Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Kleinbürgerliche Hirne in der Krise – Die ›Zombifizierung‹ des Geistes und der Niedergang des KapitalismusThomas Meyer I.Dass an den Standpunkten des Liberalismus vielerlei Kritik geübt wurde, führt erfahrungsgemäß kaum dazu, dass Liberale diese zur Kenntnis nehmen (wollen). Ein jüngeres Beispiel für einen Liberalismus, bei dem die Beschränktheit bürgerlicher Hirne deutlich wird, ist derjenige Markus Kralls, der mit »Die bürgerliche Revolution – Wie wir unsere Freiheit und unsere Werte erhalten« sein jüngstes Buch vorgelegt hat.1 Dies ist ein weiteres vielfach gekauftes Buch, mit dem sich steuerzahlende Bürger und Bürgerinnen einen Reim auf die Krise zu machen versuchen. Nun möchte Krall nicht nur diagnostizieren, sondern auch einen Weg aus der Krise aufzeigen. Dabei wird deutlich, dass sein kleinbürgerlicher Standpunkt zum gesamtgesellschaftlichen Standpunkt aufgeblasen wird, wie in folgendem Text gezeigt werden soll. Der Liberalismus bleibt nicht nur borniert, sondern wird jetzt auch noch frech. Unnötig zu erwähnen, dass der sog. ›Mainstream‹ (Sozialdemokraten, Olivgrüne usw.) um keinen Deut besser ist. II.Krall lässt sich im Liberalismus der Österreichischen Schule verorten, die von Ludwig von Mises begründet wurde. Er bezieht sich in diesem Buch u.a. auf Hayek, Ayn Rand und auf den russischen Mathematiker und Dissidenten Igor Schafarewitsch. Zugleich hat Krall auch eine konservative Schlagseite. So beklagt er sich u.a. über Werteverfall, Konsumterror, Homoehe, Genderismus und Klimahysterie. Den Kirchen wirft er vor, sich zum »Wurmfortsatz des Staates« gemacht zu haben (63). Sie hätten sich ideologisch unterworfen. »Dabei kommt«, so Krall, »der eigentliche Auftrag der Kirchen unter die Räder, die Seelsorge für die Menschen, die trostspendende Gegenwart einer Kirche, die den Gläubigen Gemeinschaft im Glauben, Gottesdienst, Handreichung bei der Erziehung der Kinder und vor allem Standfestigkeit im Kampf um die Seele, gegen die Ideologie des staatlich geförderten Konsumterrors, geben sollte. Denn dieser hedonistische Konsumterror ist der Motor der Verführung. Stattdessen sehen die Kirchen naiv, wohlwollend beim Tanz um das goldene Kalb des Konsums zu. Die Seelsorge degeneriert zu einer psychologischen Dienstleistung, die man sich mit den anderen Ideologen vom sozialistischen Ufer der Arbeiterwohlfahrt, der globalen Klimasekte und den Gewerkschaften teilt« (65). Auf der anderen Seite ist Krall begeistert von der Produktivität der Wirtschaft. Bremse für Wachstum sei u.a. die Bürokratie: »Die Bürokratie erzeugt aber keinen Wohlstand, sie verbraucht ihn«. Ohne Bürokratie könnte man die Produktivitätspotentiale noch weiter ausschöpfen: »Wäre es nicht so, dann würde unsere Wirtschaft im Gleichschritt mit dem durch den technischen Fortschritt ermöglichten Produktivitätsfortschritt wachsen. Der Produktivitätsfortschritt ist derzeit so hoch wie lange nicht, weil er durch die größte industrielle Revolution aller Zeiten angetrieben wird, die Digitalisierung. Die Faustregel ihrer Wirkung lautet: In zehn Jahren können wir die vorhandene Menge an Gütern und Dienstleistungen mit der Hälfte der Arbeitskraft von heute herstellen« (135). Krall kommt allerdings nicht auf die Idee, dass der Kapitalismus, der immer produktiver wird und werden muss, also immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit herstellen kann, diese Warenmenge auch verkaufen muss. Der Kapitalismus ist also auf einen Konsumhedonismus und eine gewisse Unzurechnungsfähigkeit der ›Einkaufszonenmenschen‹ angewiesen und sei es, dass dazu eine entsprechende ›zahlungskräftige Nachfrage‹ simuliert wird (durch Kredit, Subventionen usw.). Wegen der immer drohenden Überproduktion gibt es für den Absatz also nichts Besseres als oberflächliche und narzisstische Menschen, die jedem Trend hinterherrennen und sich über ihre ›Marken‹ und ihren ›Stil‹ oder ihr ›Deo‹ definieren. Dass man den Kirchen trotzdem zurecht Opportunismus vorwerfen kann, wenn auch auf eine andere Art und Weise als Krall2, mag sein, soll hier nicht weiter diskutiert werden. Es wird die Beschränktheit bürgerlicher Hirne überaus deutlich, wenn ›Liberal-Konservative‹ wie Krall ein Gesellschaftssystem befürworten, über dessen Konsequenzen sie sich aber beschweren, ohne deren im System liegende Gründe erkannt zu haben. Dies ist ein Problem jeder neokonservativen oder liberal-konservativen Moralpredigt. Iring Fetscher hat dies schon vor fast 40 Jahren kritisiert: »Die Verallgemeinerung des Konkurrenzkampfes – in Gestalt des Strebens nach Maximalkonsum – ist eine Folge der Verwandlung des asketischen Frühkapitalismus in den modernen Industriekapitalismus mit seinem Massenangebot an Waren und seiner an alle gerichteten Werbung zu ständig erweiterten Konsum. […] Das allgemeine und rücksichtslose Streben nach Glück und ›sofortiger Befriedigung‹ ist die Folge des Siegeszuges der kapitalistischen Industriezivilisation mit ihrer Massenproduktion und ihrer Konsumwerbung. Auf diesem Siegeszug hat das moderne Wirtschaftssystem […] auch solche Gebiete ›erfasst‹, die von ihm bisher verschont geblieben waren: beispielsweise Kirchen und Religionsgemeinschaften. […] Der Widerspruch in der Haltung von Neokonservativen besteht darin, daß sie die Folgen einer Entwicklung beklagen, die sie gleichwohl für das Nonplusultra der Geschichte halten. Sie klagen nicht die Verwandlung von Produktion und Dienstleistungen in Waren an; sie wollen nur bestimmte Dienstleistungen und Waren vom allgemeinen Gesetz der warenproduzierenden Gesellschaft ausgenommen wissen. […] Die neokonservativen Anhänger der kapitalistischen Industriezivilisation […] übersehen, daß die meisten der von ihnen beklagten Phänomene dem Sieg des Liberalismus über seine letzten historischen Hemmnisse zu verdanken sind. […] Man kann aber nicht – auf der einen Seite – die kapitalistische Produktionsweise uneingeschränkt rechtfertigen und auf der anderen ihre unvermeidlichen Folgen und unentbehrlichen Existenzbedingungen beklagen und bekämpfen«.3 Anstatt Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur in Bezug zum Verwertungsprozess des Kapitals zu setzen, also beispielsweise in Bezug zu Veränderungen in der Arbeitswelt und des Geschlechterverhältnis, werden Sündenböcke gesucht, die verantwortlich für den Zerfall der Familie und anderes gemacht werden. Vor allem ein ominöser »Kulturmarxismus« (in früheren Zeiten wäre wohl ›jüdischer Kulturbolschewismus‹ formuliert worden) soll dabei eine prominente Rolle spielen. Eines der vom »Kulturmarxismus der Frankfurter Schule« angeblich gepflegten »wesentlichen Feindbilder war die Familie als angeblich(!) ›autoritäre[] Struktur‹. Die sogenannte ›antiautoritäre Erziehung‹ war vor diesem Hintergrund in Wahrheit ein Instrument zur Untergrabung der Institution der Familie als unverzichtbarer Baustein der Gesellschaft« (110). Wenig überraschend problematisiert Krall auch ›Sexualisierung‹: »Die für den Erhalt von Ehe und Familie unabdingbare Sexualmoral wurde im Zuge einer radikalen Sexualisierung der Gesellschaft, ihrer pornographischen Überflutung, der