Robert Kurz
Das Phantom der Schönen
Künste
Warum sich die Gesellschaft in der Moderne nicht mehr ästhetisch reflektieren
kann
Die Trennung von Kunst und Leben ist ein altes Trauma der Moderne. Alle Künstler,
die einer Wahrheit zum Ausdruck verhelfen wollen und die sich existentiell in
ihren Schöpfungen verbrauchen, haben immer wieder an dieser Trennung gelitten.
Ob die Kunst in ihren verschiedenen Darstellungen wohlproportionierte Schönheit
oder umgekehrt die Ästhetik des Häßlichen zeigt, ob sie Kritik
an der Gesellschaft übt oder den Formenreichtum der Natur neu zu entdecken
sucht, ob sie sich realistisch oder phantastisch orientiert: stets bleibt sie
wie durch eine gläserne, aber undurchdringliche Wand vom Alltag und damit
von der gesellschaftlichen Wirklichkeit getrennt. Die künstlerischen Hervorbringungen
werden entweder nicht beachtet oder sie sind weltberühmt als schon von
Geburt an tote und museale Gegenstände. Der Künstler erscheint so
als eine Figur von geradezu antiker Tragik: Wie vor dem dürstenden Tantalus
ewig das Wasser und die Früchte zurückweichen, so weicht vor ihm das
Leben zurück; wie König Midas verhungern mußte, weil sich alle
Gegenstände unter seiner Berührung in Gold verwandelten, so muß
der Künstler als gesellschaftliches Wesen verhungern, weil sich unter seiner
Berührung alle Gegenstände in pure Exponate verwandeln; und wie Sisyphos
wälzt er seinen Stein stets vergeblich - sein Werk bleibt unvermittelt
mit der Welt.
Alle Versuche der Kunst, aus ihrem gläsernen Ghetto auszubrechen, sind
gescheitert. In Fabriken aufgestellte Plastiken und Gemälde an den Wänden
von Büros blieben Fremdkörper; literarische Lesungen in Kirchen oder
Schulen kamen nie über den Charakter von Pflichtveranstaltungen hinaus.
Als die Dadaisten aus Verzweiflung zum Mittel der Provokation griffen und Klosettschüsseln
oder rostige Eisenrohre in die heiligen Hallen der Kunst schleppten, um die
Bourgeoisie zu verhöhnen, wurde dieses Angebot mit tierischem Ernst als
Kunstgegenständlichkeit angenommen und katalogisiert wie die Skulpturen
von Michelangelo oder die Bilder von Picasso. Die tautologische Definition lautet:
Kunst ist alles, was die Gesellschaft a priori in einem separaten Raum, gewissermaßen
in einem Reservat namens "Kunst" wahrnimmt und was deshalb in dieser
seiner abgestempelten Kunstgegenständlichkeit unabhängig von jedem
Inhalt gesammelt werden kann wie Briefmarken oder aufgespießte Käfer.
Egal, was die Kunst selber will und wie sie es darstellt, sie ist damit immer
schon entschärft und verharmlost.
In die gesellschaftliche Wirklichkeit zurückkehren "darf" die
Kunst nur, wenn sie sich selber aufgibt und bedingungslos kapituliert: Als Design
von Waren und als Kulturindustrie für den Hausgebrauch des kapitalistischen
Menschen kann sie keine Kunst mehr sein, weil sie dann aufhört, eine ästhetische
Reflexion der Gesellschaft und des menschlichen Weltbezugs darzustellen. Denn
Design und Kulturindustrie sind per se so reflexionslos wie die Betriebswirtschaft:
Die ästhetische Form der Ware bezieht sich nicht mehr auf das Ganze von
Natur und Gesellschaft, sondern ist sich selbst genug. Wenn aber die Ästhetik
der einzelnen Hervorbringung keine Reflexion mehr "über" die
Stellung des Gegenstands zu einem größeren Gesamtzusammenhang enthält,
wenn sie kein Teil eines ästhetischen "Kosmos" mehr ist, dann
kann sie auch keine Kunst mehr sein. Denn das Wesen des Künstlerischen
besteht gerade in der ästhetischen Reflexion eines kulturellen "Kosmos",
in dem der einzelne Kunstgegenstand immer auf eine jeweils besondere Weise das
Ganze spiegelt.
