Robert Kurz
Wer ist totalitär?
Die Abgründe eines ideologischen Allzweck-Begriffs
Das Wort "Totalitarismus"
ist für die westliche politische Philosophie zu einer Art Kinderschreck
geworden. Als totalitär gilt immer das, was Marktwirtschaft und Demokratie
nicht sind: der ausschließliche Anspruch einer Partei auf die politische
Herrschaft; ein zentralistischer bürokratischer Apparat; die Unterdrückung
jeder Opposition; ein unbegrenztes Machtsystem, das alle Lebensbereiche gleichschaltet
und sogar die Intimität durchdringt. Die Demokratie dagegen, so heißt
es, läßt jeden nach seiner Fasson selig werden: sie lechzt geradezu
nach Opposition; der Pluralismus der Ideen und der Lebensentwürfe wird
geachtet; der Raum des Privaten bleibt für die gesellschaftliche Macht
tabu und die Menschen dürfen in Frieden verschieden sein. Die Geschichte
des 20. Jahrhunderts kann auf diese Weise als fundamentaler Konflikt zwischen
liberaler Demokratie und totalitärer Diktatur begriffen werden. So steht
es jedenfalls in den westlichen Lehrbüchern. Aus dieser Sicht waren in
der Vergangenheit die Diktaturen von Hitler und Stalin totalitär; und heute
sind es vielleicht die "Gottesstaaten" des islamischen Fundamentalismus.
Auf jeden Fall gilt der Totalitarismus als ein der westlichen Freiheit fremdes
und feindliches Denken, dessen dunkle Existenz jederzeit als drohende Gefahr
beschworen werden kann.
Es fällt auf, daß in dieser "Totalitarismustheorie" von
den beiden polaren Sphären der modernen Gesellschaft nur die staatlich-politische
benannt wird, während die ökonomische völlig ausgeblendet bleibt.
In diesem Sinne kann es nur einen totalitären Staat geben, aber anscheinend
keine totalitäre Ökonomie, keine totalitäre Produktionsweise,
keinen totalitären Markt. Das Axiom dieser höchst einseitigen Betrachtung
besteht darin, daß eigentlich nur Staat und Politik in den Bereich des
Gesellschaftlichen fallen, während die Ökonomie - wie schon im 18.
Jahrhundert die Physiokraten und Adam Smith postulierten - angeblich der "Natur"
angehört und insofern aus der Gesellschaftstheorie im strengen Sinne herausfällt.
"Naturgesetze" aber können nicht totalitär und keine Bedrohung
der Freiheit sein, sondern man muß sie hinnehmen wie das Wetter. Mit diesem
plumpen Trick hat der Liberalismus von Anfang an versucht, das ökonomische
Zentrum der Moderne einer kritischen Reflexion völlig unzugänglich
zu machen. Gleichzeitig kann auf diese Weise die Tatsache stumm bleiben, daß
die totalitären Diktaturen der Zwischenkriegszeit zumindest eines mit der
Demokratie gemeinsam hatten - nämlich die ökonomischen Formen des
modernen warenproduzierenden Systems.
Der Begriff der Totalität stammt aus der Philosophie des 19. Jahrhunderts.
Besonders bei Hegel ist damit der Anspruch verbunden, die Welt unter einen "totalen
Begriff" zu subsumieren, sie also restlos zu begreifen. Es fällt nicht
schwer, den gesellschaftlichen Hintergrund dieses Denkens darin zu erkennen,
daß Mensch und Natur "total" der kapitalistischen Gesellschaftsmaschine
unterworfen werden sollen, um idealtypisch jedes Atom, jeden Gedanken und jede
Empfindung in das Material des Verwertungsprozesses zu verwandeln. Es ist also
eigentlich die ökonomische Logik des Kapitalismus, die den totalitären
Anspruch erhebt; und mit der ideologischen Verwandlung dieses Anspruchs in ein
"Naturgesetz" versucht der Liberalismus nur, seinen eigenen diktatorischen
Kern unsichtbar zu machen. Wie Henry Ford sagte, daß die Käufer sein
standardisiertes "Modell T" in jeder beliebigen Farbe erwerben könnten,
wenn sie nur schwarz sei, so läßt der liberale Pluralismus alle Gegenstände
und Ideen gelten, wenn sie nur verkäuflich gemacht werden können.
