Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Robert KurzINTERVIEW MIT DER INTERNET-ZEITSCHRIFT „TELEPOLIS“Das folgende Interview, organisiert von Peter Jellen, wurde von „Telepolis“ in zwei Teilen am 17. und 18. Juli 2010 veröffentlicht. Herr Kurz, in den letzten drei Jahren hat die Wirtschaftskrise drei Transformationsstadien hervorgebracht: Von der Immobilienkrise zur Finanzkrise, von der Finanzkrise zur Wirtschaftskrise und von der Wirtschaftskrise zur Währungskrise. Inwiefern lassen sich diese drei sich verschärfenden Krisenphasen mit ihrem Konzept der allgemeinen Wirtschaftskrise des Kapitalismus erklären? Jene drei Transformationsstadien bilden nur die Oberfläche der Erscheinungen ab. Die Immobilienkrise war der Auslöser für eine seit langem schwelende Schulden- und Finanzkrise. Diese hat ihre Ursache nicht in sogenannten spekulativen Exzessen gegenüber einer an sich „gesunden“ Normalwirtschaft, sondern umgekehrt: Die Schulden- und Finanzblasen waren eine Folge mangelnder realer Verwertung des Kapitals. Schon immer ist der Kreditüberbau kein äußerer Faktor, sondern integraler Bestandteil der kapitalistischen Warenproduktion und mit dieser verschränkt. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich dieses innere Verhältnis zu einer strukturellen Abhängigkeit der sogenannten Realwirtschaft von den Finanzmärkten gesteigert. Deshalb musste die Finanzkrise zu einem historischen Einbruch der Konjunktur führen. Alle Momente jener drei Stadien waren schon in der dichten Abfolge von Krisen seit der ersten Zahlungsunfähigkeit Mexikos 1982 enthalten. Zunächst schien es sich nur um eine Schuldenkrise der Peripherie zu handeln, die aber schon bald die kapitalistischen Zentren erreichte. Anfang der 1990er Jahre platzte die japanische Immobilienblase und der Nikkei-Index schrumpfte auf ein Viertel seines Höchststandes. Von der daraus folgenden Bankenkrise und binnenkonjunkturellen Stagnation hat sich Japan bis heute nicht erholt. Mitte der 1990er Jahre brach die Verschuldung der asiatischen Tigerstaaten in Fremdwährung (Dollar) zusammen und führte zu einer Währungskrise mit einer scharfen Rezession. Ähnliche Erscheinungen waren bei den Finanzkrisen Russlands am Ende der Jelzin-Ära und Argentiniens um die Jahrhundertwende zu beobachten. 2001 platzte weltweit die Dotcom-Blase und die „neuen Märkte“ mit ihrer astronomischen Börsenkapitalisierung von Internet-Klitschen verschwanden von der Bildfläche, was eine kurze globale Rezession nach sich zog. Alle diese Krisen hatten eines gemeinsam: Sie waren weltregional oder sektoral beschränkt und schienen deshalb bewältigbar, vor allem durch eine Niedrig- oder Nullzinspolitik der Notenbanken, für die Japan das Muster geliefert hatte. Diese Geldschwemme der Notenbanken, insbesondere der US-amerikanischen Fed, brachte nicht nur die größte Immobilienblase aller Zeiten hervor, sondern nährte damit auch eine ungeahnte Defizitkonjunktur, die sich vor allem im pazifischen Defizitkreislauf zwischen den USA und China niederschlug und für einige Jahre die Weltwirtschaft mitnehmen konnte. Noch im Frühsommer 2008 wurde der Boom von den Wirtschaftsinstituten auf Jahrzehnte hinaus hochgerechnet, obwohl allen die „Ungleichgewichte“ der pazifischen Export-Einbahnstraße bewusst waren. Aber das Problem wurde heruntergespielt und nicht mehr ernst genommen angesichts der scheinbaren Faktizität eines „finanzgetriebenen Wachstums“. Der Bankrott von Lehman Brothers im Herbst 2008 brachte es an den Tag, dass die globalisierte Finanzblasen-Ökonomie in