So hat also die Kunst in der Moderne nur die Wahl, sich entweder kulturindustriell
als ordinärer ökonomischer Gegenstand vereinnahmen zu lassen oder
als toter, entwirklichter Fremdkörper neben dem realen Leben eine "gehobene"
Scheinexistenz zu führen. Sie wird systematisch daran gehindert, ihre Aufgabe
der ästhetischen Reflexion des Ganzen als integrales Moment des gesellschaftlichen
Lebensprozesses wahrzunehmen. Und wie alle ihre spezifischen Probleme hat die
Moderne auch dieses Dilemma der Kunst in einen überhistorischen und allgemein-menschlichen
Status erhoben. Wenn etwas grundsätzlich faul ist an der wunderbaren Moderne,
dann soll es sich nie um eine historische und durch Kritik zu überwindende
Problemlage handeln, sondern immer um eine unaufhebbare Bedingung der Existenz
schlechthin, mit der die Menschheit nun einmal bedauerlicherweise leben muß.
Durch diese Brille einer falschen Ontologisierung nimmt die Moderne auch das
Dilemma der Getrenntheit von Kunst und Leben wahr. Es wird so getan, als wäre
in der griechischen Antike der Künstler ganz genauso wie heute ein Verkäufer
seiner Möglichkeiten gewesen und als hätten schon die alten Ägypter
ihre Götterbilder in Galerien und Museen ausgestellt oder auf Auktionen
mit Preisschildern versehen.
Aber in den älteren Zivilisationen gab es in unserem Sinne gar keine separate
gesellschaftliche Abteilung namens "Kunst" oder "Kultur".
Denn die moderne Struktur von getrennten und gegeneinander verselbständigten
Sphären, die auch unsere Sprache und unser Denken bestimmt, war allen früheren
Gesellschaften vollkommen fremd. Welche menschlichen Defizite, Probleme und
soziale Herrschaftsverhältnisse sie auch immer hatten, sie zerlegten ihr
Dasein nicht in abgeteilte Funktionsbereiche. Eine solche Zerteilung des gesellschaftlichen
Lebens entwickelte sich erst, als in der Moderne die sogenannte Ökonomie
vom übrigen Leben abgespalten wurde; eine elementare Veränderung,
die gar nicht genug betont werden kann. Die jüngste Systemtheorie betrachtet
dies als einen "Fortschritt" und den früheren Zustand der Menschheit
als einen Mangel an "Ausdifferenzierung", womit sie einen Gradmesser
von Primitivität axiomatisch unterstellt: Je integrierter eine Gesellschaft
durch einen übergreifenden kulturellen Zusammenhang ist, desto primitiver
ist sie aus dieser Sicht; und je "ausdifferenzierter" umgekehrt eine
Gesellschaft ist, je mehr sie sich (ausgehend von der Verselbständigung
der kapitalistischen Ökonomie) in getrennte Sphären aufgespalten hat,
desto "entwickelter" erscheint sie und desto mehr "Chancen"
bietet sie angeblich. Derart selbstverständlich ist dieses Denken geworden,
daß es gar nicht mehr als Absurdität auffällt, die höchste
Errungenschaft gesellschaftlicher Evolution ausgerechnet darin zu sehen, daß
der funktionalistisch reduzierte Mensch nur noch einen Schnittpunkt von systemischen
Strukturen darstellt.
Die vormodernen Zivilisationen waren jedoch in Wirklichkeit keineswegs primitiv,
sondern durchaus hochdifferenziert; nur entsprach diese Art der Differenzierung
nicht dem modernen Begriff davon. Die alten, vorwiegend agrarischen Sozietäten
hatten keine Kultur, so wie man einen äußerlichen und zufälligen
Gegenstand "hat", sondern sie waren eine Kultur. In unserem
wissenschaftlichen Sprachgebrauch kommt das sogar zum Ausdruck, wenn auch meistens
unreflektiert: Wir sprechen ohne weiteres von der altägyptischen, der antiken,
der mittelalterlichen "Kultur" usw. und meinen damit in der Regel
sowohl die speziellen Artefakte und künstlerischen Darstellungen aus Bildhauerei,
Malerei oder Literatur als auch andererseits die jeweilige Zivilisation als
Ganzes mitsamt ihrer sozialen Struktur und ihrem Weltbezug überhaupt. Wenn
hingegen von "moderner Kultur" die Rede ist, dann meinen wir damit
nur jenen besonderen Aspekt der in eine separierte Sphäre verbannten künstlerischen
Ausdrucksformen und niemals den gesellschaftlichen Zusammenhang als Ganzes.
