, Jüdische Allgemeine vom 1.2.2025.^

  24. Bulle, Sylvaine: Andreas Malm et l’antisémitisme vert, 11.9.2024, https://k-larevue.com/malm-antisemitisme-vert/.^

  25. Martens, Mawuena: Klimawandel und Flucht – Die doppelte Bedrohung, Junge Welt vom 13.11.2024.^

  26. Vgl. dazu Kurz, Robert: Weltordnungskrieg – Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Springe 2021, 203ff., 358ff.^

  27. Vgl. z. B. Topfvollgold: Die wilden Kampagnen gegen Robert Habeck, https://www.youtube.com/watch?v=4DGAeHSfOFM.^

  28. Vgl. z. B. https://www.imi-online.de/2024/09/06/imi-kongress-2024-zeitenwende-in-bildung-und-hochschulen/ sowie Linder, Fabian: Bundeswehrförderungsgesetz: »Schülern wird Nähe zum Militär aufgedrängt«, Junge Welt vom 30.11.2024. Kopp, Johannes: Sportunterricht für den Ernstfall – Kinder zum Krieg erziehen, taz.de vom 24.1.2025.^

  29. Konicz, Tomasz: Cancel Culture USA, konicz.info vom 6.2.2025.^

  30. Auf Deutsch zuerst in exit! Nr. 6.^

  31. Auf Deutsch zuerst in exit! Nr. 16. Die Demokratie frißt ihre Kinder von Robert Kurz, 1993, auf exit-online.org.^