Robert Kurz
Das Ende der Nationalökonomie
Beitrag für Brasilianische Zeitung "FOLHA", 1995
Die Globalisierung und der lange Abschied von einer Welt der Nationen
Die ökonomische Wissenschaft befindet sich in einer tiefen Krise. Denn
ihre Begriffe stimmen nicht mehr mit der Realität überein. Schon der
Name der Disziplin sagt es: "Volkswirtschaftslehre" oder "Nationalökonomie".
Das war einmal. "Globalisierung" heisst das Stichwort heute: Globalisierung
der Märkte, des Geldes, der Arbeit. Gewiss, einen Weltmarkt gibt es schon
seit dem 16. Jahrhundert. Dennoch wuchs die moderne Marktwirtschaft zunächst
vor allem in den Funktionsraum der "Nationen" hinein, die ein Produkt des 18.
Jahrhunderts waren: auf der Basis eines kohärenten nationalen Kapitalstocks
entstanden Nationalstaaten mit nationalen Systemen des Rechts, der Infrastruktur
usw. Der Weltmarkt war "Aussenhandel" und beschränkte sich auf eine sekundäre
Ebene. Und dieser Prozess der Herausbildung von immer neuen Nationen und Nationalökonomien
zog sich bis tief ins 20. Jahrhundert hinein. Obwohl alle unsere gesellschaftlichen
Ideen und sogar die "politischen Gefühle" immer noch auf den historischen
Raum der Nation bezogen sind, gehört diese Welt zumindest im ökonomischen
Sinne schon der Vergangenheit an. Mit atemberaubender Geschwindigkeit ist seit
den 80er Jahren unter unseren Augen ein neues Bezugssystem in Erscheinung getreten.
Satelliten und Mikroelektronik, neue Kommunikations- und Transport-Technologie,
nicht zuletzt billige Energie machten es möglich: jenseits der alten Nationalökonomien
entsteht ein einziger globaler Supermarkt. Alles wird jederzeit und überall
gehandelt: die Schulden der Dritten Welt (Brady-Bonds), Autoteile, billige Arbeit,
menschliche Organe. Die Globalisierung hat neue Fakten geschaffen, aber die
ökonomische Wissenschaft ebenso wie die Politik sind auf ihren alten Begriffen
und Theorien sitzengeblieben: eine "Weltwirtschaftslehre" oder "Globalökonomie"
gibt es an den Universitäten nicht. Was hat sich eigentlich grundsätzlich
geändert? Der Weltmarkt ist bis tief in die Eingeweide der alten Nationalökonomien
vorgedrungen, seine Zunge leckt gewissermassen bis in das letzte Dorf am Rande
der Welt. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Export von Waren
zunehmend durch den Export von Kapital erweitert. Ford exportierte nicht mehr
nur Autos aus den USA nach Deutschland, sondern baute in Deutschland eine Fabrik
für den deutschen Markt. Umgekehrt investierte Volkswagen in den USA, um
den dortigen Markt zu beliefern. So entstanden multinationale Konzerne, aber
die Kohärenz der Nationalökonomien wurde dadurch noch nicht in Frage
gestellt. Dies geschah erst durch die neue Qualität der mikroelektronischen
Revolution: jetzt können sowohl monetäre Transaktionen als auch materielle
Produktionsprozesse global zerlegt werden. In Form der Euro-Geldmärkte
hat sich das Kreditsystem von der Kontrolle der nationalen Notenbanken emanzipiert.
