Robert Kurz
Mauselöcher für
Elefanten
Das Dilemma der Export-Industrialisierung und der "Fall China"
Lange Zeit war die soziale
Hoffnung in den Ländern der 3. Welt auf das Paradigma der "nationalen
Befreiung" gerichtet. Die Abhängigkeit von den imperialen Ökonomien
der alten Industriestaaten sollte zugunsten einer eigenständigen nationalen
Industrialisierung aufgehoben werden. Das Mittel dafür war stets eine mehr
oder weniger starke Abschottung vom Weltmarkt, um sich auf die eigene Binnenökonomie
zu konzentrieren. Importe aus den industriell fortgeschrittenen Ländern
sollten möglichst durch eigene Produktion substituiert werden. Diese Strategie,
die bekanntlich in verschiedenen Versionen lange Zeit dominierend war, konnte
zwar keine historische Alternative zum westlichen Kapitalismus entwickeln; aber
immerhin stellte sie in zahlreichen Staaten den Versuch dar, das ganze Land
und die gesamte Bevölkerung in die "Modernisierung" mitzunehmen
und von den Früchten der Entwicklung allen etwas zu geben.
Man kann dieses Konzept formal in mancher Hinsicht mit dem Merkantilismus vergleichen,
der ökonomischen Doktrin des europäischen Absolutismus im 17. und
18. Jahrhundert. Bei der Entwicklungstheorie der 3. Welt handelte es sich jedoch
nur um einen "halben Merkantilismus". Zwar sollte wie in der Wirtschaftspolitik
der alten absolutistischen Fürsten der Import von Waren beschränkt
werden und der Staat das planende Subjekt der Nationalökonomie sein oder
auch selber als Unternehmer agieren. Aber im Unterschied zum historischen Merkantilismus
war nicht der Export um jeden Preis das Ziel, sondern im Gegenteil die Konzentration
auf die eigene innere Entwicklung.
Dieser Unterschied läßt sich auch leicht erklären. Die merkantilistische
Doktrin war deswegen auf den Export fixiert, weil sie gar nicht in erster Linie
das eigene Land als solches entwickeln, sondern möglichst viel Geld aus
anderen Ländern abziehen wollte, um die Kriegskassen der räuberischen
Fürsten zu füllen. Das Militär und der Luxus der absolutistischen
Hofhaltung waren unersättliche Geldfresser. Die Regimes der nationalökonomischen
Entwicklung in der 3. Welt hatten zwar ebenfalls einige "absolutistische"
Züge; sie waren autoritär, nicht selten auch anfällig für
ruinösen militärischen Ehrgeiz und irrationalen bürokratischen
Pomp. Andererseits aber besaßen sie auch ein sozial emanzipatorisches
Moment, das sich in der Option der inneren Entwicklung niederschlug. Vielleicht
waren sie auch deshalb weniger auf den Export orientiert, weil sie als historische
Nachzügler nicht mehr in derselben Weise auftrumpfen konnten wie der europäische
Absolutismus, der noch keine übermächtige Konkurrenz auf dem Weltmarkt
zu fürchten hatte.
Das entwicklungspolitische Modell der 3. Welt ist gescheitert. Schon vor seinem
offenen Zusammenbruch hatte es eine lange Agonie durchgemacht. Denn es zeigte
sich bald, daß eine Abschottung vom Weltmarkt gar nicht möglich war,
wenn man nicht das Ziel der industriellen Entwicklung selbst aufgeben wollte.
Die Substitution von Importen gelang nur bei relativ wenigen und einfachen Produkten.
Viele notwendige Komponenten einer breitgefächerten industriellen Produktion
konnten die Länder der 3. Welt nicht selbst herstellen. Wenn sie sich trotzdem
industriell entwickeln wollten, mußten sie diese Komponenten vorerst aus
dem Westen importieren. Das bedeutete, daß die Devisen dafür durch
eigene Exporte verdient werden mußten. Die Ökonomie der Entwicklung
wurde also widerwillig allmählich doch zum Export und damit zu einem "vollen
Merkantilismus" genötigt, oft auf Kosten der inneren Versorgung mit
Konsumgütern und sogar mit elementaren Lebensmitteln. Die Armut, die man
vertreiben wollte, klopfte an der Hintertür wieder an.
