Krise und Kritik der Warengesellschaft |
aus: Folha 77/2002 Robert Kurz DIE
ENTZAUBERUNG DER USA
Wenn die USA husten, so heißt es, bekommt der Rest der Welt Lungenentzündung. Denn nicht nur politisch und militärisch, sondern auch ökonomisch sind die USA die letzte Weltmacht. Noch in den 80er Jahren galt Japan als großer Konkurrent, der womöglich die USA aufkaufen würde. Nach dem Untergang der Sowjetunion sollten die "Märkte im Osten" ein neues Wirtschaftswunder gebären. Später machten die asiatischen Tigerstaaten von sich reden und das "pazifische Jahrhundert" wurde ausgerufen. Auch Chile und Argentinien, die Musterschüler des Neoliberalismus in Lateinamerika, durften sich als Hoffnungsträger einer neuen Ära des Wachstums feiern lassen. Von allen diesen Mythen des kapitalistischen Optimismus ist nichts als ein Häufchen Asche übrig geblieben. In Wirklichkeit hat es immer nur ein einziges ökonomisches "Wunder" gegeben, von dem alle anderen abhängig waren: nämlich den Jahrhundertboom der 80er und vor allem der 90er Jahre in den USA. Dabei handelte es sich aber nicht mehr um eine herkömmliche nationalökonomische Binnenkonjunktur. Die USA bildeten nicht etwa ein wirtschaftspolitisches Vorbild, dem aufgrund seines Erfolgs alle anderen in ihren eigenen vier Wänden nacheiferten, wie es die offizielle Propaganda sehen wollte. Vielmehr entwickelte die früher aufgrund ihrer schieren Größe eher selbstgenügsame US-Ökonomie eine tatsächliche, nicht bloß ideologische Saugwirkung auf die gesamte Weltwirtschaft. Der Prozeß der Globalisierung war im wesentlichen identisch mit einer "Amerikanisierung" der globalen Geld- und Warenströme. In der Vergangenheit waren die Konjunkturzyklen in den verschiedenen Weltregionen, vor allem in den drei großen Zentren Japan, USA und Westeuropa, asynchron verlaufen: Dem Aufschwung hier stand meistens ein Abschwung dort gegenüber, sodaß durch verstärkte Exporte in die jeweilige Aufschwungregion und durch die zyklische Umkehrung dieses Vorgangs ein langfristiger Ausgleich hergestellt werden konnte. In den 80er und noch mehr in den 90er Jahren wurde dagegen die Weltwirtschaft konjunkturell synchron geschaltet, weil die so genannte Globalisierung nichts anderes war als eine zunehmende globale Ausrichtung auf die US-Ökonomie. Immer mehr Länder schickten seither immer größere Waren-Überschüsse über die Export-Einbahnstraße in die USA. Von den damit erzielten Gewinnen floß ebenfalls ein immer größerer Teil als Export von Geldkapital prompt zurück in die Finanzanlagen der USA. Auch immer mehr Direktinvestitionen aus aller Welt gingen dorthin, um den scheinbar unerschöpflichen US-Markt direkt vor Ort zu bedienen. Die betriebswirtschaftliche Ausnutzung des globalen Kostengefälles und die damit verbundene transnationale Verflechtung sind integraler Bestandteil dieser Entwicklung. Was formal als Export- und Importströme von Waren unter den verschiedenen Nationalökonomien erscheint und in Wirklichkeit Ausdruck einer globalen Zerstreuung von verschiedenen Komponenten der betriebswirtschaftlichen Produktion ist, wird wesentlich durch die allgemeine einseitige Ausrichtung auf die USA vermittelt. Ein erheblicher Teil der Exporte zwischen den verschiedenen Weltregionen, vor allem aus Europa nach Asien und umgekehrt, aber auch innerhalb Asiens und Europas selbst, wird nicht im jeweiligen Bestimmungsland verbraucht, sondern es handelt sich um Importe von