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Robert Kurz
Der flexible Mensch
Ein neuer Sozialcharakter in der globalen Krisengesellschaft
Es ist seit langem kein
Geheimnis mehr, daß die hochindustrialisierte oder sogar schon "postindustrielle"
Welt des Westens immer mehr Züge der sogenannten Dritten Welt annimmt.
Nicht die Länder der kapitalistischen Peripherie haben sich dem sozialen
Niveau der westlichen Welfare-Demokratien angenähert, sondern genau umgekehrt
breitet sich die soziale Depravation in den alten kapitalistischen Zentren aus
wie ein Virus. Aber nicht nur die Systeme der sozialen Sicherung werden schrittweise
abgebaut und nicht nur die strukturelle Massenarbeitslosigkeit steigt an. Vielmehr
wächst auch ein diffuser Sektor zwischen regulärer Beschäftigung
und Arbeitslosigkeit, der in den Ländern der Dritten Welt schon altbekannt
ist und unterhalb der offiziellen, am Weltmarkt teilnehmenden Minderheits- und
sozialen Apartheids-Gesellschaft als "sekundäre Ökonomie"
der Herausgefallenen und Entwurzelten auf Elendsniveau vegetiert. Der ambulante
Händler am Straßenrand, die an der Straßenkreuzung Autoscheiben
putzenden Jugendlichen, die Kinderprostitution oder die Systeme der halblegalen
Abfallverwertung bis hin zu den "Müllhalden-Menschen" fallen
in diese Kategorie.
In kleinerem Maßstab gehören diese Phänomene inzwischen auch
im Westen zum alltäglichen Straßenbild; am deutlichsten in den angelsächsischen
Ländern mit ihrem "klassischen" radikalen Wirtschaftsliberalismus.
Aber es entwickeln sich auch neuartige Mischformen zwischen regulärer Beschäftigung
und prekären Arbeitsverhältnissen. Da seit zwanzig Jahren das Niveau
der Reallöhne stetig sinkt (besonders drastisch in den USA), reicht das
Einkommen aus der offiziellen Lohnarbeit nicht mehr aus, um eine "normale"
Lebenshaltung mit Wohnung, Auto und Krankenversicherung zu finanzieren. So müssen
zusätzliche irreguläre Beschäftigungsverhältnisse aufgenommen
werden. Zwei oder drei Jobs pro Person sind fast schon die Regel. Der Arbeiter
in einer Maschinenfabrik geht nach Feierabend nur kurz zum Essen nach Hause,
um anschließend anderswo seinen Dienst als Nachtwächter anzutreten;
für den Schlaf bleiben nur wenige Stunden. Am Wochenende betätigt
er sich zusätzlich als Kellner in einem Restaurant - ganz ohne Lohn, allein
für die Trinkgelder. Immer mühsamer und um den Preis des gesundheitlichen
Ruins wird die Fassade der Normalität aufrechterhalten.
Eine andere neue Art von unsicheren Erwerbs-Biographien besteht darin, daß
immer mehr Menschen unterhalb ihrer Qualifikation arbeiten müssen. Sie
sind für ihre real ausgeübte Tätigkeit "überqualifiziert"
- ihr Wissen wird von den Märkten nicht mehr angenommen. Schon seit Anfang
der 80er Jahre, mit Beginn der mikroelektronischen Revolution und der zunehmenden
Krise der Staatsfinanzen, war eine akademische Ausbildung keine Garantie mehr
für eine entsprechende Berufstätigkeit. Viele qualifizierte Stellen
im staatlichen Bereich wurden mangels Finanzierungsfähigkeit abgebaut.
Auf dem freien Markt andererseits veralten die Qualifikationen immer schneller
und gelten nach einer kurzen "Durchlauferhitzung" als entwertet. Der
beschleunigte Zyklus der Konjunkturen, der Innovationen, Produkte und Moden
erfaßt nicht nur die technischen Bereiche, sondern auch die Kultur, die
Sozialwissenschaften und die gehobenen Dienstleistungen.
