Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Robert Kurz
Der Sieg
der Ökonomie über das Leben
Empirisch ist der Befund eindeutig und kann nur von Ignoranten bestritten werden. Elementare Bedingungen des Lebens wie Wasser, Luft und Erde sind einem ständig zunehmenden Prozess der Vergiftung ausgesetzt. Die schützende Schicht des Ozons in der Atmosphäre wird abgetragen. Im südlichen Argentinien und in Australien laufen bereits massenhaft Schafe mit Krebsgeschwüren herum und auch für Menschen wird das Baden in der Sonne lebensgefährlich. Das Trinkwasser ist nicht nur verseucht, sondern es wird auch knapp. Die Wüste ist auf dem Vormarsch und es gibt Prognosen, dass die Kriege des 21. Jahrhunderts um das Wasser geführt werden. Mit unheimlicher Geschwindigkeit sterben die Arten der Flora und Fauna. Die tropischen Wälder, das grösste Reservoir der irdischen Natur, schwinden im Zeitraffer dahin. Allein in der Zeit seit dem 2. Weltkrieg war die Zerstörung grösser als in der gesamten bisherigen Geschichte der Menschheit. Durch die Überflutung mit toxischen Reizen droht das menschliche Immunsystem zusammenzubrechen (vor allem bei Kindern). Mediziner prophezeien, dass neue Seuchen entstehen, gegen die es keine Mittel mehr gibt.
Die Liste der Zerstörungen und der drohenden Katastrophen könnte beliebig fortgesetzt werden. Auch die Schönheit der Welt verschwindet. Marktwirtschaft macht hässlich. Als ich in Sao Paulo zu Besuch war, zeigte man mir alte Fotos von einem Fluss, an dessen Ufer Menschen flanierten, in dem man baden konnte und der ein beliebtes Ziel für Ausflüge war. Dann hatte ich Gelegenheit, diesen Fluss heute zu sehen: eine Art Abwasserkanal mit schwarzem, faulig riechendem Wasser, an dessen Ufer nur noch Ratten flanieren. Traurige Vergleiche dieser Art kann man in allen Ländern anstellen. Wie es scheint, arbeitet die Ökonomie mit hoher Effizienz daran, den gesamten Planeten in eine einzige stinkende Müllkippe zu verwandeln und schliesslich alles Leben auszulöschen.
Spätestens seit der Studie von Meadows ist das Problem der "Umwelt" in allen Ländern zum Gegenstand der politischen Debatte geworden. Aber diese Debatte ist unglaubwürdig. Die Devise lautet: "Waschen wir den Pelz, aber machen wir ihn nicht nass". Die Politiker als professionelle Lügner und Schauspieler rufen die Menschheit zur Umkehr auf und produzieren moralische Phrasen, wie die Industrie Müll produziert. Sie verbrennen Millionen Liter Kerosin, um Konferenzen zu veranstalten, auf denen nichts beschlossen wird. 1992 versammelten sich in Rio de Janeiro Staatsmänner und Regierungschefs aus der ganzen Welt, um über den Schutz von Natur, Umwelt, Klima und Wasser zu beraten. Für die politische Kosmetik wurde ein grosser Aufwand veranstaltet. Aber das reale Ergebnis war gleich Null.
Auch die Biedermänner und Honoratioren des "Club of Rome" und ähnlicher Initiativen sprechen vollmundig von der Notwendigkeit einer "globalen Revolution", um Natur und Menschheit zu retten. Aber seit wann werden Revolutionen von Biedermännern und Honoratioren gemacht? In Wirklichkeit sind die Vorschläge des "Club of Rome" alles andere als revolutionär. Wie alle braven Bürger und Christen möchten diese ehrenwerten Wissenschaftler den Wolf mit dem Lamm versöhnen. "Qualitatives Wachstum" und "nachhaltige Entwicklung" (Sustainability) sollen auf dem Boden einer globalen Marktwirtschaft "ökonomische Effizienz" und "ökologische Herausforderung", Geld und Natur in Übereinstimmung bringen. Ist dieses Ziel realistisch oder ist es der naive Versuch einer Quadratur des Kreises?
