Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Trauerrede für Claus Peter OrtliebWir danken der Familie von Claus Peter Ortlieb, dass wir an dieser Stelle die von Herbert Böttcher gehaltene Trauerrede veröffentlichen können.
Liebe Sabine, lieber Max und lieber Felix, liebe Rosemarie, liebe Familie, liebe Freundinnen und Freunde von Claus Peter, uns alle verbindet die Trauer darüber, dass wir von Claus Peter Abschied nehmen müssen. Darin sind wir mit Claus Peters Familie verbunden. Angesichts seines Todes versuchen wir – soweit das überhaupt möglich ist – ihm dadurch gerecht zu werden, dass wir Aspekte seines Lebens in Erinnerung rufen, die für ihn und für uns wesentlich sind. Darin bleiben wir mit ihm auch über seinen Tod hinaus verbunden. Er gehört zur Geschichte, die eine Geschichte aller Menschen ist - auch dann, wenn die Erinnerung mit der Zeit zu verblassen droht und ihre Spuren sich verlieren. Claus Peter war ein leidenschaftlicher und zugleich ganz an der Sache orientierter Mitarbeiter unserer Theorie-Zeitschrift exit!. Sie ist ein Projekt, mit dem wir versuchen, den gesellschaftlichen Katastrophen kritisches, d.h. immer auch theoretisches, auf das Ganze der gesellschaftlichen Verhältnisse bezogenes Denken entgegen zu setzen. Claus Peter hat mit uns die Überzeugung geteilt, dass dies eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, die Verhältnisse zu überwinden, die Menschen in den Tod treiben und die Grundlagen allen Lebens zerstören. Wenige Tage vor seinem Tod haben wir uns beim Redaktionstreffen noch darüber gefreut, wie sich Claus Peter wieder in unsere Diskussionszusammenhänge einbringt und auch dazu beiträgt, das Alltagsgeschäft zu bewältigen. Das haben wir auch als Zeichen dafür verstanden, dass es ihm wieder besser geht. Um so mehr hat uns die Nachricht von seinem Tod zunächst einmal die Sprache verschlagen. Wir konnten und wollten es nicht wahr haben, dass sein Leben nun abgeschlossen ist und all die Möglichkeiten, die für ihn und für uns noch offen waren, an ihr Ende gekommen sind. Aus der Perspektive gemeinsamen Denkens und theoretischen Ringens möchte ich an ein paar Gedanken von Claus Peter erinnern, die für uns wegweisend sind. Sehr wohl weiß ich, dass exit! für ihn nicht alles war. Wichtiger Eckpfeiler seines Lebens war die Familie. Aufgewachsen ist er mit zwei Geschwistern. Seit Ende der 1970er Jahre ist er mit Sabine zusammen. Zu dieser Verbindung gehören die beiden Kinder Max und Felix. Auch seine erste Frau Renate gehört zu den Menschen, mit denen er verbunden blieb. Familientreffen waren ihm ein wesentlicher sozialer Ort. Und weil Liebe – ganz materialistisch – auch durch den Magen geht, hat er für seine Gäste gerne und gut gekocht. Zu seinem Leben als Familienmensch gehört, dass er zwei Tage vor seinem Tod die Hochzeit seines Sohnes Max in vollen Zügen mitfeiern und genießen konnte. Die Verbindung von Familie und des exit!-Zusammenhangs kommt am Ende seines Lebens darin zum Ausdruck, dass er beides bis zum Ende leben konnte. Bis wenige Augenblicke vor seinem Tod hat er geschrieben, um in einem Leserbrief in eine öffentliche Debatte zu intervenieren. Damit blieb ihm ein langes Siechtum erspart. Sabine hat es so formuliert: Ohne Beine konnte er leben, aber ohne Gebrauch des Kopfes wäre das für ihn sehr schwer geworden. Der soziale Lebensraum blieb für Claus Peter nicht auf die Familie beschränkt. Sie war kein Ort identitären Rückzugs und privater Abschottung, sondern ein Raum, in Beziehungen zu leben und darin Kraft für all das zu finden, was über die Familie hinaus ging. Auch für seinen beruflichen Weg war die soziale Dimension prägend. Als Assistent an der Hochschule