Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


aus: Folha de Sao Paulo (Anfang April 1999)

Robert Kurz

Die Stimme des Blutes

In Serbien bombardiert der Westen die Ausgeburten seiner eigenen Logik


Wenn die Waffen sprechen, schweigt die Vernunft. Mit derselben hysterischen Aufwallung, die schon die Bomben gegen den Irak begleitet hat, feiert die westliche Öffentlichkeit das elektronische Scheibenschießen "per Mausklick" auf Serbien als ultima ratio des Kampfes um Menschenrechte, Frieden und Freiheit. Auf der einen Seite, so hören wir zum wiederholten Male, stehe die "demokratische Völkergemeinschaft", auf der anderen Seite einer der terroristischen "Schurkenstaaten" mit einem wildgewordenen Diktator an der Spitze, der nicht anders als durch einen Bomben und Raketenhagel am Morden unschuldiger Zivilisten gehindert werden könne. Wenn die demokratischen Waffen ihrerseits aus Versehen unschuldige Zivilisten treffen sollten, dann gehöre das zu den leider unvermeidlichen Risiken und Kosten einer militärischen Intervention, die zwar diesmal nicht durch die UNO legitimiert werden kann, aber eigentlich auch gar kein Krieg sei, sondern nur eine Art Notoperation. Diese Logik ist zwar ziemlich kraus, sie spekuliert aber darauf, daß es derartigen Schlächtern wie Saddam Hussein oder Milosevic gegenüber keine Sympathie und keine Solidarität geben kann. Die ehemaligen Linken und Pazifisten in den europäischen Regierungen, die an der Seite der USA inzwischen als olivgrüne "Demokraten im Kampfanzug" herumlaufen, reden sich so darauf hinaus, daß es "keine Alternative" gebe. Bleibt eigentlich nur noch eine kleine Frage: Woher kommen sie eigentlich, all diese "Schurkenstaaten" und durchdrehenden Diktatoren, die plötzlich in wachsender Zahl die Welt zu bevölkern scheinen und dem demokratischen Weltkonsens seit 1989 so brutal ins Handwerk pfuschen?

Es ist auffällig, daß die marktwirtschaftlich demokratische Welt des Westens diese Erscheinungen nicht rational erklären und ihren eigenen Anteil daran erkennen kann. Stattdessen werden die Saddam Husseins und Milosevics als Inkarnationen eines äußerlichen und fremden Bösen jenseits der Geschichte negativ mythologisiert. Damit übernimmt der Westen seinerseits genau jenes irrationale, manichäische Denkmuster der fundamentalistischen Fanatiker, dessen verheerende Auswirkungen er angeblich bekämpft. Diese bemerkenswerte logische Identität der Legitimation auf beiden Seiten deutet darauf hin, daß hier wesentliche historische und ökonomische Zusammenhänge verdrängt werden, weil ihre Offenlegung für das westliche Selbstbewußtsein peinlich wäre.

Schon von Anfang an hat die westliche Öffentlichkeit den ökonomischen Hintergrund der jugoslawischen Krise völlig ausgeblendet. Es wurde immer so getan, als seien hier nach dem Tod des als Integrationsfigur wirksamen Staatsgründers Tito plötzlich atavistische "balkanische Instinkte" aus den Abgründen der Geschichte emporgestiegen. In Wirklichkeit war der jugoslawische Bürgerkrieg grundsätzlich sozial und ökonomisch motiviert. Ebenso wie zahlreiche andere Gesellschaften der "nachholenden Modernisierung" im 20. Jahrhundert war das jugoslawische Modell Ende der 80er Jahre bankrott, weil ihm die verschärften Konkurrenzverhältnisse auf dem Weltmarkt die Luft abdrehten.

