Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


Petra Haarmann

Dem Kant sein Ding

Der nachfolgende Text ist nicht als Artikel, sondern als Arbeitspapier konzipiert, in welchem das Kantsche "Ding an sich" in den verschiedenen Kritiken nachverfolgt wird. Diese Ausführungen sind in 12Pt-Schrift dargestellt. Überlegungen, derer ich mich doch nicht enthalten konnte, sind an den relevanten Stellen in 10Pt-Schrift eingefügt.

Das "Ding an sich" ist bei Kant für den Begriff der Freiheit wesentlich. In der Kritik der reinen Vernunft wird der Begriff der Freiheit zunächst nicht ethisch, sondern kosmologisch verstanden, und zwar in der dritten Antinomie der Dialektik: Es führt die menschliche Vernunft zu einem oberflächlichen Widerspruch1 , wenn beide kosmologische Behauptungen der dritten Antinomie gerechtfertigt werden können. Die Thesis besagt: Es gibt Freiheit in der Welt, d.h. die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, die Erscheinungen zu bestimmen. Die Antithesis lautet: Die Welt ist ohne Ausnahme der Kausalkette der Natur untergeordnet, d.h. es gibt keine Freiheit. Diesen Widerspruch löst Kant so auf, daß er die beiden Behauptungen nicht im strengen Sinne als widersprüchlich erachtet, sondern beide Aussagen gleichzeitig wahr sein können, wenn sie von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet werden. Die Lösung liegt im Unterschied zwischen "Ding an sich" und Erscheinung. Der erste Anfang, also die Freiheit, gehört zum "Ding an sich". Die Kausalität hingegen gilt nicht für das "Ding an sich" als erster Anfang, sondern nur für die Erscheinung. Da beide also verschiedenen Ebenen angehören, können sie laut Kant nicht als widersprüchlich gedacht werden.

Zur Erklärung und Belegung des nur behaupteten "Ding an sich" bedarf es eines Gesetzes, das anders als die Naturgesetze ist und das Ding an sich verstehbar macht. Dieses Gesetz ist nach Kant nichts anderes als das Sittengesetz. Die Lösung der Freiheitsfrage führt so von der Kosmologie zur Ethik. Aber auch in der Ethik triff Kant auf eine Schwierigkeit: Wie läßt sich das Sittengesetz rechtfertigen? Darauf antwortet Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" mit zwei Argumentationen: erstens den Doppelwelten (Verstandeswelt und Sinnenwelt) und zweitens der "Zurechenbarkeit". Die Annahme der Doppelwelten ist mit dem Dualismus von "Ding an sich" und Erscheinung identisch. Die Theorie der Doppelwelten gehört im Grunde gar nicht zur Ethik, sondern zur Metaphysik, denn obwohl der Dualismus eine ethische Bedeutung hat, setzt er eine metaphysische Ansicht voraus.

M.E. verweist die Kantsche Auffassung auf die "Erkenntnissituation" der Menschen am Ende des krisenhaften Zusammenbruchs der vormodernen Theo-Ontologie, wie ich sie in meinem Artikel in EXIT!2 habe darzustellen versucht. Die Menschen sind auf sich selbst geworfen und können nurmehr das sie umgebende Chaos "bearbeiten", das jeden wirkenden und verläßlich wirksamen Konstituens‘ entblößt, sie jederzeit in den "Naturzustand" zurückzusaugen droht. Der Naturzwang trifft sie nun härter, denn die Natur ist nicht länger in Gott, sondern das "Andere". Die letzte Gewähr der Unterscheidung von der Natur und der Besonderheit der Menschen bleibt "Gott", der zwar nicht "erkannt" werden kann wie die Natur, wohl aber vom einzelnen Menschen erfahrbar ist. Diesen, zunächst als Mangel empfundenen Zustand unzureichender Erkenntnismöglichkeit, verpositiviert Kant, indem er aus der Not eine Tugend macht. Das Übersinnliche, sei es nun Gott genannt oder Gesellschaftlichkeit im Sinne Marxens, kann und darf Gegenstand gültiger Erkenntnis nicht sein. Nichtsdestoweniger ist der Mensch, genauer der freie Mann, transzendentaler Erkenntnis fähig (und damit über die Kausalität der Natur in Raum und Zeit herausgehoben), nämlich durch nichtempirische Erkenntnis der Empirie, die keine Erweiterung der Erkenntnis, sondern als reine Vernunft "nur die Berichtigung derselben zur Absicht hat, und den Probierstein des Werts oder Unwerts aller Erkenntnisse a priori abgeben soll, ..." ("Das Ding an sich" als Aufgabe, siehe weiter unten).

