Krise und Kritik der Warengesellschaft |
erschienen in der Wochenzeitung "Freitag" Robert KurzDER FLIEGENDE TEPPICHKeynesianische Nostalgie als Krisenrezept? Eine Antikritik zu Albrecht MüllerDer folgende Text ist Teil einer Kontroverse in der Wochenzeitung „Freitag“ zu linken Wiederbelebungsversuchen des Keynesianismus. Der Artikel „Das Elend der Konjunkturpolitik“ hatte zu einer scharfen Replik von Albrecht Müller in der darauffolgenden Ausgabe geführt. Müller war in den 70er Jahren Wahlkampfmanager von Willy Brandt und Ressortleiter unter Helmut Schmidt. Heute betreibt er mit dem Internetportal www.nachdenkseiten.de eine keynesianische Oppositionsplattform. Hier nun die Antwort auf Müllers Kritik. Für gläubige Katholiken sind Sozialisten und Wirtschaftsliberale Zwillinge. Für gläubige Keynesianer offenbar auch. Albrecht Müller hat mir in dieser Zeitung vorgeworfen, mit der Kritik am Ruf nach Konjunkturprogrammen in die gleiche Richtung zu zielen wie Finanzminister Steinbrück. Umgekehrt zielt die keynesianische Nostalgie in die gleiche Richtung wie vor kurzem der glücklose Wirtschaftsminister Glos. Anscheinend sind die Fronten durcheinander geraten, weil die Kernschmelze des Weltfinanzsystems und ein Absturz der defizitär finanzierten Weltkonjunktur drohen. Müller ist ein altgedienter Keynesianer, der die neoliberale Wende nicht mitgemacht hat. Das ehrt ihn. Allerdings stellt sich die Frage, ob eine keynesianische Querfront heute geeignet ist, die Lage der Lohnabhängigen und der ausgegrenzten „Überflüssigen“ zu verbessern. Die keynesianische Doktrin wollte als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise den Kapitalismus retten. Den Kern bildete ein Beschäftigungsprogramm zwecks Erhaltung des systemnotwendigen Wachstums um jeden Preis. Durch eine staatliche Verschuldungspolitik sollten notfalls, so Keynes, Pyramiden gebaut oder Löcher gegraben und wieder zugeschüttet werden, damit der Motor der Kapitalmaschine anspringt. Dieses Programm wurde in den 70er Jahren zum Auslaufmodell. Es hilft wenig, dahinter quasi verschwörungstheoretisch einen neoliberalen Putsch in Wirtschaftswissenschaft und Politik zu vermuten. Der Verweis auf die aus heutiger Sicht komfortablen Wachstumsraten der 70er Jahre unterliegt einer optischen Täuschung. Diese Raten sind immer bloß relativ, weil abhängig vom Niveau der Kapitalakkumulation. Im Vergleich zum vorherigen Wirtschaftswunder flachte sich das Wachstum nicht nur ab, sondern es war erkauft durch eine staatlich induzierte monetäre Expansion, die zu teilweise zweistelligen Inflationsraten und in der kapitalistischen Peripherie zu Hyperinflationen führte. Daran ist der Keynesianismus gescheitert, worauf Müller leider mit keinem Wort eingeht. Als 1991 nach der DDR auch die Sowjetunion finanziell kollabierte, reagierte der Mainstream der Linken mit einer panikartigen Anpassung an das marktkapitalistische Realitätsprinzip. Die offiziell abservierte keynesianische Version staatlicher Lenkung galt als höchstes der Gefühle linker Gesellschaftskritik. Deshalb klafft heute hinsichtlich der sozialistischen Systemalternative ein schwarzes Loch. Eine solche Alternative jenseits des Staatskapitalismus auf die Agenda zu setzen, ist keine Esoterik. Die bitter notwendige Neueröffnung dieser abgebrochenen Diskussion wäre ein Katalysator, um überhaupt ein Programm von