Krise und Kritik der Warengesellschaft |
erschienen
in der Folha de São Paulo Robert KurzDer Alptraum der FreiheitDie Grundlagen der "westlichen Werte" und die Hilflosigkeit der KritikBekanntlich bilden die Begriffe von Freiheit und Gleichheit die zentralen Schlagworte der Aufklärung. Diese Ideale hat allerdings der Liberalismus nicht für sich gepachtet. Paradoxerweise spielten sie im Marxismus und Anarchismus eine ebenso große Rolle. Und auch für die heutigen sozialen Bewegungen haben sie einen hohen ideologischen Stellenwert. Die Linke starrt auf die Idole von Freiheit und Gleichheit wie das Kaninchen auf die Schlange. Um nicht vom Glanz dieser Idole geblendet zu werden, empfiehlt es sich, den Blick auf ihre gesellschaftliche Grundlage zu richten. Marx hat diese Grundlage schon vor mehr als 100 Jahren aufgedeckt: Es ist die Sphäre des Marktes, der kapitalistischen Zirkulation, des Warentauschs, des universellen Kaufens und Verkaufens. In dieser Sphäre herrscht eine ganz bestimmte Art von Freiheit und Gleichheit, die sich einzig und allein darauf bezieht, zu verkaufen, was man will - vorausgesetzt, es findet sich ein Käufer; und zu kaufen, was man will - vorausgesetzt, man ist zahlungsfähig. Und nur in diesem Sinne herrscht auch Gleichheit, nämlich die Gleichheit von Waren- und Geldbesitzern. Es kommt bei dieser Gleichheit nicht auf die Quantität an, sondern auf die gemeinsame gesellschaftliche Form. Für den Cent ist nicht dasselbe zu kaufen wie für den Dollar; aber egal ob Cent oder Dollar, der Qualität nach herrscht die Gleichheit der Geldform. Beim Kaufen und Verkaufen gibt es keine Herren und keine Knechte, keinen Befehl und keinen Gehorsam, sondern nur freie und gleiche Personen des Rechts. Egal ob Mann oder Frau oder Kind, egal ob weiß oder schwarz oder braun - der Kunde ist unter allen Umständen willkommen. Die Sphäre des Warentauschs ist die Sphäre des gegenseitigen Respekts. Wo ein Händewechsel von Ware und Geld stattfindet, gibt es keine Gewalt. Das bürgerliche Lächeln ist immer ein Verkäuferlächeln. Der Sarkasmus von Marx bezieht sich darauf, dass diese Sphäre des Marktes nur einen kleinen Bruchteil des modernen gesellschaftlichen Lebens ausmacht. Der Warentausch oder die Zirkulation hat eine ganz andere Sphäre zur Voraussetzung, nämlich die kapitalistische Produktion, den Funktionsraum der Betriebswirtschaft oder der "abstrakten Arbeit" (Marx). Hier gelten ganz andere Gesetze als in der Zirkulation der Waren, hier gefriert das Verkäuferlächeln zur zynischen Grimasse des Sklaventreibers oder Gefängniswärters. In der Arbeit, so schrieb schon der junge Marx, ist der Arbeiter "nicht bei sich, sondern außer sich". Die Freiheit in der Warenproduktion ist so gering, dass noch nicht einmal über Inhalt, Sinn und Zweck dessen bestimmt werden kann, was da produziert wird. Auch die Kapitaleigentümer und Manager haben diese Freiheit nicht, weil sie unter dem Druck der Konkurrenz stehen. Deshalb folgt die Produktion ganz den Prinzipien von Befehl und Gehorsam. Wo das Regime der Betriebswirtschaft besonders "effizient" ist, dürfen die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht einmal selbständig pinkeln gehen. Gerade der Neoliberalismus liebt diese produktive Strenge ganz außerordentlich. Nur scheinbar widersprechen sich die Freiheit und Gleichheit der Zirkulation und die Diktatur der betriebswirtschaftlichen Produktion. Rein formell sind die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Produktion gerade deswegen unfrei, weil sie vorher auf dem Markt ihre Freiheit als Warenbesitzer betätigt, nämlich ihre Arbeitskraft verkauft haben. Natürlich ist diese Freiheit, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, selber einem Zwang geschuldet, also einer Unfreiheit: Es wurden historisch durch die Modernisierung Verhältnisse geschaffen, in denen es keine andere Möglichkeit mehr gibt, sich am Leben zu erhalten. Man muß entweder Arbeitskraft kaufen und für den