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Beitrag für die Brasilianische Zeitung "FOLHA", 1995

Robert Kurz

Politische Ökonomie der Simulation
Die Realität des Scheins und der Schein der Realität am Ende der Moderne



Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Diese Frage des Konstruktivismus (Paul Watzlawick) scheint zunehmend das gesellschaftliche Bewusstsein zu beherrschen. Schon länger hat der Zweifel an der Realität des subjektiven Erlebens in der populären Science-fiction Konjunktur, etwa in den Romanen des US-Amerikaners Philip K. Dick und des Polen Stanislaw Lem. Liegen wir vielleicht klinisch tot in einer Eishalle und unsere Gehirne werden mittels elektronischer Reizung manipuliert, die uns Leben und Erfahrung vorgaukelt? Oder stehen wir unter Drogen, die uns eine bunte Welt von Erlebnissen simulieren, während wir in Wahrheit irgendwo verkrümmt in einer übelriechenden Ecke liegen? Das unheimliche Gefühl, die Realität könnte jeden Augenblick zusammenbrechen, als zöge jemand den Stecker aus der Dose, ist offenbar bis in das Alltagsbewusstsein gedrungen.
Die mikroelektronische Revolution und die neuen Medien haben einen gesellschaftlichen Trend verstärkt, der die Grenzen zwischen Sein und Schein, zwischen Realität und Simulation verwischt. Was ist Signifikat und was Signifikant? Gibt es da überhaupt noch einen Unterschied? Vielleicht hat der Golfkrieg, wie einige Medientheoretiker vermuten, nur auf dem Bildschirm stattgefunden. Es gibt Überlegungen, Fussballspiele in menschenleeren Stadien austragen zu lassen, um sie zu reinen Medienereignissen zu machen. Auch die Politik hat sich längst in ein Simulationstheater verwandelt. Schon sitzen Porno-Stars, Idole des Leistungssports und Filmschauspieler ebenso wie berühmte Kriminelle auf Abgeordneten- und Regierungsbänken. Nicht mehr die Werbung mit sachlicher Kompetenz bestimmt den Wahlkampf in den Demokratien, sondern die personality- show grinsender Masken.
Der völlige Rückzug aus der realen Realität in die "virtuelle Realität" scheint am Horizont des technisch Machbaren aufzutauchen. Es gibt Menschen, die fast schon in ihrem Computer verschwinden. Die Medien nehmen nicht nur quantitativ zu, sie ergreifen auch qualitativ Besitz vom menschlichen Bewusstsein. Je weniger die Menschen einander zu sagen haben, desto riesiger die Bildschirme. Vom 3-D-Kino zum medialen Ganzkörper-Kondom: die Phantasien des Cyber-Sex versprechen die ultimative Selbstbefriedigungs- Maschine. Die Endlichkeit der realen Erde, die dem schrankenlosen Wachstum der Ökonomie und des Konsums Grenzen setzt, soll durch virtuelle Räume überspielt werden. Gleichzeitig geht die Seele allmählich auf die Maschine über. Bösartige Mörder-Fahrstühle geistern ebenso wie Roboter-Aufstände durch die phantastische Literatur. Der Mensch scheint sich selber überflüssig zu machen, am Ende wird er nur noch medial simuliert.
In den 80er Jahren griff das simulative Bewusstsein auf die berufliche Kompetenz und auf die Sozialstruktur über. Die Yuppies, selber schon ein Produkt der Medien, begannen die kapitalistischen Kriterien von Effizienz und Erfolg zu simulieren, statt sie real zu erfüllen. Je grösser die High-tech- Investitionen sind und je stärker Produktion und Dienstleistungen rationalisiert werden, desto weniger funktioniert das System. Es ist, als wäre die Schlamperei des Sozialismus auf den Kapitalismus übergegangen. Alle mimen Professionalität, produzieren Schund und sagen gewohnheitsmässig: "Wir bitten um Ihr Verständnis". Es ist beinahe schon chic, sich auf nichts mehr konzentrieren zu können. "Jeder ist Künstler" (Joseph Beuys): Maler, die nicht malen können; Sänger, die nicht singen können und Schriftsteller, die nicht schreiben können. "Jeder ist für fünf Minuten berühmt" (Andy Warhol). Und die Achtung vor dem eigenen Selbst reduziert sich auf das Outfit. Die simulativen Jugendlichen beiderlei Geschlechts erleben sich selbst als wandelnde Kleiderständer: du bist, was du anhast.
