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DER "KOLLAPS DER MODERNISIERUNG" - 15 JAHRE SPÄTER

Robert Kurz

Interview für die Zeitschrift "Reportagem", São Paulo

Oktober 2004

Als 1989 die Mauer in Berlin fiel, gehörtest Du schon seit Jahren zu einer Gruppe, die eine radikale kritische Theorie erarbeitete. Bald danach kam Dein Buch "DER KOLLAPS DER MODERNISIERUNG" heraus. In welchem sozialen Kontext wurde von Euch die Wertkritik des modernen warenproduzierenden Systems erstellt?

Trotz aller Kritik am Stalinismus hatte die "neue Linke" weitgehend den sozialistischen, postkapitalistischen Charakter der Sowjetunion nicht in Frage gestellt. Die wenigen Theoretiker, die stattdessen von "Staatskapitalismus" sprachen, orientierten sich meist am chinesischen Maoismus und kamen nicht über eine soziologisch verkürzte Theorie von der "Macht der Bürokratie" hinaus. Eine weitergehende theoretische Untersuchung ergab aber, daß das eigentliche Problem des so genannten Realsozialismus ein anderes war. Die Gesellschaftsordnungen, die aus der russischen Revolution und aus der antikolonialen Befreiungsbewegung hervorgegangen waren, blieben weiterhin "auf dem Wert beruhende Produktionsweisen" (Marx). Die gesellschaftliche Form des modernen warenproduzierenden Systems konnte nicht überwunden werden. Alle Kategorien des Kapitals blieben erhalten; sie sollten lediglich in nationaler Form staatlich-politisch moderiert und kontrolliert werden. Ebenso wie im Westen wurden die Menschen dem System der "abstrakten Arbeit" (Marx) unterworfen. Es handelte sich nicht um eine Transformation über den Kapitalismus hinaus, sondern genau umgekehrt um eine Transformation in den Kapitalismus hinein. Das entsprach der wirklichen historischen Situation des Ostens und des Südens. Diese Gesellschaften waren nicht an die Grenzen der kapitalistischen Entwicklung gestoßen, sondern sie hinkten dieser Entwicklung an der Peripherie des Weltmarkts hinterher. Deshalb waren die Revolutionen des Ostens und des Südens trotz ihrer marxistischen, antikapitalistischen Nomenklatur in Wirklichkeit bürgerliche Revolutionen der historischen Nachzügler; es gingen daraus Regimes einer "nachholenden Modernisierung" hervor. Die Bürokratie war eine Folge dieser Konstellation, nicht die eigenständige Ursache repressiver Verhältnisse in den postrevolutionären Gesellschaften. Im Grunde wiederholten sich nur in anderer ideologischer Einkleidung Erscheinungen, wie sie auch die absolutistische und bürgerlich-revolutionäre Frühgeschichte des Kapitalismus vom 16. bis zum 19. Jahrhundert gekennzeichnet hatten.

Einerseits bescherten uns die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine qualitativ neue Krise, die zu einer Kritik des traditionellen Reformismus und des Neoliberalismus herausforderten. Diese führte dabei zunächst hauptsächlich zu einer Kritik der "abstrakten Arbeit" als fundamentale Kategorie der Reproduktion des modernen warenproduzierenden Systems, denn die Krise war Ausdruck der inneren Schranke, an die die "Arbeitsgesellschaft" gestossen war. Andrerseits, nachdem der strukturalistische Marxismus in eine Sackgasse geraten war und an den Universitäten das postmoderne Denken vorherrschte, wurde jede Analyse, die an Marx anschloss als ökonomizistisch bezichtigt. Wie habt ihr in dieser Hinsicht die ökonomischen Kategorien des traditionellen Marxismus kritsch aufgenommen und inwieweit unterscheidet sich Eure neue Krisentheorie von diesen Analysen.