hat er sich hochschulpolitisch engagiert, stand Studentinnen und Studenten hilfreich zur Seite und galt auch als Professor für angewandte Mathematik als ein Mensch, der den Lernenden nicht akademisch-hochnäsig begegnete, sondern ihnen seine Fähigkeiten zur Verfügung stellte, auch komplizierte Stoffe so darzustellen, dass sie sich den Lernenden erschließen können. Parteipolitisch bewegte er sich im Spektrum der SPD - bis Diskussion und Durchsetzung des sog. Asylkompromisses zu Beginn der 1990er Jahre dieser Liaison ein Ende setzten. Sein Weg zu exit!1 führte über einen Zufall und war doch folgerichtig. In einer Bahnhofsbuchhandlung entdeckte er ein Buch von Robert Kurz. Diese Denke – so hat er einmal gesagt – „hat mich nicht mehr losgelassen". Es ist eine Denke, die sich weigert, angesichts der sich zu Katastrophen zuspitzenden gesellschaftlichen Krisen in einen politischen Pragmatismus zu flüchten, der sich von der Frage nach dem Ganzen der kapitalistischen Verhältnisse verabschiedet. Claus Peter hat erkannt, dass Alternativen zu den gesellschaftlichen Katastrophen erst dann möglich werden, wenn es zum Bruch mit dem Ganzen der kapitalistischen Verhältnisse kommt. Diese sind geprägt durch die Arbeit. Nur sie schafft Wert- und Mehrwert. Ebenso prägend ist die Abspaltung der abgewerteten und Frauen zugeschriebenen Momente des Erziehens und Pflegens sowie der Sorge um die emotionalen Seiten des Lebens. Diese von Roswitha Scholz voran getriebene feministische Weiterentwicklung unseres gesellschaftskritischen Denkens hin zur Kritik von Wert und Abspaltung, die das hierarchische Geschlechterverhältnis als für die kapitalistische Gesellschaft grundlegend erkennt, hat Claus Peter engagiert mitgetragen und in sein Denken aufgenommen. Auch für ‘exit!-Männer’ ist das keine einfache Herausforderung. Seinen mathematisch-naturwissenschaftlichen Hintergrund hat Claus Peter in den Reflexionszusammenhang von exit! eingebracht. In seinem letzten bei uns veröffentlichten Text kritisiert er den „Mathematikwahn“2 als eine Vorstellung, nach der die Wirklichkeit mathematischen Gesetzen folge. Der Illusion objektiver Erkenntnis stellt er die Einsicht entgegen, dass – wie im physikalischen Experiment – die Aspekte der Wirklichkeit ausgeblendet werden, die den idealen Ablauf stören: Körperlichkeit und Empfindungen. Die Illusion objektiver Erkenntnis setzt das in Öffentlichkeit und Privatheit, Verstand und Gefühl, Körper und Geist gespaltene Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft voraus. Dabei werden Öffentlichkeit, Verstand, Geist dem ‚Mann’ und Privatheit, Gefühl sowie Körper der ‚Frau’ zugeschrieben. So sei es – wie Claus Peter zeigte – „kein Zufall, dass Kritik an den unangreifbar scheinenden mathematischen Naturwissenschaften fast ausschließlich von feministischer Seite erhoben wurde”3. Die vermeintlich objektiven Naturwissenschaften sind eingebunden in die kapitalistischen Verhältnisse und so in den Zwang, stofflichen Reichtum in abstrakten Reichtum zu verwandeln und in Geld darzustellen. Die Konsequenz dieses Zwangs ist die Vernichtung all dessen, was für das Leben unverzichtbar ist. In seinem vor zehn Jahren erschienen Text „Ein Widerspruch von Stoff und Form“4 hat Claus Peter aus der Perspektive des Mathematikers noch einmal deutlich gemacht, dass angesichts der nicht mehr lösbaren Verwertungskrise des Kapitals, die zudem auf ökologische Schranken stößt, der Fluchtweg in politischen Pragmatismus verschlossen ist; denn – so Claus Peter – das „ökologisch Notwendige” lässt sich mit dem „ökonomisch Machbaren"5 nicht mehr vereinbaren. Angesichts dieser Situation die Reflexion auf das Ganze der Verhältnisse zu verweigern