Robert Kurz
Die Virtualisierung der
Ökonomie
Transnationale Finanzmärkte und die Krise der Regulation
Der Sieg der Virtualität
über die Realität wird unter dem Eindruck von Computerisierung und
neuen Medien schon seit 20 Jahren in den Kulturwissenschaften diskutiert. Wenn
der virtuelle Raum die materielle Realität beherrscht und so eine Realität
zweiter Ordnung hervorbringt, dann ist das allerdings weniger ein Problem der
technischen Kommunikationsmittel als vielmehr ein Problem der Ökonomie.
Nichts ist heute so virtuell wie das weltumspannende Netz der Finanzmärkte.
Das bedeutet schlicht, daß zwischen der Produktion realer Güter und
der Bewegung der Finanzmärkte kein innerer Zusammenhang mehr besteht. Wie
die kapitalistische Industrie des 20. Jahrhunderts eine materielle Welt nach
ihrem Bilde geschaffen hat, so schafft am Ende dieses Jahrhunderts das virtuelle
Kapital der Finanzmärkte ein industrielles System nach seinem Bilde und
damit eine Ökonomie zweiter Ordnung.
Hinter dieser Entwicklung stand ursprünglich die ökonomische Transformation
der Industrie selbst. Natürlich wird der materielle Lebensprozeß
nach wie vor von den industriellen Waren bestimmt, aber deren Produktion erfordert
immer weniger Verausgabung von menschlicher Energie. Die ökonomischen Formen
des modernen warenproduzierenden Systems beruhen aber darauf, daß die
Waren verausgabte gesellschaftliche Energie repräsentieren. Um diesen Widerspruch
zu vermeiden, hat die offizielle ökonomische Wissenschaft schon längst
die falsche Schlußfolgerung gezogen, jede objektive ökonomische Substanz
der Warenproduktion abzuleugnen und den Wert der Waren in subjektiven Schätzungen
des Nutzens für die Individuen aufgehen zu lassen. Dennoch werden die sozialen
Beziehungen weiterhin durch die wechselseitige Verausgabung menschlicher Energie
("Leistung") definiert. Auf diese Weise entsteht ein absurdes Verhältnis:
auf der einen Seite wird die Verausgabung der Energie von immer mehr in der
Gegenwart lebenden Menschen kapitalistisch unbrauchbar, auf der anderen Seite
muß das Kapital eben deswegen auf die virtuelle Vernutzung virtueller
menschlicher Energie in einer virtuellen Zukunft zurückgreifen.
Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat diese Tendenz zu einer schleichenden,
aber unerbittlichen Verschiebung im Verhältnis von Industriekapital und
Finanzkapital geführt. War das Finanzkapital zwischen 1850 und ungefähr
1910 eher ein sekundärer Sektor, auch wenn es kleinere spekulative Krisen
gab, während das industrielle Kapital die Entwicklung bestimmte, so kehrte
sich das Verhältnis in den folgenden Jahrzehnten um. Sowohl die infolge
der technischen Entwicklung ständig mit größeren Kosten verbundene
Vorfinanzierung der industriellen Produktion als auch die ständig erweiterten
Aufgaben des Staates für den kapitalistisch notwendigen gesamtgesellschaftlichen
Konsum (Infrastruktur, soziale Sicherung, Rüstung usw.) konnten nicht mehr
aus dem Rückfluß der industriellen Gewinne bezahlt werden. Deshalb
wurden sowohl die Unternehmen als auch die Staaten zunehmend vom virtuellen
Vorgriff auf zukünftige Einnahmen abhängig (Kredit in verschiedenen
Formen).
Diese Entwicklung führte zu zwei einschneidenden Konsequenzen. Erstens
mußten die Währungen vom Goldstandard und damit von jeder objektiven
(substantiellen) Deckung entkoppelt werden. Zweitens verschob sich das Zentrum
des Kapitalismus von den industriellen Konzernen auf das Bankensystem. Trotzdem
war diese Form der Virtualisierung noch rückgekoppelt auf die alte industrielle
Gesellschaft. Das Finanzkapital mußte sich wirklich in industriellen und
staatlichen Investitionen inkarnieren, also auch langfristig festlegen, um Rendite
erzielen zu können. Es handelte sich noch um die Anbindung der virtuellen
kapitalistischen Zukunft an die Gegenwart, also um einen Mechanismus, der die
erste (industrielle) Realität bloß verlängerte. Deshalb war
die Entwicklung der Börsenkurse auch tatsächlich noch an den virtuell
vorweggenommenen industriellen Geschäftserfolg gebunden. Und aus demselben
Grund blieb das Finanzkapital, das die Industrie dominierte, auch auf die nationalen
Systeme der Geschäftsbanken zentriert. Der internationale Kapitalverkehr
wurde über diese Banken vollzogen und unterlag den Regulations- und Kontroll-Mechanismen
der jeweiligen Nationalstaaten.
