Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


In: "Jungle World", 27. Januar 1999

Robert Kurz

Terror der Wechselkurse
Das Scheitern des "Plano Real" in Brasilien ist Teil einer globalen Währungskrise.

 

Von Monat zu Monat wird es deutlicher: Der globale Kapitalismus, dessen Vitalität unverdrossen gepriesen wird wie im russischen Fernsehen die geistige Frische von Präsident Jelzin, kommt in Wahrheit aus dem Sanatorium nicht mehr heraus. Während der Patient künstlich beatmet wird, lautet die offizielle Lesart, er könne nicht nur Weltrekord rennen, sondern sich sogar selbst überholen. Die nach diesem grotesken Muster verlaufene Scheintherapie Ende 1994 in der Mexiko-Krise, 1997 in der Asien-Krise und 1998 in der Rußland-Krise soll Anfang 1999 offenbar auch in Brasilien wiederholt werden.

Ein Teil dieser Rezeptur ist die hartnäckig kolportierte Vorstellung, nicht etwa das globale Bezugssystem sei unhaltbar geworden, sondern die Krisen hätten nichts miteinander zu tun, seien "hausgemacht" und stets auf politische "Fehler" und "Versäumnisse" der jeweiligen Regierungen zurückzuführen. Wie man die früher über den grünen Klee gelobten politischen Mandarine der Tigerstaaten plötzlich zu korrupten Despoten erklärt hat, so wird nun zusammen mit dem Real auch der vor kurzem noch für seinen wirtschaftspolitischen Kurs beglückwünschte brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardoso international abgewertet.

Je verbissener aber die herrschenden Mächte leugnen, daß es sich bei der Krise um eine globale Systemfrage handelt, desto deutlicher tritt dieser Tatbestand ans Licht. Der Kollaps des Weltsystems spielt sich auf drei logischen Ebenen ab. An der Basis der kapitalistischen Ökonomie ist das Wachstum der realen Wertschöpfung bereits zum Stehen gekommen, weil die wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte rapide über die moderne Geldwirtschaft hinauswachsen - ablesbar ist dies am
wachsenden Mißverhältnis zwischen den riesigen produktiven Kapazitäten und der abnehmenden Kaufkraft.

Auf der zweiten Ebene des Geldkapitals wird weiteres Wachstum durch den Vorgriff auf eine nie mehr nachfolgende zukünftige Wertschöpfung simuliert - dies manifestiert sich in der Verschuldung von Konsumenten, Unternehmen und Staaten -, die wiederum durch die Schaffung von Geldzeichen ohne reale Wertsubstanz notdürftig über Wasser gehalten wird. Dieses fiktive Geldkapital aber kann seinerseits immer nur in der spezifischen Form von nationalen Währungen existieren, die daher die dritte und letzte Ebene bilden. Die zugrundeliegende Krise des produktiven Kapitals tritt also nach einer gewissen Inkubationszeit als Finanzkrise und diese schließlich als Währungskrise in Erscheinung.

Die jeweiligen nationalen Finanzkrisen nehmen die transnationale Form einer Währungskrise an, wenn die eigene binnenökonomische Geldschöpfung notgedrungen durch den Zufluß von Geldkapital in anderen Währungen ersetzt wird. Diese Möglichkeit entstand erst, als 1973 die Goldbindung des Dollars aufgehoben wurde und das vorher fixierte System der Wechselkurse in unberechenbare Schwankungen überging - ein erstes Indiz für die innere Schranke der Realökonomie. Das
nicht mehr ausreichend produktiv reinvestierbare Geldkapital strömte in die transnationalen Finanzmärkte.

Damit war auch die von dem schwedischen Ökonomen Gustav Cassel (1866 bis 1945) begründete klassische Wechselkurstheorie der Kaufkraftparitäten ausgehebelt, die das Verhältnis der Währungen von den realen internationalen Güterbewegungen abhängig macht. Allerdings hat sich nicht die Theorie von Cassel als falsch erwiesen, sondern der Kapitalismus ist auf seinen eigenen Grundlagen irregulär geworden und falsifiziert sich selbst als positive Realität. Die Ströme des Geldkapitals sind nicht mehr der Ausdruck von realen Warenströmen, sondern umgekehrt ist die Produktion von Gütern nur noch ein Nebenaspekt der quer durch die Währungen um den Globus schwappenden Liquidität.