Vergöttung einer auch auf Kosten Dritter gnadenlos auszulebenden hedonistischen Sexualität und der Verweigerung der Prokreation (!), also der Missachtung des Gebots ›Seid fruchtbar und mehret euch‹ radikal zerstört. [...] [D]ie propagierte Lebensform der Vereinzelung und Vereinsamung [ist] für die Masse der Menschen nicht realisierbar, ohne dass sie diejenigen, die sich für ein verantwortungsvolles Leben nach traditionellem Familienbild entscheiden, durch massive Umverteilung berauben. So zerstört die Sexualisierung der Gesellschaft nicht nur Ehe und Familie, sondern bereitet auch der Untergrabung des Eigentums und damit der Zerstörung der Autonomie des Individuums als freier Mensch den Boden« (253). Der Liberale, der zur bürgerlichen Revolution in Deutschland aufruft, ist so päpstlich wie der Papst. III.Dass wieder einmal gegen die 68er, die ›Sexualisierung‹ skandalisiert und gehetzt wird und sie als Attentäter gegen eine bürgerliche Idylle imaginiert werden, hat mit der Brüchigkeit der bürgerlichen Identität, hier speziell des ›Leistungsträgers‹ aus dem ›fleißigen‹ Mittelstand, in der Krise selbst zu tun. ›Krise‹ nimmt auch bei Krall breiten Raum ein. Allerdings ist es für ihn keine wirkliche Krise des Kapitalismus, also eine Krise, die auf eine historische Grenze dieses Systems hinweist, sondern eine Krise, die durch eine ›falsche‹ Politik verursacht wurde. Deutschland als Wirtschaftsstandort könnte also durch eine ›richtige‹ Politik gerettet werden. Die Krise wird daher auch als Chance begriffen, so heißt es bei Krall: »Was wir als Verfechter einer Republik der Freiheit aber mit den Sozialisten gemeinsam haben, ist das Wissen um die entscheidende Kraft der Krise. Für die Sozialisten ist eine Krise eine Chance zur Zerstörung, Machtergreifung und Errichtung einer Diktatur. Für uns Freiheitliche ist die Krise eine Gelegenheit zur Katharsis (!), zur Reinigung (!), zur Befreiung der Gesellschaft von den Ketten und Fesseln, die sie sich über Jahrzehnte von den Sozialisten unter falschen Flagge des ›dritten Weges‹ freiwillig hat anlegen lassen. […] Die Krise verhindert ein Weiter-so. Die Gesellschaft entscheidet sich zwischen Freiheit und Sozialismus. Diesen epochalen und unausweichlich kommenden Konflikt, diese geistige und politische Auseinandersetzung gilt es zu bestehen« (162). ›Richtige‹ Politik wäre laut Krall die »Rückkehr zu einem schlanken, effizienten Staat, zu marktwirtschaftlichen Prinzipien, zu Sparsamkeit und Konzentration auf das Wesentliche« Dies »sind die Erfolgsrezepte, die die heilsamen Kräfte des Marktes freisetzen (!). Nach einer kurzen Pause schmerzhafter Anpassungen (!) wird die Wirtschaft auf einen Pfad stabilen und nachhaltigen Wachstums zurückkehren (!)« (206). Für bürgerliche ›Krisenpropheten‹ ginge es also nach der Krise ganz munter weiter, als sei nichts passiert, als gäbe es keine Widersprüche im Kapitalismus, als wäre jenes Idealbild einer ›natürlichen Ordnung des freien Marktes‹ real. Ganz abgesehen von den Problemen, die man offensichtlich nicht mit Gewinnerzielung lösen kann, wie die Klimakatastrophe und die immer maßlosere Verschwendung von Rohstoffen. Wie witzig, dass Krall Ayn Rand einleitend zitiert: »Man ist frei, die Realität zu ignorieren. Man ist frei, seinen Verstand von jedem Fokus zu befreien und jeden Weg blind hinabzustolpern, den man möchte. Aber man ist nicht frei, den Abgrund zu vermeiden, den zu sehen man sich weigert« (20). Der Abgrund, vor dem der Mensch als Kleinbürger steht, ist aber nicht ein (bald) verwüsteter Planet, sondern die drohende