Ungefähr seit Anfang der 80er Jahre ist aber die Virtualisierung des Finanzkapitals
in eine qualitativ neue Entwicklungsstufe eingetreten. Den Hintergrund bildet
wiederum eine neue Transformation der Industrie selbst. Denn die mikroelektronische
Technologie führt zu einem qualitativen Sprung in der ökonomischen
Virtualisierung industrieller Waren. Als technische Produkte und Gebrauchsgüter
sind sie nach wie vor handfest materiell, aber als Waren (das heißt als
Gegenstände einer gesellschaftlichen Form) repräsentieren sie unter
den neuen technischen Bedingungen so wenig verausgabte menschliche Energie,
daß sie gewissermaßen nur noch virtuelle Waren darstellen. Die logische
Konsequenz kann nur sein, daß sich das Finanzkapital von jeder Rückkoppelung
auf das industrielle System losreißt und nicht mehr dessen virtuelle Zukunft
repräsentiert, sondern nur noch seine eigene.
Diese neue Stufe der Virtualisierung in zweiter Potenz führte abermals
zu einschneidenden Konsequenzen. Hatte sich das Zentrum des Kapitalismus zwischen
1910 und 1980 von den industriellen Konzernen auf das Bankensystem verschoben,
so verschiebt es sich seitdem von den Geschäftsbanken auf die großen
Investmentfonds. Dabei handelt es sich aber nicht mehr darum, die erste Realität
der industriellen Wertschöpfung zu verlängern. Nur dem äußeren
Schein nach haben wir es noch mit einer virtuellen Vorwegnahme zukünftiger
industrieller Erfolge zu tun. Als Seismograph für die zukünftige Tendenz
der industriellen Wertschöpfung ist die Bewegung des neuen Finanzkapitals
inzwischen ungefähr so sinnvoll wie ein Höhenmesser in einer Rakete
auf dem Weg zum Mars. Gleichzeitig ist dieses Fondskapital, das nun die traditionellen
Formen des Finanzkapitals dominiert, nicht mehr an den nationalstaatlichen Bezugsrahmen
gebunden. Mit Hilfe der weltumspannenden, über Satellit vernetzten elektronischen
Medien kann es in Echtzeit von jedem beliebigen Ort der Erde zu jedem beliebiegen
anderen Ort transferiert werden. Die Bewegung des Fondskapitals stellt keinen
internationalen Kapitalverkehr durch die Vermittlung national zentrierter Geschäftsbanken
mehr dar, sondern es ist von Haus aus transnationales Finanzkapital, das auf
einer Ebene zweiter Ordnung gewissermaßen "über" oder jenseits
des traditionell investierten und an den nationalen Bezugsrahmen gebundenen
Finanzkapitals agiert. Deshalb hüpft das transnationale Fondskapital auch
leicht über alle nationalstaatlichen Regulationsformen und Kontrollmechanismen
hinweg.
Das bedeutet auch, daß sich dieses neue Finanzkapital nicht mehr selber
in industriellen Anlagen inkarniert. Natürlich wurde auch das traditionelle
Finanzkapital in Form von Wertpapieren gehandelt und war insofern beweglich,
aber diese Bewegung blieb eben direkt auf die industrielle Rendite bezogen.
Als Virtualität zweiter Ordnung ist das transnationale Fondskapital aber
nicht mehr auf die industrielle Rendite bezogen, sondern auf die Virtualität
erster Ordnung. Mit anderen Worten: es handelt sich also um die Kapitalisierung
der "Erwartungen von Erwartungen" ohne jeden eigenen Bezug zur industriellen
Realität. Dieses potenzierte Derivat des traditionellen Finanzkapitals
ist allerdings eben nur die Kehrseite davon, daß sich die industriellen
Produkte selber ökonomisch virtualisieren.
