Krise und Kritik der Warengesellschaft |
In
leicht veränderter Form erschienen in: Claus Peter OrtliebDie verlorene Unschuld der Produktivität
Der sogenannte technische Fortschritt und die mit ihm verbundene permanente Erhöhung der Produktivität werden regelmäßig als Potenz zum guten Leben und der Lösung aller Menschheitsprobleme kommuniziert. Da sich in den letzten 30-40 Jahren die Produktivität verdoppelt hat, in derselben Arbeitszeit sich also die doppelte Menge an Gütern herstellen lässt wie noch in den 1970er Jahren, müssten wir folglich seither dem guten Leben einen großen Schritt näher gekommen sein. Wer das freilich heute angesichts der gleichzeitig sich auftürmenden Umwelt-, Ressourcen-, Wirtschafts- und Finanzkrisen behaupten wollte, würde zurecht als Phantast gelten. Irgend etwas kann an der Rechnung und dem in ihr enthaltenen Versprechen also nicht stimmen. Wo liegt der Fehler? Ein erstes Indiz zur Beantwortung dieser Frage liefert ein Stichwort, das in diesem Zusammenhang regelmäßig genannt wird, die Wettbewerbsfähigkeit nämlich. Die Bedeutung der Produktivität liegt zunächst und vor allem in ihrem Komparativ: Der produktivere Betrieb kann seine Produkte billiger herstellen und anbieten und verdrängt seine Konkurrenten vom Markt. Der produktivere Standort kann es schon mal zum Exportweltmeister bringen, während der weniger produktive sich womöglich gefallen lassen muss, dass seine Industrie abgewrackt wird. Insofern ist klar, dass die in der Regel ungleichmäßige Erhöhung der Produktivität nicht allen Wirtschaftssubjekten gleichermaßen zugute kommt und vielen sogar schaden kann. Und klar ist auch, dass unter Konkurrenzbedingungen die Produktivitätserhöhung sich nicht einfach für eine allgemeine Verringerung der Arbeitszeit einsetzen lässt, sondern vielmehr zur Folge hat, dass weniger Beschäftigte mehr produzieren müssen. Damit ist allerdings die Frage noch nicht beantwortet, welche Wirkung die andauernde, durch die Konkurrenz induzierte Produktivitätserhöhung auf das kapitalistische Weltsystem als Ganzes hat. Nach der liberalen Fortschrittsideologie, die in diesem Zusammenhang gern Darwins „survival of the fittest“ oder Schumpeters Prinzip der „schöpferischen Zerstörung“ ins Feld führt, soll die Dynamik der Konkurrenz nicht nur den technischen, sondern zugleich den gesellschaftlichen Fortschritt vorantreiben. Dass diese Ideologie durch den Weltlauf gründlich desavouiert wurde, ist spätestens zu Beginn des 21. Jahrhunderts offensichtlich; weniger offensichtlich sind womöglich die Gründe dafür, die im Folgenden in den Fokus gerückt werden. Produktivität, Wert und stofflicher ReichtumVon einer Erhöhung der Produktivität spricht man, wenn in derselben Arbeitszeit ein größerer stofflicher Output oder – was dasselbe ist – wenn dieselbe stoffliche Menge an Waren mit geringerem Arbeitsaufwand produziert werden kann und sich ihre Wertgröße damit verringert. Produktivität ist also die Proportion von stofflicher Warenmenge zu der zu ihrer Produktion benötigten Arbeitszeit. Für das Verständnis der Produktivität und ihrer Veränderung ist es daher zwingend erforderlich, zwischen Wertgrößen und stofflichem Reichtum zu unterscheiden.1 Wenn Marx davon spricht (s. Eingangszitat), dass das Kapital die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt, dann ist vom wertförmigen Reichtum die Rede, einer historisch spezifischen, allein für die kapitalistische Gesellschaft gültigen Form des Reichtums, die ihren inneren Kern ausmacht (vgl. Postone 2003: 54). Dagegen wird der stoffliche Reichtum von den Gebrauchswerten gebildet, die als Waren produziert sein können oder auch nicht. 