In diesem sozialen Prozeß wurde ein wachsender Teil der akademischen Intelligenz
degradiert. Der "ewige Student", der abgebrochene Student als Jobber
in niederen Dienstleistungs-Tätigkeiten, die 30-jährige arbeitslose
Anglistin mit nutzlosem Doktortitel waren keine Seltenheit mehr. In der ganzen
westlichen Welt wurde der Taxi fahrende graduierte Philosoph zur Symbolfigur
einer negativen Sozialkarriere. Es entwickelte sich ein neues Submilieu, das
schon längst über die alte Boheme hinausgeht. Diplomierte Historiker
arbeiten in Lebkuchenfabriken, arbeitslose Gymnasiallehrerinnen versuchen sich
als Babysitter, überflüssige Juristen vermarkten indianische Kulturgegenstände.
Viele Menschen mit intellektuellem Hintergrund treiben sich weit über ihr
dreißigstes oder vierzigstes Jahr hinaus in diffusen quasi-studentischen
Lebensverhältnissen herum und fluktuieren in ihren Tätigkeiten zwischen
Jobs als Auslieferungsfahrer, Gelegenheits-Journalismus und brotlosen künstlerischen
Versuchen. Die Frage nach Stand und Beruf erzeugt zunehmend Verlegenheit. Schon
1985 veröffentlichten in Deutschland die beiden jungen Autoren Georg Heinzen
und Uwe Koch den Kultroman "Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden".
Dessen Held gibt das neue prekäre Lebensgefühl wieder: "Ich bin
nicht Vater, nicht Ehemann, nicht Mitglied im Automobilclub. Ich bin kein Vorgesetzter
und keine Autoritätsperson, ich habe keinen Dispositionskredit. Ich bin
gebildet mit jenen geistigen Dingen, für die es immer weniger Verwendung
gibt. Ich bin vom Kreislauf der Angebote ausgeschlossen...".
Wirkte diese zweifelhafte Existenzweise vielleicht vor zehn oder fünfzehn
Jahren noch ein wenig exotisch, so ist sie heute zum Massenphänomen geworden.
Der deutsche Soziologe Ulrich Beck stellte fest, daß "das standardisierte
System der Beschäftigung aufzuweichen beginnt". Die Grenzen zwischen
Arbeit und Arbeitslosigkeit werden fließend. Die Stichworte für das
neue, zersplitterte und unübersichtliche System der Beschäftigung
sind "Flexibilisierung" und "plurale Unterbeschäftigung".
Schon lange handelt es sich nicht mehr nur um eine herausgefallene, entqualifizierte
und überflüssige akademische Intelligenz, die in diesen zweideutigen
Flexi-Milieus anzutreffen ist. Auch ehemalige Schlosser, Köche, technische
Zeichner, Friseusen, Schneiderinnen oder Krankenpfleger haben sich in berufslose
Multifunktions-Unterbeschäftigte verwandelt.
Alle tun etwas anderes als das, was sie einmal gelernt oder studiert haben.
Eindeutige und selbstverständliche Qualifikationen, Berufe, Karrieren,
Lebenswege und soziale Statusverhältnisse gehören der Vergangenheit
an. Unterbeschäftigung - das ist mehr als bloß jener ständige
Wechsel zwischen Lohnarbeit und Arbeitslosigkeit, wie er inzwischen für
viele Millionen Menschen in den westlichen Industriestaaten zum Normalzustand
geworden ist. Es ist auch der permanente Wechsel zwischen fast schon beliebigen
Qualifikationen, Tätigkeiten und Funktionen - eine Art Achterbahnfahrt
durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die sich unter dem Druck der Märkte
mit immer größerer Geschwindigkeit verändert.
In den 80er Jahren gab es noch Hoffnungen, die neue Tendenz zur Flexibilisierung
der Arbeitsverhältnisse könnte vielleicht emanzipatorisch umgebogen
werden, indem die Menschen nicht mehr starren Standardisierungen folgen, sondern
trotz des sozialen Drucks neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung für
sich entdecken. Das flexible Individuum sollte der Prototyp eines Menschen werden,
der sich nicht mehr bedingungslos den Zwängen der Lohnarbeit und des Marktes
unterordnet, weil er einen Zeitfonds für unabhängiges, selbstbestimmtes
Handeln erobert und sich selber freie Zwecke setzen kann. Von sogenannten "Zeitpionieren"
war die Rede, die für sich selber "Zeitsouveränität"
gewinnen, um neue Lebensformen jenseits des kapitalistischen Maschinentakts
von fremdbestimmter "Arbeit" und am Warenkonsum orientierter "Freizeit"
hervorzubringen.