Daraus folgt, daß auch die realen industriellen Investitionen und alle
übrigen Formen der gesellschaftlichen Reproduktion Bestandteil der Virtualisierung
werden. Das transnationale Fondskapital vermehrt sich nicht durch industrielle
Gewinne, sondern durch Kurssteigerungen der Wertpapiere. Dieser Bezug geht weit
über die traditionelle Spekulation hinaus. Denn auch die realen Investitionen
werden nicht mehr aus dem Rückfluß industrieller Gewinne bezahlt,
sondern indirekt aus den Kurssteigerungen. Das industrielle Management muß
dafür sorgen, daß um jeden Preis die Kurse steigen, auf diese Weise
transnationales Fondskapital angelockt wird, dadurch die Kurse weiter steigen
usw. Ist dieser Mechanismus einmal in Gang gekommen, kann das industrielle Management
Kredite aufnehmen, um damit reale Investitionen zu bezahlen. Aber die "Sicherheit"
für diese Kredite, also das, was eigentlich beliehen wird, ist weder ein
substantieller industrieller Wert noch die zu erwartende Erzeugung dieses Werts,
sondern allein der vorhandene und der zu erwartende Zufluß von transnationalem
Fondskapital.
Das gilt nicht nur für die realen Investitionen, sondern auch für
einen wachsenden Teil des Konsums. Je mehr die private Geldanlage, auch die
kleine, von traditionellen Formen der Ersparnisse (einschließlich der
Altersversicherung) auf das Fondskapital übergeht, desto mehr vergrößert
sich auch der Anteil der Konsumentenkredite, bei denen nicht mehr das reale
Einkommen der Leute aus industriellen oder sonstigen Löhnen verpfändet
wird, sondern der virtuelle Gewinnanteil aus den Fonds. Dasselbe gilt zunehmend
auch für die Einnahmen des Staates. Wenn der Staat Kredite aufnimmt und
dafür zukünftige Steuereinnahmen verpfändet, dann waren diese
Steuern in der Vergangenheit aus realen industriellen Löhnen und Gewinnen
abgeschöpft. Die Steuern bildeten somit das reale Moment gegenüber
dem virtuellen des Kredits. Je mehr aber die realen industriellen Investitionen
und der reale Konsum selber schon aus einem Kredit auf bloß virtuelle
Einkünfte bezahlt werden, desto mehr sind natürlich auch die darauf
erhobenen Steuereinnahmen des Staates nur noch virtuell fundiert. Das Kreditsystem
ist kein Scharnier mehr zwischen realer Wertschöpfung und deren virtueller
Vorwegnahme, sondern nur noch zwischen verschiedenen Ebenen der virtuellen Ökonomie
selbst.
Die gesamte scheinbar reale Ökonomie mit ihrem materiellen Sachkapital
und ihren Produkten, die industriellen und staatlichen Investitionen ebenso
wie der Konsum stellen also in wachsendem Maße nur noch eine Fassade dar,
die allein durch den Zufluß von transnationalem Fondskapital aufrecht
erhalten wird. Das ist der wahre Kern der sogenannten Globalisierung. Da das
Fondskapital aber nicht auf reale industrielle Gewinne bezogen und an keinerlei
nationale Regulations- und Kontrollmechanismen gebunden ist, kann es in jedem
Moment plötzlich abgezogen werden. In diesem Fall bricht die Fassade der
scheinbar realen Ökonomie innerhalb kürzester Zeit zusammen. Den soeben
noch "gesund" aussehenden Unternehmen, Privatleuten und Staaten droht
der schlagartige Ruin, weil der nicht mehr real fundierte Kredit ebenso schnell
entwertet wird. Umgekehrt kann die zusammengebrochene Fassade wie im Zeichentrickfilm
in ebenso kurzer Zeit wieder auferstehen, sobald das abgezogene transnationale
Fondskapital zurückfließt.