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war dieser ökonomische Totalitarismus
noch bei weitem nicht vollendet. Es gab noch Elemente einer älteren agrarischen,
hauswirtschaftlichen und auch genossenschaftlichen Produktionsweise; und es
gab kulturelle Lebensbereiche, die sich der abstrakten Raumzeit des Kapitalismus
sperrten. Um die Individuen vollständig zum Menschenmaterial der kapitalistischen
Maschine zu machen, bedurfte es zuerst einer politischen Mobilisierung der Massen:
die politische Sphäre bekam in dieser Epoche ein "überschüssiges"
Moment, sie wurde gewissermaßen aufgeladen, um als eine Art Durchlauferhitzer
für die Vollendung des ökonomischen Totalitarismus zu dienen.
Als stärkster Treibsatz wirkte dabei die Fortsetzung der Massenpolitik
durch die militärische Mobilisierung. Es waren die Schützengräben
des Ersten Weltkriegs, in denen der demokratische Prototypus geschaffen wurde.
In seinem berühmten Kriegsroman "Im Westen nichts Neues" schrieb
der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque: "Die Unterschiede, die
Bildung und Erziehung schufen, sind fast verwischt und kaum noch zu erkennen...Es
ist, als ob wir früher einmal Geldstücke verschiedener Länder
gewesen wären; man hat sie eingeschmolzen, und alle haben jetzt denselben
Prägestempel". Die demokratische Gleichheit vor dem Geld, die bis
dahin nur unzureichend durchgesetzt war, konnte nicht anders als in der Form
einer Gleichheit des Todes und der Verstümmelung in den "Blutmühlen"
des Weltkriegs vorbereitet werden. Diese Urform der Demokratie im 20. Jahrhundert
schenkte den Individuen endlich die Gleichheit von - Einzelexemplaren.
Unter bestimmten historischen Bedingungen wie in Rußland und Deutschland
nahm die Fortsetzung dieses gesellschaftlichen Prozesses die Form der totalitären
Massenbewegung und der Diktatur an; aber auch in den USA war die Mobilisierung
des "New Deal" von Massenaufmärschen, Fackelzügen und Effekten
politischer Propaganda-Shows begleitet. Es ging darum, die Gesellschaft "total"
zu erfassen und "auf Trab" zu bringen, weit über die unmittelbaren
politischen und militärischen Ziele hinaus. Der deutsche Schriftsteller
Ernst Jünger prägte dafür 1934 den Begriff der "totalen
Mobilmachung". Er ordnete die bloß "partielle Mobilmachung"
dem "Wesen der Monarchie" zu, die, wie er sagte, "ihr Maß
in demselben Verhältnis überschreitet, in dem sie gezwungen wird,
die abstrakten Formen des Geistes, des Geldes, des >Volkes<, kurzum die
Mächte der heranwachsenden Demokratie, an der Rüstung zu beteiligen".
Jünger sah deshalb in der westlichen Demokratie vor allem einen höheren
Grad der Ausschöpfung aller gesellschaftlichen Reserven: "So konnte
die Mobilmachung in den Vereinigten Staaten, einem Lande von sehr demokratischer
Verfassung, mit Maßnahmen von einer Schärfe einsetzen, wie sie im
Militärstaate Preußen...nicht möglich gewesen wäre...Schon
in diesem Kriege kam es nicht auf den Grad an, in dem ein Staat Militärstaat
war oder nicht, sondern auf den Grad, in dem er zur totalen Mobilmachung befähigt
war".
Daß es sich dabei um einen über das Militärische weit hinausreichenden
Vorgang handelte, war auch dem deutschen Weltkriegs-General Ernst Ludendorff
bewußt, der 1935 in einem Traktat über den "totalen Krieg"
schrieb: "Der totale Krieg, der nicht nur Angelegenheit der Streitkräfte
ist, sondern auch unmittelbar Leben und Seele (!) jedes einzelnen Mitgliedes
der kriegführenden Völker berührt, war geboren...Der totale Krieg
hat seitdem mit der Verbesserung und Vermehrung der Flugzeuge, die Bomben aller
Art, aber auch Flugblätter und sonstiges Propagandamaterial über die
Bevölkerung abwerfen, und durch Verbesserung und Vermehrung der Rundfunkanlagen,
die Propaganda feindwärts verbreiten, und anderes mehr, noch an Vertiefung
gewonnen".
