Krise und Kritik der Warengesellschaft |
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Folha, März 2004 Robert Kurz SEKUNDÄRE ANALPHABETEN Es gehört zur Geschichte des Kolonialismus, daß der Westen sich selbst im Verhältnis zur übrigen Welt als überlegene Zivilisation darstellte; nicht bloß im technischen und ökonomischen, sondern auch im kulturellen Sinne. Die westlichen Ideologen des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sprachen von der "Bürde des weißen Mannes", der es auf sich genommen habe, die Welt mit seinen Segnungen zu beglücken. Erst nach dem 2. Weltkrieg setzte in der westlichen Intelligentsia eine Kritik des "Eurozentrismus" ein. Man entdeckte die eigenständigen kulturellen Leistungen der "anderen", nachdem man deren Errungenschaften mehrere Jahrhunderte lang gründlich zerstört hatte. Es war eine Anerkennung fürs Museum und für die schuldbewußte Reminiszenz. Die Entkolonisierung brachte natürlich keine Erneuerung der alten, längst versunkenen Kulturen, selbst wenn diese bis heute für eine ideologische Identitätsstiftung instrumentalisiert werden. Stattdessen orientierten sich die postkolonialen sozialen Bewegungen und Staaten des Südens in jeder Hinsicht am westlichen Vorbild; angefangen von der politischen Kategorie der "Nation" bis hin zur modernen bürgerlichen Rechtsform und betriebswirtschaftlichen Rationalität. Dazu gehörte auch die Kampagne der Alphabetisierung und die Installation eines Schul- und Bildungssystems nach westlichen Standards. Auf den ersten Blick handelt es sich gerade bei der Alphabetisierung und Bildungsoffensive um eine große emanzipatorische Errungenschaft. Wer wollte bestreiten, daß die elementare Kulturtechnik des Lesens und Schreibens eine unverzichtbare Voraussetzung für zivilisatorischen Fortschritt darstellt? Wie kann die Vermittlung von Wissen und Bildung anders als positiv gedeutet werden? Es kommt allerdings auch auf den Inhalt des Wissens und auf die Form der Vermittlung an. Und in dieser Hinsicht ist die Entstehung des westlichen Bildungssystems keineswegs bruchlos in einem emanzipatorischen Sinne zu verstehen. Die europäische Alphabetisierung und "Verschulung" der Gesellschaft war kein großzügiges zivilisatorisches Geschenk an die Menschen, sondern Teil jenes Prozesses, der in der kritischen Literatur mit dem Begriff der "inneren Kolonisierung" bezeichnet worden ist. Die äußere Unterwerfung der Welt durch den Westen ging ja einher mit einer inneren Zurichtung der westlichen Menschen selbst zum "Material" kapitalistischer Verwertung. Dabei spielten nicht nur Maßnahmen gewaltsamer Disziplinierung eine Rolle, sondern auch die geistige Dressur und das Einüben von Verhaltensspuren zwecks Ausrichtung der gesamten Lebenspraxis auf die "abstrakte Arbeit" (Marx) und die universelle Konkurrenz. Sowohl die institutionellen Formen der Bildung "für das Volk" als auch die vermittelten Inhalte dienten in erster Linie diesem Ziel der "Verinnerlichung" eines kapitalistischen Profils von Anforderungen. Nur scheinbar anders verhielt es sich mit der "höheren" Bildung für die Jugend der bürgerlichen Elite. Der Nachwuchs für die Führungsetagen in Ökonomie, Politik und Kultur sollte ein möglichst universelles Wissen erhalten und zur philosophischen Reflexion über die unmittelbaren praktischen Anforderungen des Kapitalismus hinaus fähig sein. In Deutschland kreierte Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) sogar ein neuhumanistisches Bildungsideal, das die universelle Entfaltung des Geistes als Selbstzweck verstand, der nicht zu einer