Dieser Text wurde 1996 für die Brasilianische Zeitung "FOLHA" geschrieben.
Robert Kurz
Der kurze Sommer des Keynesianismus
Vom unglücklichen Bewusstsein zum kollektiven Gedächtnisverlust der ökonomischen
Theorie
John Maynard Keynes (1883 - 1946) war vielleicht einer der interessantesten
Menschen des 20. Jahrhunderts. Als Spezialist der Geld- und Währungstheorie
genoss er schon seit dem 1. Weltkrieg hohes Ansehen. Aber seine Interessen waren
viel weiter gespannt. Von Haus aus Mathematiker, hatte er zunächst mit
seinem "Traktat über Wahrscheinlichkeit" (1921) internationales Aufsehen
erregt. Seine eigentliche Liebe gehörte der Philosophie. Aber es war ihm
nicht vergönnt, auf diesem Gebiet in Cambridge akademisch tätig zu
werden, wie er gehofft hatte. Er mischte sich in die Politik, war im britischen
IndienMinisterium tätig und auch als wirtschaftlicher Praktiker im Versicherungswesen
und an der Börse erfolgreich. Sein Vermögen erlaubte es ihm, unabhängig
zu sein; er förderte die Kunst und war ein grosser Kunstsammler. Er kaufte
den Nachlass von Sir Isaac Newton, machte ihn der Forschung zugänglich
und publizierte selber darüber.
Diese Weite des geistigen Horizonts war nicht in die engen Grenzen einer wissenschaftlichen
Fachdisziplin zu bannen. Ähnlich wie bei Marx finden wir in den Schriften
von Keynes auf Schritt und Tritt transdisziplinäre Gedanken, in denen eine
Einheit von Philosophie, Politik und Ökonomie aufscheint. Und dennoch hat Keynes,
wie er selber sagt, als Ökonom die Grenzen der tradierten Fachwissenschaft
und der institutionellen akademischen Reputation niemals überschritten.
In gewisser Weise enthält sein theoretisches Werk ein Moment von dem, was
der Philosoph Hegel "unglückliches Bewusstsein" genannt hat. Auch sein
persönliches Leben ist davon betroffen. Der vornehme EtonAbsolvent bewegte
sich in den höchsten Kreisen der offiziellen Gesellschaft, aber er heiratete
die russische Tänzerin Lydia Lopokova (und interessierte sich seitdem auch
noch für die Geschichte des Theaters und des Ballets). Auch soll er von
starken homoerotischen Neigungen geprägt gewesen sei, wie immer wieder
kolportiert wird. Vielleicht war John Keynes ein Adler in einem goldenen Käfig.
Und vielleicht war es sein Unglück, dass er kein rebellischer Aussenseiter
sein konnte.
Dieses Moment des "unglücklichen Bewusstseins" ist auch in seinem 1936 erschienenen
Hauptwerk ("Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes")
zu erkennen, das später als Beginn der "KeynesRevolution" in der ökonomischen
Theorie bezeichnet wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt galt in der akademischen Wissenschaft
unangefochten das von JeanBaptiste Say (1767 - 1832) formulierte Theorem, dass
jedes Angebot sich automatisch seine eigene Nachfrage schaffe und prinzipiell
ein Gleichgewicht des Marktes allein durch den Markt selber hergestellt werden
könne. Say systematisierte damit einen Grundgedanken, der bereits bei den ökonomischen
Klassikern Adam Smith und David Ricardo zu finden ist. Dieser Auffassung zufolge
können Disproportionalitäten des Marktes, Krisen und Arbeitslosigkeit immer
nur eine Folge von "ausserökonomischen Ursachen" sein. Verantwortlich dafür
sind Kriege, Politik und nicht zuletzt Gewerkschaften, die angeblich den "natürlichen"
Prozess des Marktes verfälschen.