Wenn der geheime Sinn dieser "totalen Mobilmachung" aber letzten Endes
darin bestand, den totalitären Anspruch der kapitalistischen Ökonomie
durchzusetzen, dann kann die politisch-militärische "Bewegung"
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts leicht als Vorstufe und Transformation
zur Entfesselung des "totalen Marktes" seit 1950 dechiffriert werden.
Aus den "Bomben aller Art, Flugblättern und sonstigem Propagandamaterial"
bei Ludendorff ist in den kommerziellen Nachkriegs-Demokratien das pausenlose
Trommelfeuer der Werbung und medialen Berieselung geworden, das als visueller
Andrang und akustische Glocke den gesamten öffentlichen Raum erfaßt
und insofern terroristischen Charakter trägt, als sich niemand diesem unendlichen
Gesabber und seiner unverschämten Zudringlichkeit entziehen kann. Was hier
"feindwärts verbreitet" wird (und der "Feind" sind
alle allen im permanenten Krieg um Kundschaft, Arbeitsplätze, Karrieren,
Prestige usw. in einer vollständig durchkapitalisierten Welt), das übertrifft
in jeder Hinsicht die militärischen Anfänge im "totalen Krieg"
zwischen 1914 und 1945.
Der Begriff des Totalitarismus läßt sich so gegen den Strich der
westlichen Legitimationsideologie bürsten. Das fällt besonders bei
einem Klassiker der "Totalitarismustheorie" auf, dem 1951 erschienenen
Buch der US-Philosophin Hannah Arendt über "Elemente und Ursprünge
totaler Herrschaft". Sie schreibt dort: "Nichts ist kennzeichnender
für die totalitären Bewegungen im allgemeinen und für die Qualität
des Ruhmes ihrer Führer im besonderen als die verblüffende Schnelligkeit,
mit der sie vergessen, und die verblüffende Leichtigkeit, mit der sie ausgewechselt
werden können...Diese Bestandlosigkeit hat sicher etwas zu tun...mit der
Bewegungssüchtigkeit totalitärer Bewegungen, die sich überhaupt
nur halten können, solange sie in Bewegung bleiben und alles um sich herum
in Bewegung versetzen...gerade diese außerordentliche Umstellungsfähigkeit
und Kontinuitätslosigkeit ist, wenn es überhaupt so etwas gibt wie
einen totalitären Charakter oder eine totalitäre Mentalität,
zweifellos ein hervorragendes Merkmal...".
Hannah Arendt hat hier nur die staatlich-politische Seite des Totalitarismus
im Auge, also die Diktaturen der Zwischenkriegszeit. Aber nur scheinbar steht
die gesichtslose, von den Diktaturen oder demokratischen Übergangsformen
politisch-militärisch mobilisierte Masse der ersten Jahrhunderthälfte
im Gegensatz zum kommerziellen Kult des ebenso gesichtslosen Individuums als
"Verbraucher" in den Nachkriegsdemokratien. Vielmehr kann das eine,
die in den Aufmärschen mobilisierte Masse, als die Einübung des anderen,
des isolierten Konsumenten-Individuums, verstanden werden. Das "freie"
demokratische Nachkriegs-Individuum ist nichts anderes als das ursprünglich
von der politisch-militärischen Maschine genormte und gepreßte "Exemplar",
das nur losgelassen wurde, um für den weiteren kommerziellen Gang der kapitalistischen
Weltmaschine verfügbar zu sein.
