Robert Kurz
Das Ende
der Theorie
Auf dem Weg zur reflexionslosen Gesellschaft
Es ist keineswegs selbstverständlich, daß eine Gesellschaft "über"
sich selbst nachdenkt. Das ist nur möglich, wenn eine Gesellschaft sich
selbst mit anderen Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart kritisch vergleichen
kann; vor allem aber in Zuständen, in denen eine Gesellschaft sich selber
gewissermaßen von innen heraus fragwürdig wird, einen Widerspruch
mit sich selbst austrägt, in ihrer eigenen Struktur und Entwicklung über
sich selbst hinausweist.
Ganz sicher trifft dies auf sämtliche vormodernen Gesellschaften nicht
zu. Diese Gesellschaften waren noch keine planetarischen, sie hatten kein historisches
Bewußtsein und keine Verfügung über die Geschichte als eine
Abfolge von Entwicklungsprozessen und sozialökonomischen Formationen. Ebensowenig
lagen sie mit sich selbst, mit ihrer eigenen Form, in Konflikt. Eine Dynastie
konnte die andere ablösen, aber die gesellschaftliche Form als solche konnte
nicht in Frage gestellt werden; dafür gab es gar keine Kriterien. Solche
Gesellschaften konnten sich über unglaublich lange Zeiträume reproduzieren
(im Falle des alten Ägypten über mehrere Jahrtausende hinweg), ohne
aus sich selbst heraus zugrunde zu gehen; ihr Ende war daher in erster Linie
von äußeren Ursachen bedingt.
Gesellschaft erschien unter solchen Bedingungen immer als "Gesellschaft
überhaupt", nicht als spezifische Form, die auch ganz anders sein
könnte. Und selbst als - relativ spät in der Antike - ein Räsonnement
über verschiedene "Regierungsformen" einsetzte (Monarchie, Oligarchie,
Demokratie, Tyrannis), da blieb diese Differenzierung dem sozialökonomischen
Gesellschaftskörper gegenüber ganz gleichgültig; sie erschien
daher auch nicht etwa als eine lineare Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft
selbst, sondern als ewiger Kreislauf bloß äußerlicher, immer
wieder auseinander hervorgehender Herrschaftsformen. Dasselbe gilt für
die Idee vom "Idealstaat" (Platon), die nur eine idealisierte Gestalt
der bereits bestehenden, als unüberschreitbar gedachten Gesellschaft darstellte.
Dennoch gingen diese vormodernen agrarischen Hochkulturen nicht blind in ihrem
"Funktionieren" auf; sie brachten eine über ihr unmittelbares
Dasein hinausgehende Reflexion hervor. Aber diese Reflexion war nicht "gesellschaftskritisch",
sondern eine Reflexion "unmittelbar zu Gott" oder zum Weltganzen,
zur Stellung des Menschen im Kosmos, zum Rätsel des Todes. Es war also
notwendigerweise eine Reflexion in religiöser Form und mit religiösen
Inhalten. Diese Art des Denkens "über" sich selbst, aber als
Denken des Menschen und seiner Gesellschaft nicht in Beziehung zu sich selbst,
sondern in Beziehung auf Gott und Kosmos, blieb dennoch eingebunden in das unkritisch
vorausgesetzte sozialökonomische Gefüge. Denn trotz seiner Fraglosigkeit
war dieses Gefüge nicht "stumm" in seiner blinden Positivität,
sondern durchaus reflexiv legitimiert; nur eben nicht als eigener Gegenstand,
sondern als sekundärer Bestandteil der göttlichen Weltordnung.
Religiöse Reflexion, Naturwissen und sozialökonomische Verhältnisse
bildeten daher eine unmittelbare Einheit, dargestellt und reproduziert in ritualisierten
Formen sowohl des Denkens als auch der Tätigkeit und der sozialen Beziehungen.
Deshalb waren zunächst in den ältesten Zeiten auch Funktions-Intelligenz
und Reflexions-Intelligenz (oder soziologisch betrachtet: Funktions-Eliten
und Reflexions-Eliten) unmittelbar identisch (Gottkönige, Priesterherrscher).
Erst relativ spät differenzierten sich Funktion und Reflexion in getrennte
Sphären aus. Damit war zwar der Keim eines Konflikts gelegt, der sich jedoch
zunächst nur sporadisch äußerte (etwa im mittelalterlichen "Investiturstreit"
zwischen Kaiser und Papst), ohne dabei über den Kampf um die übergeordnete
Kompetenz innerhalb einer gemeinsam vorausgesetzten Ordnung hinauszugehen.
