Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Dieser
Artikel erschien bereits im September 1997 in der Brasilianischen Zeitung FOLHA,
wohlgemerkt bevor an den asiatischen Börsen ein Crash dem nächsten folgte,
bevor Währungen einbrachen und Banken zusammenbrachen. Und bevor hard Business-Männer
weinen lernten. So zeigte der Kölner-Stadt-Anzeiger vom 30.12.97 ein Foto mit
folgenden Zeilen: "Ein Börsenmakler in Tokio wischt sich die Augen: Wie der
Nikkei-Index geraten auch die übrigen Wirtschaftsdaten in den Abwärtssog."
(Vorbemerkung: H.Weinhausen) Robert Kurz Die Mysterien des Finanzkapitals
Seit
nahezu fünfzehn Jahren boomt nun schon der globale Kasino-Kapitalismus. Das
Verhältnis von realer Produktion und Zwar hat es Wellen der Spekulation schon früher gegeben, aber noch niemals in einem derartigen Ausmass und über einen derart langen Zeitraum hinweg. Stets platzte die spekulativ aufgeblähte Blase des realökonomisch nicht gedeckten Geldkapitals nach wenigen Jahren mit einem grossen Finanzkrach; die groteske "Tulpenspekulation" in Holland von 1634-1637 endete ebenso mit einem Desaster wie die Aktien-Hausse der industriellen "Gründerzeit" von 1870-1873 und der spekulative Boom der "roaring twenties" von 1924-1929, dessen "schwarzer Freitag" mit einem Kurssturz an der Wallstreet bekanntlich die bis dahin grösste Weltwirtschaftskrise auslöste. Aber diesmal scheint der grosse Finanzkrach auszubleiben. Der Börsencrash von 1987 konnte die weltweite Hausse ebensowenig bremsen wie die Kontraktion des japanischen Aktienmarkts um fast 50 Prozent Anfang der 90er Jahre und mehrere "Mini-Crashs" seither. Das Wachstum des Geldes hat das industrielle Wachstum mehrfach überrundet, ohne dass die Strafe der Inflation auf dem Fusse folgte. Diese historisch einmalige Konstellation ist in keinem Lehrbuch zu finden. Eine "ewige" Hausse ohne inflationäre Tendenz bei dauerhaft niedrigen Zinsen verhöhnt jede ökonomische Logik, scheint aber trotzdem Realität geworden zu sein. Die
Vorsichtigen unter den Analytikern wollen den neuen verheissungsvollen Mysterien
des Finanzkapitals nicht so recht trauen. Sogar A. Kostolany, der ebenso berühmte
wie erfahrene "Altmeister" der Spekulation, hat inzwischen kalte Füsse bekommen.
Aber inmitten einer Stampede des Optimismus werden die Vorsichtigen nicht mehr
ernst genommen. Die abnorm lange Dauer der Hausse spült alle theoretischen
Bedenken hinweg. Nicht nur an den zentralen Börsenplätzen in den USA Die Kokain-Euphoriker des abgehobenen Finanzkapitalismus verlieren alle Massstäbe: Aus dem unerschöpflich sprudelnden Füllhorn der utopischen Geldmaschine, so jubeln sie, liessen sich in Zukunft alle Probleme lösen. Die Renten zum Beispiel, die in den Industrieländern wegen der Alterspyramide unbezahlbar zu werden drohen, müssten nicht mehr mühsam aus den vom Lohn abgezogenen Versicherungsbeiträgen eines "Generationenvertrags" gespeist werden, sondern würden sich locker aus den Kursgewinnen finanzieren lassen - natürlich nur zugunsten derjenigen, die für ihre private Altersvorsorge Geld in Aktien anlegen können. Aber der Aktionär wird sowieso der einzig wahre Mensch des 21. Jahrhunderts sein, während der Rest der Menschheit sich in einen blossen statistischen Schatten verwandelt. Soweit die anheimelnde Science fiction der neuen Finanz-Gurus, von denen viele zwar schon einen Namen in der Welt des Kommerz haben, aber noch nicht ganz trocken hinter den Ohren sind. Die
