Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Robert KurzUNRENTABLE MENSCHENEin Essay über den Zusammenhang von Modernisierungsgeschichte, Krise und neoliberalem SozialdarwinismusVorbemerkung: Dieser Text stellt die verschriftlichte Fassung eines Vortrags dar, der am 15. November 2005 in Brunnen/Schweiz bei der Jahrestagung von INTEGRAS (Schweizer Fachverband für Sozial- und Heilpädagogik) gehalten wurde. Der Text entwickelt keine neuen Gedanken, gibt aber einen gerafften Überblick über die analytischen Standardaussagen der Wert-Abspaltungskritik, wie sie sonst nur verstreut in diversen Artikeln oder im größeren Argumentationszusammenhang von Büchern zu finden sind. Die Zwischenüberschriften stammen von der Integras-Redaktion; die Vorträge dieser Tagung erscheinen demnächst als Broschüre. Es ist unübersehbar: Die soziale Spaltung der Gesellschaft vertieft sich und nimmt dramatische Ausmaße an; gleichzeitig werden die Institutionen, die das Soziale bearbeiten und verwalten sollen, durch finanzielle Restriktionen ausgedünnt und paralysiert. Je nach der ökonomischen Situiertheit am Weltmarkt, den nationalen Traditionen und Strukturverhältnissen erscheint das Problem in den einzelnen Ländern aktuell unterschiedlich ausgeprägt; aber die Grundtendenz ist überall dieselbe. Wenn eine Gesellschaftsordnung den Katalog ihrer Anforderungen permanent verschärft und immer mehr Menschen ausgrenzt, ist dies ein Indiz dafür, daß sie in ihrer grundsätzlichen Verfaßtheit als Produktions- und Lebensweise an immanente Grenzen stößt. Es handelt sich also um eine strukturelle Krise der basalen Formen ihrer Reproduktion, die normalerweise blind vorausgesetzt werden. Deshalb kann diese Krise als gesamtgesellschaftliches Problem von keinem einzelnen Standpunkt einer spezifischen Tätigkeit, eines besonderen Interesses oder einer partikularen Institution aus erklärt und bewältigt werden. Es bedarf gewissermaßen der gesellschaftskritischen Vogelperspektive, um in der "neuen Unübersichtlichkeit" (Habermas) eine Orientierung zu finden. Zunächst haben wir es mit einer großen Irritation nach dem Zusammenbruch des Sozialismus zu tun. Das Ende des Systemkonflikts und des Kalten Krieges wurde als endgültiger Sieg des westlichen Kapitalismus interpretiert; man versprach sich ein neues goldenes Zeitalter der Prosperität durch die weltweite Öffnung der Märkte in einem universellen, einheitlichen Weltsystem. Die Ernüchterung durch immer neue soziale Einschnitte, ökonomische Krisen, weltweite Bürgerkriege und zunehmende Barbarei ist inzwischen so stark, daß eine andere Erklärung notwendig geworden ist. Nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten der beiden Nachkriegsgesellschaften sind wesentlich für ein zureichendes Verständnis der Entwicklung. Alle modernen Gesellschaften sind warenproduzierende Systeme, egal ob in einer mehr staatlich regulierten Verfassung (Staatssozialismus, Keynesianismus) oder in der Form des weitgehend ungezügelten Marktes (neoliberaler Konkurrenzkapitalismus); und ihr gemeinsames Bezugssystem ist der Weltmarkt. Der universelle Markt steht jedoch nicht für sich, sondern er ist die Funktionssphäre eines irrationalen gesellschaftlichen Selbstzwecks, nämlich aus Wert mehr Wert und damit aus Geld mehr Geld zu machen (Kapitalverwertung oder Kapitalakkumulation). Erst durch diesen zu Grunde liegenden Selbstzweck ist der Markt überhaupt universell geworden, während die Warenproduktion in vormodernen Sozietäten nur marginalen Charakter hatte und sich das Leben zum größten Teil in anderen Formen reproduzierte. Karl Marx hat den Unterschied in zwei einfache