Dabei sind natürlich keineswegs alle Währungen gleichrangig. Das alte realökonomische Gefälle der Produktivität zwischen Zentren und Peripherie spiegelt sich auch in der neuen Konstellation fiktiver Wertgrößen wider. Auf der einen Seite stehen die drei zentralen Währungen Dollar, Yen und Euro (bisher Deutsche Mark). Auf der anderen Seite befinden sich alle übrigen Währungen, die sich an diesem Maßstab zu messen haben. Das bedeutet, daß die Staaten der Peripherie nur unter erschwerten Bedingungen einen Teil des fluiden transnationalen Geldkapitals auf sich ziehen können, um sich trotz mangelnder Rentabilität ökonomisch am Leben zu erhalten.

Als Länder wie Brasilien in den siebziger und achtziger Jahren in die Schuldenkrise gerieten, da sie ihre internationalen Kredite nicht mehr bedienen konnten, ließen sie die Notenpresse heißlaufen bis zur Hyperinflation. Der vorher fast arbeitslose Internationale Währungsfonds (IWF) verhinderte als Krisenmanager gerade noch eine globale Finanzkatastrophe, weil es gelang, die staatlichen Kredite der Schuldnerländer mit hohen Abschlägen umzuschulden und sie seitdem als "Brady-Bonds" (benannt nach dem damaligen US-Finanzminister) zirkulieren zu lassen.

Der Preis war ein drastischer Verarmungsschub in großen Teilen der Dritten Welt. Das Problem wurde damit nicht gelöst, sondern nur verschoben; denn die Hilfen des IWF sind nichts als zeitweilige Überbrückungskredite. Es geht also immer nur um die Sicherung der akuten Zahlungsfähigkeit für die internationalen Verpflichtungen eines Landes. Das Ganze beruht auf der Fiktion, daß es lediglich eine Lücke im realen Wertschöpfungsprozeß zu "überbrükken" gilt. Daß da nur noch ein riesiges schwarzes Loch gähnt, ist nicht vorgesehen und wird verdrängt. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Geändert hat sich in den neunziger Jahren aber die Form der Verschuldung. Nachdem die langfristigen staatlichen Kreditaufnahmen für nationale Entwicklungsprojekte hyperinflationär gescheitert waren, gingen etliche Länder der Peripherie dazu über, ihre Währungen an den Dollar zu binden. Mit Hilfe dieser "politischen" Wechselkurse zum Dollar und hohen Zinsen wurde kurzfristiges transnationales Geldkapital angelockt, um die eigene Reproduktion zu finanzieren: Investitionen für die Exportindustrialisierung ebenso wie für die Infrastruktur, aber auch für diverse Prestigeobjekte und Konsum.

Im Unterschied zur früheren staatlichen Kreditaufnahme im Ausland strömte das transnationale Geldkapital jetzt auf die inländischen Finanzmärkte, und zwar mit einem wesentlich größeren Volumen als in der Vergangenheit. Auf diese Weise konnten sich sowohl der Staat als auch die Unternehmen und die Konsumenten auf den eigenen Finanzmärkten mit externem Geld verschulden. Die inflationäre Potenz wurde gewissermaßen währungspolitisch ausgetrickst, denn diese Geldmenge erschien weder als irreguläre Geldschöpfung der eigenen Notenbank noch als Aufblähung der in den USA selber zirkulierenden Dollarmenge. Diesen Trick wandten nicht nur die Tigerstaaten an, er war auch die Substanz des 1994 zu Beginn seiner ersten Amtszeit von Cardoso initiierten "Plano Real". Wie durch ein Wunder löste sich die Hyperinflation in Nichts auf.

Der Preis für das durchaus raffinierte Manöver waren die Öffnung der eigenen Märkte und die bedingungslose Auslieferung an die transnationalen Investmentfonds. Und das bedeutete auch, den künstlichen "politischen" Wechselkurs unter allen Umständen verteidigen zu müssen. Aber die Kosten der Kapitalzuflüsse überstiegen schon bald wieder die Erlöse der damit finanzierten Projekte, ganz wie in der Vergangenheit. Nur nahm die Krise eine andere Verlaufsform an; sie machte sich jetzt als erbarmungsloser Druck auf die künstlich überbewerteten Währungen der "Emerging Markets" bemerkbar.

Der Zusammenbruch der Tigerländer und Rußlands schlug rasch auf Lateinamerika und besonders Brasilien zurück, weil das transnationale Geldkapital zur Flucht ansetzte: Brasilien mußte den Kurs des Real durch seine Devisenreserven stützen (sie sanken binnen weniger Monate von 75 auf zuletzt 30 Milliarden Dollar) und mit einer extremen Hochzinspolitik von zeitweilig 50 Prozent die Binnenkonjunktur abwürgen; der Bovespa-Index der Börse in S‹o Paulo fiel dabei um 75 Prozent unter den Höchststand der Aufschwungphase. Es war zu erwarten, daß Brasilien schließlich ebenso wie vorher die Tigerländer und Rußland kapitulieren und trotz eines Hilfspakets des IWF den Kurs des Real freigeben mußte (inzwischen hat er mehr als 30 Prozent auf den Dollar verloren).

