Krise und Kritik der Warengesellschaft |
DER "KOLLAPS DER MODERNISIERUNG" - 15 JAHRE SPÄTERRobert KurzInterview für die Zeitschrift "Reportagem", São PauloOktober 2004Als 1989 die Mauer in Berlin fiel, gehörtest Du schon seit Jahren zu einer Gruppe, die eine radikale kritische Theorie erarbeitete. Bald danach kam Dein Buch "DER KOLLAPS DER MODERNISIERUNG" heraus. In welchem sozialen Kontext wurde von Euch die Wertkritik des modernen warenproduzierenden Systems erstellt? Unser Ausgangspunkt lag nicht auf dem Feld der akademischen Theorie. Wir waren alle Aktivisten von linken sozialen Bewegungen. Anfang der 80er Jahre hatten wir das Gefühl, daß sich die Ideen der damaligen "neuen Linken" seit 1968 erschöpft hatten. Es gab einen Impuls, die eigene Geschichte kritisch aufzuarbeiten. Wir wollten den "manisch-depressiven Zyklus" der politischen Kampagnen nicht mehr mitmachen. Die Theorie sollte nicht mehr unmittelbar an die politische Praxis gebunden werden, also ihren legitimatorischen Charakter verlieren und in ihrer Eigenständigkeit ernst genommen werden. Dies bedeutete eine Entfremdung von der politischen Linken. Trotz aller Kritik am Stalinismus hatte die "neue Linke" weitgehend den sozialistischen, postkapitalistischen Charakter der Sowjetunion nicht in Frage gestellt. Die wenigen Theoretiker, die stattdessen von "Staatskapitalismus" sprachen, orientierten sich meist am chinesischen Maoismus und kamen nicht über eine soziologisch verkürzte Theorie von der "Macht der Bürokratie" hinaus. Eine weitergehende theoretische Untersuchung ergab aber, daß das eigentliche Problem des so genannten Realsozialismus ein anderes war. Die Gesellschaftsordnungen, die aus der russischen Revolution und aus der antikolonialen Befreiungsbewegung hervorgegangen waren, blieben weiterhin "auf dem Wert beruhende Produktionsweisen" (Marx). Die gesellschaftliche Form des modernen warenproduzierenden Systems konnte nicht überwunden werden. Alle Kategorien des Kapitals blieben erhalten; sie sollten lediglich in nationaler Form staatlich-politisch moderiert und kontrolliert werden. Ebenso wie im Westen wurden die Menschen dem System der "abstrakten Arbeit" (Marx) unterworfen. Es handelte sich nicht um eine Transformation über den Kapitalismus hinaus, sondern genau umgekehrt um eine Transformation in den Kapitalismus hinein. Das entsprach der wirklichen historischen Situation des Ostens und des Südens. Diese Gesellschaften waren nicht an die Grenzen der kapitalistischen Entwicklung gestoßen, sondern sie hinkten dieser Entwicklung an der Peripherie des Weltmarkts hinterher. Deshalb waren die Revolutionen des Ostens und des Südens trotz ihrer marxistischen, antikapitalistischen Nomenklatur in Wirklichkeit bürgerliche Revolutionen der historischen Nachzügler; es gingen daraus Regimes einer "nachholenden Modernisierung" hervor. Die Bürokratie war eine Folge dieser Konstellation, nicht die eigenständige Ursache repressiver Verhältnisse in den postrevolutionären Gesellschaften. Im Grunde wiederholten sich nur in anderer ideologischer Einkleidung Erscheinungen, wie sie auch die absolutistische und bürgerlich-revolutionäre Frühgeschichte des Kapitalismus vom 16. bis zum 19. Jahrhundert gekennzeichnet hatten. Einerseits bescherten uns die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine qualitativ neue Krise, die zu einer Kritik des traditionellen Reformismus und des Neoliberalismus herausforderten. Diese führte dabei zunächst hauptsächlich zu einer Kritik der "abstrakten Arbeit" als fundamentale Kategorie der Reproduktion des modernen warenproduzierenden Systems, denn die Krise war Ausdruck der inneren Schranke, an die die "Arbeitsgesellschaft" gestossen war. Andrerseits, nachdem der strukturalistische Marxismus in eine Sackgasse geraten war und an den Universitäten das postmoderne Denken vorherrschte, wurde jede Analyse, die an Marx anschloss als ökonomizistisch bezichtigt. Wie habt ihr in dieser Hinsicht die ökonomischen Kategorien des traditionellen Marxismus kritsch aufgenommen und inwieweit unterscheidet sich Eure neue Krisentheorie von diesen Analysen. Diese neue Interpretation der Geschichte der Modernisierung im 20. Jahrhundert warf das Problem auf, wie es überhaupt möglich war, "gegen den Strich" des Marxismus darauf zu kommen. Denn an gesellschaftstheoretische Innovationen ist stets die Anforderung zu stellen, daß sie auch sich selbst erklären können. Hier nun setzte die neue Krisentheorie ein. Die bisherige marxistische Theorie hatte Krisen immer nur als vorübergehende Unterbrechungen in der kapitalistischen Akkumulation betrachtet, also im wesentlichen als konjunkturelle Krisen oder als Strukturbrüche beim Übergang zu einem neuen Modell der Akkumulation. Damit