Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen im Neuen Deutschland
am 28.5.2004

Robert Kurz

ABSCHIED VOM GEBRAUCHSWERT

Wir haben ihn so geliebt, den Gebrauchswert. Schon immer war er in der Kritik der politischen Ökonomie die Lieblingskategorie der Linken. Für den Traditionsmarxismus, der sich einer positivistischen Lesart der Marxschen Theorie verschrieben hat, handelt es sich zwar beim gesamten Begriffsapparat des "Kapital" um positive, ontologische Definitionen. Kritik und gesellschaftliche Umwälzung sollen auf dem Boden dieser Kategorien stattfinden, um sie in einer vernünftigeren, menschenfreundlicheren Weise zu regulieren statt sie abzuschaffen. Aber dem Begriff des Tauschwerts haftete trotzdem immer etwas leicht Anrüchiges an. Allein der Gebrauchswert schien sich im Stand der historischen Unschuld zu befinden. "Gebrauchswertorientierung" war deshalb das Zauberwort, um sich trotz Akzeptanz der Warenproduktion ein transzendierendes Motiv in die Tasche lügen zu können. Und hatte nicht Marx selber den Gebrauchswert zur überhistorischen Bestimmung im "Stoffwechselprozeß mit der Natur" erklärt?

Das mag schon sein. Aber gelegentlich muß man auch die Marxsche kritische Intention gegen den Buchstaben seiner Theorie weiter treiben. Wenn die zentralen Begriffe in der Kritik der politischen Ökonomie als negative, kritische zu verstehen sind, dann gilt das auch für den Gebrauchswert. Er bezeichnet nicht die "Nützlichkeit" schlechthin, sondern nur die Nützlichkeit unter dem Diktat des modernen warenproduzierenden Systems. Das war für Marx im 19. Jahrhundert vielleicht noch nicht so eindeutig. Brot und Wein, Bücher und Schuhe, Hausbau und Krankenpflege schienen immer dieselben Dinge zu sein, ob sie nun kapitalistisch produziert werden oder nicht. Das hat sich gründlich geändert. Lebensmittel werden nach Verpackungsnormen gezüchtet; die Produkte enthalten "künstlichen Verschleiß", damit man schnell neue kaufen muß; Kranke werden nach betriebswirtschaftlichen Normen behandelt wie Autos in der Waschanlage. Die inzwischen Jahrzehnte alte Debatte über die destruktiven Konsequenzen von Individualverkehr und Landschaftszersiedelung ist völlig folgenlos geblieben.

Die "Nützlichkeit" wird offenbar immer zweifelhafter. Was hat es noch mit dem alten Ethos und Pathos des Gebrauchswerts zu tun, wenn man mit High-Tech-Aufwand auf einem briefmarkengroßen Bildschirm im Laufen einen Spielfilm anschauen kann? Mit fortschreitender kapitalistischer Entwicklung zeigt sich, daß die Kategorie des Gebrauchswerts selber eine negative im System der Warenproduktion ist. Es handelt sich nicht um den sinnlich-qualitativen Gegensatz zum Tauschwert, sondern um die Art und Weise, wie die sinnlichen Qualitäten selber vom Tauschwert zugerichtet werden. Der Gebrauchswert entpuppt sich als die "Entwertung" von Genuß und Schönheit durch die Unterwerfung der Dinge unter die Abstraktion des Tauschwerts. Es ist die Kategorie "Wert", die beide Seiten zusammenschließt, den "Gebrauch" und die abstrakte gesellschaftliche Form.

Genauer betrachtet handelt es sich um eine Reduktion des Begriffs der "Nützlichkeit" selber. Ausgangspunkt ist der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft. Dieser besteht bekanntlich nicht darin, daß sie konkret-nützliche Dinge herstellt, sondern daß sie Mehrwert produziert. Der Gebrauchswert ist dabei schon ganz zur Funktion des Tauschwerts degradiert. Und dieser spezifische Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft färbt auf alle anderen Waren zunehmend ab. Man sieht es den Dingen immer deutlicher an, daß sie eigentlich nur Abfallprodukte der Kapitalverwertung sind. Auf der stofflich-inhaltlichen Ebene bleibt nur noch das bloße "Funktionieren" übrig. Die Tretmine soll auch zuverlässig hochgehen, das ist ihre "Nützlichkeit". Dem Kapitalismus geht es nicht um das "Was", die inhaltliche Qualität als solche, sondern immer nur um das "Wie". Eine derart eindimensional verstandene "Nützlichkeit" muß destruktiv werden. Hier geht es nicht um theoretische Spitzfindigkeiten, sondern um unser praktisches alltägliches Leben. Eine neue, tiefer gehende Kapitalismuskritik kann sich zum Gebrauchswertbegriff nicht mehr naiv verhalten.