Formeln der Beziehung von Ware (W) und Geld (G) gefaßt. Als bloße Nischenform in den Poren der agrarischen Sozietäten funktionierte das Verhältnis nach der Formel W-G-W. Das Geld beschränkt sich hier auf die Rolle der Vermittlung, am Anfang und Ende der Transaktion stehen die Bedürfnisgegenstände in der Form der Ware. In der Moderne verkehrt sich das Verhältnis, hier funktioniert es nach der Formel G-W-G’. Die konkreten Bedürfnisgegenstände sind selber nur noch "Medium" für die Verwertung von Geldkapital, d.h. die Verwandlung von Wert (G) in Mehrwert (G’). Das bedeutet, daß die Befriedigung der Bedürfnisse zum bloßen Abfallprodukt der Verwertung degradiert und von dieser abhängig gemacht wird. Die Produktion löst sich als "Betriebswirtschaft" von den sozialen Lebenszusammenhängen ab und verselbständigt sich als anonymer Systemprozeß gegenüber den Menschen, die keine Kontrolle mehr über die Reproduktion ihres eigenen Lebens haben. Arbeit, Wert, VerwertungDer innere Mechanismus dieser "herausgelösten Ökonomie" (Karl Polanyi) besteht in der Vernutzung von menschlicher Energie ("Arbeit"). Das Abstraktum Arbeit war in den vormodernen Sozietäten negativ besetzt als ursprünglicher Sammelbegriff für die Tätigkeit von Abhängigen (Sklaven). Erst in der Moderne wird Arbeit positiviert und universalisiert. Hier gilt Arbeit als "Substanz" (Marx) des Werts und damit der Verwertung. Geld ist nichts anderes als die Repräsentanz eines Quantums Arbeit. Die Tätigkeit in dieser Form wird jedoch dem systemischen Selbstzweck entsprechend ebenfalls von den Bedürfnisinhalten abgelöst und daher diesen gegenüber gleichgültig; deshalb handelt es sich um "abstrakte Arbeit" (Marx). Es ist egal, ob Schokoladenplätzchen oder Handgranaten hergestellt werden, Hauptsache abstrakte menschliche Energie als "Verausgabung von Nerv, Muskel, Hirn" (Marx) kann in Geld (Mehrwert) verwandelt werden. Dem Selbstzeck der Verwertung entspricht der Selbstzweck der "abstrakten Arbeit"; der unendliche Progreß der Anhäufung von Wert ist nichts anderes als die unendliche Anhäufung von toter (vergangener) Arbeit. Aus Arbeit soll immer mehr neue Arbeit werden. Unter diesen Bedingungen stellt der Markt keinen Austausch zwischen unabhängigen Produzenten mehr dar. Er ist nichts anderes als die Sphäre der "Realisation" von Mehrwert, d.h. der Rückverwandlung von "mehr Arbeit" in "mehr Geld". Deshalb ist die "Freiheit des Marktes" illusorisch; dieser Freiheit liegt das Zwangsverhältnis der "abstrakten Arbeit" zu Grunde. Der Zwang ist dabei kein persönlicher mehr (wie etwa im Verhältnis von Herr und Knecht), sondern ein anonymer Systemzwang, sich selbst als "Verausgabungsmaschine" von abstrakter menschlicher Energie (Arbeitskraft) an die "herausgelöste Ökonomie" zu verkaufen. Alle Tätigkeiten, "Haltungen" und Verhaltensweisen, die zur Reproduktion des Lebens notwendig sind, jedoch nicht oder nur schwer in das System von "abstrakter Arbeit" und herausgelöster Verwertungsökonomie einbezogen werden können, wurden historisch von diesem abgespalten und an die Frauen delegiert als kostenlose "Liebesarbeit" (so genannte Hausarbeit, Fürsorge, Betreuung, Zuwendung, Ausübung soziopsychischer Pufferfunktionen usw.). Das System der herausgelösten Ökonomie ist daher immer schon gleichzeitig ein System der "geschlechtlichen Abspaltung" (Roswitha Scholz). Deshalb ist die Abspaltung ebenso eine Totalitätskategorie wie Verwertung und "abstrakte Arbeit"; das gesellschaftliche Gesamtverhältnis stellt sich so als ein komplexes, in sich gebrochenes dar. Das Abspaltungsverhältnis beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Sphäre (etwa die familiale), sondern zieht sich quer durch alle Reproduktionsbereiche einschließlich der "abstrakten Arbeit" selbst. Die Verwertungsökonomie ist "strukturell männlich" bestimmt. Dennoch wurden auch die Frauen im Modernisierungsprozeß zunehmend als Arbeitskraftreservoir benutzt. Jedoch nicht im Sinne einer Befreiung, sondern als doppelte Unterordnung unter die "abstrakte Arbeit" und die weitgehend als minderwertig und sekundär behandelten abgespaltenen Momente ("Doppelbelastung"). Frauen werden in der Verwertungsökonomie bis heute in der Regel schlechter bezahlt, bleiben in Führungspositionen unterrepräsentiert und gelten gleichzeitig weiterhin als zuständig für die allseitige "Liebesarbeit" in allen Bereichen. Das moderne warenproduzierende Patriarchat und seine WidersprücheDieser kurze Abriß des basalen Systemzusammenhangs aller Varianten des modernen warenproduzierenden Patriarchats (denn so wäre die Verwertungsgesellschaft unter Einbeziehung des Abspaltungsverhältnisses genauer zu nennen) verweist an sich auf eine ungeheure Zumutung. Diese wurde jedoch im Verlauf eines langen historischen Prozesses verinnerlicht und zur unhinterfragbaren Normalität gemacht. Menschen haben im Sinne des systemischen Selbstzwecks "rentabel" zu sein; nur insofern ist die Existenz garantiert. In der Frühmoderne seit dem 16. Jahrhundert und im Frühkapitalismus des 18. und 19. Jahrhunderts wurden diese Anforderungen mit blutigem Zwang und gegen den lang anhaltenden Widerstand von sozialen Bewegungen durchgesetzt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Epoche der industrialisierten Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise, schien das moderne warenproduzierende Patriarchat bereits an seinen inneren Widersprüchen zu scheitern und sich in Chaos und Barbarei aufzulösen – extrem ausgeprägt im spezifisch deutschen Menschenvernichtungssystem des exterminatorischen Antisemitismus bzw. Nationalsozialismus. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg gab es den "kurzen Sommer" des Wirtschaftswunders. Die von der Konkurrenz erzwungene Entwicklung der Produktivkräfte setzte ungeahnte Potentiale frei, die eine "Zivilisierung des Kapitalismus" ermöglichen sollten. Trotz Rationalisierung schwoll der Bedarf an "abstrakter Arbeit" an wie nie zuvor, weil die vorher auf schmale Schichten beschränkten industriellen Luxusgüter (Automobile, Haushalts- und Unterhaltungselektronik etc.) in den Massenkonsum eingingen und die Märkte sich sprunghaft erweiterten. Jetzt erst wurden die Frauen im großen gesellschaftlichen Maßstab in die Erwerbsarbeit der Verwertungsökonomie einbezogen. Der Warenkonsum einschließlich Massentourismus etc. avancierte zu einer Art Quasi-Religion. Der irrationale systemische Selbstzweck schien sich mit den Bedürfnissen zu versöhnen, wenn auch in einer ihm anverwandelten, in vieler Hinsicht destruktiven Gestalt (Individualverkehr, Umweltzerstörung usw.). Ein weiteres Abfallprodukt des Nachkriegsbooms war der rasante Ausbau von Sozialstaat und öffentlichen Infrastrukturen, von Bildung, Sozialarbeit und medizinischer Versorgung für alle auf hohem Standard. Zwar beschränkte sich die Realität dieses nach dem US-Automobilfabrikanten Henry Ford als "Fordismus" bezeichneten "goldenen Zeitalters" der Verwertungs- und Abspaltungsgesellschaft auf die westlichen industriellen Kernländer, doch schien damit eine Perspektive der "Entwicklung" auch für die übrigen Teile der Welt vorgezeichnet zu sein. Obwohl die Entfaltung der Produktivkräfte unter dem Druck der universellen Marktkonkurrenz nach wie vor dem Diktat folgte, Arbeit in mehr