Solche Ideen erinnern ein wenig an die Frühschriften von Karl Marx, der
mit einer berühmten bildhaften Formulierung für die kommunistische
Zukunft das Ende der einengenden Arbeitsteilung voraussah: "Die Teilung
der Arbeit bietet uns das Beispiel dafür, daß, solange die Spaltung
zwischen dem besonderen und dem gemeinsamen Interesse existiert, die eigene
Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die
ihn unterjocht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt,
hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit,
aus dem er nicht heraus kann - während im Kommunismus die Gesellschaft
die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute
dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends
Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe,
ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden...".
Das genau 150 Jahre alte romantische Bild des jungen Marx hat leider nichts
mit unserer neuen flexibilisierten Realität zu tun. Wir leben ja auch nicht
in einer Gesellschaft mit kommunistischen Ansprüchen, die jenseits des
untergegangenen bürokratischen Staatskapitalismus zu neuen Ufern der sozialen
Emanzipation aufgebrochen wäre. Soziale Optimisten der Flexibilisierung
wie Ulrich Beck oder der französische Sozialphilosoph André Gorz
hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht, weil sie die Potentiale einer neuen
individuellen "Zeitsouveränität" in friedlicher Koexistenz
mit der kapitalistischen Produktionsweise entwickeln wollten. Nachdem jede grundsätzliche
Kritik der herrschenden Ordnung preisgegeben worden war, gab es aber auch keine
Möglichkeit mehr, die immanente gesellschaftliche Tendenz emanzipatorisch
zu besetzen. Der Kampf um die soziale Interpretation der Flexibilisierung war
deshalb entschieden, bevor er begonnen hatte.
Die hoffnungsvollen Ideen einer vermeintlichen Selbstbestimmung der Lebenszeit
in gesellschaftlichen Nischen hatten sich sowieso nur auf bestimmte Formen der
Teilzeitarbeit bezogen, die nach der Theorie von Gorz sozialstaatlich bezuschußt
werden sollten, um ein sicheres "Grundeinkommen" in der Geldform zu
gewährleisten und daneben freigewählte Tätigkeiten zu ermöglichen.
Diese gut gemeinte, aber zahnlose Theorie war von Anfang an ein Hohn auf die
Realität von Menschen, die unter dem Druck des zunehmenden Sozialdumpings
zu zwei oder drei Jobs schon fast rund um die Uhr gezwungen werden. Weil nach
wie vor jene von Marx konstatierte "Spaltung zwischen dem besonderen und
dem gemeinsamen Interesse" existiert, sprich: die blinde Konkurrenz auf
anonymen Märkten, die von Theoretikern wie Beck und Gorz nicht mehr in
Frage gestellt wird, kann das Potential der gesteigerten Produktivität
auch nicht für eine größere "Zeitsouveränität"
der Menschen eingesetzt werden. Stattdessen hat der neoliberal enthemmte Kapitalismus
die Flexibilisierung diktatorisch bestimmt und allein seiner Wirtschaftsphilosophie
einer Kostensenkung um jeden Preis dienstbar gemacht.
Die standardisierten Arbeitszeiten werden aufgeweicht, aber nicht im Interesse
der Beschäftigten. "Arbeit auf Abruf", je nach Auftragslage und
zu unregelmäßigen Zeiten, breitet sich aus. Auch erhöhte räumliche
Mobilität wird von den Arbeitskräften gegen ihre eigenen Lebensinteressen
gefordert. Schon lange sind hunderte Millionen von Menschen zur Arbeitsmigration
zwischen Ländern und Kontinenten gezwungen. Latinos wandern auf der Suche
nach Arbeit in die USA, Asiaten in die Golf-Emirate, Ost- und Südeuropäer
nach Mitteleuropa. In China und Brasilien gibt es eine riesige Binnen-Migration.
Unter dem Diktat der Globalisierung hat sich diese Tendenz zur räumlichen
Mobilität von Arbeitskräften verstärkt und inzwischen auch die
westlichen Zentren erreicht. Deutsche Arbeitsämter zum Beispiel können
Arbeitslose zwingen, eine Beschäftigung hunderte Kilometer von ihrem Heimatort
aufzunehmen und ihre Familie nur noch am Wochenende zu "besuchen".
Auch leitende Angestellte müssen im Interesse ihrer Karriere immer häufiger
die Orte, Länder und Kontinente ihrer Berufstätigkeit wechseln. Die
Menschen verwandeln sich in sozial entwurzelte Vagabunden der Märkte.
Zur Flexibilisierung gehört auch der ständige Wechsel zwischen abhängiger
und "selbständiger" Beschäftigung. Die Grenzen zwischen
Lohnarbeitern und Unternehmern verwischen sich, aber auch das geht zu Lasten
der Betroffenen. Im Zuge des "Outsourcing" entstehen immer mehr Scheinselbständige,
das heißt Pseudo-Unternehmer ohne eigene Unternehmensorganisation, ohne
eigenes Betriebskapital, ohne Mitarbeiter und ohne die berühmte "unternehmerische
Freiheit", weil sie von einem einzigen Auftraggeber abhängen - meistens
ist es ihre frühere Firma, die auf diese Weise die Sozialversicherung spart
und statt der tariflichen Arbeitszeit nur noch eine direkte Leistung von Fall
zu Fall mit "Honoraren" bezahlt, die erheblich niedriger liegen als
das frühere Gehalt.
Flexibilisierung, das bedeutet in der Regel Abwälzung des Risikos auf die
abhängig Beschäftigten und Delegation von Verantwortung nach unten:
Mehr Leistung und mehr Streß für weniger Geld. Die betriebliche Einbindung
wird gelockert und die sogenannten Mitarbeiter spalten sich auf in eine abschmelzende
Kernbelegschaft, für die gleichfalls die betrieblichen Sozialleistungen
gekürzt oder ganz abgeschafft werden, und in eine wachsende prekäre
Randbelegschaft von Ausgelagerten, die zum Beispiel "Free-Lancer"
oder "Portfolio-Workers" heißen. Innerhalb der Kernbelegschaften
spalten sich die Abteilungen in konkurrierende "Profit-Center" auf.
Die integrative Unternehmenskultur hat ausgedient. Am Beispiel des Multi-Konzerns
IBM zeigte der US-Sozialhistoriker Richard Sennet 1998 in seinem Buch "Der
flexible Mensch" diese Logik der Deloyalisierung: "Während der
Jahre der Verschlankung und Umstrukturierung vermittelte IBM seinen verbleibenden
Angestellten kein Vertrauen mehr. Ihnen wurde mitgeteilt, daß sie nun
auf sich selbst gestellt seien, nicht mehr die Kinder der großen Firma".
Die kapitalistisch flexibilisierten Individuen sind keine selbstbewußten
und universellen, sondern bloß universell ausgenutzte, entsolidarisierte
und einsame Menschen. Die neue Risiko-Verantwortung macht keinen Spaß,
sondern Angst, denn der Einsatz ist permanent die eigene Existenz. Allgemeines
Mißtrauen greift um sich. Im Klima von Mobbing und Verfolgungswahn entsteht
eine paranoide Unternehmenskultur. Ständig verunsicherte und überforderte
Menschen werden krank und demotiviert. Und sie werden immer oberflächlicher,
unkonzentrierter und inkompetenter gemacht. Denn wirkliche Qualifikation benötigt
Zeit, die der Markt nicht mehr hat. Je schneller die Anforderungen wechseln,
desto irrealer wird die Kompetenz, desto mehr verwandelt sich Lernen in einen
bloßen Wissenskonsum, der nichts als Datenmüll zurückläßt.
Die Qualität bleibt auf der Strecke. Wenn ich weiß, daß alles,
was ich lerne und mir mühsam aneigne, im nächsten Moment sowieso schon
wieder wertlos ist, dann wird die Aufmerksamkeit immer kurzatmiger.
Gehetzte und entsozialisierte Beschäftigte, die ihre Vorgesetzten, die
Kunden und sich gegenseitig nur noch bluffen können, werden aber auch betriebswirtschaftlich
kontraproduktiv. Mit der totalen Flexibilisierung löst der Kapitalismus
seine Krise nicht, sondern führt sich erst recht selber ad absurdum und
beweist, daß er nur noch selbstzerstörerische Energien entfesseln
kann.