Ein deutscher Spekulant kann in Japan mit Dollars operieren; Kredite in DM können
in den USA von einer japanischen Firma aufgenommen werden. Dasselbe gilt in
der Produktion: für ein Produkt, das von einer deutschen Firma auf dem
deutschen Markt verkauft wird, können die Teile in England und Brasilien
vorproduziert, in Hongkong montiert und das Resultat aus der Karibik expediert
werden. Schon seit den 60er Jahren expandiert der Welthandel stärker als
die Weltproduktion, und die scheinbare Verselbständigung des Handels hat
sich in den 80er Jahren noch einmal beschleunigt. Dieses Phänomen ist ein
Ergebnis der Globalisierung: so erscheint z.B. die Produktion japanischer "Schraubenzieher-Fabriken"
in Lateinamerika und Europa, die nur vorgefertigte Komponenten zusammensetzen
und deren "Local Content" minimal ist, als Export Mexikos in die USA oder als
Export Englands nach Spanien. Tatsächlich haben wir es dabei nicht mehr
mit dem Export und Import von Konsum- und Investitionsgütern zwischen verschiedenen
Nationalökonomien zu tun, sondern mit einer neuartigen Arbeitsteilung innerhalb
von multinationalen Konzernen oder internationalen Verbund-Systemen quer zu
den bisherigen Nationalökonomien. Die Aufteilung der produktiven Funktionen
ist nicht mehr betriebswirtschaftlich auf einen Ort konzentriert, sondern umgekehrt
zerstreut sich die Betriebswirtschaft eines Unternehmens über Länder
und Kontinente. Alle Komponenten des Produktionsprozesses und des Finanzsystems
vagabundieren über den Globus. Auch die Absatzmärkte sind über
die ganze Erde verstreut, denn je stärker die kapital-intensiven High-tech-Investitionen
werden und je mehr die Rationalisierung durch "Lean Production" voranschreitet,
desto wertloser wird die menschliche Arbeitskraft, desto grösser die Arbeitslosigkeit
und desto geringer die national konzentrierte Kaufkraft. Die Konkurrenz zwingt
also sowohl zum globalen Marketing also auch zum "Global Outsourcing", immer
auf der Suche nach niedrigen Kosten und hohen Verkaufszahlen - egal in welchen
Regionen der Welt. Das deutsche Fachmagazin "Wirtschaftswoche" hat dazu die
Parole ausgegeben: "Produzieren, wo die Löhne niedrig, forschen, wo die
Gesetze grosszügig sind, Gewinne dort ausweisen, wo wenig Steuern anfallen".
Auf diese Weise verwandeln sich sogar die Manager mittelgrosser Unternehmen
allmählich in "Global Players". Das betriebswirtschaftliche Kapital ist
nicht mehr Teil eines nationalen Kapitalstocks, sondern internationalisiert
sich. Wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung. Nach Angaben der Beratungsfirma
McKinsey sind bis jetzt ca. 5 Prozent des "deutschen" Kapitals globalisiert,
es sollen aber schon bald 25 bis 30 Prozent sein. Damit verändert sich
auch die strategische Orientierung. Betriebswirtschaftliche und nationale Loyalität
fallen auseinander. Es gibt keine nationalen Entwicklungs- und Wirtschafts-Strategien
mehr. Der Vorstand der deutschen Siemens-AG tagte kürzlich demonstrativ
in Singapur, und die neueste Chip-Generation von Siemens wird nicht wie ursprünglich
geplant im ostdeutschen Dresden, sondern in Schottland produziert. Die Deutsche
Bank-AG verlegte zum Ärger der deutschen Bundesbank ihre Investment-Abteilung
von Frankfurt nach London. Mercedes-Benz gibt seine Bilanz nicht mehr in Stuttgart,
sondern in New York bekannt, und das neue Swatch-Auto von Mercedes wird nicht
in Süddeutschland, sondern in Frankreich gebaut. Auch die Unternehmen der
Zuliefer-Industrie verlegen die Produktion nach Portugal, Polen, Tschechien
und Südostasien; zuhause sitzt nur noch die Finanzabteilung, und deren
Abrechnung wird demnächst von einem Dienstleister in Indien erledigt. Die
Philosophie der Qualitätsbezeichnung verlagert sich ebenfalls von der nationalen
auf die globalisierte betriebswirtschaftliche Ebene: nicht mehr "Made in Germany",
sondern "Made by Mercedes". Zweifellos sind die Konsequenzen absurd und gefährlich.
Die Ökonomie der Unternehmen wird grenzenlos, aber der Staat bleibt seiner
Natur nach auf das nationale Territorium begrenzt. Der Staat ist also zunehmend
weniger der "ideelle Gesamtkapitalist" (Marx) eines nationalen Kapitalstocks
mit einer gewissen Kommandogewalt, sondern er wird zur Geisel der "Standortfrage"
degradiert. Die alte "politische Ökonomie" verkehrt sich zur "ökonomischen
Politik", deren Löffel nicht mehr weit reicht. Wenn die Politik den entfesselten
totalen Markt sozial einschränken will, dann drohen die globalisierten
Unternehmen eben mit dem "Auszug aus Ägypten". Das gilt auch für die
ökologischen Auflagen. Gewässerschutz? Vergiftung des Bodens? Da fragen
Sie am besten mal in Mexiko nach, wo die Kühe auf der Weide mit Schaum
vor dem Maul tot umfallen dürfen, ohne dass die Politik Probleme macht;
und dann unterhalten wir uns nochmal über die Kostenfrage... Zusammen mit
der Kompetenz des Staates verfällt auch der alte Gegensatz von "nationaler
Befreiung" und "Imperialismus". Die Regimes einer nationalen Akkumulation in
der Dritten Welt haben fast alle kapituliert, weil sie die Kapitalkosten einer
eigenständigen industriellen Entwicklung unter dem Druck der Globalisierung
nicht mehr finanzieren können. Grosse Teile der nach globalen Standards
unrentablen Staatsindustrien werden stillgelegt und der Rest privatisiert, d.h.