blieb die Krisentheorie ebenso im Horizont der "abstrakten Arbeit" und damit der gesellschaftlichen Formen des modernen warenproduzierenden Systems befangen wie die Idee und die Praxis des staatlich-politischen Sozialismus. Eine absolute innere Schranke der Akkumulation wurde entweder überhaupt nicht für möglich gehalten oder bei den wenigen Ausnahmen (wie Henryk Grossmann) nicht auf die "abstrakte Arbeit" als "Substanz des Kapitals" (Marx) bezogen. Unsere neue Krisentheorie entwarf nun im Gegensatz dazu die These einer absoluten inneren Schranke der Akkumulation durch die "Entsubstantialisierung" des Kapitals in der 3. industriellen Revolution der Mikroelektronik. Erstmals in der kapitalistischen Geschichte vollzieht sich die Wegrationalisierung von Arbeitskraft schneller und in größerem Umfang als die Ausdehnung der Märkte durch Verbilligung der Produkte. Damit erlischt der bisherige Kompensationsmechanismus der Krise. Das Kapital flüchtet nicht mehr bloß konjunkturell, sondern strukturell aus der Realakkumulation in das "fiktive Kapital" (Marx) von Finanzblasen, die jedoch schließlich platzen müssen. Indem sich in dieser Krise neuer Qualität die historische Schranke der Akkumulation zeigt, wird das warenproduzierende System der "auf dem Wert beruhenden Produktionsweise" (Marx), die "abstrakte Arbeit" und damit auch die bisherige marxistische Arbeitsontologie obsolet. Auf diese Weise wurde der eigene historische Standort der neuen, grundsätzlicheren Kapitalismuskritik krisentheoretisch bestimmt. Aber erst in dem Buch "Der Kollaps der Modernisierung" konnten die Kritik am Begriff eines auf "abstrakter Arbeit" und Warenproduktion beruhenden Sozialismus und die neue Krisentheorie systematisch zusammengeführt werden. Die Krise der basalen gemeinsamen Formen des warenproduzierenden Systems mußte zuerst bei den historischen Nachzüglern manifest werden, aber sie würde sich schließlich bis in die Zentren des westlichen Kapitals voranfressen. Das Ende der "nachholenden Modernisierung" ist der Anfang vom Ende der Moderne und ihrer "abstrakten Arbeit" überhaupt, also auch das Ende der Politik als Form der Regulation und das Ende der Nation als Bezugsraum des warenproduzierenden Systems, wie der krisenhafte Prozeß der Globalisierung praktisch beweist. Alle Interpretationen, die den Untergang der Sowjetunion und das Ende des bisherigen Sozialismus als "Sieg" des westlichen Kapitalismus begreifen wollen, sind gegenstandslos. Für das 21. Jahrhundert ist damit die Aufgabe einer neuen radikalen Gesellschaftskritik gestellt, nämlich die Krise von "abstrakter Arbeit", Wertform, Warenproduktion, politischer Regulation und nationaler Beschränktheit zur bewußten Kritik und Überwindung dieses Formzusammenhangs der modernen Gesellschaft zu wenden. Das ist also eine Kritik, die sich nicht mehr nur auf die Kategorie Arbeit bezieht. Es wird vielmehr deutlich, wie sehr vor dem Hintergrund der Krise die Denkformen und die Praxis, sei sie sozial, ökonomisch oder politisch, an der modernen Ontologie festhält, ohne die Potenz der Negativität, die sich in der Krise ausdrückt, zu erfassen. Hier in Brasilien, zum Beispiel, fielen in den ersten Diskussionen des "Kollaps der Modernisierung" Ausdrücke wie "metaphysische Diabolik", "Fehltritt"und "Katastrophismus". Wie waren die Resonanzen Deiner Analyse in der sogenannten "öffentlichen Meinung" im allgemeinen und speziell, wie war die Rezeption in der traditionellen Linken? Das Erscheinen dieser neuen Analyse und Kritik, die so völlig gegenläufig zu den vorherrschenden Auffassungen war, rief Erstaunen hervor. Hellsichtige Intellektuelle wie Hans Magnus Enzensberger in Deutschland und Roberto Schwarz in Brasilien hielten die neue kritische Theorie für wert, sie einem größeren Publikum bekannt zu machen; sonst hätte "Der Kollaps der Modernisierung" weder erscheinen noch übersetzt werden können. Die Aufnahme in der bürgerlichen Öffentlichkeit und in der Linken war geteilt. Für die einen war es eine schlüssige Erklärung des östlichen Zusammenbruchs und der westlichen Krise "aus einem Guß"; insbesondere vielen Intellektuellen in Ostdeutschland, die nach dem Ende der DDR in Depression gefallen waren, erschien die neue Interpretation als rettendes Licht am Ende des Tunnels, weil ihnen dadurch die theoretische Möglichkeit geboten wurde, das Ende "ihres" Sozialismus nicht als bedingungslose Akzeptanz des westlichen Kapitalismus verarbeiten zu müssen. Für die anderen war diese neue Theorie und Interpretation der weltgesellschaftlichen Wirklichkeit völlig abwegig, "esoterisch" und mehr oder weniger "verrückt"; besonders die radikale Krisentheorie wurde als schiere "Apokalyptik" denunziert. Auffällig war, daß die positive wie die negative