funktionalistisch reduzierten "Ausbildung" für vorgegebene Zwecke herabgewürdigt werden dürfe. Aber Bildungsideale dieser Art waren nicht auf Kritik ausgerichtet, sondern eher auf den geistigen Selbstgenuß eines Bürgertums, das sein Selbstbewußtsein nicht völlig an die Funktionsmechanismen "des Systems" delegiert hatte und sich noch den Luxus einer vermeintlich "zweckfreien" Bildung, Forschung und kulturellen Selbstdarstellung erlauben konnte. Die postkolonialen Staaten des Südens reproduzierten zusammen mit den übrigen kapitalistischen Institutionen auch die westlichen Ideen der Bildung, sowohl die funktionalistisch reduzierte für das "Volk" als auch die höhere und "zweckfreie" für die Eliten. Aber in demselben Maße, wie seit den 80er Jahren im Prozeß der Globalisierung und der damit verbundenen Weltkrise der 3. industriellen Revolution das Paradigma der "nachholenden Modernisierung" zusammengebrochen ist, stößt auch die Bildungsoffensive der Nationen in der so genannten 3. Welt an Grenzen. Es stellt sich heraus, daß ein modernes Bildungswesen mit qualifizierten Schulen, Universitäten, Forschungseinrichtungen und kulturellen Institutionen nur finanziert werden kann, wenn die entsprechende Nationalökonomie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig ist. In immer größeren Weltregionen löst sich zusammen mit der Ökonomie auch das Schul- und Bildungswesen auf. Wie es unter die Standards des Weltmarkts gefallene "Geisterfabriken" gibt, die nur noch nominell existieren und kaum noch etwas produzieren, so gibt es auch "Geisterschulen" und "Geisteruniversitäten", in denen nicht mehr real gelehrt und geforscht wird. Nicht bloß in Afghanistan oder in Somalia ist sogar die Quote der Alphabetisierung wieder rückläufig. Dieses Schicksal teilt das Bildungswesen mit den meisten anderen Infrastrukturen oder öffentlichen Diensten. Dem Problem, das hier sichtbar wird, liegt eine bestimmte ökonomische Logik zu Grunde. Infrastrukturelle Einrichtungen wie Post, Wasserversorgung, Gesundheitswesen und eben auch Bildung sind ihrem Wesen nach keine Marktunternehmen, sondern gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen der marktwirtschaftlichen Unternehmens-Wirtschaft. Ökonomisch gesehen handelt es sich dabei um Geschäftskosten, Gemeinkosten, tote Kosten oder "faux frais" (Marx) der kapitalistischen Reproduktion. Die Unternehmen setzen bei den Arbeitskräften, die sie auf dem Arbeitsmarkt vorfinden, bestimmte Qualifikationen voraus; die elementarste davon ist natürlich die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können. Aber selbst diese Basis-Qualifikation entsteht nicht von Natur aus (obwohl sie von den Unternehmen wie eine natürliche, kostenlose Ressource behandelt wird), sondern es sind dafür gesellschaftliche Aufwendungen nötig. Die Unternehmen können nur ihre unmittelbaren betriebswirtschaftlichen Kosten kalkulieren; für gesamtgesellschaftliche Kosten sind sie ihrer Natur nach unzuständig. Deshalb hat üblicherweise der Staat nicht nur den Betrieb der Infrastrukturen und damit auch des Bildungswesens übernommen, sondern auch deren Kosten. Dabei handelt es sich um eine sekundäre, abgeleitete Finanzierung: Die kapitalistischen Markteinkommen (Profite, Löhne, Honorare) werden vom Staat besteuert, um mit diesem abgeschöpften Geld die öffentlichen Dienste betreiben zu können. In dieser Hinsicht hat die Entwicklung der Produktivkräfte jedoch einen fatalen Zusammenhang hervorgebracht, der bisher wenig reflektiert worden ist. Denn je mehr sich die Produktion der Unternehmen verwissenschaftlicht