in vielen Fällen an globalisierte Unternehmen verkauft. Kurzfristig kann
damit vielleicht die Staatskasse saniert werden. Aber das hereinströmende
Kapital hat nicht mehr die Entwicklung eines ganzen Landes im Sinn. Es muss
mit niedrigen Steuern und anderen Vorteilen gelockt werden, die Arbeitsplätze
werden durch Rationalisierung abgebaut, die Gewinne fliessen anderswohin und
Garantien für Investitionen gibt es nicht. Umgekehrt verlieren die alten
imperialistischen Staaten die Lust an territorialen Annexionen und an "Einflusszonen".
Was sollen sie mit riesigen Gebieten der Armut anfangen, deren Menschen sie
nicht mehr verwenden können? Jede nationale "Einflusszone" ist nur noch
ein unproduktiver Kostenfresser. Die "Zonen der Rentabilität" aber, die
sich fast täglich verändern, sind wie ein Hautausschlag quer über
den Globus verteilt, und selbst die mächtigsten Staaten können über
diese zerstreute Ökonomie keine Kontrolle mehr ausüben. Auf diese
Weise werden die Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern langsam
aber sicher eingeebnet, freilich ganz und gar nicht im Sinne der allgemeinen
Wohlfahrt. Überall setzt sich die Orientierung auf den Export durch, d.h.
die direkte Integration in den entfesselten Weltmarkt, während gleichzeitig
immer weniger Menschen marktwirtschaftlich integriert werden können. Regionale
Freihandelszonen wie Nafta, EU oder Mercosur verschärfen das Problem eher,
weil sie in der Regel die nationalökonomische Desintegration beschleunigen
und nur zu einem multinationalen Verbund der kleinen Inseln des Wachstums führen.
Aus der Chaostheorie kennen wir das "Prinzip der Selbstähnlichkeit": bestimmte
Strukturen wiederholen sich auf allen Grössenskalen. Das globale Marktsystem
wird "selbstähnlich": in jedem Kontinent, in jedem Land, in jeder Stadt
werden bald gleichermassen Massenarmut und Slums einerseits, kleine obszöne
Inseln des Reichtums und der Produktivität für den Weltmarkt andererseits
existieren. Die Staaten geben wegen mangelnder Finanzkraft immer grössere
Teile der eigenen Bevölkerung auf, die praktisch nicht mehr als Bürger
behandelt werden. Die Behörden versuchen schliesslich nur noch, die "exterritorialen"
Sektoren des Elends und des Wahnsinns militärisch unter Kontrolle zu halten.
Für Geschäftsreisende in Sachen Globalisierung gibt es inzwischen
einen "Security Guide", der aufzählt, wo überall heute schon "gesetzlose
Zustände" herrschen. Es ist offensichtlich, dass es mit dieser Art der
kapitalistischen Globalisierung kein gutes Ende nehmen kann. Eine globale Ökonomie
für eine immer kleiner werdende Minderheit ist nicht lebensfähig.
Wenn die globalisierte Konkurrenz immer mehr industrielle Produktion "unrentabel"
macht und immer mehr Regionen ökonomisch veröden, dann minimalisiert
das Welt-Kapital seinen eigenen Aktionsradius. Auf einer zu kleinen, über
die ganze Welt verstreuten Basis kann das Kapital auf Dauer nicht mehr akkumulieren,
ebensowenig wie man auf einem Bierdeckel Samba tanzen kann. Ausserdem erzeugt
die Globalisierung einen neuen strukturellen Widerspruch zwischen Markt und
Staat. Denn durch die Internationalisierung des Kapitalstocks entzieht sich
das Kapital dem staatlichen Zugriff und vermindert die Einkünfte des Staates.
