Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen im Neuen Deutschland
am 10.02.2006

Robert Kurz

DER INDER KOMMT

Große Aufregung nicht nur in der Stahlbranche, sondern auch in den Medien und bei der politischen Klasse der EU: Die Unternehmensgruppe des indischen Stahlmilliardärs Lakshmi Mittal will durch eine feindliche Übernahme den größten europäischen Stahlkonzern Arcelor, dessen Hauptwerke in Frankreich und den Benelux-Ländern stehen, für rund 19 Milliarden Euro kassieren. Die keynesianischen Nostalgiker sehen die nationale und europäische Identität durch die angeblichen neuen Weltmächte Indien und China bedroht; die neoliberalen Euphoriker möchten eine segensreiche Gerechtigkeit der Globalisierung erkennen. Thomas Hanke behauptete in einem Leitartikel des Handelsblatt: „Aus früheren Kolonien sind gleich starke Mitspieler geworden. Einen besseren Beleg für die Fortschrittsdynamik des Kapitalismus gibt es nicht“.

An solchen Kommentaren ist einzig richtig, dass Mittal in Indien geboren wurde. Aber er ist längst kein Inder mehr, sondern hat einen britischen Pass und residiert in der Londoner Milliardärs-Meile Kensington Palace Gardens. Sein Vormarsch hat nichts mit einem nationalökonomischen Aufstieg Indiens zu tun. In Wirklichkeit hat Indien wie China und die meisten Länder der ehemaligen Dritten Welt Anfang der 90er Jahre unter dem Druck der globalen Verwertungskrise jede gesamtnationale Entwicklungsperspektive aufgegeben und sich für transnationales Kapital geöffnet. Faktisch handelt es sich bei Mittal-Steel um einen transnationalen britisch-niederländischen Konzern mit Sitz in Rotterdam, der von London aus gesteuert wird. Eine indische Basis gibt es nicht; die Gruppe hat 175.000 Beschäftigte auf vier Kontinenten und in 14 Ländern, darunter Trinidad und Tobago, Kasachstan, Algerien, China, Polen, Rumänien, Tschechien, Bosnien, USA (International Steel) und Deutschland (Hamburger Stahlwerke). Für die Übernahmeschlacht um Arcelor wurde eine neue Holding in der Schweizer Steueroase Zug gegründet, die vorher ihren Sitz auf den Niederländischen Antillen hatte.

Es ist ein schlechter Witz, diese Kapital-Agglomeration als Industrialisierung der ehemaligen Kolonie Indien zu beschreiben. Selbst der scheinbar realökonomische Stahl- und Rohstoff-Boom, in dessen Sog sich der Aufstieg Mittals vollzog, fußt letztlich auf der Verschuldung der US-Ökonomie, die mit einseitigen Exportströmen aus aller Welt beliefert wird. Im Rahmen dieser fragilen Defizitstruktur finden in allen Branchen transnationale Konzentrationsprozesse statt; nach Angaben der Deutsche-Bank-Research wird der Weltmarkt für Stahl binnen kurzem von einer Handvoll Global Players mit einer Kapazität von jeweils hundert Millionen Tonnen beherrscht sein. Dabei geht es letztlich weniger um realen Mehrwert aus der Stahlproduktion als um ein fiktives Wachstum durch Differenzgewinne auf dem zirkulativen „Unternehmensmarkt“ von Finanztiteln. Überall werden die Industrien mitten im defizitgetriebenen Boom ausgeschlachtet. Egal wie der Kampf um Arcelor ausgeht: Es ist absehbar, daß im Zuge der Umgruppierung tausende von Stahlarbeitern entlassen werden, während anderswo kein einziger neuer Arbeitsplatz entsteht, schon gar nicht in Indien. Mittal-Steel ist die typische Erscheinung eines transnationalen Minderheitskapitalismus, wie er aus der Verwertungskrise der 3. industriellen Revolution hervorgegangen ist. Die Expansion der Global Players ist identisch mit einer schleichenden Deindustrialisierung in vielen Ländern, die längst auch Europa erreicht hat. Es gehört schon eine Portion Chuzpe dazu, hier von einer „Fortschrittsdynamik des Kapitalismus“ zu fabulieren.