Krise und Kritik der Warengesellschaft |
erschienen im Neuen Deutschland Robert KurzÖKONOMISCHE MOGELPACKUNGENDer gesunde positivistische Wissenschaftsverstand beruft sich am liebsten auf Fakten, Fakten, Fakten – und sonst gar nichts. Aber die reine Erbsenzählerei ist schon deshalb fragwürdig, weil gerade in der Ökonomie nicht einmal sicher ist, ob es die Erbsen überhaupt gibt, die da gezählt werden. Am primitivsten sind natürlich direkte Bilanzfälschungen, vor denen vor allem in Krisenzeiten weder Konzerne und Banken noch Staaten zurückschrecken, wie sich in jüngster Zeit wieder gezeigt hat. Und was die amtlichen Statistiken angeht, so sagte bekanntlich schon Churchill, er traue keiner, die er nicht selber gefälscht habe. Aber in der Regel geht die Verzerrung der empirischen Wahrheit ganz legal vor sich. Man braucht nur die Kriterien für die Erhebung der Zahlen zu ändern. Nicht nur in den USA wurden die Bilanzierungsregeln in der Finanzkrise so gemodelt, dass die Banken ihre toxischen Papiere bequem in sogenannte Zweckgesellschaften auslagern können. Was der US-Ökonom Roubini als „Schattenbankensystem“ bezeichnet hat und für die Krise mitverantwortlich machte, wurde nicht ab-, sondern sogar ausgebaut. Dasselbe gilt für die Staatsfinanzen. Eine erhebliche Masse der Verschuldung schlummert in „Schattenhaushalten“, die nicht ausgewiesen werden. Ein ähnlicher Trick ist seit langem in der Arbeitslosenstatistik gang und gäbe. Im Jahrestakt werden die Erfassungsmethoden umformuliert. So ist ein Teil des Arbeitsmarkt-Wunders der BRD darauf zurückzuführen, dass seit kurzem die von privaten Vermittlungsagenturen betreuten Arbeitslosen schlicht nicht mehr mitgezählt werden. Aber auch dann, wenn die Zahlen stimmen, können sie durch Interpretation schön gefärbt werden. Hinsichtlich des Bruttoinlandsprodukts sagen weder absolute Zahlen noch relative Prozente des Wachstums etwas aus, wenn die Bezugsgrößen ausgeblendet werden. Beim Wachstum kommt es auf das Ausgangsniveau an. In Osteuropa wurden hohe Wachstumsraten von 7 Prozent und mehr gefeiert. Kunststück, nachdem der Untergang des Ostblocks zu einer verheerenden Deindustrialisierung geführt hatte. Überdies war das Wachstum nach dem Einbruch weitgehend durch Verschuldung in Fremdwährungen (Euro, Dollar, Schweizer Franken) alimentiert und erweist sich heute als äußerst zerbrechlich. Auch die Imagination Chinas als neue ökonomische Weltmacht beruht auf schrägen Interpretationen. Die beeindruckenden Wachstumsraten sind nicht nur defizitären Strukturen (Export-Einbahnstraßen, inzwischen kreditfinanzierten Staatsprogrammen), sondern auch einem niedrigen Ausgangsniveau geschuldet. Beim Übergang von einer extensiven zu einer intensiven Industrialisierung geht das Wachstum erfahrungsgemäß stark zurück. Trotz der Steigerung liegt das BIP Chinas mit 4,6 Billionen Dollar bei einem um ein Vielfaches größeren Anteil an der Weltbevölkerung heute noch weit unter dem der USA und der EU von jeweils 14 Billionen Dollar. Es ist zweifelhaft, dass China als globale Wachstumslokomotive dienen kann, etwa für die BRD. Auch hierzulande muss das prognostizierte Wachstum von 1,4 Prozent für dieses Jahr auf das tiefere Ausgangsniveau nach dem Einbruch von 5 Prozent im letzten Jahr bezogen werden. Überall und in jeder Hinsicht steht der faule Zahlenzauber auf tönernen Füßen. Die scheinbaren Tatsachen sind mit Vorsicht zu genießen, denn die objektive Verwertungslogik des Kapitals lässt sich letzten Endes nicht austricksen. Das galt ja schon für den Finanzcrash von 2008, der aus der offiziellen Faktenlage nicht ersichtlich war. |