Andererseits ist aber das globalisierte Kapital mehr als jemals zuvor auf eine
funktionierende Infrastruktur angewiesen (Flug- und Seehäfen, Strassen,
Transport- und Kommunikationssysteme, Schulen, Universitäten usw.), die
nach wie vor nationalstaatlich organisiert werden muss. Die Globalisierung schlägt
dem Staat die finanziellen Mittel aus der Hand, die für die Voraussetzungen
der Globalisierung selber benötigt werden. Vor allem aber sind es die verzweifelten
Reaktionen der vom totalen Weltmarkt "ausgespuckten" Menschen, die das neue
Weltsystem in die Krise stürzen. Die Kosten der "Sicherheit" steigen in
astronomische Grössen. Zwar können die ehemaligen imperialistischen
Länder in einer globalisierten Ökonomie keine Kriege mehr untereinander
führen, aber sie müssen gemeinsam eine "Weltpolizei" gegen die globalen
Verlierer mobilisieren, um die Geschäftsbedingungen für die Inseln
des Reichtums zu sichern. Dieser neue Krieg wird vielleicht noch teurer als
der frühere "kalte Krieg". Überall beginnt die Mafia, Attribute der
staatlichen Souveränität zu usurpieren. Verwilderte ehemalige Entwicklungs-Diktaturen,
z.B. das Regime von Saddam Hussein, werden unberechenbar. Der religiöse
Fundamentalismus überschwemmt die Welt mit Terror. In immer mehr Ländern
gibt es perspektivlose militante Bewegungen, die "nationalistisch" genannt werden,
in Wirklichkeit aber "ethnizistisch" und meistens separatistisch sind. Im Gegensatz
zu den alten bürgerlichen Nationalbewegungen vom 18. Jahrhundert bis zum
"Befreiungsnationalismus" der Dritten Welt geht es dabei nicht mehr um die Integration,
sondern im Gegenteil um die Desintegration von Nationen bzw. Nationalökonomien.
Die Globalisierung einer "Ökonomie der Minderheit" führt direkt in
den "Welt-Bürgerkrieg", in jedem Land und in jeder Stadt. Nur mit belegter
Stimme können wir fragen, was gegen diese Entwicklung zu tun ist. Ein Zurück
zur alten Welt der Nationalökonomien wird es vermutlich nicht geben. Paradoxerweise
ist dennoch der Nationalstaat der hauptsächliche Raum politischer Öffentlichkeit
geblieben. Können in diesem Widerspruch die Nationen anders als bloss negativ
überwunden werden? Ist es möglich, dass "postnationale" Territorien
und Operationsfelder jenseits von Markt und Staat entstehen? "Unterhalb" der
Nationalökonomie, auf der lokalen und regionalen Ebene, entwickeln sich
in einigen Ländern neue Formen der Selbstverwaltung, Genossenschaft und
Selbstversorgung für die menschlichen Grundbedürfnisse. Aber dafür
stehen viel zu wenig Ressourcen zur Verfügung. Es gibt Bewegungen wie die
von Betinho in Brasilien. Es gibt die NGOs (Non-Government-Organizations). Und
es gibt weltweit operierende Vereinigungen wie Amnesty International oder Greenpeace,
die weder kommerziell noch staatlich sind. Aber alle diese Gruppen besitzen
bis jetzt noch keine neue sozialökonomische Kompetenz; sie befassen sich
fast nur mit einzelnen negativen Folgen der Globalisierung, ohne das ökonomische
System in Frage zu stellen. Und wo bleibt die Theorie, die Internationale des
kritischen Gedankens? Der "ewige Frieden", den Immanuel Kant an der Schwelle
der bürgerlichen Moderne als Frieden zwischen unabhängigen Nationen
proklamiert hatte, konnte sein Versprechen ebensowenig einlösen wie der
"proletarische Internationalismus" der sozialistischen Bewegungen. Heute scheint
es so, als hätte die Philosophie endgültig vor der Barbarei des totalen
Marktes kapituliert. Sollen am Ende die Buchungsimpulse der globalisierten Finanzmärkte
als einzige Form der internationalen Kommunikation übrigbleiben? Ebenso
leichtfüssig wie das flüchtige Geld kann auch das nicht-konforme Denken
sein. Wir brauchen die Globalisierung einer neuen Gesellschaftskritik.