In ihrer (1951 verständlichen) Fixiertheit auf die staatstotalitären
Diktaturen übersieht Hannah Arendt völlig, wie sehr ihre Formulierungen
über das Wesen des Totalitarismus exakt den Charakter des totalitär
werdenden Marktes und damit der westlichen Demokratie selber treffen. Denn die
"verblüffende Schnelligkeit des Vergessens" - worauf träfe
diese Kennzeichnung besser zu als auf die kapitalistischen Konjunkturen, die
keine menschliche Entwicklung mehr sind, sondern nur noch der Durchgang gleichgültiger
Inhalte durch die Bewegung des Geldes? Die "Leichtigkeit der Auswechslung"
- was wäre damit präziser benannt als die zum Gegenstand reduzierte
Persönlichkeit universell auswechselbarer Menschen? Und was könnte
"bewegungssüchtiger" sein als der Kapitalismus selbst, der sich
als ökonomisches Schneeballsystem in der Tat "nur halten kann, solange
er in Bewegung bleibt und alles um sich herum in Bewegung versetzt"? Wo
wäre "außerordentliche Umstellungsfähigkeit" eine
größere Tugend als in der demokratischen Weltmarktwirtschaft, wie
wir es ja gerade heute wieder gepredigt bekommen von den Einpeitschern der permanenten
"Anpassung" an einen blinden "Strukturwandel"? Und was schließlich
könnte eine radikalere "Kontinuitätslosigkeit" repräsentieren
als der geschichtslose universelle Markt, der in einer Art von zeitlosem Nirwana
seine immergleiche Bewegung vollzieht?
Noch deutlicher wird diese Entsprechung, wenn Hannah Arendt das "Bewegungsgesetz"
des Totalitarismus präziser zu erfassen sucht: "Hinter dem Anspruch
auf Weltherrschaft, den alle totalitären Bewegungen stellen, liegt immer
der Anspruch, ein Menschengeschlecht herzustellen, das aktiv handelnd Gesetze
verkörpert, die es sonst nur passiv, voller Widerstände und niemals
vollkommen erleiden würde...Die Friedhofsruhe, die nach klassischer Theorie
die Tyrannis über das Land legt..., bleibt dem totalitär regierten
Land so verwehrt wie Ruhe überhaupt. Zwar sind seine Bewohner allen in
freier Spontaneität entspringenden Handelns...beraubt; dennoch werden sie
in dauernder Bewegung gehalten als Exponenten des gigantisch übermenschlichen
Prozesses von Natur oder Geschichte, der durch sie hindurchrast...Terror in
diesem Sinne ist gleichsam das >Gesetz<, das nicht mehr übertreten
werden kann...".
Was hier als Essenz des Totalitarismus angeprangert wird, ist aber nichts anderes
als die Essenz des Liberalismus selbst. Denn es war ja niemand anders als die
Creme der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre und Aufklärungsphilosophie,
die von Anfang an für sich in Anspruch genommen hatte, "die Gesetze
von Natur und Geschichte" an den Menschen zu exekutieren. Und es ist der
total gewordene Kapitalismus, der die Bewohner des sozialen Raumes, in dem er
herrscht, "allen in freier Spontaneität entspringenden Handelns beraubt";
denn alle Tätigkeit ist in diesem Raum axiomatisch formatiert durch den
ökonomischen Imperativ. Noch weitaus unbarmherziger als von den staatstotalitären
Diktaturen werden die ökonomisierten Individuen vom freien Weltmarkt "in
dauernder Bewegung gehalten als Exponenten des gigantisch übermenschlichen
Prozesses" von Strukturbrüchen einer blinden Wachstumsdynamik, die
"durch sie hindurchrast" und von den neoliberalen Ideologen als objektiver
"Prozeß von Natur und Geschichte" ausgegeben wird.
In Wahrheit haben wir es durchaus mit einer Kontinuität der kapitalistischen
Geschichte zu tun, in der die staatstotalitären Diktaturen und die "totale
Mobilmachung" der Weltkriege nicht ein fundamentales Gegenmodell, sondern
einen bestimmten historischen Aggregatzustand und eine Durchsetzungsform von
"Marktwirtschaft und Demokratie" selbst darstellten: Die Gesellschaft
als Ganzes wurde in eine beschleunigte Bewegung auf allen Ebenen und Gebieten
versetzt, um die beschleunigte und verdichtete Akkumulation des Kapitals tragen
zu können. Die Transformation des kapitalistischen Totalitarismus vom totalen
Staat zum totalen Markt hat am Ende des 20. Jahrhunderts zu einem beispiellosen
"Terror der Ökonomie" geführt - dem "Gesetz",
von dem uns höhnisch gesagt wird, daß es "nicht mehr übertreten
werden kann". Und die Wirklichkeitskontrolle der kapitalistischen
Medien kann nur deshalb pausenlos von Freiheit reden, weil wir "1984"
längst hinter uns haben.