Arbeit zu verwandeln, und obwohl der Glanz des "Wirtschaftswunders" schon seit den 70er Jahren zu verblassen begann, wurde seither das Potential der Produktivität als "Zivilisationsmaschine" gefeiert. Die vielen Generationen, die in der "abstrakten Arbeit" unter schlimmsten Bedingungen verheizt worden waren, fielen der Vergessenheit anheim. Auch die Befreiung der Frauen von ihren traditionellen Zuweisungen schien trotz "Doppelbelastung" in Reichweite zu rücken, indem sie zunehmend "eigenes Geld verdienen" konnten, die Hausarbeit als elektronisch robotisierbar imaginiert wurde und viele der abgespaltenen Bereiche entweder in kommerzielle Sektoren oder in staatlich finanzierte öffentliche Einrichtungen aufgelöst werden sollten. Allen positiven Erwartungen machte jedoch seit den 80er Jahren die dritte industrielle Revolution, die der Mikroelektronik, einen dicken Strich durch die Rechnung. Schon immer war dieselbe Produktivkraftentwicklung, die in der Nachkriegsgeschichte des Fordismus so große Erfolge erzielte, gleichzeitig auch die Bedingung der Krise. Denn je größer die Produktivität, desto geringer die "Arbeitssubstanz" pro Ware und desto geringer daher der Wert, auf den es doch im Verwertungsprozeß allein ankommt. Dieser Widerspruch entsteht dadurch, daß die einzelnen Betriebswirtschaften nicht unmittelbar denjenigen Mehrwert auf dem Markt "realisieren", der in ihren eigenen vier Wänden erzeugt wurde, sondern immer einen Teil des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts. Dieser Anteil wird durch die Konkurrenz bestimmt, und in dieser ist ein Unternehmen umso erfolgreicher, je billiger es anbieten kann. Das Mittel dafür ist eben die Steigerung der Produktivität. Auf diese Weise treten jedoch gesellschaftlich Mittel und Zweck in Widerspruch: Ein Unternehmen kann sich einen umso größeren Teil des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts aneignen, je mehr es durch Produktivkraftsteigerung dazu beiträgt, die Wertproduktion als solche auszuhöhlen und zu untergraben. In den historischen Krisen kam dieser Widerspruch jeweils nur kurzzeitig zum manifesten Ausbruch. Er konnte immer wieder dadurch überwunden werden, daß das Sinken des Werts und damit Mehrwerts pro einzelner Ware qua verminderter Arbeitssubstanz überkompensiert wurde durch die gleichzeitige Ausdehnung der Gesamtarbeitsmenge qua Erweiterung der Märkte; am erfolgreichsten wie gezeigt in der fordistischen Nachkriegsära. Die mikroelektronische Revolution und ihre FolgenIn der mikroelektronischen Revolution funktioniert jedoch diese Kompensation nicht mehr. Das Potential der Rationalisierung ist jetzt so groß, daß ständig mehr Arbeit überflüssig gemacht wird, als durch Erhöhung der Warenproduktion zusätzlich in die Verwertung eingesaugt werden kann. Trotz vergrößerter Warenmenge nimmt die auf dem Produktivitätsstandard der Mikroelektronik "gültige" gesellschaftliche Arbeitssubstanz rapide ab und damit die Krise strukturellen Charakter an. In den peripheren Regionen des Weltmarkts, im Bereich des östlichen Staatssozialismus und der südlichen "nachholenden Entwicklung", führte dies bereits zu gesellschaftlichen Zusammenbrüchen, gerade weil mangels Kapitalkraft die Mikroelektronik nicht ausreichend angewendet werden konnte und die jeweilige Produktion deshalb unter den Weltstandard der Produktivität fiel (also "unrentabel" wurde und nicht mehr konkurrenzfähig war). Dies wurde als spezifisches Versagen der staatssozialistischen Varianten interpretiert statt als Teil einer Weltkrise der dritten industriellen Revolution, obwohl dasselbe Problem sich längst auch im Westen als