oder sie sogar theoriefeindlich zu verteufeln, arbeitet rechtsextremen Bewegungen in die Arme. Sie konkretisieren die sich zuspitzende Krise auf ‚die’ Flüchtlinge, ‚die’ Politiker, ‚die’ Banker und flüchten sich in illusionäre Identitäten wie Volk, Nation oder Region. Demgegenüber gilt Claus Peters Erkenntnis: „Nur eine durch bewusstes menschliches Handeln herbeigeführte Überwindung des Kapitalismus, also des wertförmigen Reichtums – und der von ihm konstituierten Subjektform – bietet überhaupt die Chance auf so etwas wie eine befreite postkapitalistische Gesellschaft."6 Nach Karl Marx genügt es nicht, „dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen“7. Die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft kann nicht aus einem ideal gedachten Modell, einer ausgemalten Utopie, abgeleitet und dann umgesetzt werden. Die Wirklichkeit muss sich insofern zum Gedanken drängen als Erkenntnis und Negation der Verhältnisse Bedingung ihrer Überwindung sind. In philosophischer Sprache ließe sich von Transzendieren als dem Überschreiten von Grenzen sprechen. Ohne die Grenzen der kapitalistischen Gesellschaft überschreitendes und darin kritisch-negierendes Denken kann es keine Wege aus den sich zuspitzenden Krisen und Katastrophen geben. In diesem Sinne müssten soziale Bewegungen versuchen, über die von der kapitalistischen Gesellschaft gesetzten Grenzen theoretisch und praktisch hinauszugreifen. Ein wesentlicher Ansatzpunkt dazu wäre es, sich gegen die Zumutungen der kapitalistischen Verhältnisse zu wehren, ohne sich dabei von der Frage des „ökonomisch Notwendigen” blockieren zu lassen, und sich für die Verwirklichung dessen einzusetzen, was angesichts des stofflichen Reichtums und des Standes der Produktivkräfte möglich wäre, aber daran scheitert, dass stofflicher Reichtum im Kapitalismus nur als abstrakter Reichtum, d.h. als Geld, von Bedeutung ist. Wege, die Claus Peter mit gebahnt hat, werden wir nun ohne ihn gehen müssen. In der Stunde des Abschieds und der Trauer wird manchen vielleicht auch bewusst, dass kritisches Denken auch den Tod nicht einfach auf sich beruhen lassen kann. Er bricht gewaltsam das Leben ab; er hinterlässt unerfüllte Hoffnungen und nicht verwirklichte Möglichkeiten. Das gilt für Claus Peters Leben, aber auch für diejenigen, die Opfer von Hunger, Krieg und Zerstörung der Lebensgrundlagen geworden sind, kurz: all der Gewalt, die Herrschaftsverhältnisse in der Geschichte zu bieten haben. Angesichts all dieser Leiden kann kritisches Denken sich nicht beruhigen. Darin gründet nach Adorno „die Erfahrung, dass der Gedanke, der sich nicht enthauptet, in Transzendenz mündet, bis zur Idee einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern auch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre"8. Freilich kann es – weder philosophisch noch theologisch – eine Gewissheit hinsichtlich solcher Transzendenz geben. Wir werden mit all den offenen Fragen, die Leid und Tod uns stellen, leben müssen. Dabei werden wir unsere Toten vermissen. Wir werden Claus Peter bei exit! vermissen, seine intellektuelle Kraft ebenso wie seine jederzeit hilfsbereite Zugewandtheit, seine Klarheit in Konfliktsituationen, seine akribische Redaktionstätigkeit ebenso wie sein organisatorisches Geschick. Seine Familie und sein Freundeskreis werden ihn vermissen als Gesprächspartner, als Koch, als ein Mensch der mit gefeiert hat, als einer, der schlicht da war, Kraft gab und aufrichtete. Wir tragen ihn zu Grabe und hoffen, dass der Schmerz des Vermissens gelindert werden kann durch die Dankbarkeit dafür, dass wir einem Menschen wie Claus Peter begegnen durften.
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