Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Richard AabromeitVor welcher Wahl steht Griechenland nach der Wahl?Πἁντα ῥεῖ – nur in Griechenland nicht?Die Positionen„…es war so, als ob man einfach nichts gesagt hätte.“ In der deutschen Übersetzung eines Gespräches von Janis Varufakis mit „New Statesman“, abgedruckt im „neues deutschland“ (nd) vom 16. Juli 2015, gibt der ehemalige griechische Finanzminister seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass seine Kolleg/inn/en der Eurogruppe bei den Verhandlungen über die Staatsschulden von Griechenland und ein mögliches drittes Rettungspaket für Griechenland keinerlei Diskussion sachbezogener und ökonomischer Art mit ihm führen wollten und seine Ausführungen im Endergebnis einfach übergingen. Alle seine Argumente und Analysen wurden von der versammelten Kompetenz und Macht europäischer Finanzpolitik, allen voran Dr. Wolfgang Schäuble, zwar in gewisser Weise irgendwie rezipiert, aber nichtsdestotrotz effektiv ignoriert. Dies deutet an, wie isoliert die griechische ΣΥΡΙΖΑ1-Regierung, und in persona Varufakis, von Anfang an bei diesen Verhandlungen mit den anderen 18 Mitgliedern der sogenannten Eurogruppe2, mit der EU-Kommission und mit dem IWF dastand. Diese €-Gruppe ist ein eigenartiges Konstrukt, das selbst nach Einschätzung eines Gutachtens des Deutschen Bundestages „grundsätzlich nicht zu einer eigenständigen Beschlussfassung ermächtigt“ sei. Dies ist im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion, die in den Medien und der Öffentlichkeit um das Thema Griechenland und seine Staatsschulden ganz allgemein und um die Bedingungen für das neulich verabschiedete, nunmehr dritte, Hilfspaket ganz speziell geführt wird, zu sehen. Obwohl sich die SYRIZA bei den Neuwahlen am 20. September erneut klar durchgesetzt hat, wird sich nichts Entscheidendes ändern, höchstens dass Alexis Zipras sich endlich wirklich zum hellenischen Gerd Schröder mausert, und es gilt weiterhin: die Situation im Eurogebiet zum Thema Griechenland, aber auch ganz allgemein, ist im Wesentlichen zunächst einmal geprägt von zwei prima facie grundsätzlich unterschiedlichen Positionen: auf der einen Seite stehen diejenigen, die ausgehend von neoliberalen bzw. wirtschafts-konservativen Vorstellungen, eine Austeritätspolitik für adäquat und erfolgversprechend halten. Deren Standpunkte und Forderungen haben sich bislang erwartungsgemäß im Wesentlichen durchgesetzt: Die Privatisierung staatlicher (und lukrativer) Betriebe, wie zum Beispiel Häfen und Flughäfen, soll vorangetrieben werden; der Staatshaushalt soll mittelfristig einen Primärüberschuss3 von 3,5% aufweisen, was nur durch Kürzungen, insbesondere im Sozialbereich, erreicht werden kann; beim Rentensystem sollen Reformen dafür sorgen, dass das Eintrittsalter auf 67 Jahre angehoben wird und dass Frühverrentungen deutlich verringert werden; die Mehrwertsteuer wird von 13 auf 23% angehoben; die Regeln für die Tarifverhandlungen bei den Löhnen werden überprüft. Auf der anderen Seite sind diejenigen zu finden, die diese Sparpolitik auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit und zugunsten der Gläubigerinstitutionen Griechenlands ablehnen. Zu diesen gehören in erster Linie alle diejenigen, die sich im weitesten Sinne den Positionen der „taz“ zuordnen, also Menschen und Gruppen, die sich für solidarische, wachstumskritische und diffus antikapitalistische Positionen stark machen. Beispielhaft können hier Anmerkungen sein, die die taz am 6.9.2015 auf ihrer website (taz.de) publizierte: „Gleichzeitig erzwingt die Krise auch das Suchen nach neuen Möglichkeiten des Zusammenlebens