Es ist keineswegs allein die technologische Revolution der neuen Medien, die am Ende des 20. Jahrhunderts eine armselige Kultur der "falschen Echtheit" oder der "echten Falschheit" hervorgebracht hat. In einer Gesellschaft, die bis ins Mark ökonomisiert ist, muss auch das simulative Bewusstsein eine ökonomische Grundlage haben. Worin also besteht die "Politische Ökonomie der Simulation"? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir wissen, was es eigentlich ist, das in der kapitalistischen Ökonomie nicht mehr "real" sein kann und deswegen simuliert werden muss. Das Problem scheint im Verhältnis von Arbeit (d.h. warenproduzierender Erwerbsarbeit) und Geld zu liegen. "Arbeit" in diesem Sinne ist Verausgabung abstrakter menschlicher Energie. Der moderne ökonomische Prozess kann definiert werden als rastlose Verwandlung dieser Arbeit in Geld: gesellschaftlich manifestierte menschliche Energie bildet die Substanz des Geldes. Alles Geld, das nicht reale vergangene Arbeit repräsentiert, ist substanzlos und daher simuliertes Geld.
Karl Marx wird gegenwärtig als der grosse Verlierer der Theoriegeschichte bezeichnet. Aber jenseits der alten Konflikte und Interpretationen hat seine Theorie dem Kapitalismus noch viel zu sagen. Gerade der 3. Band des "Kapital" ist überraschend modern, denn dort finden wir die theoretischen Grundlagen für die heutige "Politische Ökonomie der Simulation". Der zentrale Begriff in diesem Zusammenhang ist der des fiktiven Kapitals. Marx unterscheidet zwei Formen oder Säulen dieses fiktiven Kapitals: den Staatskredit und die Spekulation. In beiden Fällen findet keine reale Verwandlung von warenproduzierender Arbeit in Geld statt, sondern das Wachstum des Geldes wird simuliert. Der Staatskredit ist eine ökonomische Paradoxie. Denn im System der Marktwirtschaft dient der Kredit nur dazu, Produktion für den Markt zu finanzieren. Die Ausgaben des Staates sind im Sinne der Marktwirtschaft jedoch keine Produktion, sondern gesellschaftlicher Konsum. Deshalb ist die einzige seriöse, system- konforme Quelle der Staatsfinanzen die Besteuerung der Gewinne und Löhne: der Staat schöpft von den reellen marktwirtschaftlichen Einkommen Geld ab, um den gesellschaftlichen Konsum zu finanzieren. Wenn der Staat sich aber stattdessen durch Kredite finanziert, muss er Zinsen dafür zahlen. Da er jedoch normalerweise keine Produktion für den Markt betreibt, kann der Staat das Geld für die Zinsen gar nicht erwirtschaften. Die Paradoxie besteht darin, dass in der Form des Staatskredits eine ökonomische Aktivität simulativ wie Produktion für den Markt behandelt wird, obwohl sie in Wirklichkeit gesellschaftlicher Konsum ist. Der Staat kann diesen logischen Widerspruch nur notdürftig dadurch lösen, dass er seine zukünftigen reellen Einnahmen aus Steuern verpfändet. Das bedeutet, dass die Gesellschaft zukünftige Arbeit kapitalisiert. Gesellschaftlicher Konsum der Gegenwart, der im Sinne des Systems notwendig ist, findet auf Kosten der Zukunft statt; der moderne Staat wird zum Vampir, der an seiner eigenen Zukunft saugt. Warum haben alle Staaten sich auf eine zunehmend unseriöse Finanzierung durch Kredite eingelassen? Der Grund dafür sind weder "zu hohe soziale Ansprüche" noch "falsche sozialistische Ideen", wie die Ideologen des Neoliberalismus behaupten. Es war die Entwicklung des Kapitalismus selbst, die den kapitalistisch unproduktiven Konsum des Staates ansteigen liess. Je mehr sich das System des Marktes historisch durchsetzte und je mehr die Konkurrenz dazu zwang, Wissenschaft und Technik anzuwenden, desto grösser wurden auch die unproduktiven "Geschäftskosten" der