500 Tische, 4000 Hosen, 200 Hektar Boden, 14 Vorlesungen über Nanotechnik oder 30 Streubomben wären in diesem Sinne stofflicher Reichtum. Seine Beurteilung erfolgt allein nach dem Gebrauch, der sich von ihm machen lässt. Von allen anderen Gesellschaftsformationen unterscheidet sich der Kapitalismus darin, dass in ihm eine andere Form des Reichtums dominiert, nämlich der abstrakte oder wertförmige Reichtum, der im Geld dargestellt ist und sich in der zur Produktion einer Ware erforderlichen Arbeitszeit bemisst. Stofflicher Reichtum ist zwar notwendiges Beiwerk kapitalistischen Wirtschaftens, aber nicht sein Ziel. Dieses besteht vielmehr in der Verwertung des Werts, der Vermehrung abstrakten Reichtums: Ich werfe Geld in den Produktionsprozess in der Erwartung, am Ende mehr Geld zu haben (Mehrwert). Eine wirtschaftliche Tätigkeit, die diese Vermehrung abstrakten Reichtums nicht zumindest erwarten lässt, findet gar nicht erst statt. Die hier getroffene Unterscheidung der beiden Reichtumsformen ist keineswegs selbstverständlich. Im kapitalistischen Alltag spielt sie keine Rolle, dort gibt es nur „Reichtum schlechthin“. Kritik am Kapitalismus ist dann vor allem Kritik an der Verteilung des Reichtums. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie ist dagegen wesentlich Kritik dieser besonderen, verrückten und maßlosen Form des Reichtums (vgl. Postone 2003: 55f), von deren Funktionieren wir unser aller Leben abhängig gemacht haben. Sie funktioniert aber – auch nach ihren eigenen Kriterien – immer weniger. Im Begriff der Produktivität liegt der Fokus auf den quantitativen Verhältnissen zwischen beiden in der Warenproduktion geschaffenen Reichtumsformen. Sie liegen zwar zu jedem Zeitpunkt fest, sind aber, wie Marx (MEW 23: 60f) feststellt, ständig im Fluss:
Der letzte Satz ist zum Verständnis des Folgenden noch einmal herauszuheben: Bei einer Erhöhung der Produktivität
Die Zwänge der abstrakten ReichtumsproduktionAus diesem Grund hat die empirisch festzustellende historische Tendenz zur permanenten Produktivitätserhöhung im Kapitalismus eine ebenso permanente Entwertung des stofflichen Reichtums zur Folge. Und wie sich zeigen lässt (weil der Mehrwert stets kleiner ist als der Gesamtwert einer Ware, vgl. Ortlieb 2009: 33 ff.), wird von einer bestimmten und inzwischen erreichten Stufe der kapitalistischen Entwicklung an auch der Beitrag einer als Ware produzierten stofflichen Einheit zur gesamtgesellschaftlichen Mehrwertmasse immer geringer. Das Kapital, das ja nur an einer möglichst großen Akkumulation von Mehrwert ein Interesse hat, schneidet sich mit der permanenten Erhöhung der Produktivität insofern ins eigene Fleisch, als der zur Erzielung eines bestimmten Mehrwerts erforderliche stoffliche Aufwand immer größer wird. Die Frage ist also, warum das Kapital anscheinend gegen das eigene „Interesse“ handelt. Die Antwort liegt darin, dass sich die Angelegenheit aus der Sicht der Einzelkapitalien anders darstellt: In der Konkurrenz (der Betriebe, Standorte, Nationalökonomien) erringt dasjenige Einzelkapital einen Vorteil und kann sein Marktsegment erweitern, das den anderen gegenüber einen Produktivitätsvorsprung hat. Daraus ergibt sich die paradoxe Situation, dass gerade diejenigen Einzelkapitalien ihr Tortenstück am gesamtgesellschaftlichen Mehrwertkuchen am stärksten vergrößern können, die die Gesamtgröße dieses Kuchens am stärksten