Soweit sich das reflexive Denken in diesen Gesellschaften von der strengen religiösen
Ritualisierung löste, wie in der antiken und mittelalterlichen Philosophie,
richtete es sich entweder direkt auf die Natur (die Naturwissenschaft war ja
ursprünglich ein integraler Bestandteil der Philosophie) oder auf den Menschen
als ein quasi "natürliches" Wesen. Da die gesellschaftliche Form
und Ordnung als solche nicht zur Disposition stehen konnte, mußte sich
die Reflexion "über" den gesellschaftlichen Menschen grundsätzlich
auf zwei Themen beschränken. Nämlich erstens auf "Ethik",
die Lehre von den "Tugenden" und vom moralisch richtigen Verhalten,
die den Menschen einen Maßstab ihres Verhaltens liefern sollte, ohne gesellschaftliche
Bedingungsgründe kritisch zu befragen. Für diese Metaphysik
blieb der Zusammenhang ihrer normativen Vorstellungen mit den sozialökonomischen
gesellschaftlichen Formen im Dunklen; sie richtete sich immer an den einzelnen
Menschen, freilich noch nicht an das abstrakte Individuum schlechthin, sondern
an den Menschen in seiner sozial "eingefrorenen" Bestimmung - im Grunde
genommen handelte es sich um eine exklusive Veranstaltung unter "herrschenden
Männern": der Adressat (und damit "der Mensch") war in der
Regel der grundbesitzende pater familias.
Zweitens entwickelte die philosophische Reflexion mit demselben Adressaten neben
der "Ethik" auch eine Lehre vom "guten Leben", vom "Glück"
des Menschen innerhalb der fraglos vorausgesetzten Ordnung. Diese Philosophie
der "Lebenskunst" beschäftigte sich zum Beispiel mit den
verschiedenen Formen des Genusses, mit dem Verhältnis von Genuß und
Enthaltsamkeit (Diogenes!) usw.; letzten Endes mit der Frage, was ein "gelungenes
Leben" ausmacht. Dieser Aspekt der alten Philosophie zielte auf eine Ästhetisierung
des Daseins, deren Zusammenhang mit den sozialökonomischen Verhältnissen
ebenso dunkel blieb wie bei der metaphysischen "Ethik". Sich selbst,
das eigene Leben gewissermaßen zum Kunstwerk zu machen, ohne das
Ganze der Gesellschaft in den Blick zu nehmen, und gleichzeitig möglichst
einer normativen Verhaltenslehre zu folgen, darin erschöpfte sich der gesellschaftliche
Charakter dieses Denkens.
Erst in der Moderne begann der Kampf um die gesellschaftliche Form selbst, es
entstand erstmals eine "Gesellschaftskritik", ein Bewußtsein
von sozialökonomischen Formationen, von Krise und Transformation der Gesellschaft.
Aber diese neue Art der Reflexion führte nicht dazu, daß die Gesellschaft
zum kritischen Selbstbewußtsein gelangte. Stattdessen handelte es sich
nur um die geistige Gestalt einer blinden Dynamik - freigesetzt durch die Bedürfnisse
der modernen ökonomischen Revolution. In dieser Umwälzung wurde die
abstrakte Form des Geldes, bis dahin ein Rand- und Nischenphänomen der
Gesellschaft, in einem kybernetischen Prozeß auf sich selbst rückgekoppelt:
das gesellschaftliche Leben wurde der zum abstrakten Selbstzweck gewordenen
Verwertungsbewegung des Geldes unterworfen. Indem das neue reflexive Denken
diesem blinden Prozeß bloß Ausdruck gab, blieb es wie das frühere
Denken in der Metaphysik befangen, allerdings in einer nunmehr säkularisierten,
von der Religion abgelösten Metaphysik: an die Stelle der himmlischen Metaphysik
eines göttlichen Kosmos trat die irdische Metaphysik des entfesselten Geldes.