Selbstzweck der Kapitalverwertung anwenden, oder man muß seine eigene Arbeitskraft verkaufen und sich für diesen Selbstzweck anwenden lassen. Solange es noch unabhängige (bäuerliche und handwerkliche) Produzenten gab, gab es gar keinen universellen Markt, sondern der größte Teil der sozialen Beziehungen spielte sich in anderen Formen ab. Der Aufstieg des universellen Marktes ging einher mit dem Abstieg der unabhängigen Produzenten. Nur weil es den Arbeitsmarkt gibt, weil also die menschliche Arbeitskraft Warenform angenommen hat, werden auch alle anderen Güter als Waren gehandelt. Die Sphäre der Freiheit und Gleichheit in der Zirkulation existiert also überhaupt nur, weil sich die Sphäre der Unfreiheit in der Produktion herausgebildet hat. Deshalb findet die universelle Freiheit auch in der Form der universellen Konkurrenz statt. Dieses Problem setzt sich fort im Bereich der persönlichen Reproduktion oder der Privatheit, wo die Waren konsumiert werden und die intimen sozialen Beziehungen ihren Ort haben. Hier gibt es viele Tätigkeiten und Momente des Lebens, die nicht in der Warenproduktion aufgehen (Haushalt, Kindererziehung, "Liebe" usw.). Für diese Aspekte wurden materiell, soziopsychisch und kulturell-symbolisch im Prozeß der Modernisierung die Frauen zuständig gemacht und eben deswegen sozial abgewertet: es handelt sich um Momente des gesellschaftlichen Lebens, die kein "Geld wert", also im Sinne der Kapitalverwertung zweitrangig und minderwertig sind. Diese "Abspaltung" (Roswitha Scholz) beschränkt sich nicht auf eine abgrenzbare sekundäre Sphäre, sondern sie durchdringt den gesamten gesellschaftlichen Lebensprozeß. So werden Frauen innerhalb der Warenproduktion in der Regel schlechter bezahlt und gelangen relativ selten in Führungspositionen. In den persönlichen Beziehungen herrscht ein bestimmter Code der Geschlechter, der für Frauen ein strukturelles Abhängigkeitsverhältnis impliziert, auch wenn dieses in der Postmoderne vielfach gebrochen und modifiziert ist. Ganz ähnlich wird der nicht-weiße, nicht-westliche Teil der Menschheit einer schon in der Aufklärung rassistisch formulierten strukturellen Unterordnung ausgeliefert. Einzig und allein in der Sphäre der Zirkulation, des Marktes, scheinen alle Verhältnisse einer "Herrschaft des Menschen über den Menschen" ausgelöscht. Diese gleisnerische Sphäre der Freiheit und Gleichheit beruht jedoch nicht nur auf Strukturen der Abhängigkeit, sondern sie bildet auch in einem unmittelbaren Sinne eine bloße Funktion für den Selbstzweck der Kapitalverwertung. Denn der universelle Markt dient im krassen Gegensatz zum Austausch voneinander unabhängiger Produzenten nicht der wechselseitigen Befriedigung von Bedürfnissen, sondern er ist nur ein Aggregatzustand oder ein Durchgangsstadium des Kapitals selbst. Im Verkauf "realisiert" sich der abstrakte Wert als Geld, und genau darin besteht die Funktion des scheinbar freien Austauschs. Das ursprüngliche Geldkapital, das sich durch die Produktion in Waren verwandelt hat, kehrt um den Profit vermehrt zu seiner Geldgestalt zurück. Darin äußert sich gerade der Charakter des Kapitals als Selbstzweck, nämlich aus Geld mehr Geld zu machen und somit "abstrakten Reichtum" (Marx) in einem unendlichen Progress aufzuhäufen. Indem die Menschen also ihre Freiheit und Gleichheit in der Sphäre der Zirkulation betätigen, tun sie nichts anderes, als die "Selbstvermittlung" des Kapitals zu bewirken, nämlich den produzierten Mehrwert oder Profit aus der Warenform in die Geldform zurück zu verwandeln. Freiheit und Gleichheit der Zirkulation sind daher nichts anderes als ein Räderwerk für den Zweck der "Realisation" des Kapitals. Jeder Akt der Freiheit muss eine Art Pumpleistung vollbringen, um Kapital aus dem Aggregatzustand der Ware in den Aggregatzustand des Geldes zu versetzen. Die moderne bürgerliche Freiheit hat also einen seltsamen Charakter; sie ist identisch mit einer höheren, abstrakten und anonymen