Robert Kurz
Realisten und Fundamentalisten
Auf dem Weg zurück ins 17. Jahrhundert: Die ideologischen Selbsttäuschungen
des Westens
In seinem Selbstverständnis ist
der Westen die "freie" Welt, die demokratische Welt, die vernünftige Welt,
kurz: die beste aller möglichen Welten. Diese Welt sei pragmatisch und offen,
ohne utopischen und totalitären Anspruch. Jeder soll "nach seiner Fasson selig
werden", wie es die Toleranz der europäischen Aufklärung versprochen hat.
Und die Repräsentanten dieser Welt sagen, dass sie Realisten sind. Sie behaupten,
dass ihre Institutionen, ihr Denken und Handeln sich in Übereinstimmung mit
den "Naturgesetzen" der Gesellschaft befinden, mit der "Realität", wie sie
nun einmal ist. Der Sozialismus, so hören wir, sei deswegen untergegangen,
weil er "unrealistisch" war. Zusammen mit dem Sozialismus soll jede Utopie einer
grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft für immer begraben werden. Und
die ehemaligen Kritiker des westlichen "way of life" drängeln sich an der Kasse
des "Realismus", um noch rechtzeitig ihr Eintrittsbillett in die globale Marktwirtschaft
zu lösen.
Diese Idylle der Toleranz und der globalen marktwirtschaftlichen Demokratie
hat jedoch einen neuen Feind herausgefordert. Zwar ist der Sozialismus tot,
aber dafür ist der religiöse Fundamentalismus in die Arena getreten. Der Fundamentalismus
ist hässlich, viel hässlicher, als es der Sozialismus jemals sein konnte.
Und in den Augen der westlichen Ideologen sieht er ziemlich arabisch aus. Das
Pentagon hat in den letzten Jahren damit begonnen, den islamischen Fundamentalismus
als historischen Ersatzfeind zu konstruieren. Als strategisches Kampfgebiet
gilt jetzt der "moslemische Krisenbogen" von Pakistan bis Mauretanien. Wie in
den Zeiten des kalten Krieges gegen den Sozialismus werden nun in der neuen
Konstellation alle politischen Kräfte unterstützt, die sich für den Westen
und gegen den Fundamentalismus erklären, auch wenn es sich dabei um noch so
korrupte und grausame Regimes handelt. Aber die neue strategische Rechnung,
mit der die westlichen Spezialisten für Feindbilder ihre weitere Existenz rechtfertigen
wollen, geht nicht auf. Der Fundamentalismus ist kein rationaler, politisch
definierbarer und in seinem Handeln kalkulierbarer Gegner mehr, wie der Sozialismus
es war. Er hat auch kein eindeutiges Zentrum in der Welt, und vor allem beschränkt
er sich keineswegs auf den Islam. In vielen nicht-moslemischen Regionen Afrikas
und in ganz Lateinamerika sind fundamentalistische christliche Sekten in den
letzten Jahren zunehmend an die Stelle der sozialistischen Bewegungen getreten.
Und derselbe gesellschaftliche Wahn des religiösen Fundamentalismus blüht
auch in den westlichen Zentren des Weltmarkts selber. Für die USA war es ein
Schock, als sich herausstellte, dass nicht ausländische islamische Terroristen
es waren, die den verheerenden Bombenanschlag von Oklahoma City verübt hatten,
sondern weisse US-Bürger mit der Ideologie christlicher "Gotteskrieger". Schon
seit Jahren wird "Gottes eigenes Land" von radikalen evangelischen Sekten überschwemmt,
die übrigens auch die "Evangelisierung" Lateinamerikas steuern. In Deutschland
sind für viele Jugendliche obskure religiöse Gruppen zum Ersatz für die Politik
geworden; es gibt eine erregte öffentliche Debatte über den Einfluss von clandestinen
Sekten wie der "Scientology"-Kirche, die Wirtschaft und Gesellschaft unterwandern.
Und wer hätte gedacht, dass in einem Land wie Japan, das als Musterschüler
des marktwirtschaftlichen Erfolgs gilt, eine radikale Weltuntergangs-Bewegung
wie Aum Shinrikyo mit ihrem Führer Shoko Asahara so viele Menschen beeinflussen
und sogar Anhänger in der japanischen Armee anwerben könnte?