Unbewußt "wissen" wir also, daß Kultur früher einmal
das Ganze war und nicht eine funktionell abgetrennte Sphäre für die
sonntägliche museale Erbauung des geldverdienenden Menschen.
Tatsächlich bedeutet ja das lateinische Wort "cultus", auf das
unser Kulturbegriff zurückgeht, sowohl "Anpflanzung" und "Ackerbau"
als auch "Gottesdienst", "Lebensweise", "Gesellschaftlichkeit",
"Bildung" und sogar "Kleidung" (für bestimmte Anlässe).
Diese vielschichtige Begrifflichkeit verweist auf den kulturell integrierten
Charakter der alten agrarischen Zivilisationen. Die differenzierten Inhalte
und Formen sowohl des "Stoffwechsels mit der Natur" (Marx) als auch
der sozialen Beziehungen und der Ästhetik fielen nicht als "Subsysteme"
mit jeweils "eigener Logik" auseinander, sondern sie waren immer nur
verschiedene Aspekte einer einzigen und kohärenten kulturellen Daseinsweise.
In modernen terms muß sich die Beschreibung dieser kulturell integrierten
Existenz verwirrend anhören: Die Produktion war ästhetisch, die Ästhetik
religiös, die Religion politisch, die Politik kulturell und die Kultur
sozial. Mit anderen Worten: Die für uns distinkten gesellschaftlichen Aspekte
waren miteinander verschränkt, jeder Bereich des Lebens war in jedem anderen
gewissermaßen mitenthalten.
Man könnte vielleicht versucht sein, von einer religiösen Konstitution
dieser agrarischen Kulturen zu sprechen, weil die Religion anscheinend das stärkste
integrative Moment einer solchen "Gesellschaft als Kultur" war. Bekanntlich
sind nicht nur alle Arten des künstlerischen Handwerks, sondern auch das
Theater und die sportlichen Wettkämpfe aus kultischen Handlungen hervorgegangen;
genauer gesagt: sie waren kultische Handlungen besonderer Art. Aber auch
die ganz gewöhnlichen Verrichtungen des Alltags hatten grundsätzlich
kultischen Charakter; sogar Witz und Ironie waren kultisch eingebunden. Dennoch
wäre es verfehlt, "die Religion" als das systemisch bestimmende
Moment solcher Gesellschaften herauszuheben, denn dabei denken wir ja schon
wieder unseren funktionellen Begriff getrennter Sphären mit. Auch die Religion
war aber keine Religion im modernen Sinne, kein bloßer "Glaube",
keine beschränkte Gelegenheit für transzendente Gedanken und schon
gar keine "Privatangelegenheit".
Wir dürfen uns deshalb den religiösen Charakter der alten Kulturen
freilich nicht einfach als einengendes, irrationales Zwangsverhältnis vorstellen
- viel eher trifft das auf die "herausgelöste" kapitalistische
Ökonomie der Moderne selber zu. In den älteren Zivilisationen war
das Religiöse gleichzeitig das Öffentliche, die Form der Debatte -
das, was wir "Politik" nennen. Nicht umsonst hat das lateinische Wort
"privatus" eine eher negative, abschätzige Bedeutung, die für
uns noch deutlicher wird beim entsprechenden Begriff der griechischen Antike:
dort ist der nicht alltäglich und selbstverständlich am öffentlichen
Leben teilnehmende "Privatmensch" schlicht - der "Idiot".
Wenn aber das Religiöse gleichzeitig die Form der Öffentlichkeit und
umfassend alltäglich ist, dann muß dies nicht bedeuten, daß
sich darin die Beschränktheit dieser Gesellschaft zeigt, wie es die Ideologie
der modernen Selbstlegitimation behauptet. Ebensogut könnte umgekehrt gesagt
werden, daß eine solche Zivilisation viel mehr Öffentlichkeit und
Debatte hatte als das moderne System, in dem sich der größte Teil
der gesellschaftlichen Angelegenheiten durch die Mechanik der "herausgelösten"
Ökonomie automatisch und ohne Debatte erledigt. Wie wir es auch drehen
und wenden, wir kommen mit unserem modernen Selbstverständnis dem Dasein
einer kulturell integrierten Gesellschaft nicht bei. Wir haben keine Begriffe
dafür.