Keynes war der erste seriöse Ökonom, der dieses Theorem grundsätzlich in
Frage stellte. Aber er war nicht der erste Theoretiker, der das tat. Denn schon
fast ein Jahrhundert zuvor hatte Karl Marx, das Enfant terrible der modernen
Wissenschaft, die Krisen nicht durch "ausserökonomische Ursachen", sondern
durch die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise selbst erklärt. Marx
galt jedoch nicht als seriös; seine Theorie war im offiziellen Pantheon nicht
zugelassen und, wie Keynes bemerkte, vom Standpunkt der akademischen Wissenschaft
aus in eine "Unterwelt" verbannt. So stellte sich Keynes die unglückliche Aufgabe,
die schon längst von einem Aussenseiter ausgearbeitete Kritik an Say und der
klassischen Theorie nun auch innerhalb der akademischen Volkswirtschaftslehre
zu formulieren. Die "KeynesRevolution" war keine Revolution gegen die herrschende
Theorie, sondern das Paradoxon einer Revolutionierung des wissenschaftlichen
Establishments selbst.
Der Ruhm von Keynes ist nicht denkbar ohne die grosse Weltwirtschaftskrise von
1929 - 33. Dieses ökonomische Erdbeben erschütterte die modernen Gesellschaften
so tief, dass auch die Grundannahmen der ökonomischen Klassik ins Wanken gerieten.
Die "General theory" von Keynes kann als die Antwort der akademischen Volkswirtschaftslehre
auf die Weltwirtschaftskrise verstanden werden. Keynes wies nach, dass das Theorem
von Say nur einen Sonderfall darstellt und keine Allgemeingültigkeit beanspruchen
kann. Ein relatives Gleichgewicht des Marktes ist auch auf niedrigem Niveau
und bei einem grossen Ausmass an Unterbeschäftigung möglich. Mit anderen Worten:
der Markt selber kann zu einer Situation führen, in der nicht genügend Nachfrage
nach Konsum- und Investitionsgütern besteht, sodass ein grosser Teil des gesellschaftlichen
Angebots von Arbeitskraft seinerseits keine Nachfrage findet, ganz unabhängig
von gewerkschaftlichen Aktivitäten.
Im Gegensatz zu Marx wollte Keynes in diesen Tatsachen jedoch keine Grenze der
modernen Ökonomie erkennen. Er hielt es für möglich, den Mangel an Nachfrage
zu überwinden. Dies könne jedoch nicht allein durch die mikroökonomischen
Entscheidungen der Individuen und der Unternehmen geschehen, sondern vor allem
durch Massnahmen auf der makroökonomischen Ebene der Grössen im gesamtwirtschaftlichen
Kreislauf. Keynes betonte also die eigenständige Bedeutung der MakroÖkonomie,
die von der Klassik vernachlässigt worden war. Er stützte sich dabei auf den
Begriff des ökonomischen "Gesamtnutzens" in der Gesellschaft, dessen Maximierung
in der englischen Volkswirtschaftslehre bereits vor Keynes als "Welfare Economics"
bezeichnet worden war. Keynes löste diesen Begriff jedoch energischer als seine
Vorgänger von einer blossen Addition des "individuellen Nutzens" ab. Seit Keynes
haben die "Welfare Economics" eine ganz neue, makroökonomische Bedeutung bekommen.
Wie die meisten Sozialisten wollte auch Keynes den Staat als eine Art Deus ex
machina mobilisieren, um die ökonomische Krise zu bewältigen. Im Unterschied
zum Sozialismus sollte der Staat jedoch nicht zum "Generalunternehmer" werden,
sondern lediglich durch makroökonomische Massnahmen die mangelnde Nachfrage
stimulieren. Durch eine Erhöhung der Geldmenge, durch eine Umverteilung der
Einkommen und durch zusätzliche öffentliche Investitionen könne der Staat
dieses Ziel erreichen. Damit die zusätzlichen öffentlichen Investitionen jedoch
nicht zum ökonomischen Nullsummenspiel werden, so Keynes, dürfen sie nicht
durch zusätzliche Steuern finanziert werden; denn auf diese Weise käme die
vermehrte staatliche Nachfrage ja nur dadurch zustande, dass die private Nachfrage
abgewürgt wird. Der Staat müsse deswegen auf dem Wege des "Deficit spending"
seine zusätzlichen Investitionen finanzieren, also durch Kreditaufnahme und
durch Geldschöpfung der Notenbank.