Aber die Metaphysik wurde wie ihre gesellschaftliche Grundlage nicht nur säkularisiert,
sondern auch dynamisiert. Die Begriffe der Revolution, der Umwälzung, des
Prozesses, der Bewegung usw. verweisen schon auf den entscheidenden Unterschied
dieser neuen, modernen Gesellschaft zu allen vorhergehenden: sie löste
sich nicht nur von der alten Ordnung ab, sondern sie konnte auch nicht bei sich
selber bleiben, nicht in sich selber ruhen wie die alten agrarisch-religiösen
Zivilisationen. Sie liegt seit ihren ersten Anfängen mit sich selbst im
Widerspruch, weil der Verwertungsprozeß des Geldes unersättlich ist
und sich in immer neuen Formen auf immer höherer Entwicklungsstufe reproduziert.
Die kybernetische Maschine des zum "bewegten Prinzip" gewordenen Geldes
läßt die losgerissene Gesellschaft wie ein Geschoß durch eine
lineare Zeit fallen. Dementsprechend hat das neue "gesellschaftskritische"
Denken die lineare Geschichte und den Fortschritt erfunden, die Orientierung
an der Zukunft und die Kritik jedes einmal erreichten Zustands als bloßes
Durchgangsstadium zu einem jeweils neuen und angeblich "höheren"
Zustand. Erst in diesem Zusammenhang traten dann auch Funktions-Intelligenz
und Reflexions-Intelligenz in einen systematischen, strukturellen Gegensatz,
denn die säkularisierte Reflexion übernahm die Rolle der vorwärtstreibenden
Kritik gegenüber dem auf einem jeweiligen Stand der Entwicklung beharrenden
"Funktionieren".
Aber diese Kritik blieb immer an die moderne Metaphysik des Geldes gefesselt,
sie war nichts als der intellektuelle Ausdruck des inneren Widerspruchs der
modernen Gesellschaft mit sich selbst. Nicht die kategorialen Formen dieser
Gesellschaft als solche wurden kritisiert, sondern immer nur ihre jeweilige
Unzulänglichkeit und "Unterentwicklung". Einerseits ging es der
Gesellschaftskritik noch lange Zeit um die immer weitere Auflösung der
alten agrarisch-religiösen Ordnung und ihrer Reste; andererseits reflektierte
sie den dynamischen Prozeß der neuen Ordnung selbst und proklamierte in
diesem Sinne die Ziele der "Entwicklung". Das gilt auch noch für
den Marxismus. Zwar hat Marx als einziger moderner Theoretiker auch Ansätze
einer kategorialen Kritik der Moderne entwickelt, also einer Reflexion "über"
die Metaphysik des Geldes. Aber dieser Gedanke konnte nicht durchgehalten werden.
Solange die dynamische Entwicklung des modernen gesellschaftlichen Systems immer
weiter ging, war man nur begierig darauf, was "als nächstes kommt".
Die jeweils nächste Stufe der "Entwicklung" war der Gegenstand
des theoretischen Streits, nicht das metaphysische Prinzip, das Wesen oder die
Logik dieser "Entwicklung" selbst.
Wie es scheint, hat sich am Ende des 20. Jahrhunderts die Situation grundlegend
geändert. Nachdem der Begriff des Fortschritts schon länger seine
Anziehungskraft eingebüßt hat, gilt inzwischen auch die gesellschaftskritische
Theorie als obsolet - nicht nur die marxistische, sondern die Theorie überhaupt.
Jedenfalls hat die Postmoderne alles, was in der bisherigen Modernisierungsgeschichte
als Theorie galt, mit dem Verdacht eines "totalitären Anspruchs"
von sogenannten "großen Erzählungen" oder "Großtheorien"
belegt. Man will das Ganze der Gesellschaft nicht mehr anschauen und deshalb
auf "Großbegriffe" verzichten, um es sich stattdessen in der
theoretischen "Unbestimmtheit" gemütlich zu machen. An die Stelle
der kritischen Theorie soll das unverbindliche intellektuelle Spiel treten.
Woher diese überraschende Wendung, diese "Abrüstung der Theorie"?
Der Verdacht drängt sich auf, daß die theoretische Reflexion deswegen
verstummt, weil die ihr zugrunde liegende gesellschaftliche Dynamik erlischt.
Es gibt im planetarischen Maßstab keine traditionelle Gesellschaft mehr,
von der man sich abstoßen könnte. Und es scheint so, daß auch
keine neue Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung innerhalb der Moderne mehr
"kommt", weil sich der Prozeß der ökonomischen Verwertung
zu erschöpfen beginnt. Der Prozeß geht weiter, aber nur noch als
negativer, als Krisenprozeß, der nicht mehr positiv mit Hoffnungen besetzt
werden kann.