In einer "Gesellschaft als Kultur", die keine voneinander abgetrennten
funktionellen Sphären kannte, mußte notwendigerweise auch die "Kunst"
immer schon Bestandteil des alltäglichen Lebens sein; sie war daher völlig
undenkbar als das Exponat einer sterilisierten und toten Sphäre "hinter
Glas". Aber eben deswegen war sie auch keine Kunst als Kunst, sondern ein
bestimmtes Moment in einem integrierten gesellschaftlichen Zusammenhang. Der
"Künstler" konnte daher nur im Sinne einer technischen Fähigkeit
Künstler und anerkannt sein, nicht aber als sozialer Repräsentant
"der" Kunst jenseits des Alltags. In der von einer verselbständigten
Ökonomie kulturell desintegrierten Moderne dagegen nimmt das abgespaltene
Ästhetische eine absurde Form an. Obwohl jede Erscheinung des Lebens an
sich für den Menschen immer ein ästhetisches Moment besitzt, hat die
"ökonomisierte" Welt der Moderne diese elementare Tatsache negiert.
Die "Arbeit" ist nicht ästhetisch, die Ökonomie ist nicht
ästhetisch, die Politik ist nicht ästhetisch, das Leben überhaupt
ist nicht ästhetisch - nur die Ästhetik ist ästhetisch. Die "schönen
Künste" haben sich in ein Phantom verwandelt. Es ist, als würde
die Ästhetik der Dinge eine abstraktifizierte, gespenstische Eigenexistenz
neben den Dingen führen; ebenso wie übrigens die Gesellschaftlichkeit
der Produkte in der zum Selbstzweck gewordenen abstrakten Form des auf sich
selbst rückgekoppelten Geldes eine Sonderexistenz neben den Produkten führt
und die abstrakte formale Logik als das "Geld des Geistes" (Marx)
verselbständigt neben die konkrete Logik der wirklichen Zusammenhänge
tritt.
Das gläserne Gefängnis des modernen Künstlers besteht gerade
in dieser strukturellen Abspaltung des Ästhetischen. Die Kunst tigert in
diesem Gefängnis hilflos hin und her; sie ist nicht mehr die künstlerische
Form eines gesellschaftlichen Inhalts und damit ästhetische Reflexion des
Ganzen, sondern abgespaltene "Formheit" - Form ohne einen gemeinsamen,
gesellschaftlich definierten Inhalt; so wird sie letzten Endes zum Selbstzweck
und als "l'art pour l'art" zur unfreiwilligen Karikatur der "herausgelösten"
Ökonomie. Hat sie sich aber in ihrer Not wahnhaft in sich selbst verliebt,
so beginnt die Kunst ihr Dilemma zu verdrängen, indem sie die Ausgeburten
der funktionalistischen Spaltung als solche "ästhetisiert". Wenn
aber die Struktur der Moderne nicht kritisiert, sondern ihr unaufgehobenes Dasein
selber ästhetisiert wird, dann können auch von Granaten zerfetzte
Leiber, vergewaltigte Frauen, verhungernde Kinder und die Obszönität
der Macht als bloß ästhetische Gegenstände erscheinen. Eine
derartige "Ästhetisierung der Politik" ohne Kritik des Systems
der Spaltungen führt direkt in die Barbarei. Das war das Geheimnis des
Faschismus, der die gesellschaftliche Desintegration als blutiges Neronisches
Gesamtkunstwerk inszeniert hat.
Umgekehrt hat sich aber auch die "Politisierung der Ästhetik",
wie sie die Linke lange Zeit propagierte, als Sackgasse erwiesen. Wenn die Kunst
sich - und sei es mit den besten sozialen Absichten - für "Agitprop"
hergibt, kapituliert sie ebenso bedingungslos wie bei ihrer Verwandlung in Design
und Kulturindustrie. Will die Kunst nicht endgültig verkümmern und
verstummen, muß sie ihr Dilemma öffentlich machen; aber nicht durch
Adaption an traditionelle Politik, sondern durch eine radikale ästhetische
Kritik der bestehenden Ordnung. Kann die Kunst das gespaltene Ganze nicht
mehr positiv reflektieren, so doch negativ, indem sie die ästhetische
Unerträglichkeit der "ökonomisierten" Welt bewußt
macht. Die Kunst muß gewissermaßen mit ihren eigenen Mitteln militant
werden und die Unterordnung der Ökonomie unter einen neu zu erfindenden
(nicht mehr traditionell gebundenen) kulturellen "Kosmos" fordern,
in dem die Ästhetik des Ganzen über die sogenannte betriebswirtschaftliche
Effizienz triumphiert. Nur eine Kunst, die sich so als Kritik der gesellschaftlichen
Entästhetisierung selbst überwindet, kann ins Leben zurückkehren.