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erschienen in der Wochenzeitung "Freitag"
am 11.01.2008

Robert Kurz

ENDE DER BESCHEIDENHEIT?

Die neuen Tarifkonflikte in einer unsicheren Weltkonjunktur

Ans Eingemachte ist es schon lange gegangen. Seit mehr als 15 Jahren sinkt das allgemeine Lohnniveau in der BRD, begleitet vom Abbau der Transfereinkommen und sozialstaatlichen Leistungen. Begründet wurde diese erbärmliche Entwicklung mit den Sachzwängen eines alternativlosen Weltkapitalismus. Eigentlich nur ein Beweis dafür, dass diese Form des abstrakten Reichtums immer wieder konkrete Armut produziert. Aber für gesellschaftliche Grundsatzfragen haben die Gewerkschaften kein Sensorium; sie mutierten zur bloßen Mitverwaltung der sozialen Krise. In Deutschland kommt das traditionelle Fehlen einer Widerstandskultur hinzu. Der Stolz auf die wenigsten Streiktage in der westlichen Welt wurde zum Bumerang, denn der noch amtierende Exportweltmeister ist am unteren Ende der europäischen Einkommensskala angelangt. Es folgte die Abstimmung mit den Füßen: dramatischer Mitgliederschwund bei den Einheitsgewerkschaften, eine zunehmende Zahl deutscher Gastarbeiter in den benachbarten EU-Ländern und das Aufkommen kampflustiger kleiner Berufsorganisationen.

Im Zeichen des vielbeschworenen Aufschwungs soll 2008 die Trendwende eingeleitet werden. Der Druck aus der Mitgliedschaft ist so groß, dass die Gewerkschaften für die anstehenden neuen Tarifkonflikte mit 7 bis 9 Prozent die höchsten Forderungen seit Jahren angemeldet haben. Sogar die Regierungs-SPD, die angesichts bevorstehender Wahlkämpfe angeblich ihr soziales Herz wiederentdeckt hat, drängt auf „ordentliche Lohnerhöhungen“. Aber die bejubelte neue Prosperität, die endlich „unten“ ankommen soll, bröckelt gleichzeitig schon wieder. Denn die pazifische Defizitkonjunktur, von der die europäische Exportindustrie in den letzten beiden Jahren mitgenommen wurde, steht auf tönernen Füßen. Die von der US-Hypothekenkrise ausgehende weltweite Schieflage von Finanzinstitutionen droht den Konjunkturfrühling zu verhageln, während als Kehrseite der Finanzblasen-Ökonomie das Inflationspotential steigt und die Handlungsfähigkeit der Notenbanken lähmt.

Statt des erhofften selbsttragenden Aufschwungs nach Wirtschaftswundermuster könnte die Stagflation der 70er Jahre mit verstärkter Wucht wiederkehren und damit die fast schon vergessene Debatte über eine angebliche Lohn-Preis-Spirale. Bevor die Tarifrunden überhaupt begonnen haben, warnen der EU-Notenbankpräsident Jean-Claude Trichet und sämtliche „Wirtschaftsweisen“ bereits vor zu hohen Lohnabschlüssen, von denen die Teuerung zusätzlich angetrieben würde. Die Gewerkschaften müssten sich ziemlich warm anziehen, wenn sie den Lohnsenkungs-Trend wirklich stoppen wollen. Im Rahmen der alten Kompromisspolitik erwartet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung 2008 eine klägliche Reallohnsteigerung von gerade einmal 0,7 Prozent. Wahrscheinlich werden „maßvolle“ Abschlüsse aber vollständig von der Inflation aufgefressen. Dafür lohnt es sich nicht, symbolische Warnstreiks zu inszenieren und mit Trillerpfeifen auf die Straße zu gehen.

Das gewerkschaftliche Dilemma besteht nicht nur in der Unsicherheit der Weltkonjunktur. Die neue Massenarmut ist bekanntlich auch Resultat einer strukturellen Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Innerhalb der Absenkung des allgemeinen Einkommensniveaus hat gleichzeitig eine gewaltige Lohnspreizung stattgefunden, die von den Gewerkschaften durch Akzeptanz von Niedriglöhnen in den ausgelagerten Bereichen mitgetragen wurde; ganz nach dem herrschenden Motto, dass jede „Arbeit“ besser sei als keine. Auch der teilweise Rückgang der Arbeitslosenrate beruht hauptsächlich auf einer Ausweitung der unterbezahlten Zeitarbeit, wie sie von der Arbeitsverwaltung forciert wurde. Nahezu der gesamte Dienstleistungsbereich ist bereits prekarisiert; die Nadelstich-Streiks der letzten Monate von Verdi im Einzelhandel wurden nicht einmal bemerkt.

Die fatale Konsequenz: Soweit ein „Schluck aus der Pulle“ genehmigt wird, soll er sich laut „Handelsblatt“ auf die „echten Boombranchen“ wie den Maschinenbau beschränken. Eine Widerstandslinie könnte nur dann gezogen werden, wenn die Gewerkschaften über ihren Schatten springen und zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte ihre Forderungen nicht mehr mit der falschen Objektivität konjunktureller Rahmenbedingungen begründen. Wer seine ganze Legitimation an den wackligen Aufschwung bindet, hat schon verloren. Die Entkoppelung der sozialen Lebensbedürfnisse von der ökonomistischen Sachzwang-Logik wäre freilich ein Schritt in unbekanntes Terrain. Praktisch könnte das heißen, die Forderung nach einem ausreichend hohen gesetzlichen Mindestlohn den Wahlkampf-Rhetorikern aus der Hand zu nehmen und mit den Tarifkämpfen zu verbinden; also die Schwelle zum politischen Massenstreik zu überschreiten. Das erst wäre das wirkliche Ende der Bescheidenheit.