Die "Verrückten Gottes" sind überall auf dem Vormarsch. Woher kommen
sie? Von anderen Planeten bestimmt nicht. Sie kommen direkt aus dem Inneren
der marktwirtschaftlichen Welt selber. Der neoliberale "Realismus" kennt in
Wahrheit die Menschen sehr schlecht. Niemand kann heute mehr leugnen, dass sich
in der liberalen Welt des Marktes die soziale Misere ausbreitet wie ein Flächenbrand.
Nicht nur in Brasilien, sondern in der ganzen Welt zeigt sich die westliche
Freiheit und Toleranz zynisch als eine "Demokratie der Apartheid", wie sie Jurandir
Freire Costa (Universität von Rio) treffend genannt hat. Gleichzeitig zerfallen
die sozialen Bindungen nicht nur in den Slums, sondern in allen Klassen der
Gesellschaft. Sowohl der reale Prozess des Marktes als auch die neoliberale
Ideologie tendieren dazu, alle menschlichen Beziehungen in die Ökonomie
aufzulösen. 1992 erhielt der US-Ökonom Gary S. Becker den Nobelpreis
für das Theorem, dass auch ausserhalb des Marktes das gesamte menschliche
Verhalten nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten ausgerichtet sei und mathematisch
dargestellt werden könne, sogar in der Liebe.
Die "Realisten" haben auf die soziale Misere ebensowenig eine Antwort wie auf
die Misere der menschlichen Beziehungen und der Gefühle in einer ökonomisch
durchrationalisierten Welt; sie zucken nur mit den Schultern und gehen zur marktwirtschaftlichen
Tagesordnung über. Aber die Misere kann nicht stumm bleiben, sie muss eine
Sprache finden. Und weil die rationale Sprache des Sozialismus tot ist, kehrt
in der zerrütteten Gesellschaft die irrationale Sprache der Religion zurück;
aber mit einer verwilderten, bösartig gewordenen Grammatik. Der ökonomische
Neoliberalismus ruft "Marktwirtschaft", und das pseudo-religiöse Echo ruft
zurück: "Weltuntergang". Es zeigt sich jetzt, dass der Sozialismus nicht nur
eine Ideologie, sondern auch eine Art moralischer Filter gewesen war, ohne den
die moderne Zivilisation gar nicht existieren kann. Ungefiltert erstickt die
entfesselte Marktwirtschaft an ihrem eigenen moralischen Schmutz, der nicht
mehr institutionell bearbeitet wird.
Fast 150 Jahre lang, bis in die 70er Jahre unseres Jahrhunderts, hatte jeder
Schub der marktwirtschaftlichen Modernisierung gleichzeitig eine reformerische
oder revolutionäre sozialistische Aktion der intellektuellen Jugend hervorgerufen.
Immer wieder war die Solidarität mit den "Erniedrigten und Beleidigten" ein
starker Impuls für Opposition und radikale Gesellschaftskritik gerade unter
der "goldenen Jugend", der "schönsten Jugend" der höheren Klassen in der Gesellschaft
gewesen. Nach dem globalen Sieg des Marktes ist dieser Impuls erloschen. Die
"golden boys" und "golden girls" der neoliberalen Ära wollen nur noch an der
Börse spielen. Die Jugend der Mittelschichten ist narzisstisch demoralisiert
und nicht einmal mehr intellektuell. Sie hat vor dem totalen Markt seelisch
und geistig kapituliert. Ob in Ägypten und Algerien oder in Brasilien und Indien:
die westlich orientierten Jugendlichen träumen davon, als Ingenieure und Ärzte
oder als Fussballspieler und Leichtathleten Geld zu verdienen; für die soziale
Misere empfinden sie keine Verantwortung mehr.
Und auch im Westen verfällt die Jugend der Mittelschicht in sozialen Zynismus.
Bei manchen Jugendlichen in Deutschland, die teure Autos fahren, ist es chic
geworden, einen Button zu tragen mit der Aufschrift: "Eure Armut kotzt mich
an". Die restlichen Intellektuellen ästhetisieren das Elend und schlachten
es kommerziell aus; die Qualen der Verhungernden werden für Werbespots instrumentalisiert.
Die seelische Orientierung an der Logik des Marktes hat sogar einen "Kult des
Bösen" hervorgebracht. In seinem Buch über die "Renaissance des Bösen" sagt
der deutsche Soziologe Alexander Schuller: "Nicht mehr der Fortschritt und die
Vernunft okkupieren unseren Alltag und unsere Phantasie, sondern das Böse.
