Krise und Kritik der Warengesellschaft |
em português
erschienen in: Neues Deutschland, Sept. 2003 Robert Kurz Ein großer Schnitt: Annullierung der Schulden Das heißt aber nicht, daß die alte Dialektik von Reform und Revolution, von grundsätzlicher Kritik und begrenzten Tagesforderungen, von Weg und Ziel gegenstandslos geworden wäre; auch wenn sie nicht mehr so billig zu haben ist wie in Zeiten der historischen Akkumulationsbewegung, als der Begriff des Sozialismus nicht viel anderes als Staatskapitalismus und damit eine Variante des warenproduzierenden Systems meinte. Das Ziel muß neu bestimmt werden jenseits von Warenproduktion und abstrakter Arbeit, jenseits von Markt und Staat. Auch dann muß es Wege zum neuen Ziel geben, Übergangsformen und immanente Teilforderungen, die sich eine soziale Bewegung zu eigen machen kann. Nur ist eben eine Teilforderung auch eine Forderung und keine "Gestaltung" des angeblichen Sachzwangs, daß man gar nichts mehr fordern, sondern nur noch den eigenen sozialen Abstieg kreativ mitverwalten darf. Um überhaupt auch nur die kleinste immanente Forderung stellen zu können, muß man gleichzeitig theoretisch und programmatisch das ganze System von Grund auf in Frage stellen. Eine immanente Alternative zur gegenwärtigen politischen Mitverwaltung der öffentlichen und privaten Finanznot wäre der konsequente Kampf für die Annullierung der Schulden aller Zahlungsunfähigen. Das hat es in der Geschichte schon öfter gegeben, seit der athenische Gesetzgeber Solon im Jahr 394 v.u.Z. die attischen Bauern aus der Schuldknechtschaft befreite: den großen Schnitt der Entschuldung, wenn die Last nicht mehr getragen werden kann. Heute betrifft das die Staaten der Dritten Welt, die Kommunen und die überschuldeten Privathaushalte aller Länder. Man kann Nackten nicht mehr in die Tasche greifen. Alle Umschuldungen, Stundungen, Umbuchungen usw. sind nur noch Augenwischerei. Die absolute Grenze ist erreicht, wenn in Ländern wie Argentinien das gesamte öffentliche und soziale Leben zusammenbricht, wenn deutsche Kommunen ihre Bibliotheken, Schwimmbäder und sozialen Einrichtungen schließen oder unbezahlbar teuer machen, wenn Millionen von Haushalten Telefon, Gas und Strom gesperrt wird oder gar Menschen ihre Wohnung verlieren. Natürlich ist das Problem systemisch bedingt. Die kapitalistische Realakkumulation ist durch die 3. industrielle Revolution längst an innere Grenzen gestoßen. Mangels rentabler Realinvestitionen fließt das Geldkapital in den Finanzüberbau und erzeugt dort spekulative Finanzblasen. Gleichzeitig brechen aus demselben Grund die Realeinnahmen weg und Staaten, Kommunen und Privathaushalte müssen sich in bislang nicht dagewesenen Größenordnungen verschulden. Der neue Finanzkapitalismus seit den 80er Jahren ist nicht nur ein spekulativer Blasen-, sondern auch ein Schuldenkapitalismus. Aber irgendwann ist das Ende der Fahnenstange erreicht: Die Blasen platzen und die Schulden können nicht mehr bedient werden. Da stehen wir jetzt. Während aber die Blasen von selber platzen, werden die unbezahlbaren Schulden zum Gegenstand des Interessenkampfs und der Politik. Die politisch-ökonomische Repräsentanz des neuen Krisenkapitalismus, die großen Finanzinstitutionen, die Verwaltungen von Geldkapitalvermögen und Finanzinvestitionen können gar nicht anders, als auf den längst irreal gewordenen Forderungen zu beharren. Aber wenn die Substanz des Buchgeldes auf Biegen und Brechen erhalten werden soll, zerfällt die soziale Reproduktion zur Ruine. Und die Politik steht erst einmal auf der Seite der Gläubiger-Institutionen als deren Knüppelgarde. Die finanzkapitalistische Fiktion soll um jeden Preis aufrecht erhalten werden, obwohl die Schuldenmasse inzwischen genauso eine Luftbuchung ist wie die spekulativen Aktienwerte. Die Forderung nach dem großen Schnitt, nach der Annullierung der unbezahlbaren Schulden, liegt gewissermaßen in der Luft. Natürlich wäre das ein tiefer Einschnitt in die ohnehin obsolet gewordene Reproduktion des Kapitals. Die Gläubiger müßten ihre Forderungen ganz einfach abschreiben, nicht bloß kleckerweise, sondern in toto. Sie würden von ihren sowieso nur noch formalen geldkapitalistischen Besitztiteln enteignet. Das würde den Ruin vieler Finanzinstitutionen bedeuten, von Banken, Fonds, großen Geldvermögensbesitzern usw. Anders geht es nicht. Die Ideologen des Krisenkapitalismus jammern deshalb, ein großer Schnitt würde gerade die Rücklagen der Lohnarbeiter treffen. Das wäre aber leicht zu vermeiden, indem der Staat und die Sicherungsfonds die Garantie übernehmen müssen für Geldeinlagen bis zu einer gewissen Höhe, wie sie den Ersparnissen von Normalverdienern entspricht. Alles, was darüber hinausgeht, muß abgeschrieben werden. Der große Schnitt der Entschuldung ist nicht als endgültige Lösung und Überwindung des Kapitalismus zu deuten. So erscheint es bloß in einer verkürzten Kapitalismuskritik, die das Finanzkapital mit dem Kapitalverhältnis überhaupt verwechselt. Marx hat dies als vulgäres "Volksvorurteil" bezeichnet. Die Logik der Krise wird dabei auf den Kopf gestellt: Der Finanzblasen- und Schuldenkapitalismus erscheint nicht als Folge der inneren Schranke der Realakkumulation, sondern umgekehrt als Ursache der Krise überhaupt, bewerkstelligt durch böswillige Profitgier. Der Antisemitismus mit der Personifikation eines imaginären "raffenden" jüdischen Kapitals ist da nicht mehr weit. Emanzipatorisches Denken muß sich von derart ökonomisch vulgärkeynesianischen, ideologisch irrationalen und oft völkisch-neonazistischen Interpretationen scharf abgrenzen. Diese Abgrenzung vorausgesetzt und im Wissen darum, daß es sich nur um eine Teilforderung zur unmittelbaren Abwehr der Zerstörung sozialer Reproduktion handelt, kann die Forderung nach dem großen Schnitt, nach der Annullierung aller unbezahlbaren Schulden nicht nur der 3. Welt, zu einem wichtigen Motiv der neuen sozialen Bewegung weltweit werden. |