Im Unterschied zu Asien und Rußland war die erste Reaktion auf den Zusammenbruch merkwürdigerweise fast euphorisch: An einem einzigen Tag stieg der Bovespa-Index um mehr als 30 Prozent. Doch daran zeigt sich nur das kurze Gedächtnis der Akteure und die irrationale Verfassung der Finanzmärkte. Zwar unterscheidet sich die Situation Brasiliens tatsächlich in einigen Punkten von derjenigen in den Tigerstaaten und Rußland. So ist der brasilianische Binnenmarkt größer und teilweise auch weniger vom Zufluß transnationalen Geldkapitals abhängig. Auch war es klug von der Cardoso-Administration, im Gegensatz etwa zu Thailand oder Südkorea, den "politischen" Wechselkurs nicht sinnlos zu verteidigen, sondern sich rechtzeitig zurückzuziehen - und somit einen Rest an Handlungsspielraum zu erhalten.

Aber die grundsätzlichen Probleme bleiben ungelöst. Es zeugt mehr von Verdrängung als von Einsicht in die reale Situation, wenn dem Zusammenbruch des "politischen" Wechselkurses plötzlich positive Seiten abgewonnen werden: Die brasilianische Zentralbank könne jetzt die Zinsen senken, die Abwertung ermögliche einen Exportboom. Wenn das so ist - warum hat es dann den "Plano Real" überhaupt gegeben?

Die Berufsoptimisten ignorieren einfach die niemals überwundenen Ausgangsbedingungen. Die Ursache für die Hochzinspolitik ist nicht verschwunden, weil Brasilien von den 1999 für die Emerging Markets schätzungsweise zur Verfügung stehenden 180 Milliarden Dollar transnationalen Geldkapitals allein schon 40 Prozent benötigt - immer unter der unwahrscheinlichen Voraussetzung, daß es keine weiteren Kriseneinbrüche mehr gibt!

Da die Stabilität der Wechselkurse nicht mehr existiert, können die Zinsen gar nicht so weit gesenkt werden, wie es für eine Ankurbelung der Binnenkonjunktur nötig wäre. Auch die exportfördernde Wirkung des abgewerteten Real wird sich wegen der sinkenden Aufnahmefähigkeit des Weltmarkts in Grenzen halten

Völlig irreal ist es, in dem gestiegenen Haushaltsdefizit Brasiliens die angebliche "selbstverschuldete Ursache" der Krise zu sehen und blauäugig die Einhaltung von rigiden Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen einzufordern. In der gegenwärtigen schweren Rezession ist es tödlich, wenn der Staat auch noch an der Steuerschraube dreht und gleichzeitig einen Teil seiner Investitions- und Konsumausgaben einstellt. Das staatliche Defizit bedeutet nirgendwo auf der Welt nur Korruption; es ist direkt oder indirekt auch Nachfrage und Leben für Millionen von Menschen, die sowieso schon auf einem elenden Niveau existieren müssen. Wenn es mit steigendem Defizit nicht mehr geht, dann ohne steigendes Defizit erst recht nicht. Das überall gescheiterte Patentrezept des IWF gleicht der Aufforderung an einen Schiffbrüchigen, im Interesse seiner Rettung zuerst einmal Selbstmord zu begehen.

Damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt angelangt: Es gibt keine geld- und währungspolitische Lösung, weil die Grundlagen des modernen warenproduzierenden Systems selber zur Disposition stehen. Deshalb werden sich die Krisen der ehemaligen Emerging Markets weiterhin gegenseitig hochschaukeln und von Kontinent zu Kontinent übergreifen: China ist schon der nächste Kandidat, wie der Milliardenkonkurs der Investmentgesellschaft Gitic gezeigt hat.

Wenn das transnationale Geldkapital mangels Sicherheit abgezogen wird, lassen die Dollarverschuldung von Staat und Unternehmen ebenso wie die notdürftige Erhaltung einer Binnenökonomie nur noch eine Option zu: nämlich die Notenpresse wieder anzukurbeln. Sobald aber mitten in der Rezession paradoxerweise die Hyperinflation zurückkehrt, wird der Funke der Währungskrise endlich auch auf die drei Schlüsselwährungen überspringen. Ein Narr, wer dabei einen "Sieger" erwartet.

Der redaktionell leicht gekürzte Beitrag erscheint demnächst in der brasilianischen Tageszeitung Folha de Sao Paulo.