Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


Claus Peter Ortlieb

Ohne Ausweg

In der dem Neoliberalismus nicht ganz fern stehenden Financial Times Deutschland (FTD) finden sich seit einigen Wochen unter der gemeinsamen Überschrift „Das Kapital“ angenehm zynische Kommentare zur aktuellen „Krise des Finanzkapitals“; angenehm, weil sie sich von der Rhetorik des Die-Krise-als-Chance, die sich in der politischen Klasse und den meisten Medien ausgebreitet hat, wohltuend abheben; zynisch, weil sie – in diesem redaktionellen Umfeld kein Wunder – die Leserinnen und Leser auf das System festnageln, dessen Ausweglosigkeit sie gerade analysieren. Das neoliberale TINA (there is no alternative) bekommt damit einen Hauch von Western-Romantik: Ein Mann geht seinen Weg, auch wenn er weiß, dass der nur in den Untergang führen kann.

In dem (anonymen) Kommentar Pest heute oder Cholera morgen heißt es am 14.10.2008 zu dem Billionen-Hilfsprogramm der EU-Staaten für ihre Finanzinstitute:

Also ist die Politik doch klug, nicht? Nun, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Denn was wäre, wenn die Revitalisierungsversuche trotz aller Bedenken gelängen? Bei einer konsolidierten Bilanzsumme der Euro-Banken von jetzt schon 23.506 Mrd. Euro, privatwirtschaftlichen US-Schulden von 41.428 Mrd. $ oder einem Schulden-Einkommen-Verhältnis der britischen Verbraucher von 160 Prozent will man nicht daran denken, was auf die Staatshaushalte in jener Schuldenkrise zukäme, die dann in ein paar Jahren anrollte. Aber was soll man erwarten, wenn nur an Symptomen rumgedoktert wird, ja, wenn die Politik die Ursachen der Krise noch nicht mal wahrhaben will?“

FTD 14.10.08, http://forum.ftd.de/boersen_maerkte/aktien/marktberichte/:
Das-Kapital-Pest-heute-oder-Cholera-morgen/425771.html?eid=313559

Was es allerdings mit den „Ursachen der Krise“ auf sich hat, die die nur an Symptomen rumdokternde Politik „noch nicht mal wahrhaben will“, wird im zitierten Text nicht gesagt. Sucht man danach, so findet man einen Tag vorher in dem Artikel Gelddrucken gegen das Gelddrucken Folgendes:

Das Problem liegt auf der Aktivseite, wo neben teils undurchsichtigen Anlagen auch die Kredite an Firmen und Verbraucher erfasst werden. Gewiss haben die Banken ihre Rücklagen vernachlässigt. Dahinzuschwinden droht das Kapital und damit die Sicherheit der Einlagen jedoch deshalb, weil (!) die Aktiva davonrinnen. Der Kern der Krise ist nämlich, dass die Bankausleihungen an den Privatsektor im Euro-Raum binnen zehn Jahren um 7368 Mrd. Euro respektive von 88 auf rund 139 Prozent des BIP gestiegen sind (in den angelsächsischen Ländern stärker).

Daher sind nun etliche Firmen und Verbraucher überschuldet. Können sie ihre Rechnungen nicht mehr begleichen, trifft das aber auch bislang gute Schuldner. ...

Damit leidet die Aktivseite der Banken weiter, weil Pleiten, Arbeitslosigkeit und Zahlungsausfälle zunehmen. Vertrauensverlust, nächste Runde. Bei aller berechtigten Sorge um den Konsum ist es übrigens erstaunlich, wie wenig die Auswirkungen der Kreditklemme auf die Firmeninvestitionen beleuchtet werden, die einbrechen dürften. Und wie sehr man immer noch auf Länder wie China setzt, deren Geschäftsmodell – investieren, um zu exportieren – ausgehebelt werden dürfte. ...

Kurzum: Die Politik wird kaum umhinkommen, an den Kern der Krise heranzugehen. Und da ist die Versuchung groß, Staatsausgaben mit frisch gedrucktem Geld zu finanzieren, auf dass in der Privatwirtschaft Umsätze und Löhne schneller als die Schulden steigen – und diese schließlich wieder tragbar werden.“

FTD 13.10.08, http://forum.ftd.de/boersen_maerkte/aktien/marktberichte/:
Das-Kapital-Gelddrucken-gegen-das-Gelddrucken/425165.html?eid=313559

Und dann? Gibt es dann einen „Neuanfang“, an dem alles bloß wieder von vorne losgeht? Oder sollen wir uns auf eine dauerhafte Inflationsrate von 10 oder 20 Prozent einrichten, damit faule Kredite sich gar nicht erst aufhäufen können? Da die Banken allerdings nicht anders können, als Kredite zu Zinssätzen oberhalb der Inflationsrate zu vergeben, wäre das wohl keine besonders nachhaltige Option.

Es ist also die Frage zu stellen, warum seit zwei bis drei Jahrzehnten die Wirtschaftseinheiten (Firmen, private und öffentliche Haushalte) massenhaft „hochdefizitär“ sind, wie die FTD feststellt. Allein an der bloßen Lust, „über die eigenen Verhältnisse“ zu leben, kann es ja wohl nicht liegen. Wer einen Kredit aufnimmt, tut das regelhaft in der Erwartung, ihn mit späteren Einkünften (Gewinnen, Einkommen, Steuereinnahmen) zurückzahlen zu können. Offenbar ist diese Erwartung in den letzten Jahren immer wieder enttäuscht worden, anders ist die Überschuldung der „hochdefizitären Wirtschaftseinheiten“ nicht zu erklären.

Woran liegt es, dass die realen (also nicht spekulativen) Einkünfte so gering geworden sind, dass die aufgenommenen Kredite nicht mehr getilgt werden können? Ich versuche, diese Frage am Beispiel der Automobilindustrie zu beantworten, die in dieser Hinsicht paradigmatisch ist.1 Die aktuelle Situation wird in DIE ZEIT vom 16.10.08 in einem Artikel von D.H. Lamparter unter der Überschrift Notbremsungen recht gut beschrieben. Dort heißt es

Allgemeiner gesagt: Die kapitalistische Produktionsweise muss notwendig in die Krise geraten, wenn sie den Absatz ihrer Waren nicht im selben Maße wie ihre Produktivität steigern kann. Und das kann sie mit wachsender Produktivität und ohne Räume, in die sie noch expandieren könnte, immer weniger. Mit der Aufnahme von Krediten (z. B. indem neue Aktien ausgegeben wurden) und der Hoffnung auf späteres Wachstum ließ sich dieser säkulare Prozess eine Zeit lang verschleiern. Diese Phase scheint nun vorbei zu sein.

In den 1970er Jahren, als die Werke von Karl Marx an den Universitäten noch gelesen wurden, waren die gesellschaftlichen Folgen der Mikroelektronik zumindest an Informatik-Fachbereichen als Problem durchaus geläufig und wurden breit diskutiert: Wenn menschliche Arbeit zunehmend durch mikroelektronisch gesteuerte Maschinen ersetzt wird, dann ist das Ende der „Arbeitsgesellschaft“, damit aber auch einer Produktionsweise in Sicht, die auf der Ausbeutung der Arbeit beruht. 35 Jahre später, zu einem Zeitpunkt, in dem die absehbaren Folgen der damals neuen Technik tatsächlich eintreten, scheint das vergessen.

Jetzt werden die Marx-Bilder wieder aus den Archiven geholt und erscheinen auf den Titelseiten so mancher Zeitungen. Besser wäre es, Marx zu lesen:

Anmerkungen