Form der Knechtschaft. Soziale Emanzipation wäre Befreiung von dieser Art der Freiheit, statt sie zu "verwirklichen". Nicht besser steht es mit dem Begriff der Gleichheit, der geradezu eine Drohung impliziert, nämlich die Individuen in ein und dieselbe Form zu pressen. Die Modernisierung hat die Menschheit gewissermaßen in die Einheits-Uniform von Subjekten des Geldes gesteckt. Dahinter aber verbergen sich strukturelle Abhängigkeitsverhältnisse. In Wirklichkeit sind die Bedürfnisse, die Geschmäcker, die kulturellen Interessen und die persönlichen Ziele der Individuen niemals "gleich"; sie sind nur der Gleichheit der Warenform unterworfen worden. Emanzipatorisch wäre es daher, wie Adorno sagte, endlich "in Frieden ungleich" sein zu können. Die Gleichheit hat ihren falschen Nimbus durch einen argumentativen Taschenspielertrick der bürgerlichen Ideologen seit der Aufklärung erhalten. Die Bedeutung des Begriffs der Ungleichheit wurde verschoben von der schlichten Verschiedenheit der Individuen auf die Unterordnung der einen Individuen unter die anderen. Was an sich bloß Ausdruck der individuellen Eigenart ist, nämlich die Ungleichheit, erscheint plötzlich als Ausdruck der Abhängigkeit. Und umgekehrt: Was an sich Ausdruck des uniformen Zwangs ist, nämlich die Gleichheit, erscheint plötzlich als Ausdruck der Befreiung von Abhängigkeit. Wir haben es hier mit einem typischen Fall der Orwellschen Sprache in der modernen Ideologie zu tun. In Wirklichkeit hat Ungleichheit nichts mit Herrschaft und Gleichheit nichts mit Selbstbestimmung zu tun. Eher im Gegenteil: Die Gleichheit in der Moderne ist selber ein Herrschaftsverhältnis. Das Resultat ist ein permanenter Widerspruch in der modernen Ideologie. Einerseits wird die Sphäre der Zirkulation aus dem Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Reproduktion herausgelöst und zum Ideal erhoben. Andererseits werden die faktische Diktatur in der Produktion und die strukturelle Abwertung des Weiblichen zum unüberschreitbaren "sachlichen Naturgesetz" erklärt. Beständig muss die eine gegen die andere Seite ausgespielt werden; und gerade dadurch befestigt sich das gesellschaftliche Verhältnis in den Köpfen. Freiheit und Gleichheit stellen so genau das dar, was Adorno als "Verblendungszusammenhang" bezeichnet hat. Und die Linke hat diese Verblendung zusammen mit ihrem begrifflichen Apparat von der Aufklärung geerbt. Besonders die Utopisten, die demokratischen und libertären Sozialisten, die Anarchisten und die Dissidenten in den Ländern des Staatssozialismus beriefen sich stets auf die Ideale von Freiheit und Gleichheit, ohne deren Beschränkung auf die Sphäre der Zirkulation zu erkennen und ohne den inneren Zusammenhang von Freiheit und Unfreiheit in der Moderne zu durchschauen. Heute scheint die Gesellschaftskritik mehr denn je auf die Ideale der Zirkulation zurückzufallen. Das hat strukturelle Ursachen. Die Weltkrise der dritten industriellen Revolution hat eine wachsende Zahl von Menschen aus der eigentlichen Produktion verdrängt und sie zwangsweise zu Agenten der Zirkulation gemacht. Als billige Dienstleister aller Art, als Verkäufer, Straßenhändler und sogar als Bettler erleben sie nun die Sphäre der Freiheit und Gleichheit selber paradoxerweise als Joch einer sekundären Arbeit; die Diktatur der Produktion dehnt sich auf die zunehmenden Tätigkeiten in der Zirkulation bis hin zum Elends-Unternehmertum aus. Freiheit und Unfreiheit fallen dabei unmittelbar zusammen; aber ideologisch verarbeitet wird dieses Paradoxon umso mehr in Begriffen der zirkulativen Ideale. Indem die Individuen sich als Kleinbürger ihrer selbst und als eine Art Teppichhändler ihres weitgehend zirkulativen "Humankapitals" erleben, kehrt nach dem Ende des Arbeits-Sozialismus der Utopismus des Warentauschs in einer neo-kleinbürgerlichen Version zurück. In einer Gesellschaft, in der alle allen permanent irgend etwas andrehen wollen und die sozialen Beziehungen sich