und -arbeitens und vergrößert Räume, wo diese erprobt werden. Projekte, die seit Jahren von anarchistischen, antifaschistischen und solidarischen Gruppen betrieben werden, erfahren nun großen Zustrom, neue Ideen entstehen. Es gibt selbst verwaltete Räume und Nachbarschaftsprojekte, solidarische Kliniken, Inseln ohne Geldwirtschaft, Umsonstläden, Tauschwirtschaft, Kooperativen, Werkstätten und Selbsthilfeprojekte. Basisdemokratische Modelle mit Konsensentscheidungen und Arbeiten im Kollektiv werden bekannter und geläufiger. Einige Griechen finden sich also notgedrungen zusammen, um eine solidarische und friedliche Gesellschaft von unten aufzubauen.“ Rein vom konventionellen politischen Spektrum-Denken gehörten hier auch Neokeynesianer dazu; da aber von dieser Seite außer der Forderung nach einem umfangreichen, aber unspezifischen Investitionsprogramm, sowie nach erhöhten Staatsausgaben vorwiegend im Sozialbereich wenig zu hören war, lasse ich es bei der undifferenzierten Subsumption unter die solidarökonomische taz-Position. Eine zusätzliche, aber eher marginale dritte, durch und durch archäomarxistisch daherkommende Position, kann man in der „junge Welt“ vom 18./19. Juli 2015 nachlesen: „Da sowohl die Interessen der herrschenden Klassen als auch die Interessen der beherrschten Klassen widersprüchlich sind und der Klassenkampf sich immer in unterschiedliche Richtungen entwickeln kann, war keineswegs von vornherein klar, wie der Verhandlungsprozess zwischen der griechischen Regierung und den Gläubigern ausgehen würde.“ Eine weitere randständige, auf der Basis reiner Machtpolitik aufbauende Argumentation besagt, dass die kompromisslose und harte Haltung der Troika und insbesondere des deutschen Finanzministers nur zwei Ziele hatte: erstens eine klare Abfuhr an die erste linksradikale Regierung der EU, und zweitens die Verhinderung eines Präzedenzfalles. Allerdings kann man mehr oder weniger abgeschwächte Fragmente dieser letztgenannten Position fast überall ausmachen. Zusammengefasst und leicht vereinfacht gesagt stehen also in erster Linie die Befürworter von eiserner Sparpolitik, umfassender Privatisierung und drastischen Strukturanpassungen denjenigen gegenüber, die eine Erhöhung von Staatsausgaben, einen weitgehenden Schuldenerlass und die Initiierung eines Investitionsprogrammes, sowie die Nutzung der Chancen für alternative Wirtschaftsweisen für die effizienteren Maßnahmen halten. Weder die klassenkämpferischen noch andere Marxist/innen haben – wenn überhaupt – Vorschläge ins Spiel gebracht, mit denen man sich ernsthaft auseinandersetzen müsste. Die letzte der oben genannten Positionen, also die fast schon verschwörungstheoretisch anmutende, machtpolitische, diffundiert in mehr oder weniger kräftiger Dosierung ein wenig in alle anderen Standpunkte und ist obendrein schwer fassbar, sodass ich mich hier auf die beiden ersten konzentrieren möchte. Da sich zum Thema „Grexit“ keine/r der in der Öffentlichkeit mitredenden Expert/inn/en final festlegen möchte, werde auch ich dieses Thema nicht in den Mittelpunkt stellen; in der Tat ist es am Ende von untergeordneter Bedeutung, was unter anderem aus meiner Argumentation hervorgehen wird. Was diese Positionen übersehenDie Gemeinsamkeiten der oben kurz skizzierten Standpunkte sind den jeweiligen Vertreter/inne/n höchstwahrscheinlich gar nicht bewusst, denn die Auseinandersetzungen über die zu ergreifenden Maßnahmen und über die Gründe für die griechischen Missstände sind zuweilen so heftig, dass der Eindruck von unüberbrückbaren Differenzen entsteht. Diese Gemeinsamkeiten lassen sich zusammenfassen mit dem Hinweis, dass