Wirklichkeit restlos ausgereizt war. Die davon ausgelöste globale Kettenreaktion erfasste nicht nur alle Zentren gleichzeitig, sondern auch die letzten Winkel des Weltsystems von Island bis Kasachstan. Der globalen Defizitkonjunktur ging der Sprit aus. Dieser Einbruch war mit einer zusätzlichen Geldschwemme der Notenbanken nicht mehr bewältigbar. Überall musste der Staatskredit in einer Dimension einspringen, die selbst die früheren Kriegswirtschaften übertraf. Die Rettungspakete für das Bankensystem haben die Bilanzen nicht saniert, sondern nur vorläufig über Wasser gehalten. Zusätzliche staatliche Konjunkturprogramme in derselben Größenordnung konnten den totalen Absturz zwar auffangen, aber das Problem wurde nur von den Finanzblasen auf die Staatsfinanzen verlagert. Die Konsequenzen machten sich zuerst am drohenden Staatsbankrott Griechenlands und einer damit verbundenen Krise der europäischen Währungsunion geltend. Griechenland bildet das schwächste Kettenglied in der Euro-Zone und diese das schwächste Kettenglied im Weltwährungssystem, weil der Euro auf völlig disparate nationale Produktivitätsniveaus mit unterschiedlicher Kapitalstärke als Kunstwährung aufgesetzt wurde und nur tauglich für die einseitigen Exportströme der Defizitkonjunktur war. Diese Währungskrise hat aber eine andere Qualität als die früheren; sie ist der Vorbote für eine allgemeine Krise der Staatsfinanzen, die nicht nur die zentralen EU-Staaten wie die BRD, Frankreich und Großbritannien erfassen wird, sondern auch die USA und China. Gegenwärtig möchte man sich damit trösten, dass die Rettungspakete das „Vertrauen“ in das marode Finanzsystem wieder herstellen bzw. die Berge an faulen Krediten wieder in handelbare Papiere zurückverwandeln würden, während die immensen Konjunkturprogramme den „Anschub“ für eine neue selbsttragende Weltkonjunktur abgeben sollen. Dieser Entwarnungsdiskurs, der an der Oberfläche der Erscheinungen klebt und sich von Quartal zu Quartal hangelt, hat aber die Rechnung ohne den Wirt der zugrunde liegenden kapitalistischen Systemgesetzlichkeit gemacht. Der seit 2008 ablaufende Krisenprozess bildet nicht nur die globale Kulmination der partiellen Krisenerscheinungen in den letzten drei Jahrzehnten, sondern er unterscheidet sich auch von allen früheren konjunkturellen oder strukturellen Krisen. Reif geworden ist damit ein säkularer innerer Selbstwiderspruch der Kapitalverwertung, der sich in zwei Stufen darstellen lässt. Zunächst hat die von der Konkurrenz erzwungene Produktivkraftentwicklung dazu geführt, dass der Anteil des Sachkapitals (Maschinen usw.) im Zuge der Verwissenschaftlichung der Produktion gegenüber dem Anteil der Arbeitskraft immer größer wurde. Um auch nur eine einzige kapitalproduktive Arbeitskraft anwenden zu können, musste ein stets wachsendes Sachaggregat mobilisiert werden (steigende Kapitalintensität). Damit wuchsen die toten Vorauskosten für die Kapitalverwertung in einem Maße an, dass sie immer weniger aus den laufenden Gewinnen finanziert werden konnten (Maschinen übertragen nur früher produzierten Wert und schaffen keinen Neuwert). Die Folge war eine historische Expansion des Kreditsystems auf allen Ebenen (Unternehmen, Staat, private Haushalte). Um aktuellen Mehrwert produzieren zu können, musste in stetig wachsendem Ausmaß auf zukünftigen Mehrwert in Form des Kredits vorgegriffen werden. Dieser Widerspruch war aushaltbar, solange die Kredite aus laufender realer Mehrwertproduktion bedient werden konnten. Mit der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik seit Ende der 1970er Jahre erlosch jedoch dieser Kompensationsmechanismus; die realen Mehrwert produzierende Arbeitskraft wurde in neuer historischer Dimension sukzessive wegrationalisiert. Damit drohten die immer weiter in die Zukunft vorgreifenden Kreditketten zu reißen und rissen auch tatsächlich an immer mehr Stellen. Es ist kein Zufall, dass der Einsatz der dritten industriellen Revolution mit dem Beginn jener Serie von Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrisen zusammenfällt, die heute ihre Kulmination erleben. Die sogenannte neoliberale Revolution war kein subjektives politisches Projekt, sondern eine Flucht nach vorn angesichts des objektiven Problems mangelnder realer Mehrwertproduktion. Was jetzt blauäugig als historischer Fehler ausgegeben wird, nämlich die umfassende Deregulierung der Finanzmärkte, war in Wirklichkeit die einzig mögliche Art und Weise, den Kollaps des Weltsystems hinauszuschieben. Die Kapitalverwertung virtualisierte sich in Gestalt eines nicht mehr von realer Wertsubstanz einholbaren „fiktiven Kapitals“; die Verschuldungs-Ökonomie mutierte zu einer Finanzblasen-Ökonomie (Aktien und Immobilien) mit immer abenteuerlicheren Derivaten. Dieser Zusammenhang entwickelte sich über mehr als zwei Jahrzehnte zu einer in der kapitalistischen Geschichte beispiellosen defizitären Realwirtschaft. Die Defizitkonjunktur ist deshalb so zu nennen, weil die Scheinverwertung nicht wie bei früheren kurzzeitigen Blasenbildungen im Finanzhimmel verblieb, sondern als substanzlose Kaufkraft für Konsum der Mittelschichten (bei fallenden Reallöhnen) ebenso wie für Investitionen in die selber nach kapitalistischen Kriterien irreal werdende Realwirtschaft eingespeist wurde und die globale Konjunktur befeuerte. Die Millionen von scheinbar realen Arbeitsplätzen in den einseitig ausgerichteten Exportindustrien sind eine optische Täuschung, weil der Absatz ihrer Produkte nicht auf realen Gewinnen und Löhnen beruht, sondern auf der Einspeisung aus dem faul gewordenen Kreditüberbau und aus den Finanzblasen. Schon die Geldschwemme der Notenbanken, die den Bruch mit der monetaristischen Doktrin des Neoliberalismus (Begrenzung der Geldmenge) vollzog, war eine verzweifelte Notmaßnahme. Die jüngste Verlagerung des Problems auf den Staatskredit löst das Problem erst recht nicht, sondern schiebt es nur bis zum erwartbaren neuerlichen Einbruch hinaus. Nirgendwo sind neue reale Verwertungspotentiale in Sicht, für die staatliche Konjunkturprogramme einen „Anschub“ bilden könnten. So erweist sich der innere Zusammenhang von Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise als historische innere Schranke des Kapitals auf der Höhe der von ihm selbst erzeugten Produktivkraftentwicklung und Verwissenschaftlichung der Reproduktion. Der erreichte Grad der negativen (auf Wert und Konkurrenz beruhenden) Vergesellschaftung lässt sich nicht mehr in die kapitalistischen Kategorien einbannen. Wie hoch sind nun ihrer Schätzung nach die Gefahren einer Inflation oder Deflation? Inflation und Deflation sind nur zwei verschiedene Formen der Entwertung von Aggregatzuständen des Kapitals. Strukturelle Massenarbeitslosigkeit, Prekarisierung und Billiglohn im Weltmaßstab als Folge der dritten industriellen Revolution brachten bereits eine deflationäre Entwertung der Ware Arbeitskraft, also des nach Marx „variablen“ (allein Neuwert produzierenden) Kapitalbestandteils. Die Kehrseite war die Finanzblasen-Ökonomie, der Aufbau von substanzlosen und damit fiktiven Ansprüchen bzw. Guthaben als