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erschienen in der Wochenzeitung "Freitag"
am 23.02.2007

Robert Kurz

EIN SCHLUCK AUS DER PULLE

Untiefen der Tarifauseinandersetzung

Die Wirtschaft brummt, profitieren wieder nur die Bosse?“ Mit dieser populistischen Formulierung thematisierte selbst der stramm neoliberale Wirtschaftssender N-TV die Beteiligung der LohnarbeiterInnen am gefeierten Konjunkturaufschwung. Das Management signalisiert für die anstehenden Tarifverhandlungen in Schlüsselbranchen wie Metall und Chemie, dass 3 Prozent drin seien; nicht mehr als beim Metall-Abschluss 2006. Ein Teil des IG-Metall-Vorstands wollte diesmal 7 Prozent; heraus kam schließlich eine Forderung von 6,5 Prozent - um eine zu große Differenz zum späteren Abschluss zu vermeiden, wie es hieß. Angesichts steigender Arbeitszeiten, sinkender Reallöhne, zunehmender Leistungshetze und zahlloser Zugeständnisse etwa beim Weihnachts- und Urlaubsgeld in den letzten Jahren wäre eine überdurchschnittliche Lohnerhöhung überfällig. Die Frage ist freilich einmal mehr, wie es um die gewerkschaftliche Kampfkraft steht.

Der strukturelle Wandel im Lohngefüge könnte abermals einen Strich durch die Rechnung machen. Die Flächentarife sind längst durchlöchert. Besonders in Ostdeutschland haben viele Betriebe den Tarifverbund verlassen. Auch innerhalb der Tarife gab es eine zunehmende Konzentration auf Kernbelegschaften. Durch befristete Leiharbeit gehören viele Beschäftigte nicht mehr dem Branchentarif an, auch wenn sie in derselben Firma arbeiten. Außerdem haben nicht nur die großen Konzerne mittels „Outsourcing“ ganze Belegschaftsteile in wesentlich niedriger bezahlte Dienstleistungsbranchen abgespalten. Und viele ehemalige IndustriearbeiterInnen finden sich nach der Arbeitslosigkeit in prekären Beschäftigungsverhältnissen außerhalb der Sozialversicherungspflicht wieder. Der Mitgliederschwund der Gewerkschaften ist auch darauf zurückzuführen, dass sich die aus den Tarifen Herausgefallenen nicht mehr vertreten fühlen. Noch in den 70er und 80er Jahren war es ein integraler Bestandteil der Tarifforderungen, besonders die unteren Lohngruppen anzuheben. Im Zuge der Aufspaltung galt seither die Devise: Aus den Augen, aus dem Sinn. Die ohnehin mageren Tariferhöhungen ziehen das allgemeine Lohnniveau nicht mehr mit, sondern die gewollte Lohnspreizung reißt immer tiefere Gräben auf.

Inzwischen grassiert aber auch in der tariflichen Vollzeitarbeit die Angst, wie sich selbst bei Airbus und in der Autoindustrie zeigt. Ganz unabhängig von der konjunkturellen Oberflächenentwicklung gehen die Prozesse von Rationalisierung und Globalisierung ungebremst weiter. Bei allen Beschäftigten ist der Krankenstand auf das niedrigste Niveau seit Einführung der Lohnfortzahlung gefallen; selbst fiebernde Bazillenschleudern schleppen sich an den Arbeitsplatz. Die gewerkschaftliche Ausrichtung auf schrumpfende Kernbelegschaften geht mit einer schwindenden Durchsetzungsfähigkeit einher. Von einem Durchbrechen der Branchengrenzen, einem Einbeziehen der an die Politik delegierten Mindestlohnforderung, gar einer gesellschaftlichen „Massenstreik“-Debatte ist natürlich nicht die Rede; zu groß ist die Angst vor Kontrollverlust.

Das hat auch noch einen tieferen Grund. Wenn jetzt der „Schluck aus der Pulle“ gefordert wird, verweist die Begründung eher ängstlich auf den beschworenen Aufschwung. Es ist ein altes Problem der Gewerkschaften, dass sie ihre Forderungen nicht an die Lebensbedürfnisse, sondern „volkswirtschaftlich“ an die Akkumulationsfähigkeit des Kapitals binden. Dennoch gab es in der Vergangenheit wie vage auch immer im Hintergrund die Frage nach einer gesellschaftlichen Alternative. Nach dem Untergang des Staatssozialismus gähnt in dieser Hinsicht nur noch ein schwarzes Loch. Was aber, wenn sich der weitgehend von globalen Defizitkreisläufen (etwa der einseitigen chinesischen Exportindustrialisierung) abhängige Konjunkturfrühling abermals als Seifenblase erweist? Mit harten Bandagen treten die Gewerkschaften jedenfalls nicht an. Es wird sich zeigen, wie weit die alten Rituale noch tragen.