allenthalben rein statisch eine aktuell vorzufindende Situation (siehe dazu weiter unten) genommen und für schlecht befunden wird, aber die Gründe dafür, also auch die zeitliche Entstehungsgeschichte dieser Misere, der Einfachheit halber ignoriert werden. Auch das Leugnen oder Verdrängen eines der zentralen Problemkreise, mit denen Griechenland seit seinem Beitritt zur €-Gruppe verschärft konfrontiert ist, nämlich seine stark nachhinkende Kapital- und Arbeitsproduktivität schon nach VWL-Kriterien – geschweige denn nach marxistischen Kriterien –, verbindet die allermeisten Kommentare und Forderungen ungewollt. Somit gründen sich die unterschiedlichen Vorschläge zur Verbesserung der Lage in Griechenland nicht auf die Rezeption der tatsächlichen Probleme, ja nicht einmal auf die Berücksichtigung aller relevanten empirischen Daten, sondern einzig und allein auf den jeweiligen politischen Standpunkt der beteiligten Diskutant/inn/en. Immer wieder zu beobachten ist bei beinahe allen Kommentaren, Berichten und Debatten um das Thema Griechenland ein erstaunlicher – tatsächlicher oder vorgeschützter – Mangel an Faktenkenntnis, ein Festhalten an alten und ein Hervorbringen neuer Vorurteile, und oft auch ein schlichtes Projizieren von zuhause erlebtem Bekannten auf die Situation in Griechenland. Pathetische Ressentiments und eine Menge stammtischartiger Demagogie kommen bei einigen noch hinzu. Die Frage wäre: ist das ein Verdrängungs- oder Verleugnungsprozess, und ist dieser wirklich erstaunlich, und ist das ein Verhalten der Medien, an das wir uns von nun an gewöhnen müssen – wenn wir es nicht schon längst getan haben? Vielleicht wollen oder können die Vertreter/innen der Medien auch gar nicht anders „berichten“, weil sie sonst eine überaus komplizierte Sachlage in ihren Zeitungen, Blogs und Sendungen schildern und erläutern müssten, was ja möglicherweise die Konsument/inn/en dieser Medien anöden oder überfordern und somit die Auflage, die Anzahl der Klicks oder die Quote verderben könnte. Da ist es durchaus einfacher, erfolgversprechender und nicht zuletzt gewinnträchtiger, entweder die angebliche Faulheit und/oder die unterstellte Durchtriebenheit eines ganzen Volkes pauschal anzuprangern und mit ein paar Episoden zu untermauern, oder alternativ die vermutete, zu geringe Standhaftigkeit des ehemaligen Ministerpräsidenten Alexis Zipras zu geißeln. Aber gleichgültig, ob nun die durchaus fehlgeschlagene repressive Austeritätspolitik, oder die völlig aussichtslose neokeynesianische Postulatspolitik in Verbindung mit illusorischen Vorstellungen einer solidarischen Wirtschaft präferiert wird, auf einige zwar komplizierte, aber doch einigermaßen offensichtliche Tatsachen wird von allen Seiten gar nicht oder wenigstens unzulänglich eingegangen. Als neuester Gag ist zu bezeichnen, dass irgendwie vorhandene Teile des linken Spektrums klammheimlich eine Art Grexit von links4 befürworteten – so ähnlich wie es auch Schäuble tut – oder immerhin in Betracht ziehen, zuletzt Tom Strohschneider im nd vom 14.8.2015: „Grexit von links?“ Die SituationSchon die unausgesprochene und oft fahrlässige, ob bewusste oder unbewusste, prinzipielle Gleichsetzung der griechischen Wirtschaft mit derjenigen von traditionellen Industriestaaten wie Deutschland, U. K., Holland oder Frankreich, oder gar mit derjenigen der USA oder Japans, zeigt deutlich: jegliche differenzierte Betrachtung bleibt bei beiden Hauptstandpunkten der Griechenlandexperten außer Betracht und jenseits aller Vorstellung. Von dieser impliziten Gleichsetzung ausgehend, wird gemeinhin der Schluss gezogen, dass das heutige Hellas sich nicht