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FOLHA,1997

Robert Kurz

Die asiatische Epidemie
Vom pazifischen Defizitkreislauf zur Krise der globalen Finanzmärkte


   Noch vor kurzem wurde das "pazifische Jahrhundert" ausgerufen. Management-Guru John Naisbitt schwärmte von den "Megatrends Asien". Das Schwergewicht der Weltwirtschaft werde sich, so hiess es, von der atlantischen Beziehung zwischen den USA und Europa auf die pazifische Beziehung zwischen den USA und Asien verlagern. Aber die neue Traumregion des Wachstums ist schon nach wenigen Jahren zum Alptraum geworden. Der ostasiatische Boom hatte niemals seriöse Grundlagen. Er wurde von Anfang an durch das Schwungrad eines transkontinentalen Defizitkreislaufs getrieben.

    Die völlig einseitige japanische Export-Industrialisierung häuft seit mehr als einem Jahrzehnt gewaltige Überschüsse im Handel mit den USA an. Aber die USA bezahlen weder mit dem Erlös aus eigenen Exporterfolgen anderswo noch mit eigenen Ersparnissen, sondern mit ihrem Image als Weltmacht und mit internationalen Schuldverschreibungen, vor allem an Japan. Auch die seit Jahren scheinbar positive Binnenkonjunktur der USA mit einem beispiellosen Anteil des Dienstleistungssektors von mehr als 70 Prozent wurde vor allem durch die galoppierende Aussenverschuldung induziert, die inzwischen die weitaus grösste der Welt ist. Wenn die USA heute als Vorbild ökonomischen Erfolgs gelten, dann muss ein Sterbender, der an einer Herz-Lungen-Maschine hängt, als leuchtendes Beispiel für körperliches Wohlbefinden bezeichnet werden.

    Obwohl sie im Grunde genommen ihre Exporterfolge durch exzessive Käufe von US-Anleihen selber bezahlten, rechneten die Japaner sich reich. Auf der Basis dieses fiktiven Reichtums blähte sich in den 80er Jahren eine ungeheure Spekulationsblase der japanischen Aktien- und Immobilienmärkte. Seit diese Blase Anfang der 90er Jahre platzte, quält sich Japan mit einer Masse fauler Kredite in der Grössenordnung von vielleicht 1000 Milliarden Dollar. Aber dieses Desaster wurde bis jetzt nicht realisiert, sondern manipulativ in eigens gegründeten Auffanggesellschaften "geparkt".

    Gleichzeitig erweiterte sich der pazifische Defizitkreislauf, indem zuerst die "kleinen Tiger" (Hongkong, Südkorea, Taiwan und Singapur) einstiegen, dann die "Tiger der zweiten Generation" (Thailand, Indonesien, Malaysia und zuletzt die Philippinen). Dem Vorbild Japans folgend, rollte auch der einseitige Export der Tigerstaaten über die "pazifische Einbahnstrasse". Diese zweite ostasiatische Exportwelle war jedoch von Anfang an völlig von Japan abhängig. Die Exportindustrien der Newcomer beherrschen nur einen geringen Teil der Fertigungstiefe und müssen teure Investitionsgüter und Komponenten der Produktion in Japan einkaufen. Deshalb häuften sie sowohl relativ zu Japan als auch absolut Handels- und Kapitalbilanzdefizite an. Es entstand also ein sekundärer innerasiatischer Defizitkreislauf zwischen Japan und den Tigerstaaten. Bezahlen die USA ihre Importüberschüsse gegenüber Japan mit Schuldscheinen, so bezahlen die Tigerstaaten ihre Schulden bei Japan mit Exportüberschüssen gegenüber den USA.

