em português
Robert Kurz
Die Degradation der Kultur
aus: Folha de
Sao Paulo
Eine fundamentale Kritik
der modernen Ökonomie erscheint den meisten Menschen heute so verrückt
wie der Versuch, durch die Wand statt durch die Tür zu gehen. Zwar trägt
diese Ökonomie aus der Distanz betrachtet selber alle Züge der Verrücktheit;
aber weil die Kriterien der kapitalistischen Maschine allgemein verinnerlicht
worden sind, gelten sie als normal. Wenn die Verrückten in der Mehrheit
sind, dann ist Verrücktheit Bürgerpflicht. Unter diesem Druck zieht
sich die Gesellschaftskritik aus dem Gebiet der Ökonomie zurück und
sucht nach Ausweichmöglichkeiten. Gerade die Linke hat es gar nicht gern,
wenn jemand den Nerv der herrschenden ökonomischen Verhältnisse anbohrt:
Es tut weh, wenn man an die eigene bedingungslose Kapitulation erinnert wird.
Deshalb zieht es die theoretisch abgerüstete Linke vor, jede ernsthafte
Kritik des Marktes, des Geldes und des Warenfetischismus als altmodischen und
unfruchtbaren "Ökonomismus" zu denunzieren, den man selber längst
hinter sich gelassen habe.
Und womit beschäftigt sich eine Gesellschaftskritik, die eigentlich schon
gar keine mehr ist? Früher war das große Ausweichfeld die Politik.
Damit war sogar noch der Anspruch verbunden, die gemeinsamen Angelegenheiten
(und also auch die Ökonomie) des warenproduzierenden Systems durch einen
"vernünftigen Diskurs" der Gesellschaftsmitglieder in den politischen
Institutionen zu regulieren. Davon ist fast nichts übrig geblieben. Die
Politik wurde längst zur abhängigen, sekundären Funktions-Sphäre
der totalitären Ökonomie degradiert. Heute hat der kapitalistische
Selbstzweck die früher vermutete "relative Selbstständigkeit"
der Politik aufgefressen. Deshalb flüchtet in der Postmoderne die Gesellschaftskritik
aus der Politik in die Kultur, wie sie vorher aus der Ökonomie in die Politik
geflüchtet war. Die postmoderne Linke ist in jeder Hinsicht "kulturalistisch"
geworden und bildet sich allen Ernstes ein, im Bereich der Kunst, der Massenkultur,
der Medien und der Medientheorien irgendwie "subversiv" tätig
werden zu können, während sie die Kritik der kapitalistischen Ökonomie
praktisch aufgegeben hat und nur noch lustlos nebenbei erwähnt.
Aber in welchen Bereich der Gesellschaft die ökonomiekritisch stumm gewordene
Linke auch flüchtet, die kapitalistische Ökonomie ist immer schon
da und grinst sie höhnisch an. Zwar ist es richtig, "daß diese
Wirtschaft sich von der Gesellschaft geschieden hat", wie die französische
Gesellschaftskritikerin Viviane Forrester in ihrem Buch über den "Terror
der Ökonomie" schreibt. Aber der Kapitalismus hat die Gesellschaft
nur im sozialen Sinne vergessen, ohne sie jedoch aus seinen Klauen zu entlassen.
Im Gegenteil, die totalitäre Ökonomie wacht eifersüchtig darüber,
daß auf dieser Erde nichts mehr geschieht, was nicht unmittelbar dem Selbstzweck
der Profitmaximierung dient. Und das gilt heute auch für die Kultur.
Die moderne Ökonomie entstand in dem Maße, wie sich die kapitalistische
Sphäre der industriellen Produktion von den übrigen Lebensbereichen
abgespalten hat. Die Kultur im weitesten Sinne schien eine "außerökonomische"
Betätigung zu sein, die als bloßer Abfall des Lebens in die sogenannte
"Freizeit" verbannt wurde. Das war die erste Degradation der Kultur
in der Moderne: Sie verwandelte sich in eine gewissermaßen unernsthafte
Angelegenheit und in eine bloße "Restzeit". Aber sobald der
Kapitalismus die materielle Reproduktion der Gesellschaft flächendeckend
beherrschte, dehnte sich sein unersättlicher Appetit auch auf die immateriellen
Momente des Lebens aus und er fing an, soweit wie möglich die abgespaltenen
Bereiche Stück für Stück wieder einzukassieren und sie seiner
ureigensten betriebswirtschaftlichen Rationalität zu unterwerfen. Das war
die zweite Degradation der Kultur: sie wurde selber industrialisiert.