aus seiner vertrackten Situation einfach und ohne Strafe herausdividieren dürfe und könne. Wenn Griechenland schon eine so große Verschuldung vorzuweisen hat, dann sollen „die Griechen“ auch bitteschön die Konsequenzen nicht scheuen und endlich mit dem Sparen und mit dem Sich-Anpassen und mit der Rückzahlung etc. ernst machen. Ein Blick auf die ökonometrischen Zahlen verrät uns schon einmal ein paar Unterschiede zu den kapitalistischen Zentren der voll industrialisierten Länder: der griechische Tertiärsektor, also die Dienstleistungsbranche, macht gegenwärtig etwa 71% des BIPes aus, die Tourismus-Branche allein trägt 16%, prozentual gesehen so viel wie in keinem anderen Land der EU, zum BIP bei. Der sekundäre Sektor, i.e. die Industrie, in Hellas trägt rund 16%, der primäre (extraktive) Sektor, also insbesondere die Land- und Fischwirtschaft, immerhin etwa 6%, auch wieder so viel wie in keinem anderen Land der EU. Dies bedeutet: Landwirtschaft und Tourismus tragen fast ein Viertel zum BIP bei; wenn man nun einen Teil des sekundären Sektors, nämlich die industrielle Verarbeitung der im Lande erzeugten Agrarprodukte, hinzunimmt, dann nähert man sich einem Drittel des BIP, das nichts mit der klassischen Industrie zu tun hat; aber nur dort finden die relevanten Produktivitätssteigerungen statt, also werden noch – wenn auch in immer geringerem Ausmaße – neue Arbeitsplätze geschaffen. Ganz zu schweigen vom Rückstand der griechischen Wirtschaft beim Thema industrielle Produktivität insgesamt; der jeweilige Stand dieser Produktivität ist eine globale Kategorie und verlangt von allen, die am Weltmarkt bzw. am europäischen Markt teilnehmen wollen, das Erreichen mindestens eben dieses Standards. Gerade hier hat Griechenland sein zentrales Problem. Zwar geben die bürgerlichen Ökonometriedaten nur bedingt und vor allem lediglich indirekt Auskunft über die jeweilige wirtschaftliche Wirklichkeit; aber als erste empirische Hinweise taugen sie allemal: so arbeiten zwar die Griech/inn/en 2.034 h p.a. im Durchschnitt – zum Vergleich: die Deutschen nur 1.393 –, allerdings produzieren die Griech/inn/en während dieser Zeit nur ein BIP je Arbeitsstunde von rund 36$; zum Vergleich: der Durchschnitt in der EU liegt bei etwa 50$, Deutschland liegt bei 62$. Damit ist zwar das Vorurteil des „faulen“ Griechen widerlegt, aber auch gezeigt, dass die strukturellen Probleme in Griechenland in der Tat wesentlich in der schier unaufholbar geringen Produktivität der Wirtschaft begründet sind. Es ist einfach eine Illusion zu glauben, dass sich diese Situation mit Sparen und Privatisierungen zum Besseren wenden lässt. Die Staatsverschuldung Griechenlands beläuft sich aktuell auf mehr als 310 Mrd. €, i.e. etwa 177% seines BIPes, welches 2013 zirka 182 Mrd. € ausmachte. Im Vergleich dazu 2007, also gerade knapp vor dem globalen crash: damals lag die griechische Staatsverschuldungsquote nur wenig über 100%, 1987 sogar bei nur rund 50%. Der starke Anstieg insbesondere nach 2007 ist auf die große Anstrengung des griechischen Staates und der Institutionen (EZB, IWF, EU-Kommission) für die Rettung der griechischen (privaten) Banken zurückzuführen, und nicht etwa auf die Verschwendungssucht oder die Liederlichkeit dieses Staates. Durch die Bankenrettung in 2010 wurden die einstmals privaten Schulden (der griechischen Privatbanken) zum großen Teil verstaatlicht5 – und jetzt wird genau diesem Staat genau dieses zum Vorwurf gemacht. Zum Vergleich betrug in Deutschland die Staatsverschuldungsquote, ebenfalls 2013, rund 78%, in den USA um die 100%, in Spanien knapp 85%, in China sogar nur um die 25%. Die Arbeitslosenquote