Die Wurzel der modernen Ökonomie ist das Geld. Das Geld aber ist eine gesellschaftliche Abstraktion, denn es abstrahiert von jedem sinnlichen, qualitativen Inhalt. Tausend Dollars sind eine abstrakte, rein quantitative Grösse. Schon der Philosoph Hegel wusste, dass das Geld gesellschaftliche Arbeit repräsentiert; aber Arbeit in abstrakter Form, gereinigt von ihrer konkreten stofflichen Bestimmung. In der Beziehung zum Geld erscheint Arbeit als reine Verausgabung abstrakter menschlicher Energie. Hegel sprach deshalb von "abstrakter Arbeit", ein Ausdruck, der von Marx übernommen worden ist. Aber Hegel sagte auch: "Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heisst Wirklichkeit zerstören". In dem Masse, wie das Geld zwischen Mensch und Natur tritt, wird Natur zerstört. Das Geld ist deshalb auch die Wurzel der destruktiven Potenz in der modernen Ökonomie.
Natürlich ist das Geld schon viel älter als die moderne industrielle Gesellschaft. Aber es spielte vor dem 18. Jahrhundert (und in vielen Ländern bis ins 20. Jahrhundert hinein) für die meisten Menschen nur eine marginale Rolle. Der grösste Teil der Lebensmittel wurde naturalwirtschaftlich hergestellt, also ohne Warentausch. Soweit es Warenproduktion gab, blieb das Geld auf die Rolle eines Mediums beschränkt: es stand in der Mitte zwischen zwei qualitativ verschiedenen Waren als blosses Tauschmittel. Die moderne Ökonomie dagegen ist nicht allein durch den Fortschritt der Technik entstanden, wie man uns glauben machen will. Entscheidend war vielmehr die Verwandlung des Geldes aus einem Medium in einen Selbstzweck.
Was bedeutet das? In der modernen Ökonomie hat sich das Verhältnis von Ware und Geld verkehrt. Nicht mehr das Geld steht in der Mitte zwischen zwei qualitativ verschiedenen Waren, sondern genau umgekehrt: die Ware steht in der Mitte zwischen zwei Erscheinungsformen der gleichen abstrakten Form "Geld". Diese Operation macht natürlich nur Sinn, wenn am Ende eine grössere Summe Geld als am Anfang steht. Das Geld ist zum "produktiven Kapital" geworden, das sich selbst vermehrt. Im Unterschied zu den alten nicht-kommerziellen Produzenten ist der Zweck nicht die materielle Reproduktion des eigenen Lebens, sondern die Anhäufung von Gewinn in der Form des Geldes.
Erst durch diese neue ökonomische Logik konnte eine totale Marktwirtschaft entstehen, in der am Profit orientierte Unternehmen miteinander konkurrieren und alle Menschen davon abhängig werden, dass sie "Geld verdienen". Das Geld ist jetzt in einem kybernetischen Kreislauf auf sich selbst bezogen. Es verselbständigt sich in seiner absurden Bewegung als Selbstzweck gegenüber allen menschlichen Subjekten und beginnt ein gespenstisches Eigenleben zu führen. Der Historiker Karl Polanyi hat deshalb die moderne Marktwirtschaft eine aus den Zusammenhängen des Lebens "herausgelöste Ökonomie" genannt. Auch der staatliche Sozialismus des Ostens und Südens mit seinen "geplanten Märkten" war nur ein historisches Derivat derselben ökonomischen Logik.