Keynes propagierte Massnahmen des Staates, die bis dahin als unseriös und gefährlich
gegolten hatten. Allerdings konnte er sich dabei auf eine ökonomische Praxis
stützen, die im 1. Weltkrieg allgemein geworden war. Die keynesianischen "Welfare
Economics" standen von Anfang an in einer engen Beziehung zu den "Warfare Economics"
der Kriegswirtschaft. Der gemeinsame Nenner war das Deficit spending. Schon
seit Beginn der Neuzeit hatten sich viele Staaten in Zeiten des Krieges verschuldet,
weil die regulären Einnahmen durch Steuern nicht mehr ausreichten. Aber im
1. Weltkrieg erreichte diese Praxis eine neue Qualität, denn die Kosten der
industrialisierten Kriegführung überstiegen alle bis dahin bekannten Dimensionen.
Damals glaubte man noch, die enorme Staatsverschuldung sei eine Ausnahmeerscheinung
des Krieges gewesen. Aber unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise schlug
Keynes nun vor, das Deficit spending auch für die Ankurbelung der zivilen Ökonomie
einzusetzen. Er meinte sogar, notfalls müsse der Staat in der Krise "Pyramiden
bauen" oder "Löcher graben und wieder zuschütten", um zusätzliche Nachfrage
zu erzeugen. Unfreiwillig zeigte er damit, dass die moderne Ökonomie den Charakter
eines absurden Selbstzwecks hat. Der sinnlose und destruktive Verbrauch von
Ressourcen in den militärischen Industrien des Todes wiederholt sich in der
zivilen Ökonomie, nur damit die blind vorausgesetzte Eigendynamik des Geldes
genährt werden kann. Auch in dieser Hinsicht verrät die Theorie von Keynes
ein "unglückliches Bewusstsein".
Das historische Schicksal der "KeynesRevolution" war ein höchst eigenartiges.
Die ökonomische Praxis sowohl des "New Deal" von US-Präsident Roosevelt als
auch der faschistischen Diktatur in Deutschland (beides Antworten auf die Weltwirtschaftskrise)
zeigte zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit den Gedanken von Keynes. Aber
diese Praktiken waren mehr spontan und pragmatisch entstanden, jedenfalls noch
nicht durch die "General theory" legitimiert. Nach dem 2. Weltkrieg war die
jüngere Generation der Ökonomen grösstenteils von Keynes beeinflusst.
Dagegen hielt die ältere Generation, die meistens noch auf den Lehrstühlen
sass, weiterhin an der klassischen Theorie fest. Aber auch die Vertreter der
Klassik hatten inzwischen auf die Weltwirtschaftskrise reagiert, freilich ganz
anders als Keynes. Der deutsche Ökonom Walter Eucken (1891 - 1950) führte
die Krise darauf zurück, dass die Konkurrenz der Marktteilnehmer institutionell
nicht ausreichend gesichert sei und der Markt von sich aus zu Monopolen führen
könne. Auch er plädierte also für den Eingriff des Staates; aber nicht
durch Deficit spending auf der Ebene der MakroÖkonomie wie bei Keynes, sondern
durch eine institutionelle "Ordnungspolitik", die den freien Wettbewerb staatlich
garantieren soll. Diese Schule wurde als Neoliberalismus bezeichnet.
In der ersten Ära nach dem 2. Weltkrieg waren die Neoliberalen einflussreicher
als die Keynesianer. Und der unerwartete Boom der 50er und 60er Jahre, besonders
das deutsche "Wirtschaftswunder", schien gegen Keynes zu sprechen. Der deutsche
Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, eine Symbolfigur der damaligen Prosperität,
bekannte sich zur neoliberalen Doktrin. Aber die Prosperität hatte ihre Ursache
nicht in einer grösseren Freiheit der Konkurrenz als früher, sondern in der
strukturellen Entwicklung der zentralen Industrien (Produktion von Autos, Kühlschränken,
Waschmaschinen, Fernsehgeräten usw.), die eine starke Nachfrage auf allen Ebenen
(Arbeitskraft, Konsum, Investitionen) erzeugte. Ausserdem war diese Entwicklung
zumindest indirekt durch einen staatsökonomischen Impuls in Gang gekommen.
Den Startschuss für die neue Prosperität hatten nämlich die "Warfare Economics"
des Koreakriegs Anfang der 50er Jahre gegeben; und seitdem haben die USA als
Weltpolizist eine "permanente Kriegswirtschaft" entwickelt, die nur durch ein
ebenso permanentes Deficit spending aufrechterhalten werden kann.