Es hat natürlich nichts mehr mit irgendeinem Bezug auf reale industrielle
Wertschöpfung zu tun, wenn zum Beispiel die brasilianische Börse in
wenigen Wochen 70 Prozent ihres Wertes einbüßt, um dann von dem auf
Tiefstände zurückgeworfenen Niveau aus innerhalb weniger Monate wieder
100 Prozent zuzulegen. Ähnliches gilt für die wilde Schaukelbewegung
der asiatischen Börsen. Was beschönigend als "Volatilität"
bezeichnet wird, ist die Folge der Virtualisierung: im virtuellen Raum findet
jede Bewegung sozusagen mit Lichtgeschwindigkeit statt und ist von zufälligen
Ereignissen bestimmt. Weil das transnationale Fondskapital als ökonomische
Virtualität zweiter Ordnung nicht mehr an die Schwerkraft realer industrieller
Wertschöpfung gebunden ist, bestimmen subjektive Interpretationen, mediale
Inszenierungen, Gerüchte und beliebige Äußerungen von Politikern,
Notenbankern oder Fondsmanagern den Fluß des Fondskapitals nicht bloß
im Bereich von Tagesschwankungen, sondern grundsätzlich. Für die gesamte
gesellschaftliche Reproduktion erwächst daraus eine extreme Unsicherheit.
Ein einziges unbedachtes Wort von Mr. Greenspan kann ganze Länder ruinieren.
Diese Unsicherheit und Willkür in der Bewegung des transnationalen Fondskapitals
ist natürlich ein Skandal. Nachdem alle Versuche gescheitert sind, diese
neue Form des Finanzkapitals durch traditionelle nationalstaatliche Regularien
zu einem stabilen Verhalten zu veranlassen, mehren sich nun die Stimmen, die
neue internationale Regulationsformen einfordern. Dabei wird die bisherige massive
Deregulierung der Finanzmärkte, wie sie unter dem Druck des neoliberalen
Konsens in den 80er und 90er Jahren betrieben wurde, mehr oder weniger als politischer
Fehler betrachtet. Inzwischen spricht sich sogar der IMF grundsätzlich
dafür aus, die weltweite Bewegung des transnationalen Fondskapitals neuen
Formen der Regulation und Kontrolle zu unterwerfen.
Aber nicht zufällig bleiben alle derartigen Überlegungen unbestimmt
und unkonkret. Vordergründig ist dieser mangelnde Nachdruck institutionellen
Gründen geschuldet: der Sachlage entsprechend könnte sich eine solche
Kontrolle nicht auf internationale Absprachen beschränken, sondern müßte,
um wirksam zu sein, selber transnationalen Charakter annehmen; aber im Unterschied
zum transnationalen Fondskapital gibt es keine transnationale politische Instanz.
Gleichzeitig verweigern sich die USA als letzte Weltmacht im Gegensatz zu vielen
Regierungen in Europa, Asien und Lateinamerika jeder Diskussion über neue
Kontrollmechanismen. Das hat keineswegs nur ideologische Gründe. Denn das
US-"Wunder" einer permanenten Hochkonjunktur und die Verwandlung von
255 Milliarden Dollar Staatsdefizit jährlich in einen Überschuß
von 70 Milliarden Dollar sind allein das Resultat hoher zusätzlicher Einnahmen
von Unternehmen, Staat und Privaten, die in einer Größenordnung wie
in keinem anderen Land aus der virtualisierten Ökonomie ständiger
Kurssteigerungen der Börse stammen und nicht aus realer industrieller Wertschöpfung.
Deshalb haben die USA als letzte Instanz und Auffangbecken der globalen Virtualisierung
kein Interesse an Kontrollmechanismen, die das transnationale Fondskapital in
anderen Ländern festhalten würden. Jede Krise der Finanzmärkte
anderswo ist Wasser auf die Mühlen ihres Glücks, weil die Fonds immer
hauptsächlich in die USA als "rettenden Hafen" flüchten.
Aber der Versuch globaler Finanzmarkt-Kontrollen würde auch dem Charakter
der Virtualisierung widersprechen, die man eben nicht per Dekret in reale Wertschöpfung
umdefinieren kann. Das Ende der virtuellen Ökonomie kommt erst, wenn die
zentrale Börse in New York platzt, denn von dort können die Fonds
nirgendwohin mehr fliehen (wenn New York platzt, muß auch alles andere
platzen). In diesem Fall stehen freilich andere Probleme auf der Tagesordnung
als die politische Kontrolle eines virtualisierten Geldkapitals, das es dann
nicht mehr gibt.