Auf diese Weise wurde der eigene historische Standort der neuen, grundsätzlicheren Kapitalismuskritik krisentheoretisch bestimmt. Aber erst in dem Buch "Der Kollaps der Modernisierung" konnten die Kritik am Begriff eines auf "abstrakter Arbeit" und Warenproduktion beruhenden Sozialismus und die neue Krisentheorie systematisch zusammengeführt werden. Die Krise der basalen gemeinsamen Formen des warenproduzierenden Systems mußte zuerst bei den historischen Nachzüglern manifest werden, aber sie würde sich schließlich bis in die Zentren des westlichen Kapitals voranfressen. Das Ende der "nachholenden Modernisierung" ist der Anfang vom Ende der Moderne und ihrer "abstrakten Arbeit" überhaupt, also auch das Ende der Politik als Form der Regulation und das Ende der Nation als Bezugsraum des warenproduzierenden Systems, wie der krisenhafte Prozeß der Globalisierung praktisch beweist. Alle Interpretationen, die den Untergang der Sowjetunion und das Ende des bisherigen Sozialismus als "Sieg" des westlichen Kapitalismus begreifen wollen, sind gegenstandslos. Für das 21. Jahrhundert ist damit die Aufgabe einer neuen radikalen Gesellschaftskritik gestellt, nämlich die Krise von "abstrakter Arbeit", Wertform, Warenproduktion, politischer Regulation und nationaler Beschränktheit zur bewußten Kritik und Überwindung dieses Formzusammenhangs der modernen Gesellschaft zu wenden.

Das ist also eine Kritik, die sich nicht mehr nur auf die Kategorie Arbeit bezieht. Es wird vielmehr deutlich, wie sehr vor dem Hintergrund der Krise die Denkformen und die Praxis, sei sie sozial, ökonomisch oder politisch, an der modernen Ontologie festhält, ohne die Potenz der Negativität, die sich in der Krise ausdrückt, zu erfassen. Hier in Brasilien, zum Beispiel, fielen in den ersten Diskussionen des "Kollaps der Modernisierung" Ausdrücke wie "metaphysische Diabolik", "Fehltritt"und "Katastrophismus". Wie waren die Resonanzen Deiner Analyse in der sogenannten "öffentlichen Meinung" im allgemeinen und speziell, wie war die Rezeption in der traditionellen Linken?

Auffällig war, daß die positive wie die negative Rezeption von "Der Kollaps der Modernisierung" sich gleichermaßen fast ausschließlich auf die analytische Ebene bezog, während die theoretischen Grundlagen, die Kritik von "abstrakter Arbeit" und Warenform, entweder gar nicht oder nur als eine Art theoretisches "Ufo" wahrgenommen wurden. Es zeigte sich überraschend deutlich, wie tief das theoretische Bewußtsein quer durch das Spektrum der philosophischen und politisch-ökonomischen Positionen in die Immanenz der modernen gesellschaftlichen Formen eingebannt ist. Insofern waren die negativen Rezipienten mit ihrem wütenden Aufschrei über "Esoterik" und "Apokalyptik" der Sache sogar näher, weil sie zumindest ahnten, daß hier die Ontologie der Moderne radikal in Frage gestellt wurde. Das dämmerte bald auch einem Teil jener Linken, die der neuen Analyse zugestimmt hatten. Besonders die in der DDR sozialisierte Intelligentsia wurde deutlich reservierter, sobald die radikale Kritik der marxistischen Arbeitsontologie, der politischen Form und der Nation als integrale Momente der neuen Theoriebildung zum Vorschein kamen. In der Folge versuchte sich der Traditionsmarxismus in Deutschland mehrfach gegen den neuen Ansatz der "Wertkritik" (so das inzwischen üblich gewordene Label für die neue kritische Theorie) zu formieren, der als Zerstörung der eigenen Identität erlebt wurde.

Auch die Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit, die den neuen Ansatz zunächst als eine Art "interessantes intellektuelles Glasperlenspiel" registriert hatten, wurden in demselben Maße abweisender und verschlossener, wie sich die Krise praktisch manifestierte und tatsächlich in die westlichen Zentren vorzudringen begann. Andererseits versuchten sich zunehmend alle möglichen Weltverbesserer, Obskuranten und Sektierer an die neue Theorie anzuhängen; von den "Geldreformern" in der Nachfolge Silvio Gesells bis zu rechtsnationalistischen, reaktionären Antimodernisten, die sich allerdings (ähnlich wie etliche traditionelle Marxisten) über die Kritik der Nation beklagten, als wäre diese nicht ein notwendiger Bestandteil in der Kritik der modernen Ontologie.