Rezeption von "Der Kollaps der Modernisierung" sich gleichermaßen fast ausschließlich auf die analytische Ebene bezog, während die theoretischen Grundlagen, die Kritik von "abstrakter Arbeit" und Warenform, entweder gar nicht oder nur als eine Art theoretisches "Ufo" wahrgenommen wurden. Es zeigte sich überraschend deutlich, wie tief das theoretische Bewußtsein quer durch das Spektrum der philosophischen und politisch-ökonomischen Positionen in die Immanenz der modernen gesellschaftlichen Formen eingebannt ist. Insofern waren die negativen Rezipienten mit ihrem wütenden Aufschrei über "Esoterik" und "Apokalyptik" der Sache sogar näher, weil sie zumindest ahnten, daß hier die Ontologie der Moderne radikal in Frage gestellt wurde. Das dämmerte bald auch einem Teil jener Linken, die der neuen Analyse zugestimmt hatten. Besonders die in der DDR sozialisierte Intelligentsia wurde deutlich reservierter, sobald die radikale Kritik der marxistischen Arbeitsontologie, der politischen Form und der Nation als integrale Momente der neuen Theoriebildung zum Vorschein kamen. In der Folge versuchte sich der Traditionsmarxismus in Deutschland mehrfach gegen den neuen Ansatz der "Wertkritik" (so das inzwischen üblich gewordene Label für die neue kritische Theorie) zu formieren, der als Zerstörung der eigenen Identität erlebt wurde. Auch die Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit, die den neuen Ansatz zunächst als eine Art "interessantes intellektuelles Glasperlenspiel" registriert hatten, wurden in demselben Maße abweisender und verschlossener, wie sich die Krise praktisch manifestierte und tatsächlich in die westlichen Zentren vorzudringen begann. Andererseits versuchten sich zunehmend alle möglichen Weltverbesserer, Obskuranten und Sektierer an die neue Theorie anzuhängen; von den "Geldreformern" in der Nachfolge Silvio Gesells bis zu rechtsnationalistischen, reaktionären Antimodernisten, die sich allerdings (ähnlich wie etliche traditionelle Marxisten) über die Kritik der Nation beklagten, als wäre diese nicht ein notwendiger Bestandteil in der Kritik der modernen Ontologie. Anders als durch die Verhärtung des herrschenden Bewußtseins, durch die vehemente Abwehr älterer, obsolet gewordener Positionen der Gesellschaftskritik, durch teils eklektische und obskure Rezeptionen und durch grobe Mißverständnisse hindurch ist allerdings noch nie eine neue Theorie zur gesellschaftlichen Wirksamkeit gelangt. Sobald ein enger Kreis der Rezeption durchbrochen wird, sind solche Erscheinungen unvermeidlich. Deshalb konnte die widersprüchliche Resonanz auf "Der Kollaps der Modernisierung" im größeren gesellschaftlichen Raum nur Ansporn sein, die neue Theorie weiterzuentwickeln und zu konkretisieren. Dafür gab es auch bereits eine genügend große Zahl von Vermittlern, Übersetzern und selbständig die neue Theoriebildung aufgreifenden intellektuellen Mitarbeitern. Außer in Deutschland und Österreich bildeten sich wertkritische Diskussionszirkel und Zusammenhänge in Brasilien, Italien, Frankreich, Spanien und Portugal. In der Weiterentwicklung Eurer Reflektionen wurden neue Inhalte in diese kritische Theorie integriert. Es wurde stärker verdeutlicht, wie sehr die moderne Ontologie, trotz der Krise, weiterhin die verschiendensten Aspekte des Denkens und des Verstehens beeinflusst. Welche neuen Elemente wurden in die kritische Theorie aufgenommen und wie wurde die Wertkritik weiter ausgebaut? Die neue Theorie konzentrierte sich zunächst auf eine Weiterentwicklung der Kritik der politischen Ökonomie. Krisentheorie und Kritik des warenproduzierenden Systems einschließlich der Formen von Politik und Nation waren zwar neue Inhalte, aber das Denken dieser Inhalte bewegte sich noch im Rahmen eines traditionellen Verständnisses von Theorie. Der abstrakt-universalistische Charakter jeglicher Theoriebildung in der modernen Welt als Moment ihrer Ontologie blieb ebenso unreflektiert wie der Begriff des Subjekts und das damit zusammenhängende moderne Geschlechterverhältnis. Nach dem Muster der Hegelschen Philosophie folgte der neue Ansatz einem "ableitungslogischen" Verfahren, in dem das Verhältnis von Wesen und Erscheinung aufgehen sollte wie eine mathematische Gleichung. Dieses abstrakt-universalistische Denken aller modernen Theorie, die in der Philosophie der Aufklärung wurzelt, verband sich mit einem ebenso unreflektierten Verharren in der aufklärerischen Geschichtsmetaphysik: Das moderne warenproduzierende System wurde zwar krisentheoretisch fundiert für die Zukunft in Frage gestellt, für die Vergangenheit dagegen weiterhin als sogenannter "Fortschritt" über die angebliche Finsternis, Natur- und Tierhaftigkeit der vormodernen agrarischen Welt hinaus verstanden. Im Anschluß