Als sich die Schere zwischen Importkosten und Exporterlösen trotzdem immer
weiter öffnete, gingen die Regimes dazu über, sich auf den internationalen
Finanzmärkten zu verschulden. Aber damit konnte die Perspektive der inneren
Entwicklung erst recht nicht wiedergewonnen werden. Denn jetzt zeigte sich,
daß die Kosten für die Kredite schon mittelfristig höher ausfielen
als die Rendite der Investitionen, die mit Hilfe dieser Kredite finanziert worden
waren. Das Resultat war die seither schwelende Schuldenkrise der 3. Welt. Das
bedeutete, daß die Exporterlöse nun überhaupt nicht mehr für
die Entwicklung der Binnenökonomie verwendet werden konnten, sondern fast
nur noch dafür, die Schulden auf den globalen Finanzmärkten zu bedienen.
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die meisten Länder der 3.
Welt bluten aus. Die ehemaligen Regimes der Entwicklung sind zu Exekutoren des
transnationalen Geldkapitals mutiert. Sie haben jedes emanzipatorische Moment
verloren.
Aus dieser Not haben die internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank
im Zeichen der neoliberalen Öffnung für den Weltmarkt eine Tugend
gemacht. Sie versprechen eine neue, der alten Entwicklungstheorie diametral
entgegengesetzte Perspektive: jetzt soll die Entwicklung nicht mehr durch Import-Substitution
und eine breite innere Industrialisierung, sondern im Gegenteil durch eine spezialisierte
Export-Industrialisierung stattfinden. Das bedeutet, daß nicht mehr ein
tiefgestaffeltes und breitgefächertes industrielles Gesamt-Ensemble angestrebt
wird, das von den Grundstoff-Industrien bis zur Konsumgüterproduktion alle
wichtigen Sektoren enthält und eine nationalökonomische Kohärenz
garantiert. Stattdessen soll jedes Land sich gemäß der Theorie des
Freihandels seine spezielle "Exportnische" suchen und sich nur noch
auf diejenigen Produkte konzentrieren, die es mit relativ niedrigeren Kosten
herstellen und für die es also "komparative Vorteile" auf dem
Weltmarkt geltend machen kann.
Leider hat diese Theorie der "komparativen Vorteile" von David Ricardo
(1772-1823) auch in der Vergangenheit niemals gestimmt. Sie könnte bestenfalls
funktionieren, wenn es sich um einen Austausch zwischen Nationen handeln würde,
die erstens den größeren Teil ihrer Reproduktion binnenökonomisch
betreiben und nur relativ wenige spezielle Produkte exportieren bzw. importieren,
und die zweitens ungefähr das gleiche Entwicklungsniveau haben. Beides
trifft für die heutige Welt weniger denn je zu. Weder haben wir es mit
vergleichbaren Niveaus der Entwicklung noch mit kohärenten Nationalökonomien
zu tun. Die Globalisierung des Kapitals ist bereits eine Erscheinung der historischen
Krise, die auch die kapitalistischen Kernländer erfaßt hat. Deswegen
ist aber das Gefälle der Entwicklung nicht kleiner geworden. Die Krise
muß also die ehemaligen "Entwicklungsländer" umso härter
treffen. Strenggenommen sind die Begriffe "Export" und "Import"
sinnlos geworden. Nur formal handelt es sich noch um einen Austausch zwischen
unabhängigen Nationalökonomien.
Deswegen ist der Ausdruck "komparative Vorteile" ebenso sinnlos geworden.
Es ist ja nicht so, daß die Nationen das meiste für sich selber produzieren
und nur diejenigen Produkte exportieren oder importieren, bei denen wechselseitige
"komparative Vorteile" bestehen. Die neue Unmittelbarkeit des Weltmarkts
zwingt sie sukzessive, überhaupt nur noch solche Produkte herzustellen,
die sie relativ billiger für den globalen Raum anbieten können, und
alles andere aufzugeben. Das wäre selbst Ricardo verrückt und unmöglich
vorgekommen. Jedes Land kann nur noch einige wenige Export-Nischen besetzen,
während der Rest vom globalisierten Angebot überschwemmt und ersäuft
wird. Die Länder hören auf, Länder zu sein. Sie werden zu Zonen
des Weltmarkts mit unterschiedlicher Dichte. Und das heißt, daß
nur noch soviel Menschen eine Möglichkeit der Existenz haben, wie die Weltmarkt-Nischen
zu fassen vermögen. Das betrifft nicht nur die Arbeiter, sondern auch die
Unternehmer.