Die technische Entwicklung wird unvereinbar mit der modernen Metaphysik des
Geldes. Aber vor dieser Stufe der Reflexion schreckt das moderne kritische Denken
zurück, weil es damit seine eigenen Grenzen überwinden müßte.
Ausgerechnet in dem Augenblick, in dem der reale Totalitarismus des Geldes die
Wirklichkeit umfassend wie nie beherrscht, wird die gesellschaftskritische Theorie
selber in ihrem Anspruch als totalitär denunziert. Sie hat ihre Schuldigkeit
getan, aber jetzt soll sie das gesellschaftliche Ganze gerade in seiner Krise
in Ruhe lassen. Der reale gesellschaftliche Widerspruch, der in der bisherigen
Weise nicht mehr bewältigbar ist, soll einfach aus dem Denken verbannt
werden. Das dunkle Ende der modernen Entwicklung wird absurderweise gefeiert
als Übergang zu einem "illusionslosen Pragmatismus". Zusammen
mit der Gesellschaftskritik hört das reflexive Denken überhaupt auf.
Die Reflexions-Intelligenz verschwindet. Aber die Funktions-Intelligenz hat
nicht gesiegt, sondern sie ist bloß verwaist. Weil sie von der theoretischen
Reflexion zwar der Kritik ausgesetzt wurde, dabei aber immer auch Orientierung
und damit neue Legitimation bezog, wird das Ende ihres strukturellen Gegenpols
zu ihrer eigenen Krise. Die Funktions-Eliten laufen ins Leere, ihr Funktionieren
kann die Krise der Realität nicht mehr bewältigen und endet in der
Groteske. Aber das fällt gar nicht auf, weil auch das Alltagsbewußtsein
in einen völlig reflexionslosen Zustand übergegangen ist. Die vielgerühmte
Fähigkeit des modernen Individuums, sich selbst zu reflektieren, "neben
sich" zu treten und das eigene Tun gewissermaßen virtuell von außen
zu betrachten, löst sich zusehends auf. Diese Fähigkeit verschwindet,
weil sie an die positive Entwicklung der modernen Gesellschaft gebunden war.
Gerade an ihrem Ende ist diese Gesellschaft auf gespenstische Weise eins zu
eins mit sich identisch geworden. Die postmodernen Generationen verstehen schon
die Begriffe der Reflexion nicht mehr, die ihnen innerhalb weniger Jahre so
fremd geworden sind wie der Totenkult des alten Ägypten. Sie sind das,
was sie sind, und sonst gar nichts. Sie sind unmittelbar identisch mit ihrem
banalen Tun, je unmöglicher dieses Tun wird.
Die Krise der Realität wird von der Postmoderne verdrängt, indem sie
versucht, an die Stelle der Gesellschaftskritik ein simuliertes Recycling des
vormodernen Bewußtseins zu setzen: Die abgerüstete Philosophie möchte
ganz unschuldig zurückkehren zu den antiken Paradigmen von "Ethik"
und "Lebenskunst". Aber sie vergißt, daß die gesellschaftlichen
Voraussetzungen dieses Denkens gar nicht mehr existieren. Die vormoderne unkritische
Denkweise war nur möglich unter der Bedingung, daß die Gesellschaft
statisch in sich ruhte und das reflexive Denken nicht etwa gleich Null, sondern
auf eine göttliche Weltordnung bezogen war. Es gibt kein Zurück zu
dieser Bedingung. In seinem Endstadium wird das moderne System daher zur ersten
völlig reflexionslosen Gesellschaft der Geschichte. Mit der Fähigkeit
zur Selbstreflexion verliert es eine Grundbedingung menschlicher Existenz. Eine
Gesellschaft, die nur noch funktioniert, ist keine menschliche mehr und kann
schließlich auch nicht mehr funktionieren. In einer leeren Bewegung, die
jeden übergeordneten Sinn und jedes Ziel verloren hat, muß das normative
Denken der "Ethik" wirkungslos verpuffen, weil es in nichts mehr verankert
ist. Und die Philosophie vom "gelungenen Leben", vom individuellen
Menschen als "Kunstwerk" seiner selbst, wird zur traurigen Farce,
weil sie die Krise der modernen Metaphysik ignoriert. Sie proklamiert sich als
"postmetaphysisches" Denken, obwohl die reale gesellschaftliche Metaphysik
der Moderne unbewältigt bleibt. Die postmoderne Selbst-Ästhetisierung
findet in einem brennenden Haus statt.