Maschinen, Know-how, Vor- und Zwischenprodukten usw., deren Endzweck wiederum der eigene Export des jeweiligen Landes in die USA ist. Die globale Saugwirkung der US-Ökonomie ist also viel größer, als es der direkte Anteil der US-Importe am Welthandel anzeigt. Um das wahre Ausmaß zu erkennen, muß auch der Teil des Welthandels eingerechnet werden, der indirekt durch die globale Exportflut in die USA bestimmt ist. Kein Wunder also, daß die US-Ökonomie zur Konjunkturlokomotive der Welt wurde. Das Wunder ist eher, wie sie es werden konnte. Es ist längst kein Geheimnis mehr, daß dieser Boom im wesentlichen eine Finanzblasen-Konjunktur und die rapide Globalisierung dieser Ära im wesentlichen eine Finanzblasen-Globalisierung war. Der industrielle Kapitalismus ist an innere Grenzen seiner Entwicklung gestoßen. Die neue Technologie der Mikroelektronik schafft keine zusätzlichen Arbeitsplätze und keine neue Basis für eine erweiterte reale Akkumulation des Kapitals mehr, sondern macht im Gegenteil immer mehr Arbeit überflüssig und immer mehr Produktionskapazitäten unrentabel. Deshalb wurde zum ersten Mal in der modernen Geschichte die spekulative Blase, die aus der Erschöpfung einer alten (der "fordistischen") Industrie resultierte, durch die gesellschaftliche Installation einer neuen (der mikroelektronischen) Basistechnologie nicht etwa frühzeitig mit einem Knall beendet, um zu einer neuen Ära der realen Akkumulation überzuleiten, sondern sie wurde im Gegenteil immer weiter aufgeblasen. Es bedurfte des weltweiten Vertrauens in die Wunderkraft der letzten Weltmacht, um diese unwahrscheinliche "New Economy" als glaubwürdig erscheinen zu lassen. Deshalb konnte die zentrale Blase nur in den USA entstehen, während sich in der gesamten übrigen Welt sekundäre Blasen mehr oder weniger großen Umfangs bildeten. Neu an dieser Entwicklung war nicht die fiktive spekulative Wertschöpfung der Börsen an sich, sondern deren systematische und großräumige Rückkoppelung auf die reale Ökonomie. In der ganzen Welt gab es Wachstum, Investitionen, Beschäftigung und Konsum, die nicht aus realwirtschaftlichen Gewinnen und Löhnen bezahlt wurden, sondern aus der fiktiven Geldvermehrung. Der Löwenanteil entfiel natürlich auf die USA, das Zentrum des ganzen Mechanismus. Die Logik dieses Scheinwachstums ist einfach: Es wird real gekauft, ohne daß vorher real verkauft wurde. Das Geld ist sozusagen aus der Luft gekommen, ohne Arbeit, ohne Maschinen, ohne produzierte Waren, ganz "immateriell" aus den Kurssteigerungen an den Börsen. Und mit diesem "immateriell" zugewachsenen Geld kauft man dann materielle Arbeit, Maschinen, Waren. Der Ausgangspunkt ist irreal, als ob man einen Wolkenkratzer bauen würde, der kein Fundament hat. Nicht nur Konsum und Investitionen, sondern auch der gewaltige Militärapparat der letzten Weltmacht wurde zu einem großen Teil aus diesem globalen Kreislauf des "fiktiven Kapitals" finanziert, in dem die USA stets den Ausgangs- und Endpunkt bildeten. Die Folge war ein ständiges Steigen des Dollars und ein ebenso ständig wachsendes Defizit der Handels- und Leistungsbilanz der USA. Allen alten Ressentiments gegen die USA zum Trotz weiß die vom "fiktiven Kapital" abhängig gewordene marktwirtschaftliche Welt, was sie an ihrer letzten Weltmacht hat. Das gilt nicht zuletzt für die postmoderne Kultur, die den Finanzblasen-Kapitalismus theoretisch und künstlerisch repräsentiert, und die deshalb in