Entwertung seines Privatvermögens. IV.Zentrales Element von Kralls Liberalismusverständnis ist die Freiheit des Privateigentümers, sein Geld ungestört investieren zu können, ohne dass ihn der Staat mit Steuern und Sozialabgaben aller Art belästigt. Staatstätigkeiten, die mit diesem Interesse des Kleinbürgers nichts unmittelbar zu tun haben oder mit ihm kollidieren, sind für Krall Sozialismus. Darunter fallen alle Varianten von Sozialstaat und Keynesianismus.4 Hier beruft sich Krall folgerichtig auf Hayek und auf sein Werk »Der Weg zur Knechtschaft«. Wie Hayek in seinen Werken ausbreitet, führe zunehmende staatliche Regulation zur Knechtschaft, schlussendlich zu einem sozialistischen Regime, in dem Alle Angestellte oder Zwangsarbeiter des Staates seien. Was Krall wie Hayek jedoch nicht wahrhaben will, ist dass die »Ökonomie anonymer Märkte […] aber genauso zur Knechtschaft [führt]. Die Individuen des ökonomisch ›freien‹ Willens sind ja schon apriori auf die blinden ›Marktgesetze‹ zwangsverpflichtet und erst recht als bloße ›Arbeitskräfte‹ definiert. Indem ihre absurde ›Freiheit darin besteht‹, ihr Leben unter das Joch von Arbeitsmärkten zu beugen, sind sie nichts anderes als Zwangsarbeiter der ›schönen Maschine‹, die nicht nach dem Sinn und Zweck der ganzen Veranstaltung fragen dürfen, am wenigsten hinsichtlich ihres eigenen Wohlergehens«.5 Äußerlich sichtbar werden diese Zwänge in ›systemnotwendigen‹ Großkonzernen, die sich die Gesellschaft (einschließlich des Staates) unterwerfen. Um Beschreibungen dieses Phänomens zu finden, muss man kurz aus der libertären Literatur in marxistische wechseln. Dort wird ein ›staatsmonopolistischer Kapitalismus‹ beklagt, den man im Bündnis mit dem Kleinbürgertum (!) überwinden müsse, um eine ›antimonopolistische Demokratie‹ zu schaffen – statt einer ›freien Wirtschaft‹. Während der Staat und viele seiner Tätigkeiten von Krall negativ bewertet werden, so wird dem Markt quasi Unfehlbarkeit zugesprochen. Ja, »die Selbstheilungskräfte des Marktes können wahre Wunder vollbringen« (181). Gibt es irgendein Problem, so sind Ursache der Staat und das sozialistische Denken und als Lösung folgen prompt Privatisierung und die ›Freiheit‹ des kleinbürgerlichen Steuerzahlers. Krall beschwert sich über jene, die meinen, die Finanzkrise hätte ihren Grund in »Marktversagen« (153): Es sei aber Staatsversagen. Staatsversagen liege natürlich immer dann vor, wenn der Staat meine Dinge regulieren zu müssen, die der Markt am effektivsten lösen würde (vgl. »Planwirtschaft pur«, 193ff.). Bürgerlich beschränkte Hirne kommen leider nicht auf die Idee, dass es sich beim Markt und beim Staat um zwei Pole einer verrückten Form von Gesellschaft handelt und dass folglich der Markt und der Staat das Problem sein könnten und man beides kritisieren müsste, wenn man nur eines von beiden wirklich verstehen wollen würde, anstatt beide oder eines von beiden zu mystifizieren. Exakt an dieser Stelle treffen sich liberale/libertäre Autoren wie Krall mit den letzten überlebenden Arbeiterbewegungs-Marxisten wie ein Original und sein Spiegelbild. Die Ordnung der Freiheit und des Privateigentums ist für Krall »gottgewollt[]« (67), ja der »Kampf zwischen Freiheit und Sozialismus« kann »aus religiöser Sicht auch als ein[] Kampf zwischen Gut und Böse interpretier[t] [werden]« (250). Dabei beruft er sich auf Igor Schafarewitsch, einen der russischen Orthodoxie nahestehenden sowjetischen Dissidenten. Dieser erkannte »den Sozialismus mit seiner Programmatik und seinen Verführungen als anthropologische Konstante der