    Um ihre wachsenden Defizite im Verhältnis zu Japan bedienen zu können, erweiterten die Tiger permanent ihre Exportkapazitäten, ohne einen wirklichen Produktivitätsvorteil zu besitzen. Sie konnten allein mit dem Pfund von Billiglohn und politisch fixierten Wechselkursen wuchern. Wurden die Kurse zunächst nach unten manipuliert, um den Export anzuschieben, so mussten sie schon bald künstlich hoch gehalten werden, um internationales Geldkapital anzulocken. Denn während die Löhne durch die mechanische Erweiterung der Kapazitäten und die damit verbundene Ausschöpfung der Arbeitskraft-Reserven nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage stiegen, explodierten auch die Kosten für den erweiterten Import von Kapital- und Investitionsgütern. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die vernachlässigte und bis an die Grenzen belastete Infrastruktur in den nächsten Jahren immense zusätzliche Investitionskosten verschlingen wird, wenn der Exportboom durchgehalten werden soll.

    Die Anbindung an den Dollar (oder andere "Hartwährungen") und damit die Stabilisierung eines hohen Wechselkurses war keine Spezialität der Tigerstaaten. Auch die "Schwellenländer" Lateinamerikas und einige Reformstaaten Osteuropas verwendeten dieses Mittel, um den Zufluss von dringend benötigtem Geldkapital zu sichern. Es war abzusehen, dass diese
politischen Wechselkurse, denen keine ausreichende realökonomische Substanz entspricht, die grossen internationalen Hedge-Fonds zur Spekulation gegen die künstlich gestützten Währungen herausfordern würde. Der "schwarze August" 1997, in dem die meisten asiatischen Währungen einbrachen, war das Menetekel auch für Lateinamerika und Osteuropa. Logischerweise folgte dem Absturz der Währungen der Absturz der Börsenkurse. Während die aufgeblähten Exportkapazitäten sich in Investitionsruinen zu verwandeln drohen, zieht sich das immer nur kurzfristig angelegte internationale Geldkapital zurück.

    Schien die "asiatische Grippe" zunächst regional beschränkt zu bleiben, so hat der spekulative Angriff auf den Hongkong-Dollar einen längst fälligen globalen Aktiencrash ausgelöst. Zwar bemühen sich Politik und Fonds-Management nach Kräften, die Lage schönzureden. Aber es ist eine schlichte Lüge, wenn behauptet wird, hier würden nur einige spekulative Exzesse bereinigt, während die Realökonomie völlig gesund sei. In Wahrheit wird die scheinbar reale Ökonomie längst selber nur noch von fiktiven Wertsteigerungen getragen, und zwar weltweit. Deswegen war das Beben, das durch den Hongkong-Crash ausgelöst wurde, keineswegs bloss psychologisch bedingt. In allen Ländern, auch in Europa, ist die kritische Masse der Verschuldung von Privaten, Unternehmen und Staaten längst aufgehäuft.

    Das schwächste Kettenglied des globalen Kasinokapitalismus, der innerasiatische Defizitkreislauf, ist gerissen. Binnen kurzem wird Japan mit einem zweiten Gebirge fauler Kredite in seinem asiatischen Umfeld konfrontiert sein, das sich nicht so leicht wegmanipulieren lässt. Damit rückt ein Gespenst näher, das seit Jahren am Horizont lauert: Japan könnte gezwungen sein, in grossem Massstab die Flucht aus den US-Anleihen anzutreten, um nicht zusammen mit seinen asiatischen Partnern in den Abgrund zu sinken. Das Ende des innerasiatischen Defizitkreislaufs muss früher oder später zum Zusammenbruch des grossen pazifischen Defizitkreislaufs führen.

    Der vermeintlich "sichere Hafen", in den sich das Geldkapital vor dem Aktiencrash bisher immer gerettet hat, wäre dann versperrt. Dem frei flottierenden Geldkapital bliebe nur noch die Flucht ins Gold. Das wäre gewissermassen der Weltuntergang der Finanzmärkte und das Ende der Scheinblüte auch in den USA. Eine solche Verlaufsform ist in Form einer kurzfristigen Eruption möglich; sie kann sich aber auch über einen längeren Zeitraum hinweg in mehreren Schüben vollziehen, begleitet von immer stärkeren Pendelbewegungen der Kurse. Auf jeden Fall scheint sie vorprogrammiert zu sein. Der Kasinokapitalismus hat seinen Zenit überschritten, und dahinter werden die Konturen einer qualitativ neuen Weltwirtschaftskrise sichtbar.