an Marx thematisierte die wertkritische Theorie in neuer Weise den Fetischismus der scheinbar rationalen Moderne; sie ordnete diese Neuentdeckung jedoch ähnlich wie Marx selbst noch in die ideologische Geschichtsphilosophie eben dieser falschen Rationalität ein. Aufgebrochen wurde dieser Modus der Theorie nicht von innen, sondern von außen; und zwar durch eine "weibliche" Intervention. Nicht umsonst entsprach dem abstrakt-universalistischen theoretischen Zugang eine männerbündische Struktur in der zentralen Gruppe der wertkritischen Theoriebildung, in der es keine Frauen gab. Die von der feministischen Theorie herkommende Autorin Roswitha Scholz kritisierte nun seit Anfang der 90er Jahre das hegelianische, universalistische Verständnis der wertkritischen Theorie als ein androzentrisches. Mit der komplexen Theorie der Abspaltung versuchte sie, die hermetische, scheinbar in sich geschlossene Ableitungs-Logik dieses Verständnisses aufzubrechen. Der Aufsatz von Roswitha Scholz "Der Wert ist der Mann", der grundlegend für die Entfaltung der Abspaltungstheorie war und der 1996 in Brasilien, nachhaltig von Roberto Schwarz empfohlen, in der Zeitschrift "Novos Estudos CEBRAP" veröffentlicht wurde, blieb überraschenderweise hier fast völlig unbeachtet. Kannst Du etwas näher ausführen, was der Begriff Abspaltung meint, welchen theoretischen Status er in Bezug auf die Kritik der Warenform einnimmt und schliesslich, welche Bedeutung die Abspaltung für die Wert- und Subjektkritik besitzt. Abspaltung bedeutet ihrem Ansatz zufolge, daß die Struktur des Werts (der Warenform) als Grundform des Verwertungsprozesses zwar den Anspruch der Totalität erhebt, aber in Wirklichkeit große Teile der gesellschaftlichen Reproduktion sowohl in materieller Hinsicht ("Hausarbeit", Betreuung, Erziehung etc.) als auch in sozialpsychologischer und kulturell-symbolischer Hinsicht ("Liebe", Empathie, Zuwendung etc.) von den Formen des Werts und der "abstrakten Arbeit" nicht erfaßt werden können. Diese Momente wurden deshalb von der offiziellen Gesellschaftlichkeit abgespalten und historisch-sozial den Frauen zugewiesen. Frauen sind insofern, so ein aus der feministischen Debatte aufgegriffener Terminus, "doppelt vergesellschaftet": Einerseits gehören sie qua Berufstätigkeit, Geldform usw. ebenfalls dem offiziellen Formzusammenhang an; andererseits sind sie strukturell zuständig für alle Momente des Lebens, die in diesem offiziellen Zusammenhang nicht aufgehen. Weil jedoch diese in "abstrakter Arbeit" und Wertform/Geldform nicht aufgehenden Momente vom Standpunkt der herrschenden Form aus als inferior gelten, ist auch der Status der Frauen im warenproduzierenden System der Moderne ein strukturell inferiorer: Sie werden in der Regel schlechter bezahlt, sind viel weniger in Führungspositionen zu finden als Männer, gelten als "irrational", weniger durchsetzungsfähig und oft als Anhängsel der Männer. Das Abgespaltene ist dabei kein separater, säuberlich abgrenzbarer "Bereich", sondern die Abspaltung zieht sich durch alle Sphären der Gesellschaft. Zwar sind im Prozeß der kapitalistischen Entwicklung bestimmte Teile des Abgespaltenen durch Kommerzialisierung oder Verstaatlichung dem offiziellen Universum der Warenform einverleibt worden. Aber zum einen bleibt immer ein großer Restbestand von Lebensverhältnissen, die nicht von Geld und Staat erfaßt werden können; zum anderen fallen in der Krise viele lebensnotwendige Momente der Reproduktion wieder aus der Logik der Warenform heraus und werden an das weiblich konnotierte Verhältnis der Abspaltung zurückdelegiert. Das Wert- bzw. Verwertungsverhältnis ist überhaupt nicht denkbar ohne ein gleichzeitiges Abspaltungsverhältnis; deshalb befinden sich die Begriffe für diese beiden Seiten der modernen Gesellschaft auf derselben Höhe der theoretischen Abstraktion und bilden nur zusammen als Wert-Abspaltungsverhältnis den in sich widersprüchlichen Wesensbegriff der Moderne. Im Licht der Theorie der Abspaltung erweist sich das scheinbar neutrale Universum von "abstrakter Arbeit" und Warenform als ein strukturell "männlich" bestimmtes. Die optische Täuschung des abstrakten Universalismus entsteht durch eine Beschränkung der Reflexion auf die zirkulative Sphäre, in der scheinbar alle Katzen grau sind. Beschränkt sich die Analyse aber nicht auf die Oberfläche der Zirkulation (die so genannte "Tauschabstraktion"), so wird sichtbar, daß das Verhältnis der Abspaltung den gesamten Prozeß der gesellschaftlichen Reproduktion übergreift. Im globalen Maßstab fallen aus dem falschen Universalismus auch große Teile der nicht-westlichen Menschheit heraus. Das scheinbar neutrale Subjekt der Moderne ist in Wirklichkeit das männlich-weiße westliche Subjekt (abgekürzt