Es gibt seit dem Fall des Sozialismus eine Vermehrung an empirisch messbarer
Grausamkeit, es gibt überall unverständliche Bosheit". Wenn aber die Jugend
der Mittelschicht moralisch verwahrlost, dann können auch die Kinder der Armen
ihre Misere nicht mehr rational und moralisch anklagen. Bei einer Umfrage in
Moskau unter 14-Jährigen nach dem "Traumberuf" antwortete die Mehrheit der
Jungen "Mafioso" und die Mehrheit der Mädchen "Prostituierte".
Der Fundamentalismus hebt diesen Zustand der Demoralisation nicht auf, er gibt
ihm nur einen irrationalen ideellen Ausdruck. Wenn diese pseudo-religiöse Regression
noch den Rest einer verlorenen Hoffnung aufgreift, die von der Geschichte unerledigt
zu den Akten gelegt worden ist, dann ist es der blass gewordene Wunsch, endlich
von der Marktwirtschaft in Ruhe gelassen zu werden, zu einer in sich ruhenden
Ordnung des Sozialen zurückzufinden und am Abend auf einer Bank vor dem Haus
sitzen zu können, ohne voll Furcht an den nächsten Tag denken zu müssen.
Aber der Fundamentalismus hat kein Programm für die soziale Emanzipation, sondern
nur für die Ideologisierung der blinden Aggressionen, die das Misslingen der
Emanzipation zurückgelassen hat. Sein ganzes Programm erschöpft sich in einem
religiös verkleideten Impuls, wie er in einer Redewendung der Jugendlichen
in den Slums von Paris erscheint: "J'ai la haine" - ich habe einen Hass. Die
neuen Hassreligionen, seien sie nun islamischer oder christlicher Provenienz,
sind allesamt synthetischer, willkürlicher und eklektischer Natur. Mit den
authentischen religiösen Traditionen, auf die sie sich berufen, haben sie kaum
mehr als den Namen gemein. Sie sind ein Produkt der zerfallenden Moderne in
den westlichen und in den verwestlichten Gesellschaften des Weltmarkts. Gerade
weil sie keine historische Perspektive zu bieten haben, werden sie für die
grossen und kleinen "Führer" zu alternativen Möglichkeiten einer Karriere
auf der Welle des Ressentiments.
Die Repräsentanten der offiziellen Gesellschaft und die Ideologen des Neoliberalismus
reagieren auf diese Entwicklung, indem sie die Logik des Marktes mit den "konservativen
Tugenden" verheiraten wollen. Die Menschen sollen egoistisch und gleichzeitig
altruistisch sein, stark in der Konkurrenz und gleichzeitig demütig vor Gott,
fixiert auf die abstrakte Kosten-Nutzen-Rechnung und gleichzeitig moralisch
sauber. Mit dieser ethischen und pädagogischen Schizophrenie geht das Denken
der marktwirtschaftlichen "Realisten" selber in die Lügen des Fundamentalismus
über. Beide Ideologien werden einander zum Verwechseln ähnlich. Das ist nicht
überraschend, denn den Hintergrund des Fundamentalismus bildet nicht nur die
Armut, sondern auch die Furcht der Mittelklasse vor den Armen. Der pseudo-religiöse
Wahn nistet sich in den Köpfen der Armen und der Reichen gleichermassen ein.
Und die religiös vermummte soziale Militanz der Mittelklasse ist nicht weniger
gewalttätig als der Wahnsinn der Armen. In seinem Essay "Ausblicke auf den
Bürgerkrieg" charakterisiert der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger
diese Tendenz der "ehrenwerten Gesellschaft": "Unauffällige Bürger verwandeln
sich über Nacht in Hooligans, Brandstifter, Amokläufer, Serienkiller und Heckenschützen".
Der Fundamentalismus ist "realistisch" und der "Realismus" ist fundamentalistisch.
Beide besitzen dieselbe ideologische Struktur. Beide sprechen bekanntlich auch
vom "Ende der Geschichte", nur dass die Eschatologen des Marktes glauben, dieses
Ende sei schon erreicht. Und beide bewegen sich in denselben Medien: Wie die
Manager des Marktes sind auch die Prediger der angeblichen Erleuchtung scharf
auf Geld, wie die Politiker sind sie scharf auf Präsenz im TV, und die "Gottesstaaten"
sind scharf auf die Atombombe. Das sind alles westliche Medien. Die falschen
Propheten besitzen keine Idee einer anderen gesellschaftlichen Form; sie müssen
sich an der Erkenntnis messen lassen, die der kanadische Soziologe Marshall
McLuhan schon in den 60er Jahren formuliert hat: "Das Medium ist die Botschaft".