Menschheitsgeschichte« (108). Die »natürliche Ordnung der Freiheit« (140) findet mit Scharfarewitsch Krall zufolge eine religiöse bzw. christliche Begründung: »Die Perspektive Igor Schafarewitschs auf den Sozialismus ist in ihrem Kern spiritueller, ja auch religiöser Natur. Sie ist aber mit umfassender empirischer Evidenz begründet […] Diese neue Sichtweise könnte man in einem religiösen Sinne als prophetisch bezeichnen. Sie nennt den biblischen ›Feind des Menschengeschlechts‹ beim Namen […] Der spirituelle Kontext beruht nach meiner Überzeugung auf der Freiheit als Merkmal der Gottesähnlichkeit des Menschen […]. Der Mensch ist das Ebenbild Gottes nicht im Sinne anatomischer Ähnlichkeit, sondern weil ihm das Geschenk der Selbsterkenntnis, des ›Cogito, ergo sum‹, und damit in letzter Konsequenz der Wahlfreiheit und der Freiheit als solcher zuteil wurde. Es gibt umfangreiche theologische Debatten unter der Überschrift des ›Theodizee-Problems‹, die in dem Geschenk der Freiheit den Wesensgrund für den Antagonismus des Bösen gegen Gottes Plan erkennen. Eine gegen die Freiheit gerichtete Ideologie ist von daher in ihrer gegen das Göttliche und Religiöse gerichteten Konzeption nur logisch und konsequent. […] Der Sozialismus als Feind der Freiheit und damit als Feind des Menschen überhaupt (!) ist in dieser Perspektive die Inkarnation des Dämonischen (!), wie wir sie bereits bei Dostojewski […] finden« (109f.). Dass das Christentum tatsächlich so simpel gestrickt ist, dass man mit ihm der ›natürlichen‹ Ordnung des ›freien‹ Marktes einen Heiligenschein verpassen könnte, kann mit Recht bezweifelt werden.6 Sicherlich hat das Christentum, vor allem in seiner protestantischen Variante, so einiges zur Durchsetzung des Kapitalismus beigetragen. Trotzdem verkennt Kralls manichäisch anmutendes Weltbild die Komplexität der Geschichte. Es ist, wie man so schön sagt, ein einfaches und schematisches Weltbild, welches in einer unübersichtlichen und chaotischen Welt eine ähnliche klare Orientierung bietet wie die einst in der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften entwickelte wissenschaftliche Weltanschauung. V.Bürgerliche Subjekte kritisieren bei anderen häufig das, was sie selbst für sich anstreben. So werden von Krall Mainstream-Medien dahingehend kritisiert, dass sie eine bestimmte Linie oder Weltanschauung vertreten, sprich: von Einseitigkeit nur so strotzen. Hinzu kommt der diskursive Einfluss der ›Nicht-Regierungs‹-Organisationen und von Parteistiftungen. Um Deutschland vor dem Abgleiten in die sozialistische Diktatur zu retten, streben Krall und die Seinen aber selbst die ›Hegemonie‹ (Gramsci) an. Es wird also von Krall eine bürgerliche (Gegen-)Revolution in Deutschland angestrebt. Dazu sei die Bildung entsprechender »Netzwerke« und einer »medialen Gegenmacht« notwendig. Hinzu kommen »Bildungsprogramme« und »ziviler Ungehorsam« (162ff.). Hierbei will man sich »aus dem taktischen Bau- und Werkzeugkasten der Linken bedienen und ihre Guerillataktiken gegen sie anwenden« (120). Allerdings »[eignen sich] nicht alle diese[r] Taktiken (zum Beispiel Rufmordkampagnen und Täuschungen durch Camouflage) […] für die bürgerliche Gegenrevolution, insbesondere dann, wenn sie in offensichtlichem Widerspruch zu den Werten der freien Gesellschaft stehen« (171). Und weiter: »Es muss dabei aber gelingen, die sozialistischen Brandstifter daran zu hindern, anderen, insbesondere der Marktwirtschaft und freiheitlichen Ordnung, die Schuld für ihr Versagen in die Schuhe zu schieben. Deshalb ist die argumentative und propagandistische (!) Vorbereitung so wichtig« (178). Um sein Ziel zu erreichen, Deutschland vor einem öko-sozialistischen Terrorregime zu bewahren, schlägt er ein umfangreiches Maßnahmen- und Reformpaket für alle möglichen Politikfelder vor. Dazu soll auch die Verfassung, d.h. das ›Grundgesetz‹, überarbeitet werden: So ist es für Krall »notwendig, Eigentumsordnung, Marktwirtschaft und Vertragsfreiheit durch die Verfassung zu schützen und als gesellschaftliches Zielbild zu definieren« (242). Zu den Maßnahmen und Änderungswünschen gehören etwa ein »Verbot (!) staatlicher Verschuldung« und eine »Sicherung bzw. Wiederherstellung der Gewaltenteilung« und anderes (213f.). Es gelte auch die »Tyrannei der Mehrheit« (235f.) zu verhindern. Dazu schlägt er vor, das Wahlrecht dergestalt zu ändern, dass jeder Bürger und Bürgerin in jeder Legislaturperiode neu entscheiden muss, ob er/sie das Wahlrecht wahrnehmen oder Sozialleistungen erhalten möchte. Dies soll verhindern, dass soziale Ansprüche über ›Wahlen‹ entschieden werden können, was zu einer ›falschen‹ Politik führen könnte. An Ideen wie dieser wird deutlich, dass hier ein vom sozialen Absturz bedrohter Mittelstand darauf aus ist, die eigenen ›Kleinbürgerinteressen‹ dergestalt in Gesetzesform zu gießen, als wenn es andere Interessen nicht gäbe. Das zeigt auch die angestrebte »Rückkehr zur Vertragsfreiheit«. Dazu sollte der »Staat […] alle Einschränkungen der Vertragsfreiheit ersatzlos streichen. Dies gilt insbesondere für das Arbeitsrecht und das Mietrecht« (206). Dass es im Arbeitsrecht eine eingeschränkte Vertragsfreiheit gibt, d.h. dass nicht alle Arten von Arbeitsverträgen geschlossen werden dürfen, hat u.a. mit der Existenz von Arbeitnehmerrechten zu tun. Dass die Vertragsfreiheit Grenzen haben müsse, hat sich in dem zunehmenden staatlichen Interventionismus, d.h. in der Arbeits- und Sozialgesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert, niedergeschlagen. Sie dienten dazu, die negativen Nebenwirkungen der Konkurrenz abzufedern. So äußerte sich der Rechtshistoriker Otto von Gierke im Jahr 1889 zu einer unbegrenzten Vertragsfreiheit: »Schrankenlose Vertragsfreiheit zerstört sich selbst. Eine furchtbare Waffe in der Hand des Starken, ein stumpfes Werkzeug in der Hand des Schwachen wird sie zum Mittel der Unterdrückung des Einen durch den Anderen, der schonungslosen Ausbeutung geistiger und wirthschaftlicher Übermacht. Das Gesetz, welches mit rücksichtslosem Formalismus aus der freien rechtsgeschäftlichen Bewegung die gewollten oder als gewollt anzunehmenden Folgen entspringen lässt, bringt unter dem Schein einer Friedensordnung das bellum omnium contra omnes in legale Formen. Mehr als je hat heute auch das Privatrecht den Beruf, den Schwachen gegen den Starken, das Wohl der Gesamtheit gegen die Selbstsucht der Einzelnen zu schützen.«7 Wer für unbegrenzte Vertragsfreiheit eintritt, tut so, als wären alle Vertragsschließungen wirklich freiwillig und als gäbe es keine strukturellen Zwänge alias Machtverhältnisse infolge Ungleichheit. VI.Was ist für Krall der ökonomische Inhalt der Krise? Ein gravierendes Problem sieht er in der Negativ- bzw.