MWW). Ebenso bezieht sich die abstrakt-universalistische, ableitungslogische Theoriebildung der Moderne seit der Aufklärung in Wirklichkeit nur auf die männlich und weiß-westlich bestimmte Binnenstruktur der Warenform. Das Abgespaltene wird verdrängt und hat keinen Begriff. Die Theorie der Abspaltung schließt dabei an die Kritik des modernen Theoriebegriffs bei Adorno an. Der Begriff geht nicht auf wie eine Gleichung, er ist in seiner Gebrochenheit zu reflektieren. Die Kritik von Wert, Ware und "abstrakter Arbeit" muß also zur Kritik der Abspaltung erweitert werden. Dabei ist das Abgespaltene nicht etwa die "bessere Hälfte" oder das positiv besetzbare Nicht-Wertförmige, sondern nur die ebenso negative Kehrseite der Medaille. Die emanzipatorische Überwindung des modernen warenproduzierenden Systems schließt die Überwindung des Abspaltungsverhältnisses ein, in dem die Frauen (und ebenso die nicht-westliche Menschheit) als inferior gesetzt sind. Diese Inferiorisierung ist nicht ideologisch umzuwerten, sondern zusammen mit dem Wertverhältnis abzuschaffen. Aber dieser Ansatz wurde nicht einstimmig und widerspruchslos von der Gesamtheit der Gruppe akzeptiert, oder? Die Theorie der Abspaltung wurde in den Zusammenhang der bisherigen Wertkritik als einer männerbündisch strukturierten, androzentrisch-universalistischen Theoriebildung nur mit großen Widerständen aufgenommen und nicht allgemein integriert. Sie bildete aber immerhin die Grundlage für den Aufsatz "Subjektlose Herrschaft" (1993), in dem erstmals Krise und Kritik des warenproduzierenden Systems auch als Krise und Kritik des modernen Subjekts und seines positiven Begriffs theoretisch bestimmt wurde; und zwar über die halbherzigen, der "abstrakten Arbeit" und Warenform gegenüber begriffslosen postmodernen Versuche hinaus. Dieser Ansatz wurde in der großen historischen Untersuchung "Schwarzbuch Kapitalismus" (1999) erweitert zu einer empirisch unterfütterten Kritik der Aufklärung und ihrer Geschichtsphilosophie. Erstmals erschien im Kontext wertkritischer Theoriebildung das moderne warenproduzierende System auch für die Vergangenheit nicht mehr als "Fortschritt". Diese Kritik grenzte sich gleichzeitig ausdrücklich von jeder Romantisierung der vormodernen Agrargesellschaft ab. Es ging nicht um eine reaktionäre Beschwörung vergangener Zustände, sondern um eine radikale Kritik des ontologischen Denkens. Die Krisentheorie wurde erweitert um die Dimension der Krise des männlich-weißen westlichen Subjekts (MWW) und fortgeführt zur expliziten (bis dahin bloß impliziten, auf die Kritik der politischen Ökonomie reduzierten) Kritik der modernen Ontologie und der Ontologie von Fetischverhältnissen überhaupt. Allerdings blieb diese Erweiterung im wesentlichen auf die theoretische Reflexion bestimmter Personen und auf Einzelarbeiten beschränkt; sie wurde nicht mehr in vollem Umfang von allen Teilnehmern der früheren wertkritischen Theoriebildung geteilt, ohne daß der sich anbahnende Dissens offen zum Vorschein kam. Welche Rolle spielte in diesem Moment eines hybriden Zwitterstadiums der "nicht integrierten Integration" der Abspaltungstheorie die Veröffentlichung des "Manifest gegen die Arbeit" in Bezug auf die Sedimentierung des Krisiszusammenhangs oder eventuell auf interne Teilungen verschiedener individueller Perspektiven? In der Koexistenz untergründig bereits gegensätzlicher Positionen wurde die Kritik der "abstrakten Arbeit" noch einmal in einem gemeinsamen Projekt auf einer anderen, nicht mehr rein theoretischen Ebene formuliert. Die gesellschaftliche Debatte über die "Krise der Arbeitsgesellschaft", die sozial repressiven Maßnahmen der kapitalistischen Krisenverwaltung und die ersten Anzeichen einer neuen sozialen Bewegung legten es nahe, den theoretischen "Geheimtip" der Wertkritik einem größeren Publikum bekannt zu machen. Das Resultat dieser Überlegungen war das "Manifest gegen die Arbeit" (1999), das rasch großes Aufsehen erregte, hohe Auflagen erlebte und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Vom Erfolg waren die Urheber selbst überrascht. Es war ein Versuchsballon gewesen, und offensichtlich wurde damit ein Nerv der Krisengesellschaft berührt. Es wurde ausgesprochen, was allgemein fühlbar war, aber keine Stimme hatte. Allerdings war die Erarbeitung des Manifests keineswegs konfliktfrei gewesen. Das lag nicht nur an der stilistisch ungewohnten Form, die zu vielen Umarbeitungen zwang. Der Punkt über das Geschlechterverhältnis wurde keineswegs zufällig erst nachträglich eingefügt. Vor allem aber gingen die Erwartungen hinsichtlich der Funktion des Manifests weit auseinander. Für die einen handelte es sich um eine punktuelle Konkretisierung und literarische Ausformung der wertkritischen