In Wahrheit ist die sogenannte Strategie der selektiven Export-Industrialisierung
kein nationalökonomisches, sondern bloß ein betriebswirtschaftliches
Konzept. Die Ideologen des Freihandels, die schon im 19. Jahrhundert den Untergang
vieler Millionen von Menschen auf dem Gewissen hatten, behaupten nun, daß
dies nicht notwendig so sein müsse. Als angeblichen Beweis führen
sie die "kleinen Tiger" in Südostasien an. Es gibt viele Gründe,
warum auch die Option der "kleinen Tiger" langfristig nicht tragfähig
ist. Sie leben nicht nur von globalen Defizit-Kreisläufen, sondern drohen
auch jederzeit wieder durch die Kosten für Rationalisierungs-Investitionen
und Infrastruktur in neue Schuldenkrisen hineinzulaufen. Abgesehen davon stellt
sich aber die Frage, ob die relativen und historisch vielleicht nur kurzlebigen
Erfolge der wenigen Newcomer als Konzept verallgemeinerbar sind.
Selektive Export-Industrialisierung bedeutet, Nischen auf dem Weltmarkt zu besetzen.
Das Wort "Nische" sagt aber schon, daß es sich dabei um einen
sehr begrenzten und engen Raum handelt. Die "Tiger" müssen schon
sehr klein sein, wenn sie als ganzes Land in diesen Raum hineinpassen sollen.
Genauer gesagt: Sie müssen eigentlich in Wahrheit Mäuse sein, denn
nur Mäuse haben Platz in einem Mauseloch. Deshalb gilt als Faustregel:
Je kleiner ein Land ist und je weniger Bevölkerung es hat, desto mehr kann
sich die betriebswirtschaftliche Strategie der Export-Nischen mit einer Konzeption
für das ganze Land decken. Und umgekehrt: Je größer ein Land
ist und je mehr Einwohner es hat, desto absurder muß die Option der Nischen
auf dem Weltmarkt werden.
Das läßt sich absolut und relativ beweisen. Die Superstars des Weltmarkts
in Südostasien, Hongkong und Singapur, sind winzige Stadtstaaten mit weniger
als 3 Millionen Einwohnern. Das ist ungefähr ein Sechstel der Bevölkerung
allein von Sâo Paulo. Solche Mäuse haben zumindest vorläufig
Platz in einem Mauseloch des Weltmarkts. Schwieriger wird es schon für
Länder wie Südkorea, Taiwan oder Thailand in Asien, für Argentinien
und Chile in Lateinamerika und für Polen, Tschechien oder Ungarn in Osteuropa.
Diese Länder, die ungefähr zwischen 15 und 50 Millionen Einwohner
haben, besitzen schon eher die Größe von Katzen als von Mäusen.
Sie können daher nur noch einen Teil ihrer Menschen in der Nische plazieren
und müssen soziale Wunden der Quetschung erdulden. Indonesien oder Indien
in Asien, Brasilien in Lateinamerika und Rußland in Osteuropa, alles Länder
mit mehr als 120 Millionen Einwohnern, gleichen dagegen Elefanten, denen einen
Platz im Mauseloch anzubieten nur noch lächerlich oder zynisch ist.
Es gibt aber ein Land in der Welt, bei dem die Option der Export-Nische geradezu
furchterregend monströs und obszön wirkt. Dieses Land ist China. Die
ungeheure Masse von heute mehr als 1200 Millionen Menschen ist kein Elefant
mehr, sondern schon ein Mammut oder gar ein Saurier. Was muß geschehen,
wenn man diesem Menschengebirge einen komfortablen Platz in einem Mauseloch
anbietet? Die neoliberalen Ideologen des Freihandels sind verrückt genug,
in aller Unschuld dieses Angebot zu machen. Und die chinesische Regierung hat
in der vergangenen Dekade tatsächlich versucht, zur Strategie der Export-Industrialisierung
überzugehen.