Vermögensinflation (asset inflation). Weil die globale Verkettung dieser Vermögensinflation sich über viele Währungsräume erstreckte, konnte sie sich längere Zeit halten, ohne in eine große Entwertung des Geldmediums selbst umzuschlagen. Das war allerdings im Endstadium der letzten Defizitkonjunktur absehbar, als die Inflationsraten in vielen Schwellenländern, auch in China, auf 20 Prozent zusteuerten und in den USA für Ende 2008 eine Rate von 6 bis 10 Prozent erwartet wurde. Im Grunde hätte die Kreation von substanzloser Kaufkraft durch die Finanzblasen trotz ihrer komplexen globalen Vermittlungswege letzten Endes zu demselben infationären Resultat geführt wie das klassische Anwerfen der Notenpresse. Dieses Szenario erledigte sich jedoch, als der Crash der Finanzmärkte auf einen Schlag Billionen von Dollars und Euros fiktiver Vermögenswerte verbrannte oder in Form von eigentlich wertlosen, aber mittels Staatsbürgschaften besicherten toxischen Papieren in den Banktresoren zurückließ, die bilanztechnisch ausgelagert wurden. Die Vermögensinflation schlug also nicht in eine Geldinflation um, sondern in eine Vermögensdeflation. Nachdem auf diese Weise der bisherige Mechanismus der Defizitkonjunktur abrupt zum Stehen gekommen war, hätte ein ebenso rapider Abbau der globalen Überkapazitäten in der Produktion (vor allem der Autoindustrie) folgen müssen, die nur aufgrund des Zustroms fiktiver Kaufkraft aus den Schulden- und Finanzblasen hatten aufgebaut werden können; also eine um sich greifende Entwertung von Sachkapital in den Fabriken (Produktionsmittel) und Warenkapital auf dem Markt (unverkäuflich werdende Waren), verbundenen mit einem weiteren Schub der Entwertung von Arbeitskraft (Massenentlassungen). Bis heute läuft zwar eine globale Pleitewelle, aber die Deflation von Sach- und Warenkapital konnte vorläufig abgebremst werden durch die kreditfinanzierten gigantischen Staatsprogramme. Sowohl im Finanzsektor als auch im Produktionssektor wurde also gegen die heiß geliebten Marktgesetze die berühmte „Marktbereinigung“ verhindert, weil mangels neuer realer Verwertungspotentiale nach dieser „Bereinigung“ nur noch eine ökonomische Wüste zurückbleiben würde. Die Schleifung der Überkapazitäten ist damit aber nur aufgeschoben; sie wird in absehbarer Zeit durch die Krise der Staatsfinanzen exekutiert. Alle Konjunkturprogramme und Beihilfen sind letztlich unproduktiver Staatskonsum, auch wenn damit vordergründig Unternehmen durch künstliche Beatmung am Leben erhalten werden. Der Staat müsste die Kredite für diesen Konsum aus der Abschöpfung (Besteuerung) der Gewinne und Löhne aus realer Mehrwertproduktion bedienen. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn das ganze Manöver ist ja nur nötig, weil letztere nicht mehr in ausreichendem Umfang stattfindet. Ultima ratio in solch auswegloser Situation ist eben das Anwerfen der Notenpresse, wie man es aus den Kriegswirtschaften kennt; jetzt aber zwecks künstlicher Lebensverlängerung der kapitalistischen Produktionsweise als solcher. Die Notenbanken haben bereits etliche Sicherheitsventile gekappt, indem sie teilweise gegen ihre eigenen Vorschriften toxische Papiere von den Banken als „Sicherheiten“ akzeptieren oder potentiell wertlose Staatsanleihen von Kandidaten für den Staatsbankrott aufkaufen (EZB). Einerseits sind so die Weichen gestellt für den Aufbau eines gewaltigen Inflationspotentials, das heißt der Entwertung des kapitalistischen Selbstzweck-Mediums Geld, von dem alle Aggregatzustände des Kapitals ausgehen und in das sie wieder