Es ist wahr, dass diese historisch neue Ökonomie die Entwicklung der Produktivkräfte ungeheuer beschleunigt hat. Aber alle wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften müssen sich der Form des Geldes unterwerfen und sind von ihr geprägt. Das bedeutet, dass der sinnliche Inhalt der Produktion mit der scheinbaren Evidenz eines physikalischen Gesetzes einer abstrakten, rein quantitativen ökonomischen Prozedur unterworfen wird. Das Geld arbeitet wie ein gesellschaftlicher Roboter, der nicht zwischen giftig und ungiftig, schön und hässlich, moralisch und amoralisch unterscheiden kann.
Unter dem Druck der Konkurrenz ist in der Marktwirtschaft das einzelne Unternehmen gezwungen, bei allen Entscheidungen der Rationalität des Geldes zu gehorchen. Das nennt man Betriebswirtschaft. Wenn dabei von "Senkung der Kosten" und von "Effizienz" die Rede ist, dann ist damit immer nur das entsinnlichte, abstrakte "Interesse" des Geldes gemeint. Wie ein Neurotiker von der fixen Idee besessen ist, ohne Rücksicht auf Musse und Genuss immer den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten zu gehen, so verlangt die betriebswirtschaftliche Rechnung die abstrakte "Senkung der Kosten" ohne Rücksicht auf den sinnlichen Inhalt und auf die natürlichen Folgen.
Zwar redet die Betriebswirtschaft ständig von einer Verbesserung der Qualität. Ästhetisch betrifft dies aber immer nur das Design des isolierten Produkts, niemals die Welt ausserhalb der Betriebswirtschaft. Das Resultat sind "schöne" Produkte in einer verfaulenden "Umwelt". Aber auch die stoffliche Qualität der Produkte selber ist meistens bloss Fassade. Das fängt schon beim Essen an. Die Nahrungsmittelindustrie ist eifrig dabei, die Menschen mit sanfter Gewalt so zu erziehen, dass sie nicht mehr richtig schmecken und riechen können. Im Interesse der betriebswirtschaftlichen "Effizienz" und der profitablen "Vereinfachung" für grossräumige Märkte sind auf der ganzen Welt bereits tausende Sorten von Obst, Gemüse und Nutztieren verschwunden. In den Labors werden Lebensmittel gezüchtet, die sich besonders leicht verpacken lassen und nicht verderben, aber mit "Geschmack" chemisch geimpft werden müssen. Die Macht des Angebots erdrückt jede Kritik der Nachfrage.
Abgesehen von der fortschreitenden Zerstörung des sinnlichen und ästhetischen Genusses ist die "Senkung der Kosten" in Wirklichkeit bloss eine Externalisierung der Kosten auf die Natur und auf die Zukunft. Denn vom Standpunkt der Betriebswirtschaft sind Natur und Zukunft ökonomisch leere Räume jenseits der Kostenrechnung, in denen die "Exkremente der Produktion" (Marx) scheinbar spurlos verschwinden. Das gilt nicht nur für die Emission von Schadstoffen durch die Produktion, sondern auch für den Transport. Ein tiefgekühltes Brathähnchen in den USA ist durchschnittlich 3000 Meilen unterwegs, bevor es verbraucht wird. Wenn die Betriebswirtschaft auf der globalen Suche nach niedrigen Kosten Wechselkurse, billigen Lohn und andere Vorteile auf der Ebene des Geldes ausnutzt, verursacht sie auf der Ebene der Natur und der stofflichen Ressourcen eine Orgie der Vergeudung.