und abspaltungskritischen Theorie, um diese einem breiteren Publikum bekannt zu machen und die mit den Problemen in der Krise der Arbeitsgesellschaft sich herumschlagenden Aktivisten von sozialen Bewegungen für die theoretische Reflexion zu interessieren; dessen ungeachtet sollte der Theoriebildungsprozeß ohne Rücksicht auf so genannte praktische Anforderungen ungebremst weitergehen. Für die anderen dagegen war mit dem Manifest bereits ein Kulminations- und Umschlagspunkt zur gesellschaftlichen Praxis erreicht; mit dem Manifest sollte in ganz anderer Weise "in die Breite" gegangen werden, nämlich als grundsätzliche Umorientierung der wertkritischen Tätigkeit, um schwerpunktmäßig mit der Arbeitskritik "anti-politisch" und journalistisch direkt in den neuen sozialen Bewegungen Fuß zu fassen. In Deinem 1991 erschienenen Buch "Der Kollaps der Modernisierung" nimmst Du das Attentat vom 11. September 2001 für 10 Jahre vorweg, wenn Du schreibst, dass der Fundamentalismus und die "islamische Sekundärideologie (...) agressive Kamikaze- und Kommandounternehmen" gebiert. Nach dem 11. September stellen wir eine Verstärkung konservativer Aspekte in der europäischen Linken fest, die wohl auch die inneren Konflikte der Krisis-Redaktion verstärkte. Wie entwickelten sich diese Konflikte und welche Rolle spielten die Abspaltungs- und die Subjektkritik in diesem Moment? Innere Widersprüche auch im kleinsten Maßstab werden oft durch große äußere "historische Ereignisse" beschleunigt. Der Terror des 11. September 2001 in New York erschütterte die westlichen Zentren sozialpsychologisch bis ins Mark. In den großen Krisen- und Zusammenbruchszonen der Peripherie wurde der 11. September nicht so intensiv wahrgenommen; vielleicht weil die Barbarei dort längst alltäglich geworden ist. Für die USA und Westeuropa jedoch waren diese Terrorangriffe ein Schock und ein Fanal, daß die bisherige Lebensweise zu Ende geht und der Strudel der Krise auch den Alltag mit unberechenbarer Gewalt erfaßt. Diese symbolische Wahrnehmung setzte auf allen gesellschaftlichen Ebenen viele verborgene und verdrängte Konflikte frei, in politischen Strömungen und theoretischen Gruppen ebenso wie in persönlichen Beziehungen. Die Linke polarisierte sich wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Angesichts der dunklen Bedrohungen entdeckte die Intelligentsia plötzlich die "westlichen Werte" und Teile der Linken beschworen das angebliche "bürgerliche Glücksversprechen", das gegen die "Barbarei der Dritten Welt" verteidigt werden müsse. Die Geschichtsmetaphysik der Aufklärung kam hoch wie eine geistige Blähung. Bis dahin hatte sich die neue wertkritische und abspaltungskritische Theoriebildung auf die Zeitschrift "Krisis" konzentriert, die auch international bekannt wurde. Das aufgeheizte ideologische und sozialpsychologische Klima nach dem 11. September brachte nun auch im "Krisis"-Zusammenhang die Widersprüche zum Tanzen. Die Theorie der geschlechts-soziologisch und kulturell-symbolisch bestimmten Abspaltung war eben nicht von allen Teilnehmern gleichermaßen mitvollzogen, sondern von einigen nur äußerlich hofiert und geduldet worden. Vor allem blieb es den altgedienten Theorie-Männern ein Dorn im Auge, daß sich die Begriffe von Wertform und Abspaltung auf derselben Höhe der Abstraktion befinden und gleichrangig sein sollten. Soweit die Thematik der Abspaltung überhaupt aufgenommen wurde, erschien sie in unterschiedlichen Graden als ein der "eigentlichen" Totalität des warenproduzierenden Systems subordinierter "Bereich", statt die Abspaltung selbst als Totalitätskategorie (zusammen mit der Wert- bzw. Warenform) in einem neuen, gebrochenen, nicht mehr hegelianischen Verständnis zu begreifen. In einschlägigen Texten wird bis heute das Abspaltungsverhältnis meistens nur als historisch-empirische "Erscheinung" und als vermeintlich abgrenzbare, untergeordnete "Sphäre" (statt als Moment des Wesensbegriffs) gefaßt und damit theoretisch verkürzt. Auf diese Weise bleibt aber - ebenfalls in unterschiedlichen Graden - auch die Kritik des Subjekts, das heißt der männlich-weißen westlichen Subjektform (MWW) verkürzt. Offen oder versteckt ist der Gedanke wirksam, daß bestimmte Elemente dieses Subjekts in die Zukunft einer emanzipierten Gesellschaft mitgenommen werden "müssen". Indem insofern die moderne Ontologie nicht konsequent kritisiert wird, bleiben auch Reste der aufklärerischen Geschichtsmetaphysik erhalten. Eng verbunden damit ist, ähnlich wie bei Adorno, ein unklarer Begriff der "Tauschabstraktion", wobei die "abstrakte Arbeit" ebenso wie die Abspaltung als Resultanten dieser "Tauschabstraktion" erscheinen; nicht "abstrakte Arbeit" und Abspaltung bilden somit die wesentlichen, übergreifenden