zurückverwandelt werden müssen. Da die Geldschwemme der staatlichen Rettungspakete und Konjunkturprogramme (im Unterschied zur Geldschwemme der Notenbanken für die transnationalen Finanzmärkte) direkt in die jeweiligen Währungsräume eingespeist wird, ist die Inkubationszeit für die Realisierung des inflationären Potentials viel kürzer als im Fall der transnationalen Finanzblasen-Ökonomie. Andererseits schreckt man eben deswegen davor zurück, die Notenpresse weiter anzuheizen. Die aktuelle relative Stabilisierung auf niedrigerem Niveau als in Zeiten der boomenden Defizitkonjunktur wird aber allein von den Staatsprogrammen getragen; angesichts der realen Verwertungslage müsste der Staat dauerhaft die Konjunktur subventionieren, und das ginge nur über die Notenpresse. Deshalb konterkarieren die Sparprogramme die Rettungsmaßnahmen. Dieses Dilemma wird seine Verlaufsform nehmen. Das Hü und Hott von sich wechselseitig ausschließenden Maßnahmen kann nicht dazu führen, dass sich Deflation und Inflation einfach aufheben und in Wohlgefallen auflösen. Da es sich bei Inflation (in Bezug auf Geld als solches) und Deflation (in Bezug auf Arbeitskraft, Geldvermögen, Sachkapital und Warenkapital) nur um verschiedene Formen der Entwertung von Elementen der kapitalistischen Reproduktion handelt, können sie im Prinzip auch gleichzeitig auftreten. Das wird umso mehr der Fall sein, wenn die Geld- und Wirtschaftspolitik von der Not getrieben zwischen gegensätzlichen Optionen hin- und herschwankt. Schon Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre gab es als erste Folge der mangelnden realen Verwertung eine Gleichzeitigkeit von deflationärer Stagnation und steigender Inflation (Stagflation). Das war ja gerade der Anlass für die neoliberale Revolution gewesen, die aber mittels jener deregulierten Finanzblasen-Ökonomie nur einen historischen Aufschub bewirkte. Jetzt kehrt das damalige Problem auf einer weitaus höheren Stufenleiter der inneren Widersprüche zurück. Möglich sind daher sowohl ein deflationärer oder inflationärer Schock, wenn eine der gegensätzlichen Optionen voll gefahren wird, als auch eine Periode der Stagflation mit wesentlich heftigeren Ausschlägen als vor 30 Jahren, wenn beide Optionen sich mit einander ausschließenden Maßnahmen in rascher Folge ablösen. Kritiker des Neoliberalismus werfen bei der griechischen Haushaltskrise den deutschen Politikern vor, die Zusammenhänge falsch darzustellen, über die Sparauflagen des IWF das Konzept des Wohlfahrtsstaates zu strangulieren und überhaupt widersinnige Lösungsansätze zu verfolgen. Können Sie diesen Kritikern beipflichten oder geht Ihrer Meinung nach diese Beurteilung am Kern des Phänomens vorbei? Eine bloße Kritik des Neoliberalismus (wie bei Attac und großen Teilen der Linken) ist verkürzt, weil sie gar nicht zu den inneren Zusammenhängen der Krise vordringt, sondern lediglich eine falsche Wirtschaftspolitik sehen möchte. Verbunden damit ist die Hoffnung auf eine keynesianische Kehrtwende, die zurück zu einem „guten“ Kapitalismus mit Arbeitsplatz-Investitionen und wohlfahrtsstaatlichen Gratifikationen führen soll. Das ist Traumtänzerei, die in der Tat am Kern des Problems vorbeigeht, weil sowohl die neoliberale als auch die keynesianische Doktrin die kapitalistische Produktionsweise, deren Kategorien und Kriterien, gleichermaßen blind voraussetzen. Unter den qualitativ neuen Krisenbedingungen ist aber die herrschende Produktionsweise selber das Problem. Der Keynesianismus kehrt nur als Krisen- und Notstandsverwaltung zurück, das