strukturelle Massenarbeitslosigkeit bemerkbar machte; und zwar gerade aufgrund der forcierten Anwendung der Mikroelektronik. Seither hat sich die Krise bis tief in die westlichen Zentren vorangefressen. Immer mehr Menschen werden "unrentabel" und ausgegrenzt; überall veröden ganze Landesteile, während sich die Betriebswirtschaft auf einem schrumpfenden Terrain der Rentabilität globalisiert. Mangels realer Mehrwertproduktion flüchtet das Geldkapital gleichzeitig in eine Finanzblasen-Ökonomie. Nicht mehr der Verkauf von Waren ist entscheidend, sondern die Differenzgewinne aus der Zirkulation von Finanztiteln tragen eine fiktiv gewordene Verwertung. Unternehmen und Unternehmensteile werden gehandelt wie Schweinehälften (Fusionitis und Übernahmeschlachten ohne Realinvestitionen). In populären Interpretationen wird der Kausalzusammenhang meist auf den Kopf gestellt und fälschlich eine Art "Heuschreckenplage" der Spekulanten mit antisemitischen Untertönen für die Misere verantwortlich gemacht, als läge das Problem nicht in den Widersprüchen des warenproduzierenden Systems selbst. Die Ausdehnung der Märkte schlägt bei zurückgehender Kaufkraft mangels ausreichender rentabler Anwendungsfähigkeit von "abstrakter Arbeit" um in globale Überkapazitäten, die sukzessive stillgelegt werden. Es ist absurd: Weil die Produktivität für das systemische Fassungsvermögen "zu hoch" geworden ist und zu viele Güter mit zu wenig Arbeit hergestellt werden können, sinken immer mehr Menschen auf ein noch vor kurzem nicht vorstellbares Armutsniveau ab. Die soziale Spaltung vertieft sich stetig weiter; selbst die Mittelklasse wird inzwischen vom Strudel der Krise erfaßt. Der Sozialstaat wird demontiertEs geht aber nicht nur um den Abbau von unrentabel gewordenen Produktionskapazitäten, sondern im Zuge dieser negativen Tendenz mutiert auch der Staat zunehmend zu einer bloßen Notstandsverwaltung, weil er die globalisierte Betriebswirtschaft nicht mehr regulieren kann und ihm die Einnahmen wegbrechen. Es gibt in fast allen Ländern einen parteiübergreifenden neoliberalen Konsens, der nur noch die Anforderungen der Systemkrise an den Menschen exekutiert und ideologisch legitimiert. Jetzt zeigt es sich, daß die "zivilisatorischen Errungenschaften" der Nachkriegsära nicht für sich standen, sondern nur aus einer gelingenden Verwertung "abstrakter Arbeit" zu alimentieren waren. In demselben Maße, wie diese zurückgeht, wird auch die soziale Zivilisierung heruntergefahren. Ausgerechnet unter den Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit und neuer Armut baut der Sozialstaat ab und entläßt seine Kinder. Ganze Infrastrukturen dünnen aus und werden auf wenige "Metropolregionen" zugeschnitten. Der Staat verscherbelt den öffentlichen Dienst wie ein verarmter Adeliger sein Tafelsilber. Privatisierung bedeutet in der Regel Reduktion auf private Zahlungsfähigkeit und damit das Ende der Flächenstruktur. Die Bahn legt Strecken still, die Post schließt Filialen. Im Bildungswesen macht sich die Zweiklassenbildung breit (Elitekonzept), im Gesundheitswesen die Zweiklassenmedizin. Jetzt heißt es wieder ganz ungeniert: Weil du arm bist, mußt du früher sterben. Am härtesten betroffen von den finanziellen Restriktionen ist meist die unterste Stufe der sozialen Pyramide im öffentlichen Dienst: die Institutionen der Sozialarbeit, der Behinderten-, Obdachlosen- und Altenbetreuung, weil diese die schwächste Lobby haben. Die aus der Verwertungskrise resultierende Krise des Sozialstaats und der öffentlichen Dienste führt nach den Massenentlassungen im kommerziellen und industriellen Bereich auch in den ehemals