Kategorien, sondern die scheinbar "neutrale" Zirkulation. Ein falscher Begriff der Zirkulation als angebliches Wesen und übergreifender Zusammenhang der Gesellschaft macht aber die Hauptquelle aller bürgerlich-aufklärerischen Ideologie aus. Die zunächst noch gemeinsam formulierte Kritik an der westlichen Reaktion auf den Mega-Terror und an den Weltordnungskriegen in Afghanistan und im Irak berührte nur die Oberfläche; in den tieferen Schichten der Theoriebildung hatte sich aber ein völlig gegensätzliches Verständnis der Kritik an Subjekt, Aufklärung und moderner Ontologie gebildet, das in der giftigen Atmosphäre nach dem 11. September eruptiv ans Licht trat. Als im Frühjahr 2002 unter dem Titel "Blutige Vernunft" abspaltungstheoretisch fundierte und polemisch zugespitzte Thesen zur Kritik der Aufklärung und ihres aktuellen ideologischen Revivals beim Mainstream der westlichen Intelligentsia in "Krisis" erscheinen sollten, wurde zum ersten Mal in der Geschichte der wertkritischen Theoriebildung versucht, den Abdruck des Textes eines zentralen Autors mit formalen Mitteln zu verhindern. In der Folge spaltete sich der Kern des bisherigen Zusammenhangs von Theoriebildung in zwei Gruppen auf, die vorläufig noch unter dem gemeinsamen Dach von "Krisis" agierten. Diese Spaltung war mit persönlichen Brüchen und starken Konkurrenz- und Selbstbehauptungsmotiven seitens derer verbunden, die in vieler Hinsicht (wenn auch keineswegs konsistent und einheitlich) im alten, androzentrisch-universalistischen Modus der Theoriebildung stecken geblieben waren. In demselben Maße, wie Frauen in den inneren Kreis aufgenommen wurden, zogen sich einige Männer zurück. Schließlich rissen im Februar 2004 die "Auslaufmodelle" in einem Überrumpelungsakt das "Krisis"-Label an sich, indem sie nach Art klassischer Partei- und Machtpolitik die formale Ebene des Trägervereins instrumentalisierten und die Mehrheit der Redaktion (einschließlich der Frauen) davonjagten. Mit dieser rein formalen "Machtübernahme" konnte aber natürlich der alte theoretische Stand nicht zurückgeholt werden. Die wertkritische und abspaltungskritische Theoriebildung wird nun von der Mehrheitsredaktion und neu dazugekommenen Leuten mit der Theoriezeitschrift EXIT! weitergeführt, um die sich auch ein neuer organisatorischer Zusammenhang konstituiert hat. Die usurpatorische Gruppe von Rest-"Krisis" dagegen hat sich sehr schnell darauf ausgerichtet, die auf der Stufe eines obsolet gewordenen "theoretischen Zugangs" stehen gebliebene Wertkritik herunterzutransformieren zu jener Art von journalistischer und propagandistischer "Praxis", wie sie sich schon im Anschluß an das "Manifest gegen die Arbeit" angedeutet hatte. Dabei wird die Dimension der Ideologiekritik weitgehend preisgegeben, um eher nach der Manier der traditionellen Linken in den neuen sozialen Bewegungen möglichst reibungslos Einfluß zu gewinnen. EXIT! dagegen lehnt jeden Bewegungsopportunismus und jede Verharmlosung einer verkürzten Kapitalismuskritik ab, um stattdessen die ideologiekritische Intervention hinsichtlich der aufkeimenden sozialen Bewegungen, Projekte usw. zu betonen, ohne diese als solche zu negieren. Kann Euer Ausschluss aus der Krisis-Redaktion, der sich nach Deinen Worten aus praktisch-theoretischen Differenzen in Bezug auf die Abspaltungstheorie und die Kritik des Aufklärungssubjekts ergab, auch in einem weiteren Zusammenhang der Entwicklung der sich verschärfenden Krise der warenproduzierenden Gesellschaft analisiert werden? Die Spaltung des ehemaligen "Krisis"-Zusammenhangs steht eindeutig im Kontext einer Verschärfung der Krise in den westlichen Zentren, aber auch in der Peripherie. Es geht jetzt überall nicht mehr bloß um Meinungen, "interessante" theoretische Überlegungen etc. aus der Rolle des Zuschauers, sondern um die nackte Existenz unter den Bedingungen von Zusammenbruchsverhältnissen. Die Prekarisierung ergreift auch die intellektuelle, akademische, publizistisch-mediale und staatlich-infrastrukturelle Sphäre. Nach den agrarischen und industriellen "unmittelbaren Produzenten" wird auch die "neue Mittelklasse" in den Strudel der Weltkrise der 3. industriellen Revolution gestürzt. Es zeigt sich praktisch, daß diese Bereiche allesamt keine eigenständige ökonomische Basis im Gefüge der kapitalistischen Akkumulation haben, sondern von der Umverteilung des Mehrwerts aus dem industriellen Zentrum abhängig sind. Wurde diese strukturelle Abhängigkeit eine Zeitlang durch die Finanzblasen-Konjunktur überdeckt, so macht sie sich nun gewaltsam geltend. So wird auch das gesamte Bildungs- und Forschungssystem ebenso wie die Medien nach dem Muster der industriellen Krise negativ reorganisiert und abgeschmolzen. Wie schon längst