aktueller Gegenwehr entwickeln zu können. Die keynesianische Doktrin dagegen muss sich auf den Standpunkt stellen, statt einer Gegenwehr erst einmal Wachstum und Beschäftigung für die „Verwertung des Werts“ zu reanimieren, damit sich als Abfallprodukt eine Verbesserung der sozialen Lage einstellen möge. Wie esoterisch ist diese Option? Der Zusammenbruch des Staatskapitalismus war bereits Teil einer Weltkrise der 3. industriellen Revolution, von der die ausreichende Verwertung menschlicher Arbeitskraft in Frage gestellt wird. Als Kehrseite von struktureller Massenarbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Prekarisierung bildete sich eine Finanzblasen-Ökonomie des „fiktiven Kapitals“ heraus. Damit wurden die konjunkturellen Strohfeuer gezündet, vom deutschen Vereinigungsboom über den Dotcom-Hype der 90er Jahre bis zur jüngsten einseitigen Exportwalze aufgrund des von Immobilienblasen genährten US-Konsumwunders. Der neoliberale Marktradikalismus hat in weitaus größeren Dimensionen zu derselben substanzlosen monetären Expansion geführt wie vor 30 Jahren. Aktuell scheint sich der „Finanzblasen-Keynesianismus“ in einer ähnlichen Lage zu befinden wie die sowjetische Planbürokratie 1991. Der Teppich keynesianischer Politik, den sich Müller nicht unter den Füßen wegziehen lassen möchte, ist längst ein fliegender, unter dem der Abgrund gähnt. Die radikale Zinssenkungspolitik der US-Notenbank und die Verstaatlichung der größten US-Hypothekenbanken, beides astrein keynesianische Maßnahmen, haben bis jetzt nicht gegriffen. Weitere staatliche Rettungspakete und konzertierte weltweite Zinssenkungen können nur abermals das bereits schwelende inflationäre Potential entfesseln. Wenn das Pulver einer keynesianischen Kehrtwende schon verschossen werden muss, um das im Vergleich zu den 70er Jahren wesentlich marodere Finanzsystem zu sanieren, bleibt keine systemkonforme Potenz für verschuldete Beschäftigungsprogramme. Überdies würden staatliche Pyramidenprojekte unter der gegenwärtigen Krisenverwaltung der Arbeitsmärkte nur den Billiglohnsektor ausdehnen. Auch die Hoffnung auf eine europäische Insel der keynesianischen Seligen ist eine optische Täuschung, denn die EU bildet keinen relativ autarken Wirtschaftsraum, sondern ist in den Verkettungszusammenhang von Weltfinanzmärkten und Weltkonjunktur eingebunden. Eine Wiederbelebung des 70er-Jahre-Keynesianismus gleicht dem Versuch, Hustenbonbons gegen Lungenkrebs zu verordnen. In dieser Situation macht es keinen Sinn, unter bedingungsloser Akzeptanz der kapitalistischen Daseinsbedingungen den staatlichen Dienstweg für die Ankurbelung der Verwertungsmaschine als einzige Möglichkeit zu behaupten. Es gilt stattdessen das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer sozialen Gegenbewegung zu wecken, die sich nicht die Unrentabilität der eigenen Existenz vorrechnen lässt. Auch wenn eine Systemalternative nicht voraussetzungslos aus dem Hut gezaubert werden kann, wäre es ein wichtiger Schritt, ohne Rücksicht auf das herrschende Realitätsprinzip unverhandelbare Lebensinteressen geltend zu machen. Der direkte Kampf für Lohnerhöhungen, gesetzlichen Mindestlohn auf Luxemburg-Niveau und Abschaffung von Hartz IV würde wirklich nicht in dieselbe Richtung zielen wie Steinbrück. Ein Massenstreik für die Rettung der Kapitalakkumulation ist allerdings kaum vorstellbar. |