Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen im Neuen Deutschland
am 22.05.2009

Robert Kurz

VERLANGSAMUNG DER FALLGESCHWINDIGKEIT

Das marktwirtschaftliche und mediale Gedächtnis entspricht ungefähr dem Erinnerungsvermögen eines Dreijährigen. Trotzdem darf vielleicht an die prognostische „Leistung“ der offiziellen Institutionen hinsichtlich der globalen ökonomischen Entwicklung erinnert werden. Noch im Sommer 2008 feierte man den schon bis 2020 hochgerechneten Aufschwung der nicht als solche erkannten Defizitkonjunktur. Als sich die Finanzkrise zu manifestieren begann, gab es periodische „Entwarnungen“. Das Schlimmste sei vorüber, hieß es noch im September. Nach den „schwarzen Montagen“ an den Börsen klammerte man sich an die Behauptung, die Realwirtschaft sei an sich gesund und werde vom finanzkapitalistischen Desaster nur wenig beeinflusst. Für 2009 wurde ein nur leicht abgeschwächtes Wachstum erwartet. Als die Weltökonomie in den freien Fall überging, wollten die von Selbstzweifeln befallenen Wirtschaftsinstitute schon gar keine Prognose mehr abgeben. Aber gelernt ist gelernt. Vor kurzem titelte die „Wirtschaftswoche“: „Hurra, wir leben noch“. Der Berufsoptimismus hat sich auf die Formel geeinigt, dass sich die Fallgeschwindigkeit laut Ifo-Institut immerhin zu verlangsamen beginne.

Schon physikalisch ist das ein ziemlich schräges Bild, denn ein Fall kann sich nicht verlangsamen; es kommt höchstens auf die Art der Landung an. Ein wenig erinnert der neue Optimismus an den alten Witz von einem, der ohne Fallschirm aus dem Flugzeug fällt und sich auf halber Höhe sagt: „Bis hierher ist es gut gegangen“. Dass sich ein historischer Einbruch schon nach wenigen Monaten in Wohlgefallen auflöst, ist natürlich Wunschdenken. Die Weltwirtschaftskrise vollzieht sich nicht geradlinig, sondern schubweise. Wenn gegenwärtig auf ein Greifen der weltweiten Konjunkturprogramme in Höhe von rund 2 Billionen Dollar gehofft wird, bleibt Entscheidendes unberücksichtigt. Erstens sind die Leichen im Keller der Bank- und Konzernbilanzen noch lange nicht beseitigt; die „bad banks“ verschieben das Problem nur und die nächste Welle des Abschreibungsbedarfs (etwa bei den Kreditkartensystemen) steht noch bevor. Zweitens lauert im Umschalten auf den Staatskredit die inflationäre Potenz; eine Inflationskonjunktur würde die Krisenschranke nach kurzer Zeit umso höher aufrichten. Und drittens sind nirgendwo neue reale Verwertungspotentiale in Sicht, die nach dem verschuldeten keynesianischen „Anschub“ einen selbsttragenden Aufschwung erzeugen könnten.

Der Löwenanteil der Konjunkturprogramme entfällt bis jetzt auf China. Dort werden schon staatliche Prämien für den Kauf von Kühlschränken und Waschmaschinen gezahlt. Aber damit kann der Einbruch der einseitigen Exportorientierung nicht einmal kurzfristig kompensiert werden. Selbst bei einer Subventionierung ist die Kaufkraft des chinesischen Binnenmarkts viel zu klein, um den Ausfall der US-Konsumenten ausgleichen zu können. Außerdem beziehen sich die staatlichen Prämien natürlich nur auf in China gefertigte Waren und helfen den Exporteuren der übrigen Welt nichts. Bezahlt wird das Simulationsprogramm aus den gigantischen Devisenüberschüssen in der US-Währung, denen durch die ebenso gigantischen, von der Notenbank finanzierten Rettungspakete in den USA die Entwertung droht. Zu erwarten ist ein auf die ganze Welt ausstrahlender Inflationsschub in den USA und in China, während gleichzeitig die zweite Welle des Einbruchs bei den US-Konsumenten und damit beim globalen Export bevorsteht. Die nächste Blamage des „positiven Denkens“ ist unausweichlich. Grenzenlos scheint bloß der Realitätsverlust der kapitalistischen Eliten zu sein, die nicht mehr weiter wissen.