Krise und Kritik der Warengesellschaft |
erschienen im Neuen Deutschland Robert KurzAB DURCH DIE MITTEDie politische Klasse verortet sich am liebsten dort, wo sie ein sanftes demoskopisches Ruhekissen vermutet: in der sogenannten Mitte. Dieser schwammige Begriff hat eine sozialökonomische Grundlage, die aber ins Rutschen geraten ist. Beschworen wird einerseits der Mittelstand als tragende Säule von Wirtschaft und Gesellschaft. Andererseits droht den Ideologen der soliden Bürgerlichkeit ihre Mitte abhanden zu kommen. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist die Mittelschicht allein von 2000 bis 2006 um 8 Prozent dramatisch geschrumpft. Dabei ist allerdings ein Unterschied zu machen. Als ökonomischer Mittelstand gelten kleinere und mittlere Betriebe, von denen es heißt, dass sie im Gegensatz zu den Konzernen geradezu Jobmaschinen wären. Die Mittelschicht dagegen wird als Bevölkerungsgruppe definiert, die bis zu 150 Prozent des durchschnittlichen Einkommens erzielt. Dazu zählen „besserverdienende“ Lohnabhängige und Freiberufler, deren „Humankapital“ in Bildungsabschlüssen besteht. Beide Sektoren der Mitte sind inzwischen durch die Prekarisierung der Erwerbstätigkeit miteinander verschränkt. Die neue Mittelschicht hatte sich im 20. Jahrhundert und vor allem nach dem 2. Weltkrieg als Folge der zunehmenden Verwissenschaftlichung herausgebildet. So expandierten das Bildungs- und Gesundheitswesen ebenso wie qualifizierte Bereiche der Betriebswirtschaft. Unter den Krisenbedingungen von Globalisierung und 3. industrieller Revolution schmelzen diese Sektoren nun ab. Öffentliche Infrastrukturen werden ausgedünnt und zu miserablen Bedingungen privatisiert, betriebswirtschaftliche Qualifikationen ausgelagert oder wegrationalisiert. Die Mittelschicht erlebt eine rasante Entwertung ihres „Humankapitals“. Immer mehr Abiturienten und Hochschulabsolventen durchlaufen eine lange Warteschleife als unter- oder gänzlich unbezahlte „Generation Praktikum“, deren Altersarmut absehbar ist. Umgekehrt sind auch die mittleren Unternehmen nicht mehr das, was sie einmal waren. Was hier als „innovativ“ verkauft wird, sind meist Produkte des Outsourcing von Industrie- oder Telekommunikations-Konzernen. Ein Teil der Mittelschicht findet sich in den Zumutungsverhältnissen von Seelenverkäufer-Klitschen des Dienstleistungssektors wieder. Selbst Privatunis oder Anwaltskanzleien greifen auf die neue Billigintelligenz zurück. Das alte Bildungsbürgertum droht sich schleichend in eine Art Lumpenbürgertum zu verwandeln. Die Entwertung der Arbeitskraft war für die Medien kein Problem, solange es nur darum ging, weniger qualifizierte Arbeitslose durch „Fördern und Fordern“ in den Billiglohn hineinzutreiben. Längst hat sich mit Nachhilfe der Arbeitsverwaltung eine breite Unterschicht von „arbeitenden Armen“ am Rande des Existenzminimums herausgebildet. Zum Skandal wurde diese Entwicklung erst, seitdem sie auch die „goldene Mitte“ erfasst, durch die alle Berufsoptimisten von Ruhe und Ordnung gern abgehen möchten. Die ökonomische Logik ist blind für die „feinen Unterschiede“. Diese sollen womöglich politisch auf niedrigem Niveau restauriert werden. Die Gefahr besteht, dass der abstürzenden Mittelschicht im Aufrechnungsverfahren der „Finanzierbarkeit“ Zugeständnisse auf Kosten der ausgegrenzten Unterschicht gemacht werden. Die ideologischen Potentiale dafür lauern im Bewusstsein einer Mitte, die sich zum Lazarus Nr. 1 der sozialen Krise ernennt. Wenn aber die Solidarität klammheimlich selektiv kanalisiert wird, läuft sie auf ihr eigenes Gegenteil hinaus. |