lag in Griechenland im März 2015 bei fast 26%, in Spanien bei knapp 25% – überall sonst in der EU (n. b.: einschließlich Portugal) deutlich darunter. Auf diese Daten wird unten noch genauer einzugehen sein. Wer sich diese Zahlen halbwegs aufmerksam ansieht und mit ein klein wenig Sachverstand interpretiert, der/die weiß, dass Griechenland seine Schulden niemals wird begleichen können6 und auch nur die Bedienung der Zinsen wohl kaum ohne permanente Umstrukturierungen und Stundungen stemmen wird. Mit dem kürzlich verabschiedeten dritten Hilfsprogramm, in dem munter weiter Sparmaßnahmen den Hauptakzent setzen, wird das ebenfalls nicht zu ändern sein. Eigenartigerweise ist die Schuldenlast in Griechenland zwar fast vollständig verstaatlicht worden, und die Regierungen vor Zipras hatten erste Maßnahmen im Rahmen der Austeritäts-Auflagen begonnen – jedoch: die Schulden haben sich so gut wie nicht verringert. Trotzdem behaupten die Neoliberalen hartnäckig, dass man halt nur einfach noch zuwarten müsse, bis sich die segensreichen Wirkungen ihrer Maßnahmen zeigten! Obwohl die minimale Wahrscheinlichkeit einer Schuldenabtragung seitens Griechenlands mehr implizit als explizit so gut wie Konsens bei allen an der Debatte Beteiligten ist oder sein müsste, von den neoliberalen Rabauken über die neokeynesianischen Memmen und die solidarökonomischen Träumer/innen, bis hin zu den archäomarxistischen Schlaumeiern, wird allenthalben so getan, als müsste Griechenland, also dessen Steuerzahler/innen (wer immer das konkret sein soll, wo doch das Bezahlen der fälligen Steuern dort angeblich so eine Art von Freiwilligkeit voraussetzt), diese Rückzahlung doch irgendwann und irgendwie tatsächlich tätigen sollen / können / müssen. Nur so könnte man halbwegs verstehen, warum die Strenge von Schäuble und der „Troika“ solche Ausmaße annimmt und in diesem Punkt ohne nennenswerten Widerstand bleibt. Und natürlich: wenn man (i.e. Rest-Euroland) bei Griechenland Nachsicht zeigte, dann kämen sicher bald alle anderen Problemländer auch angelaufen und wollten ebenfalls irgendwelche (finanziellen) Erleichterungen oder Zuwendungen! Jetzt muss an dieser Stelle nochmals eindringlich darauf hingewiesen werden, dass die obigen (und auch die untigen) Daten und Ausführungen ausschließlich auf den bürgerlichen Zahlen der Ökonometrie beruhen. Nimmt man noch die Tatsache hinzu, dass von 1986 bis Juni 2010 in Griechenland nur eine Statistikbehörde existierte, die dem Wirtschafts- und Finanzministerium unterstand (also direkt politisch beeinflussbar war), und erst seit Juli 2010 eine von der Regierung unabhängige Einrichtung für Statistik aufgebaut wurde, so sind Zweifel an der Aussagekraft der Zahlen allemal angebracht7. Was aber aus der unsicheren Datenlage trotz allem hervorgeht, ist zweierlei: erstens wird Griechenland wegen der Zins- und Tilgungslasten in absehbarer Zeit über keinerlei Spielraum für wie auch immer geartete Wirtschaftsförderung verfügen. Zum zweiten ist der Rückstand Griechenlands bei der Industrieproduktivität gegenüber den anderen EU- und €-Ländern zu groß, als dass er mittel- oder gar kurzfristig aufzuholen wäre. Auf der anderen Seite, und das wird zwar allgemein nicht wirklich verschwiegen, aber doch eher knapp berichtet, ist die soziale Lage eines Großteils der griechischen Bevölkerung nicht nur elend, sondern wird wegen der eingeleiteten Maßnahmen, verbunden mit der seit 2008 eingetretenen Wirtschaftskrise, seither jedes Jahr noch elender. So sank zum Beispiel das BIP in Griechenland zwischen 2008 und 2013 preisbereinigt um über ein Viertel seines Wertes. Die Folgen von Wirtschafts- und Finanzkrise, sowie der auferlegten Maßnahmen sind verheerend, was ein paar Zahlen exemplarisch unterstreichen sollen8:
Sollten Angela Merkel und Wolfgang Schäuble tatsächlich an Griechenland ein Exempel statuieren wollen, das auch weh tut9, dann ist genau das bis heute bereits ganz gut gelungen – nur: die Lage hat sich seither nicht verbessert und sie wird sich auch künftig nicht verbessern. Sie eskaliert nur deshalb (noch?) nicht dramatisch, weil in Griechenland die Familien und Sippen, eben wegen ihrer traditionellen, also aus der Sicht der kapitalistischen Zentren: rückständigen, sozialen Verhältnisse, immer noch nicht nur in der Lage sind, die Unterstützungsbedürftigen (Arbeitslose, Arme, Witwen, Jugendliche, Greise, etc.) vor dem endgültigen Ruin zu bewahren und sie im Kreis der sozial gerade noch Anerkannten zu halten, sondern selbiges auch für völlig selbstverständlich zu erachten. Die GründeGründe für die Misere in Hellas werden von allen Seiten viele genannt; die meisten dienen zur Rechtfertigung dafür, dass Griechenland sich selbst mit der jetzigen Situation auseinander zu setzen hat, sind aber leider voll von Abschätzung, von Vorurteilen und von Angst. Von den beiden oben angeführten mainstream Positionen zum Thema Griechenland-Krise, also die Neoliberalen und die Neokeynesianischen / Solidarökonomischen, sind zwar zur angeblichen Behebung dieser Krise einige Vorschläge (siehe oben) in der Diskussion; was aber die Gründe zur Entstehung der Krise betrifft, ist von dort über Plattitüden hinaus wenig in Erfahrung zu bringen. Nun, diese Gründe im Rahmen der Griechenland-Problematik will kaum jemand seriös zur Kenntnis nehmen. Diese Gründe sind ja zwar in den notorischen Statistiken und Protokollen nachzulesen; sie sind aber nur (quasi heuristisch) mithilfe von halbwegs intensivem Nachdenken und auf der Basis aller, ergo nicht nur der jeweils gefälligen, empirischen Daten zu verstehen. Wem immer es gelingt, diesen Nachdenkprozess zielgerichtet und konsequent in Gang zu setzen, der/dem wird nicht entgehen, dass die krisenhafte Entwicklung des gegenwärtigen Kapitalismus schon in den Zentren der Wertverwertung10 zu massiven Problemen führt; an den Rändern der Zentren, zum Beispiel eben in Griechenland, zeigen sich diese Probleme bereits in deutlich verschärfter Form; vom Zustand in der Peripherie11 soll hier schon gar nicht gesprochen werden. Diese Krisenhaftigkeit besteht nun darin, dass seit rund fünfzig Jahren global mehr Arbeitskräfte der Produktivitätssteigerung zum Opfer fallen, als durch Ausdehnung der Märkte, durch neue Produkte, oder durch die Verbilligung der Arbeitskräfte, neu nachgefragt werden. Wenn das bereits in den Zentren zu sehr unangenehmen Nebenwirkungen führt, beispielsweise in Deutschland zu immer mehr prekären Arbeitsverhältnissen, so kann derselbe Wirkmechanismus in von vornherein ökonomisch deutlich schwächeren Ländern wie Griechenland nur umso schlimmere Konsequenzen zeitigen. Leider, und das wird gerade von den sogenannten Linken oder Fortschrittlichen gar nicht bemerkt oder zur Kenntnis genommen, unterscheiden sich in dieser Hinsicht die oben genannten Hauptströmungen (Neoliberale und Neokeynesianer / Solidarökonomen) so gut wie überhaupt nicht voneinander. Sie bekämpfen sich aber dennoch sehr heftig – ich frage mich: zu welchem Zweck? Was müsste die Richtung sein?Sinnvolle politische Maßnahmen können nicht auf pseudorealistische Struktur- oder Sparmaßnahmen abzielen, da diese ja ohnehin nichts bewirken können, außer der Vergrößerung der Leiden eines großen Teils der hellenischen Bevölkerung. Sie müßten vielmehr einen Charakter