Krise und Zusammenbruch folgten demselben Muster wie in zahlreichen kollabierenden Nationalökonomien an der kapitalistischen Peripherie: Der Kapitalstock konnte mangels Geldkapital nicht auf die Erfordernisse der 3. industriellen Revolution hochgerüstet werden, bei steigenden Importen verfielen die Exportpreise, die Außenverschuldung explodierte. Der Zusammenbruch Jugoslawiens wurde historisch überlagert vom Zusammenbruch der Sowjetunion. Der Westen interpretierte daher ohne große Differenzierung die in den 80er Jahren beginnende Weltkrise ganz einseitig als das Scheitern eines marxistisch staatssozialistischen "Gegenmodells", dessen Ende den Ruhm des Kapitalismus nur umso heller strahlen lasse. Diese in ihrem Kern zum "common sense" gewordene Interpretation, die den neoliberalen Weltkonsens befestigte, war aber von völliger Ignoranz gekennzeichnet. Der Westen wollte nicht begreifen, daß das Ende des vermeintlichen "Gegenmodells" auch der Anfang vom Ende eines gemeinsamen ökonomisch politischen Bezugssystems war.

Schon vor zehn Jahren hätte man leicht einsehen können, daß der Zusammenbruch dieses Modells keine spezielle Folge einer "falschen" marxistischen Ideologie war, sondern Bestandteil einer viel allgemeineren Krise des globalen Produktions , Kredit und Währungssystems, die ihre volle Durchschlagskraft zunächst in der Peripherie des Weltmarkts entfaltete. Es waren ja keineswegs nur marxistisch inspirierte Regimes, denen die ökonomische Grundlage wegzubrechen begann. Auch vom Westen protegierte Staaten in Afrika, Lateinamerika und Teilen Asiens erlebten ganz ähnliche ökonomische Einbrüche. Konnte dieser allgemeine Charakter der Krise noch einige Zeit durch die scheinbaren Erfolge der asiatischen Tigerländer und anderer Musterschüler des Kapitalismus in den "emerging markets" verdeckt werden, so hat der unrühmliche Zusammenbruch auch dieses vielgelobten Modells seit 1997 endgültig klar gemacht, daß die westliche Wahrnehmung des krisenhaften historischen Geschehens seit 1989 ganz oberflächlich und ideologisch verzerrt war. Inzwischensteht fest, daß die sogenannten marktwirtschaftlichen Reformen im größten Teil Osteuropas bereits gescheitert sind. Nur eine hartnäckig fortgesetzte Ignoranz kann die Einsicht noch abwehren, daß Kapitalismus und globale Marktbeziehungen nicht etwa die Lösung, sondern einen Teil des Problems darstellen.

Gerade der jugoslawische Fall machte diesen Zusammenhang am frühesten deutlich. Denn Jugoslawien hatte sich ja schon unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg vom Sowjetblock abgespalten und war dafür vom Westen mit reichlichem Beifall belohnt worden. Das Lob steigerte sich, als die jugoslawische Ökonomie in den 70er und 80er Jahren auf einen strammen Kurs marktwirtschaftlicher Reformen ging; das Land wurde sogar in die OECD aufgenommen. Insofern stellte das ökonomische und soziale Desaster Jugoslawiens Ende der 80er Jahre ironischerweise den Modellfall für das Scheitern der marktwirtschaftlichen Transformation ehemals staatskapitalistischer Länder dar.

Aber die ökonomische Dimension dieses Falls wird kaum wahrgenommen, weil der Zusammenbruch der jugoslawischen Nationalökonomie viel schneller als anderswo in die Form ethnischer Konflikte überging: Zuerst spalteten sich die traditionell höher entwickelten nördlichen Regionen Slowenien und Kroatien mit westlicher (vor allem deutscher) Hilfe vom jugoslawischen Staatsverband ab, dann brach in Bosnien der Bürgerkrieg zwischen

Serben, "Moslems" und Kroaten aus, während sich im Kosovo albanische und serbische Volksgruppen immer stärker mit offenem Haß gegenübertraten. Serbien, die Teilrepublik mit dem größten Bevölkerungsanteil im ehemaligen Gesamtjugoslawien, wurde durch die diversen Sezessionen von wichtigen industriellen Ressourcen abgeschnitten und mußte die ökonomische Krise fast allein ausbaden. Das erzeugte eine ungeheure Verbitterung, die von Milosevic mühelos serbo nationalistisch aufgeladen werden konnte.