Die Bedingungen für solche Erkenntnis legt Kant entsprechend der von ihm angetroffenen historisch-spezifischen Situation in den Einzelnen, das Subjekt, welches am Ende des Niedergangs der Theo-Rationalität als einziger Träger von Transzendenz noch übrig bleibt; nicht jedoch ohne es über die Zurechenbarkeit auf das unhintergehbare Sittengesetz als "Ding an sich" zu verpflichten, welches die Einheit der Subjekte zur Ordnung des äußeren Chaos schafft wie auch die Grundlage für die "innere Sicherheit" stiftet.

Im Einzelnen: (alle Zitate nach Akademieausgabe B, d.i. =2. Auflage)

Der Unterschied zwischen den Standpunkten als Lösung der dritten Antinomie in KrV:

Wie bereits oben angeführt, löst sich der Widerspruch lt. Kant durch die Einnahme verschiedener Standpunkte - dem der Vernunft und dem der Erscheinung.2 Die Erscheinung ist nach Kant die Begebenheit unter Zeitbedingungen.3 Jeder Zustand hat einen vorherigen Zustand, der ihn bestimmt. Also hat jede Erscheinung ihre Ursache, die zeitlich vorher entsteht und wirkt. Die Zeit spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, denn die Erscheinung wird als zeitlich bereits Geschehenes angesehen. Auch das Kausalgesetz als Naturgesetz wird anhand der Zeit verstehbar.4 Erscheinung ist etwas Abhängiges.

Im Gegensatz dazu wird die Vernunft als unabhängiges Vermögen verstanden, weswegen sie nicht zeitlich begriffen werden kann. Die Vernunft kann von sich selbst aus einen Zustand beginnen, ganz unabhängig von den Naturgesetzen. In Kants Worten:

Damit kann Kant die Antithesis auflösen, indem er das kosmologische Argument in ein ethisches umwandelt: Die Welt hat Freiheit vom Standpunkt der Vernunft aus gesehen, die Welt nach Naturgesetzen ist jedoch ohne Freiheit.

Da die Vernunft nicht unter den Bedingungen der Zeit steht, denn sie bezieht sich ja nicht auf empirische Erfahrung, sondern auf Begriffe und Urteile6, ist es nicht nötig, einen vorhergehenden Zustand vorauszusetzen, um ihre Handlung erklären zu können. Die freie Handlung kann als eine intelligible Ursache angesehen werden, die "selbst nicht Erscheinung ist".7 Obwohl diese Ursache intelligibel ist, kann sie als eine Ursache doch ihre Wirkung hervorrufen, die dann Erscheinung ist. Kant behauptet, daß diese Aussage den Naturgesetzen nicht widerspricht, denn dasselbe Ereignis, das in der Zeit passiert, kann von zwei Standpunkten interpretiert werden als eine Begebenheit nach den Naturgesetzen, und als Begebenheit, deren Ursache intelligibel ist. Das ist der Unterschied zwischen "Ding an sich" und Erscheinung:

Ding an sich und Erscheinung in KrV

Alle Erscheinungen stehen immer im Verhältnis zur Zeit. Nur wenn die Zeit auf die Erscheinungen angewendet wird, hat die Zeit Realität. Kant hat dies die "empirische Realität der Zeit" genannt. Auf Dinge an sich angewendet, hat die Zeit keine Realität, denn das "Ding an sich" unterbricht die Zeitreihe.