Anders als durch die Verhärtung des herrschenden Bewußtseins, durch die vehemente Abwehr älterer, obsolet gewordener Positionen der Gesellschaftskritik, durch teils eklektische und obskure Rezeptionen und durch grobe Mißverständnisse hindurch ist allerdings noch nie eine neue Theorie zur gesellschaftlichen Wirksamkeit gelangt. Sobald ein enger Kreis der Rezeption durchbrochen wird, sind solche Erscheinungen unvermeidlich. Deshalb konnte die widersprüchliche Resonanz auf "Der Kollaps der Modernisierung" im größeren gesellschaftlichen Raum nur Ansporn sein, die neue Theorie weiterzuentwickeln und zu konkretisieren. Dafür gab es auch bereits eine genügend große Zahl von Vermittlern, Übersetzern und selbständig die neue Theoriebildung aufgreifenden intellektuellen Mitarbeitern. Außer in Deutschland und Österreich bildeten sich wertkritische Diskussionszirkel und Zusammenhänge in Brasilien, Italien, Frankreich, Spanien und Portugal.

In der Weiterentwicklung Eurer Reflektionen wurden neue Inhalte in diese kritische Theorie integriert. Es wurde stärker verdeutlicht, wie sehr die moderne Ontologie, trotz der Krise, weiterhin die verschiendensten Aspekte des Denkens und des Verstehens beeinflusst. Welche neuen Elemente wurden in die kritische Theorie aufgenommen und wie wurde die Wertkritik weiter ausgebaut?

Aufgebrochen wurde dieser Modus der Theorie nicht von innen, sondern von außen; und zwar durch eine "weibliche" Intervention. Nicht umsonst entsprach dem abstrakt-universalistischen theoretischen Zugang eine männerbündische Struktur in der zentralen Gruppe der wertkritischen Theoriebildung, in der es keine Frauen gab. Die von der feministischen Theorie herkommende Autorin Roswitha Scholz kritisierte nun seit Anfang der 90er Jahre das hegelianische, universalistische Verständnis der wertkritischen Theorie als ein androzentrisches. Mit der komplexen Theorie der Abspaltung versuchte sie, die hermetische, scheinbar in sich geschlossene Ableitungs-Logik dieses Verständnisses aufzubrechen.

Der Aufsatz von Roswitha Scholz "Der Wert ist der Mann", der grundlegend für die Entfaltung der Abspaltungstheorie war und der 1996 in Brasilien, nachhaltig von Roberto Schwarz empfohlen, in der Zeitschrift "Novos Estudos CEBRAP" veröffentlicht wurde, blieb überraschenderweise hier fast völlig unbeachtet. Kannst Du etwas näher ausführen, was der Begriff Abspaltung meint, welchen theoretischen Status er in Bezug auf die Kritik der Warenform einnimmt und schliesslich, welche Bedeutung die Abspaltung für die Wert- und Subjektkritik besitzt.

Im Licht der Theorie der Abspaltung erweist sich das scheinbar neutrale Universum von "abstrakter Arbeit" und Warenform als ein strukturell "männlich" bestimmtes. Die optische Täuschung des abstrakten Universalismus entsteht durch eine Beschränkung der Reflexion auf die zirkulative Sphäre, in der scheinbar alle Katzen grau sind. Beschränkt sich die Analyse aber nicht auf die Oberfläche der Zirkulation (die so genannte "Tauschabstraktion"), so wird sichtbar, daß das Verhältnis der Abspaltung den gesamten Prozeß der gesellschaftlichen Reproduktion übergreift. Im globalen Maßstab fallen aus dem falschen Universalismus auch große Teile der nicht-westlichen Menschheit heraus. Das scheinbar neutrale Subjekt der Moderne ist in Wirklichkeit das männlich-weiße westliche Subjekt (abgekürzt MWW).