Dabei wiederholte sich, was Marx über die Umformung der materiellen Produktion
gesagt hatte, denn auch die Kultur erlebte den Übergang von der "formellen"
zur "reellen" Subsumtion unter das Kapital: Wurden die kulturellen
Güter zunächst nur äußerlich und im nachhinein als Gegenstände
des Kaufens und Verkaufens von der Logik des Geldes erfaßt, so ging im
Laufe des 20. Jahrhunderts schon ihre Erzeugung mehr und mehr apriori von kapitalistischen
Kriterien aus. Das Kapital wollte jetzt nicht mehr bloß der Agent für
die Zirkulation von kulturellen Gütern sein, sondern ihren totalen Reproduktionsprozeß
beherrschen. Kunst und Massenkultur, Wissenschaft und Sport, Religion und Erotik
wurden zunehmend produziert wie Autos, Kühlschränke oder Waschpulver.
Damit verloren auch die kulturellen Produzenten ihre "relative Unabhängigkeit".
Die Produktion von Liedern und Romanen, von wissenschaftlichen Entdeckungen
und theoretischen Reflexionen, von Filmen, Bildern und Sinfonien, von sportlichen
und spirituellen Ereignissen konnte gleichermaßen nur noch als Produktion
von Kapital (Mehrwert) stattfinden. Das war die dritte Degradation der Kultur.
Immerhin gab es in der Epoche der Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg
noch einen gesellschaftlichen Puffer, der in vielen Ländern die Kultur
wenigstens teilweise gegen den totalen Zugriff der Ökonomie abfederte.
Das war der Mechanismus der keynesianischen Umverteilung. Das "deficit
spending" fütterte nicht nur die militärische Rüstung und
den Sozialstaat, sondern auch bestimmte Bereiche der Kultur. Sicherlich setzte
auch die staatliche Subventionierung einer Selbständigkeit der Kultur enge
Grenzen. Aber die Kontrolle durch den Staat war der öffentlichen Diskussion
zugänglich und nicht lückenlos: Mit Funktionären und Politikern
kann man im Falle eines Konflikts verhandeln, mit den subjektlosen "Gesetzen
des Marktes" nicht. Durch die Vermittlung des "Kultur-Keynesianismus"
war ein Teil der kulturellen Produktion nur indirekt von der Logik des Geldes
abhängig. Soweit Rundfunk und Fernsehen, Universitäten und Galerien,
künstlerische und theoretische Projekte staatlich betrieben oder bezuschußt
wurden, mußten sie sich nicht unmittelbar betriebswirtschaftlichen Kriterien
unterwerfen und es gab gewisse Spielräume für kritische Reflexion,
Experimente und minoritäre "brotlose Künste", ohne daß
sofort materielle Sanktionen drohten.
Diese Situation hat sich seit Beginn der neuen Weltkrise und durch den damit
einhergehenden neoliberalen Feldzug gründlich geändert. Das Ende von
Sozialismus und Keynesianismus mußte die Kultur am härtesten treffen,
denn natürlich wurden hier die Mittel zuerst zusammengestrichen. Die Staaten
haben zwar nicht militärisch, aber kulturell abgerüstet. Für
einen kleinen Teil des kulturellen Spektrums tritt an die Stelle der staatlichen
Förderung das private Sponsoring. Es gibt keine sozialen und kulturellen
Bürgerrechte mehr, sondern nur noch die caritative Willkür der marktwirtschaftlichen
Gewinner. Die kulturellen Produzenten sehen sich den persönlichen Launen
von Moguln des Kapitals und Mandarinen des Managements ausgesetzt, für
deren gelangweilte Frauen sie als Hobby und Zeitvertreib dienen dürfen.
Wie die Hofnarren und Bedienten des Mittelalters müssen sie die Logos und
Embleme ihrer Herren tragen, um für das Marketing nützlich zu sein.
Das ist die vierte Degradation der Kultur.
Für den weitaus überwiegenden Teil der Künste, Wissenschaften
und kulturellen Aktivitäten aller Art aber kommt nicht einmal mehr das
demütigende und willkürliche private Sponsoring in Frage. Sie sind
heute in einem Ausmaß wie niemals zuvor direkt und ungefiltert den Mechanismen
des Marktes ausgesetzt. Wissenschaftliche Institute und Sportvereine müssen
an die Börse gehen, Universitäten und Theater Profite abwerfen, Literatur
und Philosophie den Kriterien der Massenproduktion standhalten. In die großen
Kanäle der Distribution gelangt nur noch, was als Angebot zur Freizeitgestaltung
von Heloten des Marktes taugt. Dementsprechend kommt es zu grotesken Verzerrungen
in der Gratifikation für kulturelle Leistungen: Während Fußball-
und Tennisspieler Millionengagen erhalten, sinken die Produzenten von Kritik,
Reflexion, Darstellung und Interpretation der Welt auf den Status von Toilettenreinigern
herab. Durch die kapitalistische Rationalisierung der Medien werden Billiglohn,
"Outsourcing" und betriebswirtschaftliche Sklaventreiberei auf die
kulturelle Sphäre übertragen.