An dieser Stelle wäre aus meiner Sicht genauer zu untersuchen, ob die Unterbrechung der Zeitreihe durch die nicht unter der Zeitbedingung stehende Vernunft nicht Ursache dafür war, daß die Aufklärung gerade im Sinne einer von den Menschen, will heißen freien Männern, in Gang gesetzten Kausalkette in die Zukunft hinein so hoffnungsvoll und emphatisch besetzt wurde. Das Glücksversprechen schien durch ordnungsgemäßen Einsatz der Vernunft programmier- und einlösbar. In diesem Zusammenhang ist auf Aufklärungsschrifttum zu verweisen, das den Ausstieg aus der aufoktroyierten Zeit, die bis dahin als nur in Gott vorhanden gedacht war, geradezu als Erlösung feiert und die neue Zeitform einer von Menschen zu machenden und machbaren Zukünftigkeit als beherrschbaren, wenn auch steinigen, Weg in die Glückseligkeit propagiert. Der Katzenjammer stellte sich relativ kurzfristig ein, - geblieben ist aber der Verlust der Gegenwart um den Preis einer immer wieder neu aufgelegten Zukunft, die die Vergangenheit nur in der Rückschau sichtbar werden läßt. Die Vergangenheit ist nach dieser Lesart im Kantschen Sinne "Erscheinung", die Zukunft immer wieder das rettende Ufer des "noch nicht", wenn, ja wenn nur die überzeitliche Vernunft die "Vernunftkausalität" (Kant) richtig in Gang setzt.

"Ding an sich" als regulatives Prinzip

Vorstehend wurde bereits dargestellt, daß das "Ding an sich" von Kant als eine Vorstellung gedacht wird, die außerhalb der Zeitbedingung steht und zu keiner Ursache dient. Das "Ding an sich" fungiert in der "Ästhetik" nur als etwas Negatives - nämlich etwas, das nicht unter der Zeitbedingung steht. Die gleiche Auffassung taucht auch in der Dialektik auf, wird aber von Kant in der Auflösung der dritten Antinomie (s.o., eingangs) verändert. Die Freiheit als "Ding an sich" gilt dort als eine dynamische Ursache. Der Begriff des "Dings an sich" ist mehrdeutig und läßt sich als ein regulatives Prinzip (dritte Antinomie und Ästhetik) und auch als Ursache (dritte Antinomie) verstehen.

Kant bestimmt "das Ding an sich" zunächst (in der ersten Antinomie9) nicht als Ursache der Erscheinungen, sondern nur als "Grund", der die aufsteigenden Bedingungen erklärt. Die Kategorie der Ursache kann nur unter der Bedingung der Zeit angewendet werden. Im Gegensatz dazu bezieht sich ein "Grund" nicht auf die Zeit. Kants Ausführungen zufolge ist es notwendig, eine Idee ("das Ding an sich") anzunehmen, um zu erklären, wie man die ganze und einheitliche Reihe der Erscheinungen als möglich denken kann. Die ganze Reihe der Erscheinungen, vulgo "das Ding an sich", wird Kant zufolge nicht anschaulich gegeben, sondern nur aufgegeben:

Das "Ding an sich" läßt sich also nicht anschauen, denn über eine intellektuelle Anschauung verfügen wir nicht. Da der Begriff des "Dings an sich" nicht die Existenz von etwas ist, sondern nur die Aufgabe betrifft, den "Regressus der Bedingungen in der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten anzustellen und fortzusetzen"11, so kommt dem "Ding an sich" die Rolle eines regulativen Prinzips, einer Maxime zu. Der Regressus der Bedingungsreihe darf nicht "bei einem Schlechthinunbedingten stehenbleiben".12 In diesem Zusammenhang funktioniert das "Ding an sich" nicht als eine Ursache, etwa die Sinnenwelt herzustellen. Also hat Kants Auffassung des "Dings an sich" nichts mit der Kausalität zu tun.

Vielmehr ist das "Ding an sich" ein unerreichbarer Punkt, durch den sich denken läßt, warum die Reihe der Bedingungen nicht aufhört. Das regulative Prinzip bestimmt die aufsteigende Reihe nicht, antizipiert also nicht, was im Objekte vor allem Regressus an sich gegeben ist13, sondern fordert auf, nicht aufzuhören.

Das unterscheidet sich von allen konstitutiven Prinzipien, wie sie z.B. von Aristoteles in der Antike, aber auch in der Theo-Rationalität des Mittelalters vertreten wurden! Weil außerhalb der Zeit, ist das "Ding an sich" keine Ursache, weil denkend unerreichbar nur immerwährende Aufgabe einer asymptotischen Annäherung.