heißt als Fortsetzung des Neoliberalismus mit anderen Mitteln. Dabei können sich die inneren Widersprüche nur verschärfen. Richtig ist allerdings, dass nicht nur die deutschen Politiker die Zusammenhänge falsch darstellen und widersinnige Lösungsansätze verfolgen; aber die eitle Hoffnung auf einen re-regulierten keynesianischen Wohlfahrtsstaat ist selber ein widersinniger Lösungsansatz. Denn worin besteht der Widersinn? Neben dem großen pazifischen gab es auch einen kleineren europäischen Defizitkreislauf, für den eigentlich der Euro konzipiert war; und zwar im deutschen Interesse. Die immensen deutschen Exportüberschüsse gingen und gehen zu mehr als 40 Prozent in die EU und insbesondere in den Euro-Raum. Diesen Überschüssen stehen die Handels- und Leistungsbilanzdefizite der anderen EU-Länder, insbesondere der südeuropäischen, gegenüber. Sie wurden mit Hilfe des Euro niederkonkurriert, da es keinen Ausgleich durch Abwertung der nationalen Währungen mehr gab. Nachdem überall die relativ schwache Reanimation der Defizitkonjunktur durch die Verlagerung des Problems von der Finanzblasen-Ökonomie auf den Staatskredit getragen wird, bilden nunmehr die Staatsdefizite der benachbarten europäischen Länder die Kehrseite eines Großteils der deutschen Exportkonjunktur. Die deutschen Eliten wollen diesen Zusammenhang nicht wahrhaben und die vermeintlichen Exportvorteile nicht preisgeben. Dazu gehört neben der Währungsunion die Tatsache, dass sich die BRD nicht erst seit Hartz IV den größten Billiglohnsektor in Europa leistet und die Reallöhne hierzulande unter Beihilfe der still haltenden Gewerkschaften stärker gesunken sind als anderswo. Die stetig steigenden Exportüberschüsse auf diesen Grundlagen bewirkten eine relative Kapitalstärke der BRD. Jetzt aber sind die Geschäftsgrundlagen dieses Modells in Frage gestellt. Innerhalb der EU deutet sich ein Konflikt zwischen den Defizitländern und der BRD an. Auch im größeren Maßstab der transatlantischen Beziehungen haben sich die wirtschaftspolitischen Fronten verkehrt. Die USA als größtes Defizitland verlangen ebenso wie die Südeuropäer, dass die BRD jede Sparpolitik aufgibt und den Binnenkonsum ankurbelt, um die Ungleichgewichte abzubauen. Verkehrte Welt: Die ehemaligen Vorreiter des Neoliberalismus fordern nun eine diametral entgegengesetzte Wirtschaftspolitik und nehmen einen Part ein, den die deutschen Gewerkschaften sich nicht zutrauten. Das scheint den keynesianischen Hoffnungen entgegenzukommen, ist aber insofern widersinnig, als damit eben die inflationäre Option forciert würde. Wie das Direktorium des IWF liebäugeln die USA und Teile der EU mit einer vermeintlich „kontrollierten Inflation“, um das Dilemma zu bearbeiten; aber angesichts der ökonomischen Lage würde die Kontrolle schnell verloren gehen. Der innere Widerspruch der europäischen Währungsunion hat sich bereits in der Weise zugespitzt, als eine neuerliche gigantische Rettungsaktion für die griechischen Staatsfinanzen nötig wurde, der weitere folgen könnten (Spanien, Portugal, Italien, Irland und Osteuropa). Das war keine edle Hilfe für Griechenland, sondern eine Stützungsaktion insbesondere für deutsche und französische Großbanken, die auf hunderten Milliarden griechischer Staatsanleihen sitzen, deren Entwertung erneut eine Kernschmelze des Finanzsystems heraufbeschwören würde. Diese vorläufige Bilanzrettung hat denselben Charakter wie die Rettungspakete nach dem Platzen der Finanzblasen, jetzt auf der Ebene der Staatsfinanzen. Die Maßnahme bezieht sich allerdings nur auf das