Das Resultat kann nur die Zerstörung der qualitativen Inhalte von Kultur
sein. Miserabel bezahlte, sozial degradierte und gehetzte Kultur- und Medienarbeiter
stellen logischerweise auch miserable Produkte her; das gilt auf diesem Gebiet
ebenso wie auf jedem anderen. Und die brutale Reduktion auf den verkürzten
Zeithorizont und auf die Massendistribution des Marktes eliminiert zuverlässig
alles, was mehr als ein Wegwerfprodukt sein will. Bald werden wir in den Buchhandlungen
nur noch bemitleidenswerte Softpornos, Kochbücher und Esoterik für
den depravierten Mittelstand finden. Auch in den Wissenschaften hinterläßt
die entfesselte Logik des Geldes eine Spur der Verwüstung. Weil sie ihrem
Wesen nach nicht marktkonform sein können, werden die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften
aus dem akademischen Betrieb ausgejätet wie Unkraut. Vor allem die historischen
Institute sind dem "Mobbing" und dem Entzug der Mittel ausgesetzt,
denn der geschichtslose Markt braucht keine Vergangenheit mehr. An die Stelle
der Philosophie und Gesellschaftstheorie tritt endgültig die totale Naturwissenschaft;
aber auch innerhalb der Naturwissenschaften wird die "zweckfreie"
Grundlagenforschung abgewertet und stranguliert zugunsten direkt profitabler
Auftragsforschung des Kapitals.
Diese Tendenzen führen ebenso notwendig zum Zusammenbruch der kulturellen
Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie bereits die
politische und religiöse Subjektivität entwertet haben, ohne etwas
Neues an ihre Stelle zu setzen. Nicht einmal ein Konservativer "ist"
heute mehr konservativ, sondern nur jemand, der Konservatismus verkauft wie
andere Tomatenpüree oder Schnürsenkel. Gerade der orthodoxe gegenwärtige
Papst erweist sich in Wahrheit als Marketing-Spezialist für religiöse
Events; bald werden auch die Kirchen und Sekten an die Börse gehen und
Religion nach den Prinzipien des Shareholder value vermarkten. Dieselbe Schändung
ihrer Persönlichkeit machen jetzt die Künstler und Wissenschaftler
durch. Wenn sie in vorauseilendem Gehorsam selber apriori in den Kategorien
der Verkaufbarkeit denken und produzieren, haben sie ihre Sache schon verloren
und können nur noch ihre Selbstaufgabe ratifizieren, wie der Erfolgsmaler
Baselitz in einem Augenblick der Wahrheit seine Bilder zur Wand drehte.
Der "Ökonomismus" ist kein fehlerhaftes und einseitiges Denken
von unverbesserlichen Marxisten, sondern die reale Tendenz der herrschenden
Gesellschaftsordnung zum ökonomischen Totalitarismus, der in der gegenwärtigen
Krise seinen vielleicht größten und letzten Schub erhält. Aber
der Kapitalismus kann allein auf seinen eigenen Grundlagen nicht existieren.
Wie die Pharmaindustrie ihre große Quelle von Wissen und Material verliert,
wenn die Regenwälder endlich vernichtet sind, so muß die Kulturindustrie
austrocknen, wenn sie keine kreativen Subkulturen mehr anzapfen kann, weil die
nicht-kommerzielle Selbsttätigkeit der Massen endgültig abgestorben
ist. Eine Gesellschaft, die nur noch aus hechelnden, aufdringlichen Verkäufern
besteht und sich selbst nicht mehr reflektieren kann, ist auch sozial und ökonomisch
unhaltbar geworden.
Für die Produzenten der Kultur, der Kunst und des reflexiven Denkens gibt
es keinen Grund mehr, sich dem miserabel zahlenden und selbstherrlichen Kapitalismus
legitimatorisch zur Verfügung zu stellen und in der postmodernen Wüste
des Marktes nach Komplimenten zu fischen. Wenn sie einen Rest von Selbstachtung
besitzen, müssen sie in die innere Emigration gehen und sich wenigstens
im Geheimen ihre unversöhnliche Feindschaft zu den Kriterien des Marktes
bekennen. Diese Intention darf nicht passiv sein, sie muß aktiv werden.
Vielleicht sollten sich die kulturellen Produzenten zu anti-marktwirtschaftlichen
Gruppen, Genossenschaften, Gilden, Clubs und Vereinen zusammenschließen,
die nichts verkaufen wollen, sondern im Gegenteil kulturelle Ressourcen vor
der Barbarei des Marktes retten. Vom Kulturkonservatismus, der immer herrschaftskonform
ist, wird sich diese Intention vor allem dadurch unterscheiden, daß sie
sich mit den Erniedrigten und Beleidigten verbündet und den sozialen Leiden
einen kulturellen Ausdruck gibt, statt in den fröhlichen Positivismus der
postmodernen Opportunisten einzustimmen.