"Ding an sich" als konstitutives Prinzip

Nur bzgl. der Freiheit verändert Kant in der dritten Antinomie die Auffassung vom "Ding an sich" deutlich. Denn hier denkt er die Freiheit als eine intelligible Ursache, deren Wirkung gleichwohl in Erscheinung treten kann. Eine solche Ursache, die nicht mit der Ursache in der Natur identisch ist, wird von Kant als ein Vermögen bestimmt, unabhängig einen Zustand anzufangen. In diesem Sinne nennt Kant die Freiheit transzendental.14 Da nach Kant die Freiheit und ihre Wirkung zu zwei verschiedenen Horizonten (Standpunkten) gehören, kann es keinen Widerspruch zwischen ihnen geben. Eine solche Auffassung macht das "Ding an sich" zu einem konstitutiven Prinzip, obwohl Kant diese Verwandlung nicht anerkannt hat.15 Das Ding an sich wird nicht länger mathematisch, sondern dynamisch aufgefaßt, denn die Freiheit als transzendentale Idee kann "spontan" eine Wirkung in der Welt herstellen.

Ich schicke voraus, daß ich bzgl. der nachstehend aufgeworfenen Frage mich im völligen Laienstande befinde. Allerdings scheint es mir so zu sein, daß die Symbolsprache der Mathematik sich gleichfalls außerhalb der Zeitbedingung befindet und im Sinne nichtempirischer Erkenntnis der Empirie zwar keinen Erkenntnisgewinn darstellt, aber genuin geeignet ist, die Suche nach der allgemeineren Bedingung, d.h. nach logischen Prämissen, zu beschreiben. Nach Kant ist der Obersatz, der von der Vernunft gesucht wird, nicht nur die logische Bedingung für die Schlußfolge, sondern an sich eine Allgemeinheit.16 Der absolute Obersatz ist also ein absolutes Allgemeines. Dieser allgemeine Obersatz in Bezug auf die fortsetzende Handlung des Vernunftschlusses weist auf eine Allheit hin, d.h. auf etwas, das alles beinhaltet. In Anbetracht der durch die Kantsche Vernunftkausalität in Gang zu setzenden Erscheinungen wäre also nichts naheliegender, als sich der Mathematik zur Modellierung und Antizipation der aus der spontanen Ausübung der Vernunft folgenden Kausalkette zu bedienen. Wie gesagt, nur ins Unreine gedacht.

Die dynamische Ursache und ihre Wirkung können nicht als gleichartig betrachtet werden. "Das Ding an sich", welches hier in Frage steht, Freiheit, dient nicht länger als Vorschrift, sich der Vollständigkeit der aufsteigenden Reihe der Bedingungen zu nähern. Vielmehr kann hier die aufsteigende Reihe tatsächlich Vollständigkeit erreichen, denn es wird eine Ursache angenommen, die keine vorherige Ursache hat. Die Freiheit (Ding an sich) ist diese gedachte Ursache, die heterogen von ihren Wirkungen ist.

Diese Wendung verblüfft, denn es scheint sich ein Widerspruch in der Kantschen Argumentation aufzutun: Wie kann etwas (Freiheit) gleichzeitig "Ding an sich" außerhalb der Zeitbedingung sein und doch als Ursache unter der Zeitbedingung wirken?17 Zu erinnern ist aber an die Kantsche Grundauffassung der Doppelwelten. Der Mensch kann auf zwei Weisen betrachtet werden: als intelligibel ("Ding an sich") oder als sensibel (als Erscheinung).18 Der Mensch als handelndes Subjekt steht nach seinem intelligiblen Charakter unter keinen Zeitbedingungen. Kant geht davon aus, daß keine Handlung in ihm vergeht oder entsteht.19 Anders gesagt: nichts geschieht in ihm. Nach seinem empirischen Charakter ist das handelnde Subjekt jedoch den Zeitbedingungen untergeordnet, also vergeht es immer. Der intelligible Charakter des "Dings an sich" und der empirische Charakter des handelnden Subjekts sind nach Kant strikt zu trennen.