Das Scheitern der marktwirtschaftlichen Reformen und die westliche Unterstützung der Separatistenbewegungen waren ursächlich verantwortlich für den Ausbruch der nationalistischen Exzesse. Der Balkan ist in dieser Hinsicht längst kein Einzelfall mehr: Überall in der Welt gehört es zu den katastrophalen Folgen des marktwirtschaftlichen Ruins, daß sich bis dahin einigermaßen friedlich miteinander lebende Menschen als verschiedene "Ethnien" oder Religionsgemeinschaften definieren und mit blutigen Gemetzeln übereinander herfallen. Auch in Indonesien, soeben noch gehätscheltes Wunderkind der kapitalistischen Globalisierung, laufen inzwischen in die Armut zurückgetriebene Menschen mit den aufgespießten Köpfen ihrer Nachbarn herum; ganz zu schweigen von Ruanda und anderen Bürgerkriegsregionen. Die wahre Geschichte all dieser Greuel ist noch nicht geschrieben, denn stets handelt es sich um eine "Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln" unter den Bedingungen des ökonomischen Zusammenbruchs.

Die Wiederkehr scheinbar archaischer (ethnischer oder religiöser) Zusammenstöße folgt exakt der Logik des Marktes. Die in plötzlichen Krisenschüben "Herausgefallenen" suchen sozialen und emotionalen Schutz in einer irrationalen Gemeinschaft, die sich gleichzeitig aggressiv nach "außen" wendet. Weil keine ökonomische und soziale Alternative existiert, beginnt eine Verwilderung des kapitalistischen Massenbewußtseins. Ethnische und religiöse Kampf Identitäten sind oft nur der Vorwand für die Bildung von irregulären bewaffneten Banden, die als eine Art "Geschäftsunternehmen" der um sich greifenden Plünderungs Ökonomie fungieren. Auch im Kosovo ist es ein nicht geringes Motiv sowohl der serbischen Milizen als auch der albanischen Untergrundarmee, ihre ehemaligen Nachbarn zu berauben bis auf die Unterhose.

Aber selbst die ethno nationalistische Ideologie ist gar nicht so archaisch, wie es scheint, sondern ebenfalls aus dem glorreichen Westen importiert. Das bürgerliche Konzept der Nation wurde zusammen mit dem Kapitalismus von Europa aus über die ganze Welt verbreitet und anderen gesellschaftlichen Verhältnissen übergestülpt. In vielen Weltregionen hat die synthetische Konstruktion von Nationen Sprengsätze gelegt, die in Krisensituationen immer wieder explodieren. Das gilt besonders für die von Deutschland ausgehende Variante der Nationsbildung. Hatten die angelsächsischen Länder und Frankreich die heraufdämmernde kapitalistische Nation rein politisch definiert (wer in Frankreich geboren oder in die französische politische Gemeinschaft aufgenommen wird, ist Franzose), so entwickelte sich beim historischen Nachzügler Deutschland eine konkurrierende Ideologie, in der die Nation als ausschließende ethnisch kulturelle Entität erscheint.

Diese von den Philosophen Johann Gottfried Herder (1744 1803) und Johann Gottlieb Fichte (1762 1814) hervorgebrachte "völkische" Idee reduzierte kulturelle Zusammenhänge auf das abstrakte und irrationale Konzept der modernen Nation, das in dieser Form ebenso wie der westlich liberale Nationalbegriff einer Ideologisierung der beginnenden kapitalistischen Konkurrenz diente und im Laufe des 19. Jahrhunderts mit Elementen eines biologischen Rassismus angereichert wurde. Dabei gibt es eine Überschneidung mit der westlich angelsächsischen Ideologie. Denn schon der Urvater des Liberalismus, Thomas Hobbes (1588 1679), hatte ja die Konkurrenz aller gegen alle zum "natürlichen" Wesen des Menschen erklärt. Der allgemeine liberale Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts setzte diese Biologisierung sozialer Verhältnisse fort und verband sich in Deutschland mit dem "völkischen" Nationalbegriff Herders und Fichtes. Die deutsche Nation wurde so als eine rassisch kulturelle und biologische "Abstammungsgemeinschaft" definiert; eine Idee, die im Faschismus mit dem Holocaust und der Tötung "lebensunwerten Lebens" ihre schlimmsten Exzesse feierte.