Problem der bereits verknusperten Staatsanleihen. Um die inflationäre Option zu vermeiden, wirft sich die BRD nun in die Pose des schwäbischen Hausvaters, der den unseriösen Griechen und anderen Defizitsündern die Leviten liest und sie zu halsbrecherischen Sparprogrammen zwingen will. Werden diese aber wirklich durchgeführt, müsste dies auch alsbald dem deutschen Exportwunder das Genick brechen. Das ist die andere Seite des Widersinns. Der deutsche Export-Chauvinismus steht auf tönernen Füßen, weil er eben auf den Defiziten der anderen beruht. Diesem Dilemma ist nicht zu entkommen. Insgeheim ist das den Eliten natürlich bewusst. Die fadenscheinig begründeten Rücktritte hochrangiger politischer Funktionsträger, zuletzt des deutschen Bundespräsidenten Köhler, sind ein Indiz dafür, dass es hinter den Kulissen des offiziellen Berufsoptimismus ziemlich heftig zur Sache geht. Das könnte sich in anderen Ländern wiederholen. Ein klassisches Aussitzen der Probleme nach dem Muster eines Helmut Kohl ist nicht mehr möglich. Deshalb jagen sich die gegensätzlichen Reparaturkonzepte, die immer noch den demoskopischen Wählerwillen im Auge haben müssen, solange es nicht zur Notstandsdiktatur kommt, und arten in eine allgemeine Prügelei aus. Die kapitalistische Produktionsweise kann nicht in Frage gestellt werden, und so ist man wie schon in der ersten Phase der Finanzkrise auf der Suche nach Schuldigen. Das Hauen und Stechen in der schwarzgelben Regierung ist nicht parteispezifisch, sondern würde sich angesichts der Problemlage in jeder beliebigen Koalition wiederholen. Kein Wunder, dass einige Kombattanten das Handtuch werfen. Können Sie eine Einschätzung abgeben, wie es die nächste Zeit weitergehen wird? Da die geld- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen in sich widersprüchlich sind, ist mit einer zweiten Welle der globalen Wirtschaftskrise innerhalb der nächsten Jahre zu rechnen. Diese könnte ihren Ausgangspunkt in der Zerreißprobe der europäischen Währungsunion nehmen. Der Form nach handelt es sich bei Fällen wie Griechenland um ein ähnliches Szenario, wie es Argentinien vor gut einem Jahrzehnt durchlaufen hat. Aber diese Krise war eben auf ein einzelnes Land beschränkt, das in der Weltwirtschaft kaum ins Gewicht fällt. Ganz anders verhält es sich mit den drohenden Staatsbankrotten innerhalb der Euro-Zone, da diese die gesamte Währungsunion in den Abgrund reißen können. Ein Zusammenbruch des europäischen Defizitkreislaufs träfe die deutsche Exportkonjunktur ins Mark, und damit ginge die bisherige Kapitalstärke der BRD verloren. Das würde nicht nur bedeuten, dass die bislang aufgeschobenen Großbankrotte und Massenentlassungen sich auch hierzulande realisieren. Vielmehr kämen dann auch die ja ebenfalls hoch verschuldeten deutschen Staatsfinanzen in eine ähnliche Lage wie jetzt die griechischen, wenn nach dem Einbruch der einseitigen Exporte die Bonität auf den Finanzmärkten flöten geht. Eine solche Entwicklung wäre nicht nur ein Desaster für den gesamten europäischen Raum, sondern angesichts des Gewichts Europas in der Weltwirtschaft auch für die globale Konjunktur. Nicht besser steht es allerdings mit dem großen pazifischen Defizitkreislauf zwischen China und den USA. Dort hofft man beiderseits, dass der jeweils andere die Voraussetzungen für eine weitere Stabilisierung schafft. Die staatlichen Konjunkturprogramme und Beihilfen in den USA haben zwar den Einbruch des Konsums teilweise aufgefangen, ohne dass das Vorkrisen-Niveau wieder erreicht werden konnte; aber um den