Daraus folgt, daß das intelligible Subjekt ("Ding an sich") seine Wirkungen in der Sinnenwelt kausal von selbst anfängt, ohne daß die Handlung in ihm selbst anfängt. Diese Freiheitskausalität ist also nicht die Naturkausalität, denn sie kann etwas kausal herstellen, wird aber nicht selbst hergestellt.

Allerdings bleibt festzuhalten, daß es sich bei der "besonderen Ursache" schlicht um eine Behauptung (Ursache steht nicht unter der Zeitbedingung) handelt. Kant versucht seine Theorie dadurch zu retten, daß er das metaphysiche Argument durch ein ethisches ersetzt. In diesem Zusammenhang führt er das "Sollen" ein, das ansonsten in der Natur nicht vorkommt und also auch nicht der Naturkausalität unterworfen sein kann.20 Das Sollen kann nicht vom Verstand erkannt werden, der nur was war, was ist oder was sein wird, erkennen kann, nicht jedoch was sein soll. Die Natur als sinnlicher Anreiz treibt zum bedingten Wollen (innerhalb der Kausalkette), aber kann kein unbedingtes Sollen hervorbringen.21

An dieser Stelle sei bereits auf die berühmt-berüchtigte Stelle in der Metaphysik der Sitten verwiesen, in der Kant von der "natürlichen Überlegenheit des Vermögens des Mannes über das weibliche" spricht. Dies im Zusammenhang mit seinem Credo vom nur "schönen Verstand" des Weibes macht schon hier deutlich, daß das "Ding an sich" mit der Frau, zumindest bei Kant, nicht nur nichts zu tun hat, sondern sich geradezu über sie erhebt. Nur das intelligible Wesen "Mann" als "Ding an sich" verfügt über die Vernunft, mit Hilfe derer er etwas von selbst anfängt, ohne daß die Handlung in ihm selbst anfängt.

Der Grund des Sollens kann daher nicht im Bereich der Erfahrung liegen, denn Moral und Erfahrung, mithin Sinnlichkeit, sind heterogen und antagonistisch. Nur die Vernunft ist daher in der Lage, das Sollen zu erkennen.

Zwischenbemerkung zur Sinnlichkeit

In der Kritik der reinen Vernunft bedeutet der Begriff "Sinnlichkeit" etwas ganz anderes als z.B. in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Sinnlichkeit hat in der Kritik der reinen Vernunft nicht unbedingt mit Erfahrung zu tun; es gibt Sinnlichkeit auch als reine Anschauung: "Die reine Form der Sinnlichkeit wird auch selbst reine Anschauung genannt."22 In der Ästhetik bestimmt Kant Raum und Zeit als reine Formen der Anschauung. Sie sind laut Kant immer sinnlich, nicht aber empirisch. Sinnlichkeit und Erfahrung unterscheiden sich also deutlich. Sinnliche Gegenstände werden durch die Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, gegeben. Sinnlichkeit ist das Vermögen, Gegenstände zu geben.23 Das ist wichtig für die Wissenschaft, denn damit wird ihre Vorbedingungen der Sinnlichkeit nicht als empirisch, sondern als transzendental gefaßt.

Insofern ist Karl-Heinz Wedel schief gewickelt, wenn er die Sinnlichkeit bei Kant durchgehend so liest, als sei von einem empirisch anthropologischen Begriff die Rede. Ihm entgeht damit die Kantsche Erkenntnislehre, mithin auch die Verpositivierung der Denkformen durch Kant, der nämlich das Konstituens aller Erkenntnis als unerkennbaren "Grund" (das ist eben keine Ursache!) ins metaphysische Jenseits verabschiedet. Wedel kommt gegen diese seine eigene Lesart dann auch nur dadurch an, daß er die von Kant negativ besetzten "Neigungen" ganz umstandslos als ontologische Bedürfnis-Positiva im Sinne einer "conditio humana" setzt.

In seinen ethischen Schriften bestimmt Kant die Sinnlichkeit nicht mehr als transzendentales Vermögen, sondern als Neigung und Geschmack24 sowie als zufällige Empfindung und subjektiv-bestimmende Ursachen.25 Nur hier ist Sinnlichkeit bei Kant ein empirisch anthropologischer Begriff. Im Gegensatz zum reinen sittlichen Prinzip ist sie empfindlich, d.h. passiv und abhängig. Die antike Philosophie, die Scholastik und Luther lassen grüßen.