staatlich betriebenen Sektoren zu einer ebensolchen "Freisetzung" von Beschäftigten, die das Heer der Degradierten komplettieren. Immer mehr Menschen werden in Billig-Dienstleistungen und in die Sphäre der Zirkulation, des Straßenhandels, Elendsunternehmertums etc. abgedrängt. Dabei trifft es besonders die Frauen. Die Rede vom Ende des Patriarchats wird Lügen gestraft. Einerseits delegieren Staat und Ökonomie die finanziell ausgebluteten Aufgaben der Pflege und Betreuung im weitesten Sinne zurück an die kostenlose weibliche "Liebesarbeit". Andererseits sind die Frauen auch überproportional vom Abbau der öffentlichen Dienste betroffen. Zwar haben die Frauen in den westlichen Ländern hinsichtlich der Bildungsabschlüsse mit den Männern gleichgezogen, aber ihre Berufstätigkeit konzentrierte sich in hohem Maße auf genau die öffentlichen Bereiche, die jetzt ausdünnen. Sie erleben massenhaft die Entwertung ihrer Qualifikationen. Teilweise rücken an ihre Stelle un- oder anqualifizierte zwangsverpflichtete alleinerziehende Mütter, die von der Sozialverwaltung besonders hart herangenommen werden. Diese wiederum sollen ihre Kinder in Betreuungseinrichtungen abgeben, in denen zu hohen Teilen noch billigere osteuropäische Migrantinnen tätig sind. Auch die öffentliche Armut ist in erster Linie weiblich. Gleichzeitig ist die Krise der Verwertungsökonomie und "abstrakten Arbeit" auch eine Krise männlicher Identität; im Krisenalltag nimmt männliche (familiale) Gewalt gegen Frauen dramatisch zu, während Frauenhäuser als Auffangstellen geschlossen werden. Die Hierarchie der UnrentablenWas folgt aus den verschärften Krisenbedingungen? Allgemein läßt sich sagen: Früher oder später sind wir alle unrentabel. Das stimmt zwar, aber es ist dennoch in dieser Abstraktheit eine argumentative Falle, weil dabei die Binnendifferenzierungen unberücksichtigt bleiben. Je härter die Krise, desto härter auch die universelle Konkurrenz, die von der Krisenverwaltung instrumentalisiert wird, um die verschiedenen Gruppen der Degradierten gegeneinander auszuspielen. Es gibt die soziale Spaltung nicht nur zwischen immer weniger Gewinnern und immer mehr Verlierern, sondern auch unter den Verlierern selbst. Noch-Beschäftigte und Arbeitslose, Frauen und Männer, Junge und Alte, prospektive Erben und Kinder von Vermögenslosen, Gesunde und Kranke, Nichtbehinderte und Behinderte, Inländer und Ausländer stehen gerade auf Armutsniveau einander gegenüber; und es geht darum, "für wen es noch reicht". Wir haben es also mit einer von prekären Verteilungskämpfen durchzogenen Hierarchie der Unrentabilität zu tun. Ganz unten in dieser Hierarchie finden sich die absolut Hilflosen, die nicht einmal mehr bösartig und kriminell werden können: Demenzkranke, geistig und körperlich Behinderte, Pflegebedürftige und Todkranke. Die zunehmenden Skandale in Alten- und Pflegeheimen, mitbedingt durch Dequalifizierung des verminderten, unter Kosten- und Leistungsdruck stehenden Personals, sprechen Bände. Mitten in den Demokratien findet eine strukturelle Entzivilisierung und Enthumanisierung statt, die man bislang weit draußen in der sowieso schon großenteils abgeschriebenen Peripherie des Weltmarkts wähnte. Das ist kein Pessimismus, sondern eine sich ausweitende gesellschaftliche Realität. Unter diesen Bedingungen befinden sich die klassischen Krisenreaktionen und Krisenideologien des Sexismus, Rassismus und Antisemitismus weltweit im Vormarsch, quer durch alle sozialen Schichten. Die Dämonen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kehren in modifizierter Gestalt zurück; nicht zuletzt eine sozialdarwinistische