Marktwirtschaft, die in der Form des staatlichen Konsums erscheinen. Dazu gehören nicht zuletzt auch die Kosten für das Militär. Schon im 1. Weltkrieg konnte die industrialisierte Maschinerie des Todes nur noch durch grosse Staatskredite finanziert werden. Diese Steigerung der Kosten für den unproduktiven gesellschaftlichen Konsum hat sich bis heute fortgesetzt, auch bei den zivilen Aufgaben des Staates. Wollte der Staat heute alle notwendig gewordenen Kosten für seine Tätigkeit reell durch Steuern finanzieren, so müsste er die Marktwirtschaft ruinieren und dadurch seine eigene Basis zerstören. Man könnte ironisch sagen, dass die gesellschaftlichen "Geschäftskosten" der Marktwirtschaft so gross geworden sind, dass sie nach ihren eigenen Kriterien historisch unrentabel wird. Um diesen Zustand zu verschleiern, muss das kapitalistische System zum Mittel der monetären Simulation greifen und durch das wachsende fiktive Kapital des Staatskredits eine imaginäre kapitalistische Zukunft anzapfen. Dieses simulative Verfahren konnte solange gutgehen, wie wenigstens die Marktwirtschaft selber noch reell blieb und ihr Wachstum wirklich durch eine wachsende Verausgabung menschlicher Arbeits-Energie gedeckt war. Zusammen mit dem Staatskredit wuchs bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts auch die produktive Arbeit in den warenproduzierenden Industrien an, und so konnte der Staat mehr reelle Steuern einnehmen und damit die Kosten für seine steigenden Kredite bezahlen. Die neuen, nach dem US-Unternehmer Henry Ford benannten "fordistischen" Industrien mit ihrer massenhaften Produktion von Automobilen, Unterhaltungs- und Haushaltselektronik usw. brachten nach dem 2. Weltkrieg allein in Deutschland einen Zuwachs von fast 10 Millionen Arbeitsplätzen. Aber dieses "Wirtschaftswunder" wurde durch die mikroelektronische Revolution seit Ende der 70er Jahre entzaubert. Dieselben neuen Technologien, von denen die neuen Medien hervorgebracht wurden, begannen in grossem Massstab menschliche Arbeit durch Roboter und durch Rationalisierung ("lean production") zu ersetzen. Natürlich verschwand auf diese Weise die im kapitalistischen Sinne produktive Arbeit nicht, aber dem weiteren Wachstum des Geldes entsprach nicht mehr in ausreichendem Masse ein Wachstum der produktiven Arbeit. Nach dem Staat trat daher auch die Marktwirtschaft selber in das Stadium der Simulation ein. Neben das fiktive Kapital des Staatskredits trat das fiktive Kapital der kommerziellen Spekulation. Weil die Expansion produktiver Arbeit nicht mehr rentabel oder zu teuer geworden war, flossen immer mehr Gewinne in die Spekulation mit Aktien, Immobilien, Devisen, Terminkontrakten usw. Das Wesen der spekulativen Ökonomie ist es, dass eine fiktive Steigerung des Werts ohne jede produktive Arbeit erzielt wird, allein durch den Handel mit Eigentumstiteln. Bei den Aktien heisst das, dass nicht mehr die eigentliche Rendite durch Dividenden wichtig ist, sondern nur noch die Steigerung der Börsenkurse weit über jedes Wachstum der am realen Warenmarkt erzielten Gewinne hinaus. Auf diese Weise entstand in den 80er Jahren ein globalisierter spekulativer Kasino-Kapitalismus, der bis heute andauert. Phasen der Spekulation hat es natürlich auch früher schon gegeben, aber sie endeten nicht nur regelmässig nach kurzer Zeit mit einem grossen Finanzkrach, sondern sie wurden auch immer wieder von einem neuen Schub in der Expansion warenproduzierender Arbeit abgelöst. Heute jedoch ist das Gegenteil der Fall. Die Ära des Kasino-Kapitalismus dehnt sich deswegen so unnatürlich lange aus, weil die marktwirtschaftlich produktive Arbeit durch