Die Imperative im Modell vom "Ding an sich" und Erscheinung

Imperative, hypothetische und kategorische, sind nach Kant objektive Gebote für den menschlichen Willen.26

Der kategorische Imperativ wird durch Vernunft, der hypothetische durch Zweck-Mittel-Relation bestimmt.

Es sei an dieser Stelle nur angemerkt, daß in der sogenannten "Rechtswissenschaft" der Tatbestand (Kausalkette, Empirie) in Ansehung der Norm immer nach Zweck-Mittel-Relation festzustellen ist, für "Schuld" im Strafrecht bzw. das "Vertretenmüssen" im Zivilrecht jedoch immer der Maßstab des kategorischen Imperativs anzulegen ist. Das Rechtssubjekt setzt immer die Kausalkette von selbst und kann nach der oben dargestellten Begrifflichkeit nicht selbst von etwas bestimmt sein. Folgerichtig können auch nur "Passive" und "Abhängige" (s.o.) Entschuldigungsgründe in Anspruch nehmen. Da sie "unvernünftig" sind, kann ihnen die in Gang gesetzte Kausalität nicht "zugerechnet" werden. Die Täter sind keine solchen, sondern bloße Erscheinungen in der "Natur".

Der kategorische Imperativ ist vernünftig und allgemein, der hypothetische Imperativ wird durch Zwecke bestimmt und ist somit sinnlich und besonders. Das Modell nicht anderes als die Unterscheidung zwischen "Ding an sich" und Erscheinung.

Die Rechtfertigung des kategorischen Imperativ unternimmt Kant über die Freiheit.

Die Freiheit ist eine übersinnliche Idee, die weder Erfahrung noch Sinnlichkeit enthält und deren Charakter auf den Begriff des kategorischen Imperativs reflektiert wird; auch ist er nicht auf Sinnlichkeit bezogen, sondern wird als reines Sittengesetz verstanden: Dieser Imperativ mag der der Sittlichkeit heißen.29 Der kategorische Imperativ bezieht sich damit auf die Freiheit "als Ding an sich", das der Sinnlichkeit entgegengesetzt ist. Kants Strategie in der "Grundlegung der Metaphysik der Sitten" entspricht dem metaphysischen Modell vom "Ding an sich" und Erscheinung in der "Kritik der reinen Vernunft", auch wenn Kant hier die sittliche Interpretation betont. Über den Dualismus kommt er nicht hinweg.

Autonomie und Heteronomie (Gott und Lilith)

Die Begriffe Autonomie und Heteronomie entsprechen den Begriffen des kategorischen und hypothetischen Imperativs. Als Prinzip des Willens ist die Autonomie der Heteronomie entgegengesetzt.

Die Autonomie steht unter keiner Zeitbedingung, sondern ist eine übersinnliche Idee ("Ding an sich"). Der Wille, der seinen Bestimmungsgrund nicht von sich selbst, sondern vom Objekt erhält, ist heteronom,

Wie der hypothetische Imperativ zeichnet sich die Heteronomie durch Zweck-Mittel-Relation aus, nämlich "wenn oder weil man dieses Object will, soll man so oder so handeln; mithin kann er niemals moralisch, d.i. kategorisch, gebieten."32 Heteronomie ist also die Quelle aller nicht-moralischen Maximen, denn der heteronome Wille ist durch die Natur bestimmt.

Der Frau, der es nach Kant an Vernunft mangelt, die aber immerhin über einen Verstand verfügt, ist nur des hypothetischen Imperativs und der nicht-moralischen Maximen fähig. Obwohl Mensch dem Verstande nach, ist sie nur "Natur" der Vernunft nach und damit eben nicht intelligibles Subjekt ("Ding an sich"). Sie bleibt die Zaunreiterin, die "anders" ist als die übrige Natur, aber auch "ganz anders" als der Mann, dem sie ins Reich der Ding-bewährten Demiurgen der unbedingten Freiheitskausalität nicht folgen kann.

Verstandeswelt und Sinnenwelt

Die metaphysische Grundlage von Kants ethischer Auffassung ist die Annahme der Doppelwelten: Verstandeswelt und Sinnenwelt.

Der Begriff der Verstandeswelt taucht zusammen mit dem Begriff "Noumenon" in der Kritik der reinen Vernunft auf. Beide Begriffe markieren negativ die Grenze der Sinnlichkeit.33 Sie gehören nicht zur Sinnlichkeit, stehen also nicht unter der Zeitbedingung. Anders die Sinnenwelt, die hier "Phänomen" genannt ist.

In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verändert Kant die Auffassung von der Verstandeswelt.

Frei zu sein bedeutet also, sich in der Verstandeswelt zu befinden. In diesem Falle ist man moralisch und gut, d.h. man handelt pflichtgemäß.

Diese Art von Kausalität unterscheidet sich von der Naturkausalität. Kant nennt dies Freiheitskausalität (ein Begriff, den ich bisher schon einige Male ohne nähere Erläuterung verwendet habe). Dieser Kausalitätsbegriff ist wichtig für Kants Theorie der Autonomie. Nur durch den Standpunkt der Verstandeswelt kann sich der Wille von den Einflüssen der Sinnenwelt, d.h. von der Heteronomie, befreien. Mensch oder intelligibles Wesen überhaupt ist also derjenige, der die Fähigkeit hat, sich unabhängig das Sittengesetz zu geben und sich diesem zugleich unterzuordnen.

Fazit:

Das "Ding an sich" ist kein konstitutives Prinzip, das "in Wirklicheit" hinter der Welt steht und sie macht. Ganz im Gegenteil ist es vielmehr ein ganz besonderer metaphysischer Ort an welchem man(n) außerhalb der Zeit (Zeitbedingung) ist und spontan, autonom und frei durch Willenshandlung im Einklang mit der überzeitlichen Vernunft eine "Parallelwelt" in Gang setzen kann und im Sinne des "Dings an sich" als Aufgabe immer weiter voranzutreiben hat. Das ist nichts anders, als die Verpositivierung jenes Gewissensortes des Glaubens, den Luther in der 2-Reiche-Lehre angenommen hat (siehe mein Artikel in Exit!2). Dieser Vernunftort ist auch, wie schon bei Luther, "privat" im Subjekt und doch gleichzeitig "allgemein" und damit öffentlich. Denn die Vernunft muß, wenn sie denn wirklich rein ist, letztlich für jedes Subjekt die gleiche, auch in ihrer Handlungsform, sein. Kant hat diesen Systemcharakter des Systems der Vernunftwesen "Zweck an sich" genannt.36 Der "Zweck an sich" (ebenfalls zum "Ding an sich" gehörig) ist all das, was unabhängig von der Natur zweckmäßig getan wird und das Naturwesen Mensch zum intelligiblen Wesen ("Ding an sich") macht, welches würdig ist, autonom sich Gesetze außerhalb der Zeitbedingung im Nimmerland zu geben und sich diesen zu unterwerfen. Der "Zweck an sich" vermittelt die Doppelwelt und verleiht über das "Ding an sich" als Aufgabe den Dingen in der Natur einen Endzweck, der den teleologischen Charakter der Kausalität bei Kant begründet. Von der Natur selbst ist keineswegs auszumachen, ob die Pflanzen für die Tiere und diese für den Menschen da sind, oder die Zweckreihe in eine andere Richtung verläuft. Auf der Ebene der Natur ist der Mensch ein relativer Zweck unter vielen anderen. So könnte die Botanik z.B. "sagen", der Mensch habe den Zweck, die Tiere nicht überhand nehmen zu lassen. Die Frage nach dem "wozu" kann nicht im Physischen gefunden werden, sondern nur vom metaphysischen Standpunkt eines Prinzips außerhalb der Zeitbedingung, das die reale Welt jedoch nicht konstitutiv organisiert, sondern die Dinge zum "Material" einer gesonderten Weltenschöpfung der "intelligiblen Wesen" macht, indem sie die Dinge der Natur vermittels der "Vernunftkausalität" dem Endzweck unterwirft und sie zu Erscheinungen der besonderen Ursache (Handlung der Vernunft) macht.

Die durch die Vernunftkausalität hervorgerufenen Erscheinungen sind notwendig Phänomene in der Natur, nichtsdestoweniger aber vereinheitlicht im Zweck an sich. Dies ist aus meiner Sicht der Grund, warum die Waren einen Doppelcharakter haben, also Wert und Konkretum gleichzeitig sind, - wiewohl Konkretum immer nur als Erscheinung in Hinsicht auf den "Zweck an sich" (Wert). Das erhellt auch den Ursprung der Prädestinationslehre und den Kern des protestantischen Lehrsatzes, daß der "Geldreichtum" Anzeiger für die Auserwähltheit des jeweiligen Subjektes ist. Der "Wert" repräsentiert den "Zweck an sich" und der "Mehrwert" zeigt an, daß die Subjekte über ordnungsgemäße Ausübung des "vernünftigen" Willens auf dem Weg der Schaffung ihrer Parallelwelt via Ingangsetzung der Vernunftkausalität vorangekommen sind.

Der "Frau" hingegen bleibt der relative Zweck unter der Zeitbedingung zugewiesen, sie gewährleistet in der Kantschen Doppelwelt die Existenz des Menschen als "sinnliches Wesen" unter der Naturkausalität. Dieser Bereich ist den Begriffen notwendig entzogen, denn in der Natur gibt es keine "Freiheit". Die Frau verfügt über Verstand, um Sinnenwelt im Sinne relativer Zwecke zu gewährleisten, ist also mit der übrigen Natur nicht gleichzusetzen. Insofern schafft sie die Voraussetzungen für die Existenz der Vernunftwesen. Gleichzeitig ist sie damit aber "Natur" in einem besonderen Sinne, denn die von ihr in die Welt gesetzten und "am Kacken" gehaltenen intelligiblen Wesen weisen ihr einen Zweck aus Ausübung der Vernunft zu, der für sie als Nichtpartizipantin an der intelligiblen Welt unerkennbar bleibt und bleiben "muß". Vom "Zweck an sich" (Wert-Mehrwert) bleibt sie in der Kantschen Lesart notwendig abgespalten, ist auch nicht Konkretum als Erscheinung im Hinblick auf den "Endzweck" der in Gang gesetzten Freiheitskausalität. Als der "andere" Mensch, das "andere Geschlecht", fängt sie anders als der "Mann" Wirkungen in der Sinnenwelt kausal von selbst NICHT an, denn die Handlungen fangen in ihr an. Von Göttlichkeit des "ewig Weiblichen" keine Spur.

Anmerkungen:

1 Der Widerspruch in der Dialektik ist nicht logisch. Ein logischer Widerspruch entsteht in einer Aussage, die als wahr und gleichzeitig als falsch angesehen wird, nicht aber, wenn sie in einer Hinsicht falsch und in anderer Hinsicht wahr ist. So kann dieser Widerspruch als dialektisch betrachtet werden.

2 KrV, S. 560 f.

3 KrV, S. 560

4 KrV, S. 570

5 KrV, S. 561

6 KrV, S. 363

7 KrV, S. 566

8 KrV, ebenda

9 Thesis: Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen.

Antithesis: Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raum, sondern ist sowohl in Ansehung der Zeit als des Raumes unendlich.

10 KrV, S. 536

11 KrV, S. 537

12 KrV, ebenda

13 KrV, S. 537

14 KrV, S. 561

15 KrV, S. 582

16 KrV, S. 378 f.

17 vgl. z.B. B. Ortwein, Kants problematische Freiheitslehre, Bonn 1983

18 KrV, S. 566

19 KrV, S. 567 f.

20 KrV, S. 575

21 KrV, S. 576

22 KrV, S. 34 f.

23 KrV, S. 33

24 GMS, IV, S. 444

25 GMS, IV, S. 457

26 GMS, IV, S. 413

27 GMS, IV, ebenda

28 GMS, IV, S. 461

29 GMS, IV, S. 416

30 GMS, IV, S. 440

31 GMS, IV, S. 441

32 GMS, IV, S. 444

33 KrV, S. 310

34 GMS, IV, S. 453

35 GMS, IV, ebenda

36 Die meisten Fundstellen hierfür finden sich in der Kritik der Urteilskraft. Ich führe das hier nicht weiter aus, weil es vom Umfang her ein zweites Arbeitspapier notwendig machen würde.