Auch das exponentielle Wachstum, das der "Club of Rome" beklagt, ist keine zufällige Fehlentwicklung, sondern ein notwendiges Resultat des Marktsystems. Das kybernetisch auf sich selbst rückgekoppelte Geld fordert die permanente Steigerung der Produktion. Die Konkurrenz fordert gleichzeitig die permanente Steigerung der Produktivität. Weil auf diese Weise das einzelne Produkt immer weniger Geld repräsentieren kann, muss die Produktion nicht linear, sondern in geometrischer Progression anwachsen. Und weil in dieser Dynamik des Wachstums die betriebswirtschaftlichen Investitionen den abstrakten Signalen der Rentabilität folgen, ist die Option einer qualitativ definierten "nachhaltigen Entwicklung" innerhalb der modernen Marktwirtschaft eine Illusion. Die Produktion qualitativ sinnvoller und sogar lebensnotwendiger Dinge wird automatisch stillgelegt, wenn sie für den Selbstzweck des Geldes nicht mehr rentabel ist; andererseits fliesst das Kapital automatisch in destruktive Projekte, wenn diese eine hohe Rendite versprechen.
Auf diese Weise nimmt das gesellschaftliche Leben den Charakter der Selbstzerstörung an. Während durch die Steigerung der Produktivität immer mehr Menschen arbeitslos werden, müssen die Besitzer des Geldes immer mehr Produkte immer schneller konsumieren, damit das zur Raserei gesteigerte System weiter funktionieren kann. Durch "geplanten Verschleiss" wird das Leben der Produkte verkürzt, gleichzeitig erfindet die Industrie groteske und infantile neue Bedürfnisse. Auf der einen Seite: bettelnde Kinder. Auf der anderen Seite: Verrückte, die sich zu Tode konsumieren und mit ihrem Handy Selbstgespräche führen.
Das moderne Management hat mehr Kinder getötet als König Herodes, aber immer kann es die Hände in Unschuld waschen und sich auf die stummen Gesetze des Geldes berufen. Auch die Arbeiter fragen nicht nach den Folgen ihrer Arbeit, weil sie auf "Arbeitsplätze" angewiesen sind. Das System des Geldes erzeugt eine strukturelle Schizophrenie: alle wissen, dass ihr Handeln destruktiv ist, aber alle starren auf ihr monetäres Einkommen wie das Kaninchen auf die Schlange. Warum erregt sich die Öffentlichkeit über die Selbstmord-Attentäter der Hamas, wenn sie das globale Selbstmord-Programm der Marktwirtschaft akzeptiert?
Es ist ein frommer Wunsch, dass die Politik den Wolf des Geldes an die Kette legen könnte. Eine wirksame ökologische Steuer ist unmöglich. Denn der Staat ist national, aber die Konkurrenz ist international. Die Länder mit wenig Kapital können unter den Bedingungen der Globalisierung nur durch soziales und ökologisches Dumping konkurrieren. Deswegen ist der ökologische Moralismus der finanziell starken Länder gegenüber der Dritten Welt eine Heuchelei. Das Problem ist die moderne Ökonomie selbst. Die Politik ist immer nur die Komplizin des Geldes, weil sie kein eigenes Medium besitzt. Auch die Macht muss finanziert werden. Deshalb sind die scheinbar Mächtigen vom exponentiellen Wachstum der "herausgelösten Ökonomie" abhängig.
Es gibt wahrscheinlich nur eine radikale Lösung: die Menschheit muss sich von der Herrschaft des verselbständigten Geldes befreien. Sicherlich ist eine Rückkehr in die vormoderne Agrargesellschaft weder möglich noch wünschenswert. Aber vielleicht sind jenseits der "herausgelösten Ökonomie" andere Formen der Kooperation möglich. Können Non-Profit-Organisationen die bisherige Betriebswirtschaft ablösen? Die Ökonomen sagen, das sei utopisch und unrealistisch. Sie haben Angst vor der Entwertung ihrer absurden Qualifikation. Nun gut, dann ist eben das Überleben der Menschheit utopisch und unrealistisch. Es gibt nur einen Trost: auch die Mandarine des Geldes werden von der Zerstörung der Natur nicht verschont. Ich stelle mir vor, dass in naher Zukunft die letzten Reichen mit Gasmasken vor den glatten Gesichtern auf der Veranda der letzten Luxusvilla sitzen und durch Strohhalme aus goldenen Flaschen das letzte Trinkwasser saugen. |