Aber die Zeit des "Wirtschaftswunders" war nur ein kurzer sibirischer Sommer
der Geschichte nach der Epoche der Weltkriege. Schon in den 60er Jahren fielen
die Wachstumsraten wieder, und in den 70er Jahren drohte sogar das Gespenst
von 1929. Jetzt schien die grosse Zeit des Keynesianismus gekommen, zumal die
jungen Ökonomen der 40er Jahre inzwischen in führende Positionen aufgerückt
waren. In den wichtigsten westlichen Ländern, vor allem in den USA, England
und Deutschland, begann eine Ära keynesianischer Wirtschaftspolitik. Das
Deficit spending wurde in grossem Masse als Herzschrittmacher des Kapitalismus
eingesetzt. Auch die meisten Konzepte für die Entwicklung der 3. Welt enthielten
Ideen von Keynes.
Leider muss man sagen, dass der Sommer des Keynesianismus noch kürzer war als
die neoliberale Ära der Prosperität. Keynes selber hatte geglaubt, das
Deficit spending könne sich darauf beschränken, eine Art Starthilfe für die
Eigendynamik des Marktes zu geben. Aber bald stellte sich heraus, dass das Herz
des Marktes ohne Herzschrittmacher nicht mehr schlagen konnte. Das Resultat
war eine sprunghaft steigende Inflation und eine allgemeine Krise der Staatsfinanzen.
In der neuen Krise Anfang der 80er Jahre wurde der Keynesianismus als ökonomische
Doktrin beerdigt. Damit bewies er sein "unglückliches Bewusstsein": für die
Weltwirtschaftskrise war er zu spät gekommen, in der Prosperität nach 1950
wurde er nicht gebraucht, und als er endlich zum "weissen Ritter" der Ökonomie
werden sollte, da war er schon veraltet.
Was war der Fehler? Keynes verstand ebenso wie seine neoklassischen bzw. neoliberalen
Konkurrenten die moderne Ökonomie nicht als einen (irreversiblen) historischen
Prozess, sondern als die Existenzweise zeitloser ökonomischer Kategorien. Das
ist erstaunlich, weil er in einem seiner Aufsätze schon 1930 als einer der
ersten den Begriff der "technologischen Arbeitslosigkeit" verwendet hatte und
voraussah, dass "unsere Entdeckung von Mitteln zur Ersparung von Arbeit schneller
voranschreitet als unsere Fähigkeit, neue Verwendung für die Arbeit zu finden".
Aber weil er glaubte, dieses Stadium werde erst ein Jahrhundert nach seiner
Zeit erreicht, verfolgte er den Gedanken nicht weiter. In der "General theory"
haben wir es nicht mit der strukturellen Entwicklung des realen Kapitalismus
zu tun, sondern mit der zeitlosen "Psychologie der Marktteilnehmer" und den
daraus möglichen "Fällen" eines zeitlosen ökonomischen Systems. Der Keynesianismus
der 70er Jahre ist aber nicht an einer "falschen" Wirtschaftspolitik auf dieser
zeitlosen Ebene gescheitert, sondern daran, dass die tragenden Industrien der
historischen Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg strukturell erschöpft waren.
Seit den 80er Jahren hat die mikroelektronische Revolution genau jene Grenze
der modernen Ökonomie in Reichweite gerückt, die Keynes 1930 vorausgesagt
hatte (auch wenn seine Schätzung naturgemäss ungenau war). Deswegen
ist seine eigene Theorie gegenstandslos geworden. Das gilt auch für die
von ihm vorgeschlagenen wirtschaftspolitischen Massnahmen, die relativ geschlossene
Nationalökonomien voraussetzen. Keynes war sich darüber durchaus im klaren
und hatte deshalb frühzeitig vor einer zu starken Expansion des Weltmarkts
gewarnt. Die Ökonomen aber erlitten nach dem Ende des Keynesianismus einen
kollektiven Gedächtnisverlust. Statt sich die Grenzen des modernen ökonomischen
Systems einzugestehen, kreierten sie einen NeoNeoliberalismus und wärmten
die längst widerlegte klassische Theorie wieder auf, als hätte es
die Weltwirtschaftskrise und die Krise der 70er Jahre niemals gegeben. Wer aber
die Geschichte bloss vergisst, statt sie kritisch zu überwinden, der ist
dazu verurteilt, sie noch einmal zu erleben.