haben, der durchaus die Affirmation der bestehenden Gesellschaftsformation in Kauf nimmt, da mit jeder beliebigen anderen Maßnahme in Griechenland kurz- du mittelfristig nichts an der Kapitalverwertung dort oder auch woanders, oder gar global geändert werden kann. Sinnvolle und zielführende Maßnahmen sind demzufolge ausschließlich zu dem Zweck auszuwählen, das Leiden von rund einem Drittel der griechischen Bevölkerung zu lindern, und gleichzeitig allen denjenigen, die noch an danaische oder europäische Mirakel glauben, zu zeigen, dass solche Maßnahmen das einzige sind, was Leuten zu tun bleibt, die nicht den Mumm aufbringen, das Ganze, also die gesellschaftliche Totalität, in Frage zu stellen. Das FazitDas eigentliche Fazit kann einigermaßen kurz gehalten und in eine simple Tabellenform gegossen werden, welche lediglich sieben Punkte enthält und ein Exempel der anderen Art darstellen kann:
Wir müssen uns Klarheit darüber verschaffen, dass zwar die neoliberal-konservativen Positionen (Stichwort: Austerität) wegen ihrer zutiefst unsozialen Folgeerscheinungen kritisiert werden müssen; ebenso müssen wir verdeutlichen, dass die neokeynesianischen Forderungen (Stichwort: Investitionsprogramme) ebenso unrealistisch wie aussichts- und wirkungslos bleiben müssen; nicht zuletzt sollten wir besonders betonen, dass die von den solidarökonomischen Vertreter/inn/en aufgezeigten Möglichkeiten (Stichwort: Selbstverwaltung und Nachbarschaftsprojekte) keinerlei Beitrag zum Gesamtproblem darstellen, ja von den Betroffenen als zynisch und arrogant eingestuft werden. Irgendwie steht Griechenland vor gar keiner Wahl nach den Neuwahlen… Wer immer bei der Diskussion des Griechenland-Problems hehre Phantasien bezüglich Transformation oder gar Überwindung des Kapitalismus hegen sollte, die/der sollte zur Kenntnis nehmen, dass die Verbesserung der Lage Benachteiligter zwar humanitär zu begrüßen und an dieser Stelle auch zu unterstützen ist, zur Überwindung unserer Gesellschaftsformation aber überhaupt nichts beizutragen in der Lage ist! 1 Συνασπισμὀς Ριζοσπαστικἠς Αριστερἁς, zu Deutsch: Koalition der Radikalen Linken („SYRIZA“ in den deutschsprachigen Medien abgekürzt genannt). 2 Diese sogenannte Eurogruppe besteht aus den Ländern: Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien und Zypern. 3 i.e. ohne Schuldendienst. 4 Also ein Ausstieg Griechenlands aus dem €, der auch und gerade von den linken Parteien unterstützt würde… 5 Immerhin beteiligten sich die privaten Banken und Versicherungen, indem sie 2011 auf etwa 37 Mrd. € ihrer Darlehen verzichteten – dafür konnten sie aber ihre Verbindlichkeiten an den griechischen Staat abgeben. 6 Streng genommen trifft das für viele Staaten der Erde zu! 7 Für deutsche Statistiker/innen und Häuslebauer/innen sowie Finanzämter eine echte Horrorvorstellung: erst bis 2020 soll es in Griechenland ein Katasteramt geben – m. a. W.: bislang gibt es gar keines! 8 Alle Zahlen zum Thema soziale Folgen sind entnommen aus: http://www.zeit.de/wirtschaft/2013-07/griechenland-sparen-krise/seite-2; aufgerufen am 1.9.2015; „Die Zeit“ beruft sich dort auf den Armutsexperten der VN, Cefas Lumina, auf Dimitris Asimakopulos, Vorsitzender des Verbandes der griechischen Kleinunternehmer, den griechischen Verband der IHK, sowie auf eigene Recherchen. 9 So etwas vermutete „DIE ZEIT“ im Juli 2013. 10 Diese Zentren sind: Nordamerika, Japan, Ostchina, Taiwan, Singapur, Südkorea, Großbritannien, Frankreich, BeNeLux, Deutschland, Österreich, Schweiz, Norditalien, Skandinavien. 11 Unter Peripherie verstehe ich: Afrika, große Teile West- und Mittelasien, Südamerika ohne Brasilien. |