den USA ihre eigentliche Heimstätte gefunden hat, obwohl sie ursprünglich eine französische Kreation war. Der postmoderne Kult von Ambivalenz, Virtualität und "immaterieller Arbeit" begann sich in den US-Imperialismus zu verlieben. Nach den islamistischen Terroranschlägen des 11. September 2001 entdeckten auch ehemalige radikale Linke ihr Herz für das Sternenbanner und für die von den USA repräsentierten "westlichen Werte", obwohl diese längst moralisch so substanzlos sind, wie es das Finanzblasen-Kapital ökonomisch ist. Auch in seinen scheinoppositionellen Varianten ahnt das virtualisierte Bewußtsein der hektischen Warenkonsumenten, daß seine eigene Subjektform mit der Scheinökonomie der USA steht und fällt. Eine ganze Reihe von sekundären Blasen in verschiedenen Ländern ist inzwischen geplatzt. Den Anfang machte schon vor mehr als zehn Jahren Japan; es folgten die südostasiatischen Tigerstaaten, Mexiko, Rußland, die Türkei, Argentinien. Jedesmal kam es auch zu schweren Einbrüchen der realwirtschaftlichen Binnenkonjunktur, die in Japan bis heute nicht wieder auf die Beine gekommen ist. Aber trotzdem blieb die große ökonomische Katastrophe aus, weil sich die zentrale Blase in den USA und die zweitgrößte Sekundärblase in Europa noch weiter ausdehnen konnten. Seit dem Frühsommer 2000 ist es mit dieser Expansion vorbei. Die Börsen der USA und der EU wurden von der größten Baisse der Nachkriegsgeschichte erfaßt. Die US-Technologiebörse Nasdaq hat inzwischen über 80 Prozent eingebüßt, der globale Schlüsselindex Dow Jones ist um gut 30 Prozent eingebrochen. Die schon länger befürchtete Kernschmelze der US-Finanzmärkte droht sich zu realisieren. Bilanzskandale und Mega-Pleiten häufen sich, von Enron bis zur Insolvenz von Worldcom, der bislang größten in der gesamten Wirtschaftsgeschichte. Riesige fiktive Vermögenswerte werden vernichtet, der Zufluß des globalen Geldkapitals in die USA stockt, der Dollar fällt, die Finanzierung des immer noch anschwellenden Handels- und Leistungsbilanzdefizits der USA ist gefährdet. Die entscheidende Frage ist jetzt, in welchem Ausmaß die Krise der Finanzmärkte auf die Realökonomie zurückschlägt und die Fähigkeit der USA erlischt, die "überschüssigen" Warenströme der Welt anzusaugen. Apologetische Ökonomen und Politiker behaupten, diesen Rückschlag werde es nicht geben, weil die US-Ökonomie so überaus "stark" sei. Das Argument ist paradox, denn wäre es so, dann könnten die USA in ihrer Außenbilanz nicht die Defizitstruktur eines peripheren Landes aufweisen. Dahinter verbirgt sich keine überlegene ökonomische Substanz, sondern eine Realökonomie, die auch sonst in vieler Hinsicht Parallelen zu den Krisenregionen der Peripherie aufweist. Die Infrastruktur ist wie in Großbritannien großenteils veraltet und verlottert, das Straßennetz defekt, die privatisierten Verkehrsmittel marode. Sogar die ebenfalls privatisierte Energieversorgung ist verschuldet und arbeitet unzuverlässig, in Kalifornien wurde bekanntlich periodisch der Strom abgeschaltet. Das Ausbildungssystem ist nur in einigen teuren Eliteuniversitäten erstklassig, in der Breite dagegen ebenfalls so miserabel wie in Großbritannien. Die angelsächsischen Länder weisen die bei weitem höchste Rate von sekundären Analphabeten in der entwickelten Welt auf. Das vielgerühmte angebliche Produktivitätswunder der USA beruht hauptsächlich auf großen Billiglohnsektoren in allen Bereichen, während der Anteil mikroelektronischer Robotisierung in der Industrie geringer ist als in Japan und in der EU. Nur in wenigen Spitzenbereichen sind die USA führend, so in der Softwareindustrie (Microsoft) und natürlich vor allem in den High-Tech-Rüstungsschmieden; in der Breite dagegen ist das industrielle System veraltet, viele Produkte werden in den USA gar nicht mehr hergestellt. Nur aufgrund der realen industriellen Schwäche ist der Anteil des Dienstleistungssektors höher als in allen anderen Industrieländern. Wie in der Dritten Welt wird das Erscheinungsbild durch eine Masse von "Elendsunternehmern" und von unqualifizierten Dienstboten aller Art bestimmt. Die letzte Weltmacht ist durch das monströse Mißverhältnis eines überdimensionierten Wasserkopfs von High-Tech-Militärapparaten und Rüstungsindustrien auf einem unterentwickelten ökonomischen Körper gekennzeichnet, der über den permamenten äußeren Zufluß von Geldkapital- und Warenströmen künstlich ernährt werden muß. Die überlegene Rüstung bildet letztlich keine überlegene Ökonomie, sondern einen kapitalistisch unproduktiven Kostenfaktor. Die Entzauberung der USA ist unvermeidlich, und sie scheint begonnen zu haben. Gebremst wird der Absturz vorläufig durch mehrere Faktoren, die aber allesamt nicht nachhaltig sind. So hat die Bush-Administration mehrfach Rüstungskäufe terminlich vorgezogen, vor allem im Sektor der Kraftfahrzeuge. Das schönt die Statistik der Autoindustrie ebenso wie die hohen Rabatte und die Kundenkredite zum Nulltaruf, mit denen die großen US-Hersteller wie schon einmal Ende der 80er Jahre ihren Absatz trotz Krise steigern. Aber im Unterschied zur damaligen Situation ist heute die Obergrenze der privaten Verschuldung erreicht. Die Subventionierung des Absatzes auf Kosten der Gewinne kann nicht lange durchgehalten werden. Und auch der Rüstungsboom der "Reaganomics" ist nicht wiederholbar. Nach einer kurzen Pause während der Jahre der extremen Finanzblasen-Expansion bis 1999 ist inzwischen das US-Staatsdefizit auf hohem Niveau zurückgekehrt; eine weitere Expansion der Staatsverschuldung würde viel schneller an Schmerzgrenzen stoßen als in den 80er Jahren. Es sind weniger die Reste der Rüstungs- und der Rabatt-Konjunktur, die den Absturz verzögern, als vielmehr eine Verschiebung im Finanzkapitalismus. Gegenläufig zum Crash der Aktienmärkte hat sich in den USA eine Spekulationsblase der Immobilienwerte gebildet, die nun ebenso kräftig für den Konsum beliehen werden wie vorher die aufgeblähten Aktienwerte. Der Vermögensverlust an den Börsen ist dadurch jedoch nicht auszugleichen; und auch die Immobilienblase wird platzen. Gegenwärtig konsumieren die an völligem Realitätsverlust leidenden 25- bis 40-Jährigen Start-up-Bohemiens des abgestürzten Internet-, Telekom- und Mediensektors in den USA und in der gesamten westlichen Welt weiter, als wäre nichts geschehen. Aber die "Generation Bankrott" wird ihre Kreditlinien bald absolut erschöpft haben und unsanft auf dem harten Boden der Tatsachen landen. Wenn die US-Konjunkturlokomotive stehen bleibt, bleibt die ganze Weltwirtschaft stehen. Die Entzauberung der USA verlagert das ökonomische und militärische Machtzentrum nicht an einen anderen Ort, sondern sie stürzt den Weltmarkt in eine neue Dimension der Krise, beschleunigt den globalen gesellschaftlichen Zerfall und macht die historische Obsoletheit des modernen warenproduzierenden Systems handgreiflich. |