In den südlichen Küstenprovinzen wurden "Sonderwirtschaftszonen"
wie Shenzhen eingerichtet, die man für ausländische Investoren durch
Steuervergünstigungen, Billiglohn und Verzicht auf soziale oder ökologische
Auflagen attraktiv gemacht hat. Dort werden unter frühkapitalistischen
Bedingungen hauptsächlich Komponenten für globalisierte Konzerne aus
Japan, aus Hongkong oder aus westlichen Ländern gefertigt. Die Arbeiter
sind kaserniert und werden wie Sträflinge gehalten, die Arbeitszeiten sind
extrem lang, es gibt fast keine Sicherheitsvorkehrungen. Immer wieder werden
schwere Unfälle und Brandkatastrophen gemeldet. 1995 verbrannten zahlreiche
junge Arbeiterinnen einer Textilfirma, weil die Türen ihrer Fabrik versperrt
waren.
Trotz derart brutaler Bedingungen können die Sektoren der Export-Industrialisierung
selbst im günstigsten Fall maximal 200 Millionen Menschen erfassen. Gleichzeitig
ist es aber längerfristig unmöglich, daß China einerseits auf
die Weltmärkte drängt und andererseits den größeren Teil
seiner Reproduktion weiterhin abschottet oder jedenfalls nach anderen Kriterien
als die Sektoren des Exports führt. Das gilt vor allem auch für das
gesamte Geld- und Kreditsystem und für den Wechselkurs. Export-Industrialisierung
ist auf Dauer nur möglich, wenn die Währung konvertibel ist. Eine
konvertible Währung wiederum verlangt, daß die Geldmenge unter Kontrolle
bleibt und Kredite nur nach den Regeln der Rentabilität vergeben werden.
Das hat schwerwiegende Konsequenzen für die Binnenökonomie. Der größte
Teil der mehr als 2 Millionen chinesischen Staatsbetriebe mit 150 Millionen
Beschäftigten müßte geschlossen werden. Viele kleine Privatbetriebe
des Dienstleistungs-Sektors, die von der Kaufkraft der Beschäftigten in
der Staatsindustrie abhängen, müßten ebenfalls aufgeben. Auch
die nach globalen Kriterien unterproduktive Landwirtschaft, von der die überwältigende
Mehrheit der Chinesen lebt, wäre dem Untergang geweiht. Um diese Konsequenzen
zu vermeiden, ist die chinesische Administration zu einer doppelten Buchführung
übergegangen. Nicht nur verschiedene Wechselkurse der Währung, sondern
auch verschiedene Formen der statistischen Erhebung laufen nebeneinander her.
Die in aller Welt bestaunten hohen Wachstumsraten setzen sich aus qualitativ
völlig verschiedenen Bestandteilen zusammen. Sie enthalten nicht nur das
reelle Wachstum der Exportsektoren, sondern auch das bloß fiktive Wachstum
großer Teile der Binnenökonomie, die nur noch am Tropf der staatlichen
Notenpresse hängen. Aus einem Vergleich der chinesischen Export-Statistik
mit den entsprechenden Import-Statistiken der Handelspartner geht außerdem
hervor, daß ein Teil der Exportzahlen auf papierenen "Scheinexporten"
beruht, die nie real existiert haben und den chinesischen Exportbetrieben nur
dazu dienen, die eigene Bürokratie zu täuschen.
Während man im Westen China zum Träger des großen Booms für
das 21. Jahrhundert hochjubelt, ist die reale Lage längst kritisch geworden.
Nach Angaben der amtlichen Agentur Xinhua gab es 1995 bereits 230 Millionen
Arbeitslose, mehr als 25 Prozent der Erwerbsbevölkerung. 150 Millionen
Menschen irren auf der Suche nach Einkommen durch das Land. Die Inflation hat
für viele sogar die Grundnahrungsmittel unerschwinglich gemacht. Irgendwann
wird die doppelte Buchführung ganz zusammenbrechen. Will die chinesische
Regierung dann 1000 Millionen Menschen erklären, daß sie marktwirtschaftlich
"überflüssig" sind? An zahlreichen Orten lieferten sich
aufständische Bauern Feuergefechte mit Polizei und Militär. Die Küstenprovinzen
zahlen schon lange keine Steuern mehr an die Zentrale. Experten vom Londoner
Institut für Internationale Studien befürchten, daß China bald
in Bürgerkriegen auseinanderbrechen wird. Das Land des Traums vom großen
Boom könnte zum Katastrophen-Modell der Export-Industrialisierung werden.