und je größer dadurch der Anteil des Sachkapitals (Technologie) wird, desto mehr steigt der Grad der Vergesellschaftung und desto größer wird die Bedeutung der Infrastruktur, nicht zuletzt von Bildung und Ausbildung. Unter dem Gesichtspunkt des privatkapitalistischen Kalküls läuft diese Entwicklung darauf hinaus, daß der eigentliche Zweck, die betriebswirtschaftliche Produktion für den Profit, gewissermaßen überwuchert wird von den gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Das wiederum bedeutet, daß die gesellschaftlichen Gemeinkosten oder (vom betriebswirtschaftlichen Standpunkt aus) "toten Kosten" überproportional zunehmen. Auf diese Weise entsteht ein chronisches Finanzierungsproblem der sachlich notwendig anwachsenden Infrastrukturen. Mit anderen Worten: Der vom Kapitalismus selbst hervorgebrachte Grad der Vergesellschaftung ist kapitalistisch nicht mehr darstellbar. Dieses Problem erscheint als besondere Dimension eines säkularen Krisenprozesses. In der 3. industriellen Revolution der Mikroelektronik verschärft sich dieses Problem im Zuge einer strukturellen Krise der Märkte. Auf der betriebswirtschaftlichen Ebene wird eine derartige Masse von Arbeitskraft überflüssig gemacht, daß keine Reabsorption durch eine Erweiterung der Märkte mehr möglich ist. Der Staat kann immer weniger Löhne besteuern und muß stattdessen zusätzlich die Arbeitslosigkeit finanzieren. Gleichzeitig flüchten im Prozeß der Globalisierung die transnationalen Unternehmen vor dem steuerlichen Zugriff des Staates in die "Oasen" von Ländern, die ausländische Investoren niedrig oder gar nicht besteuern. Die schon längst prekäre Verschuldung der Staatsapparate explodiert geradezu. Damit ist die Finanzierung der öffentlichen Dienste und Infrastrukturen grundsätzlich in Frage gestellt, obwohl gleichzeitig durch dieselbe 3. industrielle Revolution die sachlichen Anforderungen an diese Bereiche weiter anwachsen. Wir haben es also mit einem zugespitzten inneren Widerspruch des Systems zu tun. In einem quasi naturwüchsigen Verlauf dieser Krise werden sowohl Kapazitäten der Produktion mangels Rentabilität als auch öffentliche Sektoren mangels "Finanzierbarkeit" stillgelegt. Die Staatsapparate reduzieren sich zunehmend auf eine restriktive Verwaltung der Menschen und Ressourcen, auf ihre Rolle als Gewaltapparate. Die Kosten für die innere und äußere "Sicherheit" steigen kontinuierlich an, während die Kosten für die infrastrukturelle Versorgung heruntergefahren werden. Mit anderen Worten: Der antisoziale, antizivilisatorische, barbarische Kern der Moderne kommt zum Vorschein, während der "zivilisatorische Überschuß" wie Medizin, Pflege, Bildung, Kultur usw. sukzessive verschwindet. Während der Westen unter Führung der USA einen neuen Krisenkolonialismus hervorbringt und ideologisch die "Rettung der Zivilisation" beschwört, dementiert er sich selbst durch die antizivilisatorische Entwicklung in seinen eigenen inneren Verhältnissen. Gerade das Bildungswesen und die kulturellen Einrichtungen verfallen in den westlichen Ländern heute schon ganz ähnlich wie in den Krisenregionen des Südens. Träger von Bildung, Ausbildung und Kultur in der Breite sind meistens die Kommunen und Provinzen; und gerade für diese unteren Ebenen der staatlichen Verwaltung ist die Finanzkrise im Westen ebenso weit fortgeschritten wie für die Zentralstaaten der 3. Welt. In den Schulen fällt der Putz von den Wänden, die Lehrmittel sind veraltet, die Hilfsmittel für die Ausbildung werden gestrichen und ganze Sektoren der kulturellen Nischenproduktion werden liquidiert. Die Sonntagsreden der Politiker über die Notwendigkeit einer Bildungsoffensive im "globalen Wettbewerb" stehen im krassen Gegensatz zur Realität. Selbst aus den weiterbildenden Schulen und Hochschulen werden junge Menschen entlassen, die wesentliche Kulturtechniken nicht mehr beherrschen und unfähig sind, größere Zusammenhänge zu reflektieren. Schon seit längerem ist in dieser Hinsicht von "sekundären Analphabeten" die Rede, die zwar notdürftig lesen und schreiben, aber den Inhalt nicht mehr verstehen und verarbeiten können. Und trotz allgemeiner Schulpflicht ist in den USA wie in Deutschland sogar der primäre, völlige Analphabetismus wieder im Vormarsch. Politik und Verwaltung reagieren auf die krisenhaften Widersprüche im Bildungswesen stereotyp mit drei paradigmatischen Maßnahmen. Das erste Paradigma heißt wie in allen anderen Bereichen "Privatisierung". Privatschulen, Privatuniversitäten und andere private Bildungseinrichtungen, die wie Marktunternehmen betrieben werden, sind aber natürlich keine öffentlichen Infrastrukturen mehr, sondern auf eine Minderheit von zahlungsfähiger Klientel orientiert. In dieselbe Richtung geht es, wenn an öffentlichen Schulen und Hochschulen Studiengebühren erhoben werden und die Lehrmittel nicht mehr kostenlos sind. Eng verbunden mit dieser Tendenz ist das zweite Paradigma, nämlich die verstärkte Propaganda für eine so genannte Elitenbildung. Praktisch heißt das, daß man die Normalschulen und Normaluniversitäten bewußt verlottern läßt, um die staatliche Förderung auf wenige Elite-Institutionen zu konzentrieren. Diese in den USA schon längst gewohnten Verhältnisse verbreiten sich jetzt in der gesamten westlichen Welt. Wenn aber die Bildung von der Zahlungsfähigkeit abhängig wird, sinkt zwangsläufig das intellektuelle Niveau der Gesamtgesellschaft. Private Stipendien können den Verlust an flächendeckenden öffentlichen Diensten nicht ausgleichen. Das gesellschaftliche Reservoir an intellektuellen Begabungen wird nicht mehr ausgeschöpft. Noch tiefer schneidet das dritte Paradigma der scheinbaren Krisenbewältigung ein: nämlich die funktionalistische Reduktion von Bildung und Forschung auf die unmittelbare ökonomische Verwertbarkeit. Immer stärker werden Schulen und Universitäten direkt an "die Wirtschaft" angebunden und sowohl nach betriebswirtschaftlichen Kriterien geleitet als auch inhaltlich auf Marktkonformismus ausgerichtet. Es gilt sozusagen die Devise: Egal, was Du studierst - es ist immer Betriebswirtschaft! Der ökonomische Totalitarismus ist im Bildungswesen angekommen. Das bedeutet aber, daß zusammen mit den letzten Resten des Humboldtschen Bildungsideals der kulturelle Selbstgenuß der kapitalistischen Eliten verschwindet; sie reduzieren sich selbst auf "Funktionsidioten des Systems". Damit löst sich auch die intellektuelle Fähigkeit zur Distanz auf, die jedoch Voraussetzung ist, um überhaupt komplexe Prozesse leiten zu können. Die neue "Elite" dementiert sich selbst. Was aber geschieht mit dem brach liegenden, nicht mehr abrufbaren intellektuellen Potential der Gesellschaft? Wenn die Bildung für die große Masse derart krass heruntergefahren wird, erlischt auch ihre bisherige Funktion der Disziplinierung. Damit wird aber nicht bloß ein "sekundärer Analphabetismus" frei gesetzt, sondern vielleicht auch eine "subversive Intelligenz", die nicht mehr den Anforderungen des ökonomischen Totalitarismus folgt. Es könnte sein, daß die kapitalistische Krisenverwaltung von Bildung und Wissen ungewollt eine neue intellektuelle Gegenkultur auf den Weg bringt. |