Mentalität, die im klassischen Liberalismus wurzelt und deshalb heute die neoliberale Weihe in kaum noch verbrämter Form erhalten kann. "Survival of the fittest" ist als gar nicht mehr so klammheimliche Parole wieder angesagt. Die zugrunde liegende Logik besagt, daß nicht das zum Naturgesetz erklärte warenproduzierende Patriarchat zur Disposition steht, sondern das Lebensinteresse und Lebensrecht der unrentablen Menschen. Die Theorie des Hardcore-Liberalen Thomas Malthus von der "Überbevölkerung" aus dem frühen 19. Jahrhundert kommt zu neuen Ehren. Nicht erst die Nazis haben die mörderische Devise vom "lebensunwerten Leben" erfunden und bis zur letzten Konsequenz getrieben, sondern sie vielmehr aus einem breiten Strom des sozialdarwinistischen Denkens geschöpft, in dem bis zum Ersten Weltkrieg und danach außer den Liberalen auch große Teile der Linken und der Sozialdemokratie mitschwammen (was heute kaum noch bekannt ist). Deshalb kann der parteiübergreifende neoliberale Konsens heute auch wieder an den alten sozialdarwinistischen Konsens anknüpfen bis in die gesellschaftliche Mitte und sogar in die parlamentarische Linke hinein: eine dumpfe legitimatorische Basis für die Entzivilisierungstendenzen der Krisenverwaltung und ihrer Mitverwaltungskräfte. Elemente dieses Denkens sind eben nicht nur bei rechtsradikalen Banden anzutreffen, die in Deutschland schon mal Behinderte als "Kostenfresser" beschimpften und aus ihren Rollstühlen kippten, sondern auch im Apparat der Sozialverwaltung und bei den Kadern der demokratischen politischen Klasse. Zu ihren Ahnherren gehört etwa der österreichische Sozialdemokrat Rudolf Goldscheid, der vor dem Ersten Weltkrieg den Begriff der "Menschenökonomie" erfand und dem Staat eine "rentable Menschenzucht" anempfahl, damit nicht behindertes Menschenmaterial durchgefüttert werden müsse. Gerade in Zeiten einer Krise der "abstrakten Arbeit" und der hyperproduktiven Überkapazitäten wird heute dieser Ertüchtigungswahn wieder mobilisiert. Die scheinbare Überwindung des Sozialdarwinismus gehörte zur Schönwetterphilosophie des vergangenen Wirtschaftswunders, die jetzt stillschweigend beerdigt wird. Widerstand und GesellschaftskritikWelche Möglichkeiten des Widerstands gibt es angesichts dieser überwältigenden Großtendenz der Entzivilisierung? Offenbar genügt eine begrenzte Lobbyarbeit der geschwächten sozialen Dienste nicht mehr. Zwar gibt es keinen rein objektiven Determinismus der Krise und in jeder gegebenen Situation können immanente Spielräume genutzt werden, um "etwas herauszuholen". Aber das geht nur noch im Zusammenhang mit einer breiten sozialen Bewegung, die fähig wird, ansatzweise die universelle Konkurrenz zu überwinden und ein Bündel von Forderungen durchzusetzen, auch wenn dadurch die in den Systemwidersprüchen der "abstrakten Arbeit" und ihrer geschlechtlichen Abspaltungsstruktur wurzelnde Krise als solche nicht zu überwinden ist. Damit eine solche Bewegung überhaupt möglich wird, bedarf es eines zähen Kleinkriegs auch im Alltag gegen das sozialdarwinistische, sexistische, rassistische und antisemitische Denken in allen seinen Variationen. Darüber hinaus können sich die Verlaufsformen der Krise zu einer neuen Gesellschaft öffnen, wenn der immanente Widerstand die Perspektive einer anderen Produktions- und Lebensweise jenseits des warenproduzierenden Patriarchats und damit auch jenseits des alten Staatssozialismus findet. Diese Öffnung wird nur möglich durch eine Öffnung auch des geistigen Horizonts zu einer neuen radikalen Gesellschaftskritik – statt sich vom Krisenalltag mit Haut und Haar auffressen zu lassen. |