Rationalisierung weiter abschmilzt wie Schnee an der Sonne. Das neue Schlagwort "jobless growth" bedeutet, dass das Wachstum des Geldes substanzlos geworden ist und nur noch durch Kredite und auf spekulative Weise simuliert wird. Nicht nur der Staat, auch der Markt muss jetzt zunehmend seine imaginäre Zukunft anzapfen und fiktive zukünftige Gewinne verpfänden. Die Unternehmen und die privaten Haushalte sind weltweit ebenso verschuldet wie der Staatshaushalt. Allein in den USA kommen zu ca. 6.500 Milliarden Dollar Staatsverschuldung in Form von Staatsanleihen und staatlichen Wertpapieren inzwischen fast 10.000 Milliarden Dollar private Schulden in Form von Hypotheken, Unternehmens-Obligationen, Konsumentenkrediten usw. Die Kosten für diese absurde Verschuldung werden nicht mehr durch produktive Arbeit gedeckt, sondern grossenteils durch spekulative Wertsteigerungen. Selbst grosse Konzerne schreiben "schwarze Zahlen" nicht mehr durch Erfolge auf dem realen Markt, sondern durch clevere Aktivitäten der Finanzabteilung auf den spekulativen Märkten des fiktiven Kapitals. Die sogenannten Finanz-Derivate, ursprünglich Instrumente zur Sicherung des Risikos bei Geschäften mit dem Ausland, wurden auf paradoxe Weise selber in einen spekulativen Markt verwandelt, der inzwischen global das phantastische Volumen von ca. 50.000 Milliarden Dollar erreicht hat. Der Kapitalismus simuliert sich selbst. Das fiktive Kapital des Staatskredits und das fiktive Kapital der kommerziellen Spekulation verschränken sich miteinander, die Schulden des einen Sektors werden mit Schulden des anderen Sektors "bezahlt" und das simulierte Wachstum nährt die Simulation. Der Dow-Jones- Index, das Börsenbarometer von New York, der gegenwärtig bei 4.700 Punkten steht, dürfte bei einer realen Bewertung nur etwa 1.000 Punkte betragen. Bei einer realen Bilanzierung ohne die fiktiven Werte würden in allen Ländern der Erde massenhaft Unternehmen zusammenbrechen. Auch politische Parteien, Provinzen, kommunale Verwaltungen und kulturelle Institutionen haben ihr Geld auf den spekulativen Finanzmärkten angelegt und sind von der simulativen Geldschöpfung abhängig geworden. Es scheint unausweichlich, dass dieses globale Konstrukt zusammenbricht. Die Entwertung des substanzlosen Geldes kann durch Inflation oder durch Deflation geschehen; vielleicht werden sogar Inflation und Deflation in verschiedenen Sektoren parallel laufen. Dass der Schock einer weltweiten Entwertung bevorsteht, lässt sich an verschiedenen Indizien ablesen. Viele Länder der 3. Welt und des ehemaligen Ostblocks durchlaufen bereits Zyklen der Hyperinflation zwischen 100 Prozent (Türkei) und 1 Million Prozent (Ex-Jugoslawien). Das hat es niemals zuvor in Friedenszeiten gegeben. Im Westen häufen sich Bankrotte bei Immobilien und industriellen Unternehmen. Immer mehr Banken, Sparkassen und Versicherungen geraten in Schieflage, wie zuletzt der Fall der Londoner Baring-Bank gezeigt hat, die durch einen 29-jährigen Broker in den Zusammenbruch getrieben wurde. Auch die Krise des Weltwährungssystems weist darauf hin, dass die substanzlose Geldschöpfung an Grenzen stösst. Eines ist sicher: die modernen Geldmenschen aller sozialen Klassen wollen es nicht wahrhaben, dass eine totale Geldwirtschaft auf Dauer eine logische und praktische Unmöglichkeit ist. Trotzdem lässt die seltsame "Kultur der Simulation" ahnen, dass die kapitalistische Realität irreal geworden ist. Vielleicht ist es das stärkste Indiz für das Ende dieser Realität des Scheins, dass die Menschen des Geldes sich selber nicht mehr ernst nehmen und gar nicht mehr wissen, ob sie überhaupt noch wirklich existieren.