in einen universellen Basar auflösen, werden die zunehmenden Krisenerscheinungen durch das Raster der Zirkulations-Existenz wahrgenommen. Geradezu zwanghaft interpretiert eine Intelligentsia von Selbstverkäufern die Probleme der dritten industriellen Revolution nach dem Muster des Zirkulations-Verhältnisses: "Ein Warenbesitzer trifft den anderen". Sogar noch die Überwindung der Warenproduktion wird in Kategorien des "ewigen Tauschens" gedacht. Die in ihrer gesellschaftlichen Verfaßtheit nicht kritisch reflektierten, nur scheinbar in der Sphäre der Zirkulation "voneinander unabhängigen" Individuen sollen sich wechselseitig ihre "Gunst" schenken und einander "etwas gönnen", statt miteinander zu konkurrieren; ganz so, als läge das Problem nicht auf der Ebene der gesellschaftlichen Produktions- und Lebensweise, sondern auf der Ebene einer individuell darstellbaren "Pathologie", die durch pädagogische und therapeutische Maßnahmen "geheilt" werden könnte. Das Grinsen der Verkäufer wird zum Idealismus eines netten, nicht mehr von Konkurrenz geprägten Umgangs miteinander stilisiert, als wäre eine gesellschaftliche Transformation an der substantiellen Produktions- und Lebensweise vorbei durch utopische Konstrukte des persönlichen Verhaltens machbar, die allesamt ihre Wurzel in der idealisierten Sphäre der Zirkulation haben - wobei die neo-kleinbürgerlichen Utopisten sich selbst zu "Ärzten am Krankenbett des Subjekts" ernennen. Die in vielen Ländern verbreitete Ideologie der Tauschringe stellt praktisch kaum mehr als eine Hobby-Ökonomie dar; wo sie in großem Maßstab praktiziert wurde, wie zuletzt in der argentinischen Krise, ist sie grandios gescheitert. Noch dürftiger erscheint der Versuch, in Anlehnung an die Untersuchungen des französischen Ethnologen Marcel Mauss und dessen Hauptwerk "Die Gabe" (erschienen 1950), das "ewige Tauschen" nach dem Muster sogenannter archaischer Gesellschaften vermeintlich von der Konkurrenz zu erlösen und in ein wechselseitiges Austauschen von Geschenken, also in eine Art permanentes Weihnachten zu verwandeln. Diese Vorstellung einer "Geschenk-Ökonomie" kann ihrem Wesen nach die Reichweite unmittelbar persönlicher Beziehungen nicht überschreiten; sie verfehlt daher den Maßstab gesellschaftlicher Produktivkräfte und hoch organisierter sozialer Zusammenhänge. Es wäre lächerlich, wenn das eine abstrakte Individuum zum anderen sagt: "Schenkst" du mir eine Nieren-Transplantation, dann "schenke" ich dir, wenn du schön brav bist, einen Mähdrescher. Das Problem ist nicht, dass man sich gegenseitig individuell etwas "gönnt", sondern dass die gesellschaftlichen Potenzen (Infrastrukturen, Systeme der Bildung und Wissenschaft, Systeme der industriellen und der immateriellen Produktion) sinnvoll statt destruktiv eingesetzt werden. Die Utopien der Zirkulation dagegen suchen eine Lösung immer primär auf der Ebene der individuellen Verhaltensweisen. Das heißt das Pferd vom Schwanz aufzäumen. Statt durch eine gesellschaftliche Umwälzung der Produktion und der Lebensweise die Zirkulation von Waren und die damit verbundene Konkurrenz auf den Märkten überflüssig zu machen, soll umgekehrt das isolierte Subjekt der Zirkulation selbst die vermeintliche Ontologie des Tauschens in einer geläuterten Form vollziehen. Die Konkurrenz soll "wegmoralisiert" werden. Soziale Emanzipation erscheint dann als bloße Folge einer angeblich "verwirklichten" Utopie von Freiheit und Gleichheit des Zirkulationssubjekts in kleinen Gruppen. Die Frage der praktischen Solidarität in gesellschaftskritischen sozialen Zusammenhängen wird ideologisiert zu einem verlogenen pädagogischen und oft geradezu psychotherapeutischen Idealismus, der nur in den Terror der Nettigkeit und der wechselseitigen sozialen Kontrolle (etwa nach dem Muster religiöser Sekten) umschlagen kann. Dieser neo-kleinbürgerliche Utopismus des zirkulativen Humankapitals ist ebenso zum Scheitern verurteilt wie alle früheren Utopien. |