verringern. Hieraus resultiert der von Marx bereits vor 160 Jahren konstatierte „prozessierende Widerspruch“, dass das Kapital, indem es bloß seiner eigenen Logik folgt, die ihm adäquate Reichtumsform untergräbt. Wer sich daran, also an der Verdrängung der Arbeit aus der Produktion, nicht beteiligt, wird vom Markt gefegt. Da das Ziel allen Wirtschaftens im Kapitalismus die Erzielung von Mehrwert ist, die in den Produktionsprozess geworfene Geldmenge sich am Ende also vergrößert haben muss, ist eine funktionierende Marktwirtschaft ohne Wachstum nicht zu haben, denn ohne Wachstumsperspektive würde niemand mehr ökonomisch tätig werden. Das sollten sich alle wohlmeinenden Leute ins Stammbuch schreiben, die da meinen, die Volkswirtschaften müssten sich um des Wohls der Umwelt und der Menschheit willen in Zukunft daran gewöhnen, ohne Wachstum auszukommen, vom Ende des Kapitalismus aber nicht reden wollen. Was wächst da so zwanghaft? Aus der Sicht des Kapitals ist es der abstrakte Reichtum, der wachsen muss, und mit ihm der Mehrwert, der sich ja mit wachsender Kapitalakkumulation auf einer immer größeren Kapitalstock bezieht. Bei zunehmender Produktivität heißt das aber, dass der stoffliche Output noch schneller wachsen muss als der Mehrwert. Denn selbst eine konstante Mehrwertproduktion würde ein stoffliches Wachstum erfordern, das dem der Produktivität entspricht. Die Produktion des abstrakten Reichtums unterliegt also dem doppelten Zwang zum Wachstum des Mehrwerts und zur Erhöhung der Produktivität, die ein nochmals höheres Wachstum auf der stofflichen Seite bedingt. Historisch ist der Kapitalismus dem ihm immanenten Wachstumszwang durch zwei ungeheure Expansionsbewegungen nachgekommen (vgl. Kurz 1986: 30f):
Die Räume, die hier ausgefüllt werden, sind stofflicher Art und daher endlich. Durch die maßlose Vermehrung des abstrakten Reichtums müssen sie daher irgendwann ausgefüllt sein. Dieser Zeitpunkt scheint inzwischen erreicht, und das gleich in doppelter Hinsicht: Die innere und die äußere Schranke der kapitalistischen ProduktionsweiseIn Bezug auf die Expansionsbewegungen des Kapitals konstatiert Kurz (1986: 31f) bereits Mitte der 1980er Jahre als Auswirkung der „mikroelektronischen Revolution“:
Die Feststellung, dass „von nun an unerbittlich mehr Arbeit eliminiert (wird) als absorbiert werden kann“, beruht wesentlich auf der Voraussetzung, dass das Kapital nicht mehr in der Lage sein werde, mit Produktinnovationen die durch die Prozessinnovationen induzierten Verluste der Wert- und Mehrwertproduktion aufzufangen. Dafür spricht viel, jedenfalls ist von derartigen Innovationen auch heute – 24 Jahre später – weit und breit nichts zu sehen. Wie gesagt geht es hier nicht um neue Produkte und zugehörige Bedürfnisse schlechthin, sondern um solche, deren Produktion so massenhaft Arbeit erfordert, dass damit die Rationalisierungspotenzen der Mikroelektronik mindestens kompensiert würden. Auf der Erscheinungsebene stellt sich die so bestimmte innere Schranke der kapitalistischen Produktion als Verdrängungskonkurrenz und strukturelle Arbeitslosigkeit dar, so etwa exemplarisch auf dem Automarkt, dessen Situation in DIE ZEIT vom 16.10.08 in einem Artikel von D.H. Lamparter unter der Überschrift Notbremsungen recht gut beschrieben wird. Dort heißt es:
Bei einer Steigerung der Produktivität um 15 Prozent müsste auch der Absatz entsprechend gesteigert werden, um dieselbe (in Arbeitszeit gemessene) Wert- und Mehrwertmasse zu produzieren, aus der allein Profite sich generieren lassen. Gelingt das nicht, so sind davon nicht nur die in die Arbeitslosigkeit entlassenen Arbeitskräfte betroffen, sondern ebenso das in der Automobilindustrie gebundene Kapital, das dort nicht mehr denselben Mehrwert erzielen kann wie zuvor. Von Gewinneinbußen sind vor allem diejenigen Einzelbetriebe bedroht, die mit dem Wachstum der Produktivität nicht Schritt halten können, woraus sich der Stolz des VW-Chefs erklärt, der auf größere Marktanteile und vielleicht sogar auf steigende Gewinne hoffen kann. In der Summe, also auf die gesamte Branche bezogen, muss die höhere Produktivität aber zu geringeren Gewinnen führen. Neben dieser inneren wird mit den ökologischen Grenzen des Wachstums eine äußere Schranke wirksam, die als Schranke der kapitalistischen Produktionsweise aber noch nicht hinreichend zur Kenntnis genommen wird, wie die Phantasmen einer „Marktwirtschaft ohne Wachstum“ zeigen. Bereits Anfang der 1990er Jahre hat Postone (2003: 469f, amerikanisches Original 1993) auf diesen Zusammenhang hingewiesen:
Im politischen Alltag erscheint das hier beschriebene Dilemma als Konflikt etwa zwischen Umwelt- und Entwicklungspolitik: Während in umweltpolitischen Zusammenhängen Konsens darüber besteht, dass die globale Verbreitung des „american way of life“ oder auch nur des westeuropäischen „Lebensstils“ Umweltkatastrophen bisher unbekannten Ausmaßes nach sich zöge, müssen entwicklungspolitische Institutionen genau dieses Ziel verfolgen, auch wenn es inzwischen unrealistisch geworden ist. Oder in der hier verwendeten Begrifflichkeit: Die für die weitere Kapitalakkumulation eigentlich notwendige Beschäftigung auch nur der Hälfte der global zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte auf dem inzwischen erreichten Produktivitätsniveau mit dem entsprechenden stofflichen Output und Ressourcenverbrauch hätte den sofortigen Kollaps des Ökosystems Erde zur Folge.
So oder so hat sich die kapitalistische Produktionsweise durch ihre zwanghafte Eigendynamik ans Ende ihrer Entwicklungsmöglichkeiten gebracht. Die Weltgesellschaft steht deshalb vor der Alternative, entweder mit ihr unterzugehen oder aber sich der Zwänge des abstrakten Reichtums zu entledigen und die eigene Reproduktion allein nach stofflichen Kriterien zu planen. Dann könnte auch die Produktivitätsentwicklung ihre Unschuld wiedergewinnen: Einerseits müsste nicht jede mögliche Erhöhung der Produktivität auch zwanghaft vollzogen werden, denn schließlich wird nicht jede Tätigkeit dadurch angenehmer, dass man sie schneller erledigt. Und andererseits ließe sie sich ggf. tatsächlich zur Erleichterung des menschlichen Lebens einsetzen. Anmerkung1 Dieser Unterschied wird dadurch systematisch vernebelt, dass die empirisch arbeitende Wirtschaftswissenschaft Produktivität in BIP (Bruttoinlandsprodukt) pro Arbeitsstunde misst, das Arbeitsprodukt also von vornherein nur in Geldwerten ausdrückt. Dabei soll das (reale) BIP die Gesamtmenge der produzierten Güter und Dienstleistungen darstellen. Den daraus entstehenden Begriffswirrwarr sollte man lieber vermeiden. LiteraturKurz, Robert (1986): Die Krise des Tauschwerts, Marxistische Kritik 1, 7-48 Marx, Karl (Grundrisse): Grundrisse einer Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974 Marx, Karl (MEW 23): Das Kapital. Erster Band, Berlin 1984 Ortlieb, Claus Peter (2009): Ein Widerspruch von Stoff und Form, EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft 6 Postone, Moishe (2003): Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg |