Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Claus Peter OrtliebOhne AuswegIn der dem Neoliberalismus nicht ganz fern stehenden Financial Times Deutschland (FTD) finden sich seit einigen Wochen unter der gemeinsamen Überschrift „Das Kapital“ angenehm zynische Kommentare zur aktuellen „Krise des Finanzkapitals“; angenehm, weil sie sich von der Rhetorik des Die-Krise-als-Chance, die sich in der politischen Klasse und den meisten Medien ausgebreitet hat, wohltuend abheben; zynisch, weil sie – in diesem redaktionellen Umfeld kein Wunder – die Leserinnen und Leser auf das System festnageln, dessen Ausweglosigkeit sie gerade analysieren. Das neoliberale TINA (there is no alternative) bekommt damit einen Hauch von Western-Romantik: Ein Mann geht seinen Weg, auch wenn er weiß, dass der nur in den Untergang führen kann. In dem (anonymen) Kommentar Pest heute oder Cholera morgen heißt es am 14.10.2008 zu dem Billionen-Hilfsprogramm der EU-Staaten für ihre Finanzinstitute:
Das ist immerhin analytischer Klartext: Die Staatsgarantien für die Banken haben den Zweck, einen schon seit Jahren währenden Zustand aufrecht zu erhalten, in dem die Weltwirtschaft nur noch durchs Schuldenmachen angetrieben wurde, bis die Kreditgeber schließlich an ihren faulen Krediten zu ersticken drohten. Die Alternative wäre eine Rezession, die zum Ausfall von noch mehr Krediten führen würde. Also schultert Vater Staat die Last bzw. schiebt sie vor sich her und vergrößert damit das Problem sukzessive. Die ersten, kleineren Staaten (Island, Ungarn, Ukraine) stehen jetzt schon vor dem Bankrott. Was es allerdings mit den „Ursachen der Krise“ auf sich hat, die die nur an Symptomen rumdokternde Politik „noch nicht mal wahrhaben will“, wird im zitierten Text nicht gesagt. Sucht man danach, so findet man einen Tag vorher in dem Artikel Gelddrucken gegen das Gelddrucken Folgendes:
Der „Kern der Krise“ liegt also in den immer fauler werdenden Krediten, die die Banken vergeben haben und die ihnen jetzt als Aktiva „davonrinnen“. Und wenn der Staat die Garantie dafür übernimmt, wird ihm kaum etwas anderes übrig bleiben, als das Problem durch frisch gedrucktes Geld zu „lösen“, die aufgelaufenen Schulden und Außenstände also in einer Inflation einzuebnen. Eine Empfehlung ist das nicht, aber eine Alternative wird nicht benannt, wohl weil es keine gibt. Und dann? Gibt es dann einen „Neuanfang“, an dem alles bloß wieder von vorne losgeht? Oder sollen wir uns auf eine dauerhafte Inflationsrate von 10 oder 20 Prozent einrichten, damit faule Kredite sich gar nicht erst aufhäufen können? Da die Banken allerdings nicht anders können, als Kredite zu Zinssätzen oberhalb der Inflationsrate zu vergeben, wäre das wohl keine besonders nachhaltige Option. Der FTD sind die hier zitierten Analysen zum kapitalistischen Status quo und seinen ins Nichts sich auflösenden Perspektiven hoch anzurechnen, weil sie ohne die sonst üblichen Illusionen, persönlichen Schuldzuschreibungen und antisemitischen Untertöne auskommen. Dennoch sind sie unzureichend, weil sie an einem bestimmten Punkt der Analyse einfach stehen bleiben, indem sie Phänomene beschreiben, die Frage nach den tiefer liegenden Gründen aber gar nicht erst stellen. Wenn die „Krise des Finanzkapitals“ tatsächlich, wie die FTD zutreffend analysiert, aus einer Überschuldung von Firmen und Privathaushalten herrührt, wenn es sich also in Wirklichkeit um eine Krise der realen Wirtschaft handelt, dann läge doch eigentlich die Frage nach deren Ursache nahe. Doch davon ist nichts zu hören. Stattdessen heißt es im Zusammenhang mit der drohenden Rezession jetzt überall, die Finanzkrise würde auf die reale Wirtschaft „übergreifen“, womit der tatsächliche Wirkungszusammenhang auf den Kopf gestellt ist. Es ist also die Frage zu stellen, warum seit zwei bis drei Jahrzehnten die Wirtschaftseinheiten (Firmen, private und öffentliche Haushalte) massenhaft „hochdefizitär“ sind, wie die FTD feststellt. Allein an der bloßen Lust, „über die eigenen Verhältnisse“ zu leben, kann es ja wohl nicht liegen. Wer einen Kredit aufnimmt, tut das regelhaft in der Erwartung, ihn mit späteren Einkünften (Gewinnen, Einkommen, Steuereinnahmen) zurückzahlen zu können. Offenbar ist diese Erwartung in den letzten Jahren immer wieder enttäuscht worden, anders ist die Überschuldung der „hochdefizitären Wirtschaftseinheiten“ nicht zu erklären. Woran liegt es, dass die realen (also nicht spekulativen) Einkünfte so gering geworden sind, dass die aufgenommenen Kredite nicht mehr getilgt werden können? Ich versuche, diese Frage am Beispiel der Automobilindustrie zu beantworten, die in dieser Hinsicht paradigmatisch ist.1 Die aktuelle Situation wird in DIE ZEIT vom 16.10.08 in einem Artikel von D.H. Lamparter unter der Überschrift Notbremsungen recht gut beschrieben. Dort heißt es
Bei einer Steigerung der Produktivität um 15 Prozent müsste auch der Absatz entsprechend gesteigert werden, um dieselbe (in Arbeitszeit gemessene) Wert- und Mehrwertmasse zu produzieren, aus der allein Profite sich generieren lassen. Gelingt das nicht, so sind davon nicht nur die in die Arbeitslosigkeit entlassenen Arbeitskräfte betroffen, sondern ebenso das in der Automobilindustrie gebundene Kapital, das dort nicht mehr denselben Mehrwert erzielen kann wie zuvor. Von Gewinneinbußen sind vor allem diejenigen Einzelbetriebe bedroht, die mit dem Wachstum der Produktivität nicht Schritt halten können, woraus sich der Stolz des VW-Chefs erklärt, der auf größere Marktanteile und vielleicht sogar auf steigende Gewinne hoffen kann. In der Summe, also auf die gesamte Branche bezogen, muss die höhere Produktivität auf einem stagnierenden Markt wie dem für Automobile aber zu geringeren Gewinnen führen. Dort hat der hier beschriebene Mechanismus inzwischen voll durchgeschlagen: Eine britische Automobilindustrie gibt es schon lange nicht mehr, die großen US-Konzerne wären ohne Staatshilfen längst bankrott, und auch den europäischen und asiatischen Herstellern drohen starke Gewinneinbußen, die mit einem „Übergreifen“ der Finanzkrise nichts zu tun haben. Allgemeiner gesagt: Die kapitalistische Produktionsweise muss notwendig in die Krise geraten, wenn sie den Absatz ihrer Waren nicht im selben Maße wie ihre Produktivität steigern kann. Und das kann sie mit wachsender Produktivität und ohne Räume, in die sie noch expandieren könnte, immer weniger. Mit der Aufnahme von Krediten (z. B. indem neue Aktien ausgegeben wurden) und der Hoffnung auf späteres Wachstum ließ sich dieser säkulare Prozess eine Zeit lang verschleiern. Diese Phase scheint nun vorbei zu sein. In den 1970er Jahren, als die Werke von Karl Marx an den Universitäten noch gelesen wurden, waren die gesellschaftlichen Folgen der Mikroelektronik zumindest an Informatik-Fachbereichen als Problem durchaus geläufig und wurden breit diskutiert: Wenn menschliche Arbeit zunehmend durch mikroelektronisch gesteuerte Maschinen ersetzt wird, dann ist das Ende der „Arbeitsgesellschaft“, damit aber auch einer Produktionsweise in Sicht, die auf der Ausbeutung der Arbeit beruht. 35 Jahre später, zu einem Zeitpunkt, in dem die absehbaren Folgen der damals neuen Technik tatsächlich eintreten, scheint das vergessen. Jetzt werden die Marx-Bilder wieder aus den Archiven geholt und erscheinen auf den Titelseiten so mancher Zeitungen. Besser wäre es, Marx zu lesen:
Es dürfte dann vielleicht klarer werden, dass es schon mehr bedarf als einer bloßen „Zügelung“, „Bändigung“ oder „Zivilisierung“ des Kapitalismus, nach der jetzt wahlweise verlangt wird. Wenn man mit 100 km/h auf einen Abgrund zu fährt, ist der Vorschlag, unter Beibehaltung der Fahrtrichtung die Geschwindigkeit doch bitteschön auf 70 km/h zu drosseln, nicht wirklich überzeugend. Anmerkungen1 Eine allgemeine Untersuchung auf der Basis der Marx‘schen Kritik der politischen Ökonomie enthält mein Text Ein Widerspruch von Stoff und Form, der in EXIT! Heft 6 erscheinen soll. Vgl. auch den 22 Jahre alten Text von Robert Kurz Die Krise des Tauschwerts sowie Robert Kurz: Das Weltkapital, Berlin 2005 2 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1857-58, Berlin 1974, S. 592 f. |