Ebenso bezieht sich die abstrakt-universalistische, ableitungslogische Theoriebildung der Moderne seit der Aufklärung in Wirklichkeit nur auf die männlich und weiß-westlich bestimmte Binnenstruktur der Warenform. Das Abgespaltene wird verdrängt und hat keinen Begriff. Die Theorie der Abspaltung schließt dabei an die Kritik des modernen Theoriebegriffs bei Adorno an. Der Begriff geht nicht auf wie eine Gleichung, er ist in seiner Gebrochenheit zu reflektieren. Die Kritik von Wert, Ware und "abstrakter Arbeit" muß also zur Kritik der Abspaltung erweitert werden. Dabei ist das Abgespaltene nicht etwa die "bessere Hälfte" oder das positiv besetzbare Nicht-Wertförmige, sondern nur die ebenso negative Kehrseite der Medaille. Die emanzipatorische Überwindung des modernen warenproduzierenden Systems schließt die Überwindung des Abspaltungsverhältnisses ein, in dem die Frauen (und ebenso die nicht-westliche Menschheit) als inferior gesetzt sind. Diese Inferiorisierung ist nicht ideologisch umzuwerten, sondern zusammen mit dem Wertverhältnis abzuschaffen.

Aber dieser Ansatz wurde nicht einstimmig und widerspruchslos von der Gesamtheit der Gruppe akzeptiert, oder?

Welche Rolle spielte in diesem Moment eines hybriden Zwitterstadiums der "nicht integrierten Integration" der Abspaltungstheorie die Veröffentlichung des "Manifest gegen die Arbeit" in Bezug auf die Sedimentierung des Krisiszusammenhangs oder eventuell auf interne Teilungen verschiedener individueller Perspektiven?

Allerdings war die Erarbeitung des Manifests keineswegs konfliktfrei gewesen. Das lag nicht nur an der stilistisch ungewohnten Form, die zu vielen Umarbeitungen zwang. Der Punkt über das Geschlechterverhältnis wurde keineswegs zufällig erst nachträglich eingefügt. Vor allem aber gingen die Erwartungen hinsichtlich der Funktion des Manifests weit auseinander. Für die einen handelte es sich um eine punktuelle Konkretisierung und literarische Ausformung der wertkritischen und abspaltungskritischen Theorie, um diese einem breiteren Publikum bekannt zu machen und die mit den Problemen in der Krise der Arbeitsgesellschaft sich herumschlagenden Aktivisten von sozialen Bewegungen für die theoretische Reflexion zu interessieren; dessen ungeachtet sollte der Theoriebildungsprozeß ohne Rücksicht auf so genannte praktische Anforderungen ungebremst weitergehen. Für die anderen dagegen war mit dem Manifest bereits ein Kulminations- und Umschlagspunkt zur gesellschaftlichen Praxis erreicht; mit dem Manifest sollte in ganz anderer Weise "in die Breite" gegangen werden, nämlich als grundsätzliche Umorientierung der wertkritischen Tätigkeit, um schwerpunktmäßig mit der Arbeitskritik "anti-politisch" und journalistisch direkt in den neuen sozialen Bewegungen Fuß zu fassen.

In Deinem 1991 erschienenen Buch "Der Kollaps der Modernisierung" nimmst Du das Attentat vom 11. September 2001 für 10 Jahre vorweg, wenn Du schreibst, dass der Fundamentalismus und die "islamische Sekundärideologie (...) agressive Kamikaze- und Kommandounternehmen" gebiert. Nach dem 11. September stellen wir eine Verstärkung konservativer Aspekte in der europäischen Linken fest, die wohl auch die inneren Konflikte der Krisis-Redaktion verstärkte. Wie entwickelten sich diese Konflikte und welche Rolle spielten die Abspaltungs- und die Subjektkritik in diesem Moment?