bei den Unterschichten, so macht sich nun die Fragmentierung des unüberwundenen geschlechtlich konnotierten Abspaltungs-Verhältnisses auch bei der ehemaligen "neuen Mittelklasse" als eine Art "Hausfrauisierung des Mannes" (so ein Terminus aus der deutschen feministischen Theorie der 80er Jahre) geltend. Aber auch jene "Karriere-Frauen", die nicht zuletzt im akademischen Bereich in die strukturell "männlich" bestimmte öffentliche Sphäre vorgedrungen waren, sehen sich nun den Krisenverhältnissen ausgesetzt. Bis in die Gruppen radikaler, emanzipatorischer Theoriebildung hinein wird die Wut der Konkurrenz und des Überlebenskampfes auf dem Boden des warenproduzierenden Systems freigesetzt. Aber die meisten von denen, die ihre Bindungen kappen, um doch noch irgendwie zu reüssieren und die letzte Gelegenheit zur Karriere zu schnappen, heuern auf sinkenden Schiffen an. Das soziale Klima eines in Schrecken und unter Druck gesetzten Optimismus verweist hier in Brasilien, einschliesslich bei Teilen der Linken nach der Wahl Lulas zum Präsidenten, ständig auf China als das Beispiel einer vielversprechenden Zukunft mit vorgeblichen Entwicklungspotentialitäten. Wie schätzt Du diese Perspektiven ein? Da die innere strukturelle Krise ausweglos wird, klammert sich das "positive Denken" an die Hoffnung auf äußere Träger eines neuen Zeitalters der Akkumulation. Nach Japan und den "kleinen Tigern" wird nun China als neuer Träger des globalen Wachstums und als Modell beschworen. Aber diese Hoffnung trügt ebenso wie die früheren. Die hohen chinesischen Wachstumsraten sind allein dem niedrigen Ausgangsniveau geschuldet. Sobald die Schwelle eines intensiven, von gewaltigen Investitionen in die Infrastruktur und in die mikroelektronische Aufrüstung abhängigen Wachstums erreicht wird, werden die Raten des Wachstums ebenso steil abfallen wie bei den früheren Hoffnungsträgern. Abgesehen davon beruht das chinesische Wachstum auf einer völlig einseitigen Exportindustialisierung, die an der ungeheuren Masse der Bevölkerung vorbeigeht und den Körper der gesellschaftlichen Reproduktion zerreißen wird. Aber selbst die minoritäre Exportindustrialisierung ist ganz einseitig auf die USA ausgerichtet und von den auf die letzte Weltmacht konzentrierten globalen Defizitstrukturen abhängig. Die chinesische Krise wird schlimmer als alle vorherigen sein. Die innere Schranke des globalen warenproduzierenden Systems ist eine allgemeine, aber sie trifft auf ganz unterschiedliche Entwicklungs-Verhältnisse dieses Systems. Daraus entsteht gerade in der Peripherie immer wieder die optische Täuschung, daß es doch noch einen Anschluß an ein im Westen selber längst obsoletes Niveau geben könnte. Aber die "nachholende Modernisierung" ist nicht nur als solche gescheitert, sondern sie trifft auch auf die Krise des Westens selber und kann sich nicht mehr an diesem orientieren. Die ehemalige "Ungleichzeitigkeit" der Entwicklung ist eingeebnet, aber nicht positiv, sondern negativ. Die neue globale "Gleichzeitigkeit" der Krise erfordert auch eine neue Perspektive, die von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten eine andere Art der Vergesellschaftung jenseits von Wertform und Abspaltung ins Auge faßt. Darauf ist die Menschheit nicht vorbereitet, aber sie hat keine andere Wahl. Wie im Laufe unseres Gesprächs klar wurde, ergibt sich wohl die Notwendigkeit, eine deutlich differenzierte theoretische Haltung einzunehmen. Wir befinden uns in einer gleichzeitig sozialen und kategorialen Krise, die alle Begriffe, die die Reproduktion des Modernen bewegen, derart in Verfall bringt, dass mit neuen positiven Kategorien keine kohärente Theorie erstellt werden kann. Daher ist es notwendig von der Negativität auszugehen. Was bedeutet dies, bei ständiger Verschärfung der Krise, für die verschiedenen sozialen Bewegungen, die es ernst meinen mit einer Perspektive der Emanzipation von der modernen warenproduzierenden Gesellschaft? Für die Theorie kommt es darauf an, sich nicht irre machen zu lassen und den Widersprüchen standzuhalten, statt sich einer falschen Realität mit billigen Rezepten auszuliefern. Im Alltag der theoretischen Gruppen ist Solidarität und gegenseitige Hilfe ohne Pathos gefordert, aber dies darf nicht verwechselt werden mit der Ideologisierung eines diffusen "Alltags"-Begriffs, der schein-emanzipatorisch aufgeladen wird. Die emanzipatorische Überwindung des modernen warenproduzierenden Systems und der dazugehörigen Abspaltung erfordert einen gesellschaftlichen Eingriff auf hohem Niveau, zu dessen Vorbereitung eine kritische Theoriebildung nur dann beitragen kann, wenn sie auf Distanz zu den Ereignissen bleibt und nicht dem Druck eines Praxis-Anspruchs falscher Unmittelbarkeit nachgibt. |