Auf dem Balkan und in großen Teilen Osteuropas übernahm die Schicht der intellektuellen bürgerlichen Modernisierer seit dem Ende des 19. Jahrhunderts den deutschen, "völkisch" rassischen Begriff der Nation. Angesichts der Tatsache, daß die Bevölkerung dort auf engem Raum im Sinne der "völkischen" Kriterien völlig inhomogen zusammengesetzt war, wurde mit der Übernahme der "deutschen Ideologie" von vornherein der Keim einer humanitären Katastrophe gelegt: Menschen verschiedener Religionen (Moslems, Orthodoxe und Katholiken), Sprache und Herkunft (Albaner, Serben, Kroaten usw.), die lange Zeit einigermaßen friedlich zusammengelebt hatten, wurden plötzlich als "rassisch" verschiedene Nationen definiert, die sich wechselseitig das gemeinsame Territorium streitig machten. Die heutigen Greuel der "ethnischen Säuberung" gehen auf diese Geschichte zurück. Und die zugrunde liegende Ideologie ist kein balkanischer Archaismus, sondern eine giftige Blüte vom Baum der westlichen Modernisierungsgeschichte selbst. Besonders Deutschland, das jetzt brav im Namen der Menschenrechte mitbombt, ist auf dem Balkan doppelt mit sich selbst konfrontiert. Denn einerseits spukt dort die "völkische" Ideologie der deutschen Geschichte, während gleichzeitig die Erinnerungen an den faschistischen Überfall im 2. Weltkrieg wach werden. Andererseits ist die deutsche Nation ebenso wie jetzt wieder die Katastrophen Nationen auf dem Balkan auch heute noch als "völkische Abstammungsgemeinschaft" definiert: Das geltende deutsche Recht gibt Menschen, die kein Wort Deutsch sprechen und deren Vorfahren vor Jahrhunderten ausgewandert sind, automatisch die Staatsbürgerschaft, weil angeblich "deutsches Blut" in ihren Adern fließt. Dasselbe "Blutsrecht" diskriminiert gleichzeitig Millionen Menschen anderer Herkunft politisch und juristisch, die in Deutschland geboren sind oder seit Jahrzehnten dort leben.

Und soeben ist die neue rot grüne Regierung mit einer ohnehin inkonsequenten Reform dieses "blutigen" Staatsbürgerschaftsrechts gescheitert, weil die Konservativen Sturm dagegen liefen und erhebliche Teile der deutschen Bevölkerung geradezu "balkanisch" mobilisieren konnten. Diese politische und juristische Form der "ethnischen Apartheid" in einem kapitalistischen Zentrum und im Kontext der "Festung Europa" unterscheidet sich nur graduell von demselben Vorgehen in einer Zusammenbruchsgesellschaft; und man kann sich leicht ausmalen, was in Deutschland passieren würde, wenn bei 27.000 Prozent Inflation monatelang keine Löhne mehr ausgezahlt würden.

Aber der Westen ist auch noch aus anderen Gründen mit seiner Bombenkampagne gegen Serbien unglaubwürdig. Zum einen handelt es sich formal um einen gefährlichen Präzedenzfall: Ohne Mandat der UNO nimmt sich die NATO ein Recht zur Intervention heraus. Die nach dem 2. Weltkrieg mühsam in völkerrechtliche Formen gebrachte gegenseitige Anerkennung der kapitalistischen Staats Leviathane mit ihrer "territorialen Integrität" ist damit nur noch Makulatur; der Verwilderung der internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert wurden Tür und Tor geöffnet. Zum anderen ist die humanitäre Begründung für die Intervention solange moralisch illegitim, wie gleich nebenan der NATO Partner Türkei unter der Minderheit der Kurden Massaker von Kosovo Qualität ganz ungestört veranstalten darf und dafür vom Westen sogar noch die Waffen geliefert bekommt. Offenbar gibt es "gute" und "böse" Schlächter; je nachdem, ob sie auf ihrem Territorium US Kampfflugzeuge stationieren lassen oder nicht.

Das strategische Ziel der NATO bleibt trotzdem unklar. Denn die Weltherrschaft hat der Westen sowieso nur weiß er anscheinend nicht mehr, was er mit dieser von ihm ruinierten Welt eigentlich anfangen soll. Die für den kalten Krieg geschaffenen Institutionen irren auf der Suche nach Feindbildern umher und brüten pathologische Pläne aus, die alles nur noch schlimmer machen. So kann die "demokratische Völkergemeinschaft", geschoben von der Eigendynamik des militärisch industriellen Komplexes, nur noch mit den blutigen Gespenstern kämpfen, die ihr ureigenes Produkt sind.