Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Translation [pt]: O ódio às mulheres está novamente a aumentar Erschienen in konkret 3/2017 Roswitha ScholzDer Hass auf Frauen nimmt wieder zuIst der Feminismus noch zu retten? Oder sind seine popkulturellen Sprachspiele ein Luxus, den sich nur jene leisten, die mehr nicht zu gewinnen hoffen? konkret sprach mit der feministischen Theoretikerin Roswitha Scholz über Queer- und Gendertheorie und die Notwendigkeit eines materialistischen Feminismus. konkret: Wo steht der Feminismus im Jahr 2017? Roswitha Scholz: Der Feminismus hat im Grunde erst Mitte der 2000er Jahre wieder sein Haupt gehoben. Die neunziger Jahre waren geprägt von Queer- und Gendertheorien. Materialistische Ansätze waren verpönt. Aber wenn es in der jüngeren Vergangenheit auch wieder vermehrt materialistisch orientierte Ansätze gegeben hat – Stichwort: Care-Arbeit –, traut sich der Feminismus nach wie vor nicht, in einer größeren theoretischen Dimension die Frage zu stellen, was das Geschlechterverhältnis nun eigentlich bedeutet. Warum ist die Auseinandersetzung mit dem Geschlechterverhältnis so zentral? Es geht um die Kritik der kapitalistisch-patriarchalen Verhältnisse. Wenn allein von Kapitalismus die Rede ist, dann ist das höchstens die halbe Wahrheit. Bestimmte Aspekte werden hervorgehoben, ökonomische Zusammenhänge erklärt, aber ein konstitutives Element bleibt unberücksichtigt: die Abspaltung der Reproduktionstätigkeiten. Und es wird ausgeblendet, was die geschlechtsspezifische Abspaltung für die Form des Subjekts bedeutet. Lange wurde das Geschlechterverhältnis als Nebenwiderspruch behandelt. Aber man kann nicht die Tätigkeiten der Hälfte der Menschheit einfach außen vor lassen. Diese Verhältnisse müssen nicht bloß in die Kapitalismuskritik integriert werden, sondern der über die Kategorie Geschlecht vermittelten Abspaltung muss in der Theorie selbst eine neue Qualität als wesentliches Strukturprinzip des warenproduzierenden Patriarchats zugesprochen werden. Statt eines Nebenwiderspruchs gibt es einen doppelten Hauptwiderspruch? Ich will mich als feministische Theoretikerin nicht in den Fallstricken der androzentrischen (das Männliche als Norm und Maßstab setzenden) Theorieproduktion, die immer universalistisch und identitätslogisch vorgeht, verheddern. Ich muss sehen, dass es weitere Disparitäten gibt: den Antisemitismus, den Rassismus, den Antiziganismus – all diese Formen sind wesentlich für die Konstitution des bürgerlichen Subjekts und des sozialen Zusammenhangs. Diese Gesellschaftsformation lässt sich in ihrer prozessualen Logik nicht einfach aus einer Form ableiten. Feministische Theoriebildung muss zugleich den androzentrischen Blick, der oft schlichte, verallgemeinernde Kausalbeziehungen konstatiert, überwinden. Die Kategorie der Krise spielt in Ihrer Theorie eine wichtige Rolle. Inwiefern wirken sich gesellschaftliche Krisensituationen geschlechtsspezifisch aus? Die Krise wirkt sich auf Frauen und Männer unterschiedlich aus. Ich spreche in diesem Zusammenhang von der »Verwilderung des Patriarchats«. Das heißt nicht, dass sich das Geschlechterverhältnis in eine emanzipative Richtung auflöst. Und es bedeutet auch nicht, dass die geschlechtshierarchische Grundstruktur der Gesellschaft obsolet wird. Es findet eher eine Aufweichung tradierter Geschlechterrollen unter Verelendungsbedingungen statt. Solche Entwicklungen lassen sich zum Beispiel in den Slums der sogenannten Dritten Welt beobachten. Da sind die Frauen für das Überleben der Familie zuständig. Die Männer hangeln sich von Job zu Job und von Frau zu Frau und fühlen sich eigentlich nicht mehr für Beziehungen oder eigene Kinder verantwortlich. Da haben wir es eher mit Prozessen der Verwahrlosung zu tun. In akuten gesellschaftlichen Krisensituationen liegt die größte Last auf den Schultern der Frauen. Der Aufstieg rechter Bewegungen geht auch mit dem Wunsch nach einer Rückkehr zu überkommenen Geschlechterbildern einher. Ja, die Verunsicherung tradierter Geschlechternormen kann umschlagen. Der Hass auf Frauen und Minderheiten nimmt wieder zu. Natürlich kann es faktisch keine Rückkehr zum Frauenbild der fünfziger Jahre geben. Ich finde an dieser Stelle interessant, wie sich Gender- und Queer-Theorien, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eine Art Höhenflug erlebt haben, an dieser Stelle blamieren. Sie haben in gewisser Weise eine Verharmlosung gesellschaftlicher Verhältnisse betrieben. Man hat geglaubt, die Liberalisierung der Gesellschaft und die Gleichstellung der Frauen seien weit fortgeschritten. Geschlechterhierarchien und die Struktur der Zwangsheterosexualität wurden eher mit zahnloser Kritik bedacht. Marxistische oder psychoanalytische Theorien wurden zugunsten einer Diskurstheorie, die sich auf die Analyse sprachlicher Zuschreibungen beschränkte, zumeist verworfen. Diese poststrukturalistischen Theorien haben in gewisser Weise dem neoliberalen Anforderungsprofil an flexible Identitäten in die Hände gespielt. Heute sehen wir, dass die oberflächlichen, gesellschaftstheoretisch kaum fundierten Theorien der Queer- und Gender-Studies Fehleinschätzungen waren. Wenn ich nicht wahrnehme, dass es gesellschaftliche Tiefenstrukturen gibt, die zwar historisch ihr Gesicht verändern, aber letztlich als Zwangsstrukturen bestehen bleiben, dann tendiere ich dazu, Situationen, in denen es auch tatsächliche Emanzipationsgewinne gibt, schon mit der Befreiung zu verwechseln. In vielen Ländern werden derzeit die Errungenschaften von emanzipatorischen Kämpfen schlicht kassiert. Da muss die Diskurstheorie aus allen Wolken fallen. In Polen, Lateinamerika und in den USA waren in den vergangenen Monaten Hunderttausende Frauen bei Demonstrationen auf der Straße. Ist das der Beginn einer neuen Frauenbewegung? Diese Demonstrationen sind gut und wichtig. Ich glaube auch, dass eine starke antifaschistische Bewegung notwendig ist. Was ich allerdings problematisch finde, ist der rhetorische Humanismus und der oft anzutreffende Hurra-Demokratismus, der sich zwar gegen rechts wendet, sich aber völlig affirmativ auf die sogenannte westliche Wertegemeinschaft beruft. |