- Nullzinspolitik der EZB. Verschwinde der Zins, so gebe es keinen Grund zu sparen und zu investieren und das Resultat sei eine »Bonobo-Wirtschaft« (37). Folge dieser Zinspolitik sei eine sog. »Zombifizierung der Wirtschaft« (124). D.h. »Der Null- und Negativzins wirkt wie eine Subvention, weil er die Unternehmen davon befreit, die wahren Kosten ihres Kapitals zu verdienen. […] Wir wissen daher, dass mittlerweile in Deutschland mehr als 15 Prozent aller Unternehmen ›Zombies‹ sind, Unternehmen, die tot sein sollten, aber noch dahinvegetieren, deren Pleite nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben ist, und die auf das auslösende Ereignis warten, welches diese Pleiten in einer gewaltigen Wellen nachholt« (125f.). Es fehlt also die Marktbereinigung. Große Teil der Realwirtschaft hängen am Tropf des Finanzkapitals, halten sich nur durch Subvention und Schulden. Dies ist nicht nur in Deutschland der Fall: »Die Welt ist überschuldet, und zwar überall« (144). Krall skizziert ein Krisenszenario von Deflation und Inflation, Pleiten, Bankzusammenbrüchen und Vermögensvernichtung, das tatsächlich so oder ähnlich eintreten wird. Das soll hier nicht ausgeführt werden, denn entscheidend ist was ›danach‹ geschehen soll. Schluss gemacht werden soll mit der »planwirtschaftliche[n] Geldordnung« (140), mit dem »Geldsozialismus« (141). Der bestand in den letzten Jahren darin, dass der Zins nach unten manipuliert wurde. Würde das Marktgeschehen sich selbst überlassen bleiben, so wäre der Zins stets kleiner als das reale Wirtschaftswachstum. Es gäbe somit keine Verschuldung außer in verantwortungslosen Einzelfällen, denn die »Gesellschaft als Ganzes kann aber nicht in die Zinsfalle laufen, wenn der Zins sich frei am Markt bildet« (154). Die Verschuldung der Welt ist also Folge einer ›falschen‹ Politik. Würde man also jene Maßnahmen einer ›richtigen‹ Politik angehen, so würde nach einigen Jahren die freie Marktwirtschaft wieder anlaufen, als sei nichts passiert, als wenn es keine prinzipielle Ursache dafür gegeben hätte, dass Verschuldung systemisch unabdingbar wurde. Für eine erneute Wiederauferstehung der natürlichen Ordnung des freien Marktes, ist es aber nötig, eine gedeckte Goldwährung und private (!) Währungen einzuführen: »Wie das Beispiel des Euro wieder einmal mehr beweist, kann man das Geldmonopol der Politik nicht anvertrauen, ebenso wenig kann man die Macht, Geldpolitik zu betreiben, einem wie auch immer gearteten Bürokratengremium anvertrauen. Der Goldstandard bei gleichzeitiger Zulassung von privaten Währungen verhindert beides. Es bricht das Monopol und nimmt der Politik die Möglichkeit, den Zins als wichtigsten Preis der Marktwirtschaft zu manipulieren, den Bürger über Inflation zu berauben […] « (239). Eingeführt werden soll also das ›richtige‹ Geld.8 Leiht ein Unternehmen sich Geld, dann ist der Zins Ausdruck dafür, dass das Unternehmen dazu verpflichtet wird, Mehrwert zu schaffen oder anderswo abzugreifen. Nur dann verdient der Kreditgeber durch Geldverleih. Wenn die Zinsen aber gesenkt werden, kann das auch damit zu tun haben, dass die erzielbare Mehrwertmasse überhaupt schrumpft und die Produktion des Mehrwerts immer schwieriger wird. Die Niedrigzinspolitik ist folglich eine politische Strategie, die die Verwertungskrise ohne weitere Reflexion hinnimmt und allenfalls Folgen bearbeitet. Krall löst sich davon in keiner Weise, wenn er als Ursache der Krise eine ›falsche‹ Politik sieht und die Krise nicht analysiert in Bezug auf den Verwertungsprozess des Kapitals, der ihm offenbar ein Buch mit sieben Siegeln bleibt.9 Er vergleicht den tatsächlichen Zustand mit einem ideellen, der aus seiner ›Harmonielehre des freien Marktes‹10 stammt. Seine Kritik beruht auf einem Glaubensbekenntnis und der Feststellung, dass die Realität vom Paradies in ketzerischer Weise abweiche. Seine Behauptung, ›nach‹ der Krise könnte sich eine freie Marktwirtschaft im Sinne seines Ideals – die es so nie gab – wieder (!) einstellen, ist