Preis, dass der außenfinanzierte Staatskredit an seine Grenzen stößt und die Finanzierung der Militärmaschine bzw. der Kriegseinsätze als Garant der Weltmachtposition perspektivisch in Frage gestellt ist. Die USA fordern von China eine längst überfällige Aufwertung der Währung des Überschusslandes und wie gegenüber der BRD eine kreditfinanzierte Stärkung des Binnenkonsums, um das Ungleichgewicht der Warenströme abzubauen und den eigenen Export zu stärken, der den flauen Binnenkonsum ausgleichen soll. In den meisten industriellen Sektoren haben die USA aber gar nicht die nötigen Exportkapazitäten, deren Aufbau hohe Investitionskosten verursachen würde. Überdies müssten dann die entsprechenden Kapazitäten in China abgebaut werden, denn dort haben US-Konzerne aufgrund des Kostenvorteils ebenso wie europäische und japanische Konzerne massiv investiert, um den eigenen Markt und Fremdmärkte zu beliefern. Aber China seinerseits möchte seine Exportvorteile auf der Basis von Billiglohn und einer künstlich unterbewerteten Währung genausowenig aufgeben wie die BRD die ihren, weil hier wie dort die gesamte Ökonomie auf einseitigen Export ausgerichtet ist. Ein Umschalten, das auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte angelegt wäre, würde aber schnell an Grenzen stoßen, weil die Ungleichgewichte und deren fragile Kreditfinanzierung ja gerade das Lebenselixier der Weltkonjunktur waren. Zwar hat China aus dem Fundus seiner riesigen Devisenreserven das größte staatliche Konjunkturprogramm aller Länder und Zeiten aufgelegt und seine Banken zu massiver Kreditvergabe gezwungen. Gerade deshalb kann es keine ernsthafte Währungskorrektur zulassen, weil diese seine aufgehäuften Devisenreserven massiv entwerten würde. Die chinesischen Konjunkturprogramme stärken nur indirekt den Binnenkonsum und nicht im erforderlichen Ausmaß, um allein die Weltkonjunktur ziehen zu können wie bisher der außenfinanzierte US-Konsum. Der größte Teil der Programme fließt in zusätzliche Infrastrukturen und Produktionskapazitäten, die allesamt darauf ausgerichtet sind, dass die einseitige Exportmaschine bald wieder anspringt. Ist das nicht der Fall, dann sitzt China auf gewaltigen Investitionsruinen mit entsprechenden Konsequenzen für das Finanzsystem. Überdies kann China nicht ein solches Programm durchhalten und gleichzeitig im bisherigen Ausmaß US-Staatsanleihen kaufen. Im pazifischen Raum wiederholt sich also im größeren Maßstab das europäische Dilemma. Beide Defizitkreisläufe gehen gegenwärtig nach dem Einbruch nur gebremst weiter und werden von den mühsam gepäppelten Binnenkonjunkturen auf Basis der Staatsprogramme flankiert. Laufen letztere aus, drohen sie zu kollabieren. Die zweite Welle der globalen Krise kann vom pazifischen Raum ebenso wie vom europäischen ausgehen oder von beiden zugleich. Alle aktuellen Erfolgsmeldungen sind nur Momentaufnahmen, die schon auf Jahre hinaus hochgerechnet werden – genau wie auf dem Höhepunkt der globalen Defizitkonjunktur zwischen 2007 und dem Sommer 2008. Dabei sind die prozentualen Erfolgszahlen des Wachstums und der Exporte noch fragwürdiger als damals, weil sie von einem wesentlich tieferen Ausgangsniveau nach dem Absturz der Weltkonjunktur ausgehen. Das unverwüstliche positive Denken strebt seinem nächsten Waterloo entgegen. Fraglich ist nur, welche Inkubationszeit die neue Widerspruchslage diesmal benötigt, um sich zu entladen. EinTrost kann das nur für das marktwirtschaftliche Kurzzeitgedächtnis sein, dessen Horizont nicht weiter als die Nase seiner Träger reicht. |