Bis dahin hatte sich die neue wertkritische und abspaltungskritische Theoriebildung auf die Zeitschrift "Krisis" konzentriert, die auch international bekannt wurde. Das aufgeheizte ideologische und sozialpsychologische Klima nach dem 11. September brachte nun auch im "Krisis"-Zusammenhang die Widersprüche zum Tanzen. Die Theorie der geschlechts-soziologisch und kulturell-symbolisch bestimmten Abspaltung war eben nicht von allen Teilnehmern gleichermaßen mitvollzogen, sondern von einigen nur äußerlich hofiert und geduldet worden. Vor allem blieb es den altgedienten Theorie-Männern ein Dorn im Auge, daß sich die Begriffe von Wertform und Abspaltung auf derselben Höhe der Abstraktion befinden und gleichrangig sein sollten. Soweit die Thematik der Abspaltung überhaupt aufgenommen wurde, erschien sie in unterschiedlichen Graden als ein der "eigentlichen" Totalität des warenproduzierenden Systems subordinierter "Bereich", statt die Abspaltung selbst als Totalitätskategorie (zusammen mit der Wert- bzw. Warenform) in einem neuen, gebrochenen, nicht mehr hegelianischen Verständnis zu begreifen. In einschlägigen Texten wird bis heute das Abspaltungsverhältnis meistens nur als historisch-empirische "Erscheinung" und als vermeintlich abgrenzbare, untergeordnete "Sphäre" (statt als Moment des Wesensbegriffs) gefaßt und damit theoretisch verkürzt. Auf diese Weise bleibt aber - ebenfalls in unterschiedlichen Graden - auch die Kritik des Subjekts, das heißt der männlich-weißen westlichen Subjektform (MWW) verkürzt. Offen oder versteckt ist der Gedanke wirksam, daß bestimmte Elemente dieses Subjekts in die Zukunft einer emanzipierten Gesellschaft mitgenommen werden "müssen". Indem insofern die moderne Ontologie nicht konsequent kritisiert wird, bleiben auch Reste der aufklärerischen Geschichtsmetaphysik erhalten. Eng verbunden damit ist, ähnlich wie bei Adorno, ein unklarer Begriff der "Tauschabstraktion", wobei die "abstrakte Arbeit" ebenso wie die Abspaltung als Resultanten dieser "Tauschabstraktion" erscheinen; nicht "abstrakte Arbeit" und Abspaltung bilden somit die wesentlichen, übergreifenden Kategorien, sondern die scheinbar "neutrale" Zirkulation. Ein falscher Begriff der Zirkulation als angebliches Wesen und übergreifender Zusammenhang der Gesellschaft macht aber die Hauptquelle aller bürgerlich-aufklärerischen Ideologie aus.

Die zunächst noch gemeinsam formulierte Kritik an der westlichen Reaktion auf den Mega-Terror und an den Weltordnungskriegen in Afghanistan und im Irak berührte nur die Oberfläche; in den tieferen Schichten der Theoriebildung hatte sich aber ein völlig gegensätzliches Verständnis der Kritik an Subjekt, Aufklärung und moderner Ontologie gebildet, das in der giftigen Atmosphäre nach dem 11. September eruptiv ans Licht trat. Als im Frühjahr 2002 unter dem Titel "Blutige Vernunft" abspaltungstheoretisch fundierte und polemisch zugespitzte Thesen zur Kritik der Aufklärung und ihres aktuellen ideologischen Revivals beim Mainstream der westlichen Intelligentsia in "Krisis" erscheinen sollten, wurde zum ersten Mal in der Geschichte der wertkritischen Theoriebildung versucht, den Abdruck des Textes eines zentralen Autors mit formalen Mitteln zu verhindern. In der Folge spaltete sich der Kern des bisherigen Zusammenhangs von Theoriebildung in zwei Gruppen auf, die vorläufig noch unter dem gemeinsamen Dach von "Krisis" agierten. Diese Spaltung war mit persönlichen Brüchen und starken Konkurrenz- und Selbstbehauptungsmotiven seitens derer verbunden, die in vieler Hinsicht (wenn auch keineswegs konsistent und einheitlich) im alten, androzentrisch-universalistischen Modus der Theoriebildung stecken geblieben waren. In demselben Maße, wie Frauen in den inneren Kreis aufgenommen wurden, zogen sich einige Männer zurück. Schließlich rissen im Februar 2004 die "Auslaufmodelle" in einem Überrumpelungsakt das "Krisis"-Label an sich, indem sie nach Art klassischer Partei- und Machtpolitik die formale Ebene des Trägervereins instrumentalisierten und die Mehrheit der Redaktion (einschließlich der Frauen) davonjagten.