Umgekehrt kann auch der marktwirtschaftliche "Realismus" seinen quasi-religiösen
Charakter nicht verleugnen. Haben wir nicht gesehen, wie US-Präsident Bush
im Golfkrieg ebenso wie sein islamischer Feind Saddam Hussein den Gott einer
militanten Religion an die Front geschickt hat? Das sind nicht bloss Äusserlichkeiten.
Die Rationalität des Marktes ist religiöser Herkunft; sie ist nur insoweit
rational, wie ein in sich geschlossenes irrationales System seine eigene Binnenrationalität
hervorbringt. Das Resultat der modernen Geschichte, der totale Weltmarkt, ist
das Resultat einer säkularisierten Religion, die in protestantisch-calvinistischer
Gestalt ihren Anfang genommen hat. Gerade die USA, die letzte Weltmacht des
Weltmarkts, sind bis heute tief vom calvinistischen Fundamentalismus des "Geldmachens"
als Selbstzweck geprägt. Die westliche Toleranz ist nur eine besonders perfide
Form der Intoleranz, denn auch der Gott des Marktes duldet keine anderen Götter
neben sich; und er toleriert nur, was sich apriori und bedingungslos seinen
Medien unterworfen hat.
Das Ende der Geschichte ist die Umkehr der Geschichte. Am Anfang der marktwirtschaftlichen
Modernisierung standen die Religionskriege des frühen 17. Jahrhunderts. Diese
Epoche wurde abgelöst durch den Absolutismus mit seinen staatsökonomischen,
merkantilistischen Strukturen. Erst im 19. Jahrhundert blühte der Liberalismus
des freien Marktes. Wie aber sollen wir das 20. Jahrhundert begreifen? Der Form
nach hat es die Totalität des Marktes vollendet. Aber gleichzeitig war es ein
Jahrhundert der Krisen, in dem die Geschichte begann, sich nach rückwärts
zu wenden. Die staatlichen Kriegswirtschaften der beiden Weltkriege, der etatistische
Sozialismus des Ostens wie des Südens und auch der Keynesianismus des Westens
mit seinen staatsökonomischen Elementen können gewissermassen als Rückkehr
in das merkantilistische Zeitalter auf einer höheren Entwicklungsstufe verstanden
werden. Jetzt, nach dem Bankrott aller Varianten der modernen Staatsökonomie,
verspricht der Neoliberalismus ein neues goldenes Zeitalter des freien Marktes.
Aber wenn die Geschichte sich wirklich nach rückwärts gedreht hat, dann steht
uns ein ganz anderes Zeitalter bevor. Der US-Politologe Samuel P. Huntington
(Harvard) sagt mehr, als er weiss, wenn er die Hypothese aufstellt, dass die
Zeit der Konflikte zwischen Ideologien und Nationalstaaten abgelöst werde durch
einen "Konflikt der Zivilisationen". Was heisst das anderes, als dass der Prozess
der marktwirtschaftlichen Modernisierung, bevor er endgültig von einem schwarzen
Loch der Geschichte verschluckt wird, zurückkehrt in das Zeitalter der religiösen
Militanz und des Dreissigjährigen Krieges?
Der Neoliberalismus wird mit unwiderstehlicher Gewalt in diese Tendenz hineingezogen,
weil er mit seiner "schwarzen Utopie" des totalen Marktes selber einen totalitären
religiösen Kern besitzt. Der Sozialismus dagegen war nicht nur Staatsökonomie,
sondern auch die Idee einer solidarischen Gesellschaft, die sich bewusst selbst
reguliert statt irrationalen Prinzipien zu folgen. Wenn wir nicht wollen, dass
das 21. Jahrhundert zu einer neuen Epoche der Religionskriege wird, dann müssen
wir den Sozialismus in einer anderen, nicht mehr staatsökonomischen Form neu
formulieren. Nur auf diese Weise ist es möglich, dass die Geschichte sich wieder
öffnet.
aus "Neues Deutschland" - 11./12.06.1994