frohe Botschaft von der Erlösung durch das kapitalistische Spielkasino hat
sich schneller über die Erde verbreitet als die Lehre Christi. Auch an der
Peripherie des Weltmarkts, mitten in den Ozeanen der Armut, blüht das Wetten
mit Wertpapieren. Trotz des Mexiko-Crashs ist wieder "Fresh Money" an die Börsen
Lateinamerikas geflossen. Selbst dort, wo realökonomisch kein Gras mehr wächst,
finden sich finanzkapitalistische "Emerging Markets", die aus der ganzen Welt
mit Nichts
ist unmöglich: Sogar im Hunger- und Bürgerkriegs-Kontinent Afrika entsteht
eine neue Börse nach der anderen. In einer Reportage über den Wertpapiermarkt
in Sambia, dessen "liberales Regelwerk lockt", schrieb die deutsche Wirtschaftszeitung
"Handelsblatt" im August 1997: "Der unscheinbare Eingang zur sambischen Börse,
der Lusaka Stock Ob Nordkap oder Äquator: Das Risikospiel um Geld ist zum allgemeinen Faszinosum geworden, wenn auch mit höchst unterschiedlichen Volumina. Und ausser den grossen, international operierenden Fonds mischen überall die demoralisierten Reste der Mittelklasse mit, kurz bevor sie als ultima ratio Kaffee und Würstchen auf der Strasse verkaufen. Solange noch ein paar Extra-Dollars übrig sind, werden sie mit der Mentalität von Drogensüchtigen in den Rachen des pulsierenden Kasino-Kapitalismus geworfen. Schon im späten 19. Jahrhundert schrieb der "Eisenbahnkönig" Bethel Henry Strousberg, der wenig später selber bankrott ging, in seinen Memoiren über den spekulativen Wahn nach 1870: "Meine Dienstboten selbst, die sich mit den Jahren einige hundert Taler erspart hatten, waren trotz meiner Warnungen nicht zu halten, und merkwürdigerweise beteiligten sich die armen Leute fast immer an den allerfaulsten Unternehmungen". Heute ist diese närrische Haltung global geworden. Die Hoffnung auf Glück im Spiel hat sich zum übergreifenden Zeitgeist entwickelt. Auch die sozial Ausgegrenzten sind davon infiziert. Wer nicht an der Börse spekulieren kann, beteiligt sich an Gewinnspielen aller Art. Nicht nur in Sao Paulo kann man erleben, wie Putzfrauen und Tagelöhner an Bushaltestellen ihr sauer verdientes Geld in "Hütchenspielen" verwetten. Auf der ganzen Welt steigt das Lotto-Fieber in demselben Masse, wie die Solidarität verfällt. Die Redensart vom "Fieber" an der Börse und in den Köpfen der von Spielleidenschaft besessenen Massen verrät unfreiwillig, dass der soziale und ökonomische Körper der Gesellschaft an einer schweren Krankheit leidet. Jeder, dem die Fähigkeit zu logischem Denken nicht völlig abhanden gekommen ist, kann sehen, dass der neue Finanzkapitalismus keinen Boden unter den Füssen hat. Auf die Dauer ist es unmöglich, dass nur die "Arbeit" als sozialer Faktor für sich allein in der Krise ist, während das Geldkapital munter weiter akkumuliert. Denn was das Kapital akkumulieren kann, ist letzten Endes nichts anderes als in Geld verwandelte "Arbeit". Eine überdimensionierte Hausse der Aktienmärkte ist nur dann substantiell gerechtfertigt, wenn sie einen grossen historischen Boom der realen Ökonomie vorwegnimmt. Als sich die Aktienkurse in Deutschland Anfang der 50er Jahre in kurzer Zeit verzehnfachten, wurde diese damalige Expansion durch das wenig später folgende "Wirtschaftswunder" gedeckt. Auch die grossen historischen Spekulationswellen waren nicht ganz ohne reale Grundlage; zu den Finanzkrächen kam es erst, als die Hausse der Aktien der realen Expansion irreal weit vorauseilte. Heute
aber ist von einer grossen historischen Expansion der realen Ökonomie weit