Mit dieser rein formalen "Machtübernahme" konnte aber natürlich der alte theoretische Stand nicht zurückgeholt werden. Die wertkritische und abspaltungskritische Theoriebildung wird nun von der Mehrheitsredaktion und neu dazugekommenen Leuten mit der Theoriezeitschrift EXIT! weitergeführt, um die sich auch ein neuer organisatorischer Zusammenhang konstituiert hat. Die usurpatorische Gruppe von Rest-"Krisis" dagegen hat sich sehr schnell darauf ausgerichtet, die auf der Stufe eines obsolet gewordenen "theoretischen Zugangs" stehen gebliebene Wertkritik herunterzutransformieren zu jener Art von journalistischer und propagandistischer "Praxis", wie sie sich schon im Anschluß an das "Manifest gegen die Arbeit" angedeutet hatte. Dabei wird die Dimension der Ideologiekritik weitgehend preisgegeben, um eher nach der Manier der traditionellen Linken in den neuen sozialen Bewegungen möglichst reibungslos Einfluß zu gewinnen. EXIT! dagegen lehnt jeden Bewegungsopportunismus und jede Verharmlosung einer verkürzten Kapitalismuskritik ab, um stattdessen die ideologiekritische Intervention hinsichtlich der aufkeimenden sozialen Bewegungen, Projekte usw. zu betonen, ohne diese als solche zu negieren.

Kann Euer Ausschluss aus der Krisis-Redaktion, der sich nach Deinen Worten aus praktisch-theoretischen Differenzen in Bezug auf die Abspaltungstheorie und die Kritik des Aufklärungssubjekts ergab, auch in einem weiteren Zusammenhang der Entwicklung der sich verschärfenden Krise der warenproduzierenden Gesellschaft analisiert werden?

Wie schon längst bei den Unterschichten, so macht sich nun die Fragmentierung des unüberwundenen geschlechtlich konnotierten Abspaltungs-Verhältnisses auch bei der ehemaligen "neuen Mittelklasse" als eine Art "Hausfrauisierung des Mannes" (so ein Terminus aus der deutschen feministischen Theorie der 80er Jahre) geltend. Aber auch jene "Karriere-Frauen", die nicht zuletzt im akademischen Bereich in die strukturell "männlich" bestimmte öffentliche Sphäre vorgedrungen waren, sehen sich nun den Krisenverhältnissen ausgesetzt. Bis in die Gruppen radikaler, emanzipatorischer Theoriebildung hinein wird die Wut der Konkurrenz und des Überlebenskampfes auf dem Boden des warenproduzierenden Systems freigesetzt. Aber die meisten von denen, die ihre Bindungen kappen, um doch noch irgendwie zu reüssieren und die letzte Gelegenheit zur Karriere zu schnappen, heuern auf sinkenden Schiffen an.

Das soziale Klima eines in Schrecken und unter Druck gesetzten Optimismus verweist hier in Brasilien, einschliesslich bei Teilen der Linken nach der Wahl Lulas zum Präsidenten, ständig auf China als das Beispiel einer vielversprechenden Zukunft mit vorgeblichen Entwicklungspotentialitäten. Wie schätzt Du diese Perspektiven ein?

Die innere Schranke des globalen warenproduzierenden Systems ist eine allgemeine, aber sie trifft auf ganz unterschiedliche Entwicklungs-Verhältnisse dieses Systems. Daraus entsteht gerade in der Peripherie immer wieder die optische Täuschung, daß es doch noch einen Anschluß an ein im Westen selber längst obsoletes Niveau geben könnte. Aber die "nachholende Modernisierung" ist nicht nur als solche gescheitert, sondern sie trifft auch auf die Krise des Westens selber und kann sich nicht mehr an diesem orientieren. Die ehemalige "Ungleichzeitigkeit" der Entwicklung ist eingeebnet, aber nicht positiv, sondern negativ. Die neue globale "Gleichzeitigkeit" der Krise erfordert auch eine neue Perspektive, die von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten eine andere Art der Vergesellschaftung jenseits von Wertform und Abspaltung ins Auge faßt. Darauf ist die Menschheit nicht vorbereitet, aber sie hat keine andere Wahl.

Wie im Laufe unseres Gesprächs klar wurde, ergibt sich wohl die Notwendigkeit, eine deutlich differenzierte theoretische Haltung einzunehmen. Wir befinden uns in einer gleichzeitig sozialen und kategorialen Krise, die alle Begriffe, die die Reproduktion des Modernen bewegen, derart in Verfall bringt, dass mit neuen positiven Kategorien keine kohärente Theorie erstellt werden kann. Daher ist es notwendig von der Negativität auszugehen. Was bedeutet dies, bei ständiger Verschärfung der Krise, für die verschiedenen sozialen Bewegungen, die es ernst meinen mit einer Perspektive der Emanzipation von der modernen warenproduzierenden Gesellschaft?