vollkommen aus der Luft gegriffen. Er erwähnt, die Digitalisierung erlaube die gleiche Menge an Waren in der halben Zeit herzustellen (135). Die Konsequenz wäre, dass die Arbeitslosigkeit massiv ansteigen würde. Über die daraus folgenden sozialen Katastrophen macht sich Krall allerdings keine Gedanken. Es ist zudem sehr unwahrscheinlich, dass diese Wegrationalisierung an Arbeitsplätzen überkompensiert werden könnte (auf dem Produktivitätsniveau des Weltmarkts durch rentable Arbeitsplätze, nicht durch simulierte der Arbeitsagentur o.ä.). Der Kapitalismus basiert aber auf dem Verkauf von Arbeitskraft und der erzeugten Waren. Wenn der Verkauf der Arbeitskraft immer schwieriger wird und der Kapitalismus an Überproduktion leidet, können die nötigen laufenden Geldflüsse zu einem immer höheren Anteil nur noch durch Einspeisen von Geld über Kredite aufrechterhalten werden; man nennt dies auch einen Defizitkreislauf). Damit verschärft sich der Konkurrenzkampf um Mehrwertaneignung bzw. -realisierung. Der »Widerspruch zwischen Stoff und Form«11 spitzt sich daher immer mehr zu. Ausdruck davon, dass der materielle Reichtum immer weniger in kapitalistischen Formen ausdrückbar ist, ist die tendenzielle ›Unfinanzierbarkeit‹ von allem, wie z.B. die Austeritätspolitik in Südeuropa zeigt. Weil die Realwirtschaft immer weniger profitabel wird, dehnt sich der Finanzsektor seit den 80er Jahren aus. Die massive Ausdehnung von privaten und nicht-privaten Krediten drückt im Grund genommen nichts anderes aus, als dass der Kapitalismus, um seine Gegenwart zu ›bewältigen‹, seine eigene Zukunft verbrauchen muss. Kredit beinhaltet immer auch einen Vorgriff auf künftigen Mehrwert. Ohne letzteren kollabiert irgendwann auch der Kredit. Wird der ›finanzgetriebene‹ Kapitalismus eine flächendeckende Dauereinrichtung, Kredit also immer weniger eingelöst bzw. ›eingeholt‹, dann heißt dies nichts anderes, als dass der Kapitalismus keine Zukunft mehr hat.12 Wenn der schon verbrauchte künftige Mehrwert nicht mehr eingelöst werden kann, dann hat dies seine Ursache darin, dass eine zureichende Produktion von Mehrwert durch Verwertung von Arbeitskraft nicht mehr stattfindet. ›Zureichend‹ im kapitalistischen Sinn ist synonym mit ›zureichender Rendite‹. Die kapitalistische Produktionsweise stößt hier an eine innere Schranke in Form einer ausweglosen Spirale, d.h. an ihre historische Grenze (was nicht dadurch besser wird, dass eine äußere Schranke hinzukommt, nämlich die Endlichkeit der Natur und der Ressourcen). Das kann man in der Tat eine »Zombifizierung der Wirtschaft« (124) nennen. Aber diese ›Zombifizierung‹ ist ein Resultat der Marktdynamik, d.h. der Verwertungsdynamik des Kapitals selbst, und kein Resultat einer ›geldsozialistischen‹ Politik irgendeiner Zentralbank. VII.Kralls angestrebte bürgerliche Revolution ist ein weiteres Beispiel für aussichtsloses ›Krisenmanagement‹ auf Grundlage reaktionärer Krisendeutung. Die Liste derer, die eine solche Deutungen liefern, wird immer länger (Dirk Müller13, Max Otte, Friedrich & Weik u.a.). Ihre Vielzahl ist selbst ein Krisensymptom. Sie entspräche in der Technik der Vorlage eines Dutzends miteinander unvereinbarer Reparaturvorschläge. Man kommt definitiv nicht um eine radikale Kritik und Abschaffung des Kapitalismus herum, wenn die Welt für Menschen bewohnbar bleiben soll. Bürgerliche Nonsense-Mythologien (›natürliche Ordnung der Freiheit‹, ›freier Markt‹ usw.), die vor 100 Jahren schon falsch waren, helfen da jedenfalls nicht weiter.
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