und breit nichts zu sehen. Die Weltwirtschaft dümpelt auf einem niedrigen Niveau
des Wachstums unter drei Prozent, während der Sockel der strukturellen Massenarbeitslosigkeit
weiter ansteigt. Besonders die grossen Industrieländer, mittlerweile auch Japan,
bewegen sich langfristig eher in der Nähe der Stagnation. Die industrielle
Globalisierung und die allgemeine Flucht in den Export legen durch Diese
Verzögerung lässt sich durchaus erklären. Ein wichtiger Grund besteht darin,
dass das Geld im Laufe des 20. Jahrhunderts seine eigene Wertsubstanz verloren
hat. Bis zum 1. Weltkrieg waren alle Währungen durch Gold gedeckt, das als
eigentliches Weltgeld fungierte. Durch diese Bindung an die objektive Wertmasse
des Goldes war eine Art "automatische Bremse" gegen eine schrankenlose Ausdehnung
der Geldmenge in das Finanzsystem eingebaut. Jede über realistische Perspektiven
des realen Wachstums hinausschiessende Spekulationsblase wurde auf diese Weise
relativ bald zum Platzen gebracht. Die Kriegsökonomien der ersten Jahrhunderthälfte
zwangen jedoch die Staaten, ihre Währungen vom Gold Damit ist aber die grundsätzliche Logik des Systems keineswegs ausgehebelt, die das Wachstum des Geldkapitals an die Substanz der (kapitalproduktiven) "Arbeit" bindet. Der Absturz der scheinbar verselbständigten Akkumulation von Geldkapital findet dann eben aus einer grösseren (inzwischen geradezu stratosphärischen) Höhe mit umso schlimmeren Folgen statt. Das Karussell der Börsen kann sich nur weiterdrehen, solange immer neue Liquidität nachfliesst. Sobald der Strom zusätzlicher Liquidität versiegt, kommt der grosse Krach und die irreale Wertschöpfung verdampft. Die Liquidität kann aber niemals unbegrenzt sein; es sei denn, der Staat würde Geld drucken und es seinen Bürgern schenken. Woher
stammt die riesige Liquidität, die gegenwärtig die Aktienmärkte füttert?
Im wesentlichen handelt es sich um den In den vergangenen 15 Jahren versuchten die Staaten, mit einer neoliberalen Politik auf die heraufdämmernde Systemkrise zu antworten. Gerade durch diese Politik einer Kombination von drastischen staatlichen Sparmassnahmen, Zinssenkungen und Deregulierung der Finanzmärkte haben sie jedoch mitgeholfen, die gegenwärtige paradoxe und irreguläre Situation herbeizuführen. Während durch die permanenten Einsparungen die stagnative und deflationäre Tendenz der Realökonomie überall verstärkt wurde, öffnete gleichzeitig die Deregulierung alle Schleusen für die Spekulation, die durch das historisch niedrige Zinsniveau in den westlichen Industrieländern einen zusätzlichen Hebel bekam. Weil die Inflation nur in Preisen der Realökonomie berechnet wird, scheint sie plötzlich verschwunden zu sein. In Wirklichkeit "parkt" das inflationäre Potential in den gigantisch aufgeblähten Finanzmärkten, wo es nicht als reale Nachfrage erscheint. Die
Staaten können jedoch nicht ewig auf dem gegenwärtigen niedrigen Zinsniveau
sitzenbleiben. In dem Masse, wie sie selber dringend zusätzliches "Fresh Money"
benötigen, müssen sie die Zinsen anheben. Damit treten sie notgedrungen in
Konkurrenz zu den Aktienmärkten, der Hebel für die Vervielfachung der Spekulation
durch billiges Geld zerbricht und die riesige Masse fauler Kredite kann nicht
länger versteckt werden. Es ist auch schon absehbar, wo das unvermeidliche
Desaster seinen Ausgangspunkt nehmen wird, nämlich aller Wahrscheinlichkeit
nach in den entzauberten Ökonomien Ostasiens. Wenn ----------- |